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DR. ARTHUR JANOV: DIE BIOLOGIE DER LIEBE
Die amerikanische Originalausgabe mit dem Titel "THE BIOLOGY OF LOVE" erschien anno 2000 bei Prometheus Books, New York.
© Copyright 2000 Dr. Arthur Janov
aus dem Amerikanischen von Ferdinand Wagner
Es gibt zurzeit keine deutsche Übersetzung auf dem Buchmarkt
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Über dieses Buch (vom Übersetzer) Der weltbekannte amerikanische Psychotherapeut
Dr. Arthur Janov (geb. 1924) ist Begründer der Primärtherapie und
Autor mehrerer Bücher. Sein erstes Buch Der Urschrei, in dem er
seine revolutionäre Therapie und die ihr zugrunde liegende Primärtheorie
vorstellt, wurde zu einem internationalen Bestseller. In seinem Buch Die Biologie der Liebe zeigt
Dr. Janov, der inzwischen auf 40 Jahre Erfahrung als Primärtherapeut
und Wissenschaftler zurückblicken kann, wie zahlreiche aktuelle Studien
seine These untermauern, dass widrige Umstände und Ereignisse im
Mutterleib, bei der Geburt und in der frühen Kindheit unser Gehirn und
unsere Persönlichkeit formen. Traumatische Ereignisse in diesen frühen
Lebensphasen perlen nicht einfach an uns ab. Sie werden in das junge
Nerven- und Hormonsystem eingeprägt und üben ihre Kraft ein Leben lang
aus, so dass sie unsere seelische und körperliche Gesundheit im
Erwachsenenalter oftmals schwer beeinträchtigen können. Die Biologie der Liebe erklärt, warum Liebe von Beginn des Lebens an
zentraler Bestandteil einer gesunden psychophysischen Entwicklung ist.
Sie schafft eine positive Einprägung und gibt uns die nötige neurale
und biochemische Ausrüstung, um mit späteren Widrigkeiten fertig zu
werden. Letztlich erzeugt sie einen Menschen, der fühlen und lieben
kann. Wenn umgekehrt in diesen kritischen Perioden Liebe fehlt,
dann können wir uns nicht optimal entwickeln. Bereits im Mutterleib können
wir biochemisch aus dem Gleichgewicht gebracht werden, bereits hier wird
die Grundlage geschaffen für spätere Krankheit, zum Beispiel für
Depression. Eine Geburt unter Anästhesie – und das bedeutet für das
Baby eine Geburt unter Sauerstoffmangel – kann diese Tendenz verstärken,
weil sie das junge System lahm legt und unser Reaktionsmuster in
Richtung Passivität und Resignation verschiebt. Wächst das Kind in
einem Elternhaus auf, in dem der Ausdruck von Gefühlen nicht gestattet
ist, dann wird es später als Erwachsener möglicherweise unter
Depression leiden. In der Biologie der Liebe vereint Dr.
Janov jüngste Forschungsergebnisse zahlreicher Wissenschaftler auf dem
Feld der Neurobiologie, Biochemie und Psychologie mit seiner eigenen
Jahrzehnte währenden Arbeit als Psychotherapeut und Wissenschaftler.
Das Ergebnis ist ein Buch, das sowohl Fachleuten als auch Laien aktuelle
Antworten auf die alte Frage nach der conditio humana, nach der
Bedingung oder Natur des Menschen liefert. Die Biologie der Liebe ist kein Buch, das sich in der Beschreibung
dessen erschöpft, was uns von ganz früh an zustoßen kann. Dr. Janov
erklärt, wie man „das Gehirn gesund machen kann.“ Wenn wir Zugang
erlangen zu tief verborgenen Gefühlen und Einprägungen, dann können
wir sie aus dem System herauslösen und somit einen Großteil des
Schadens reparieren, der uns zugefügt worden war. Eine Voraussetzung,
dass dieser Weg mehr Menschen als bisher offen steht, ist die
Neuorientierung der Psychotherapie. Worte und Einsichten eines
Therapeuten können uns diesen Zugang nicht verschaffen. Sie bewirken
eher das Gegenteil. Die Psychotherapie der Zukunft muss eine
Psychotherapie des Fühlens sein und die Tür zu tieferen Gehirnregionen
öffnen. Denn dort liegen jene Kräfte verborgen, die uns sowohl krank
als auch wieder gesund machen können.
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INHALT
Danksagung
13
Einführung 15
TEIL
I DIE
STRUKTUR DES GEHIRNS 21
1. DIE STRUKTUR
DES GEHIRNS 23
Der frontale Kortex und Gefühle
(28)
2. DER FRONTALE KORTEX:
DAS GEHIRN DES DENKENDEN MENSCHEN 34
Wie ein
zorniger Blick zu
einer chemischen Substanz in unserem Gehirn wird (38)
3. DIE ALARMSTATION: DAS RETIKULÄRE AKTIVIERUNGSSYSTEM 81
Der Locus caeruleus: im Zentrum des Terrors (83)
4.
DER HYPOTHALAMUS: KURIER
DER GEFÜHLE (87)
Der
cinguläre Kortex (91)
5.
DER SYMPATH UND PARASYMPATH: WIE DIE PERSÖNLICHKEIT IM MUTTERLEIB
GEFORMT WIRD 93
Eine Therapie für den emotionalen Notfall (100)
6. DIE DREI EBENEN DES
BEWUSSTSEINS 106
Instinktives
Bewusstsein der ersten Ebene (106)
7. DER
BEGRIFF DER KRITISCHEN PERIODEN 144
Synaptogenesis (145)
TEIL II : LEBEN
IM MUTTERLEIB, ERINNERUNG UND EINPRÄGUNG 153
8. DIE EINPRÄGUNG DER ERINNERUNG 155
Die
lange Geschichte der Erinnerung (157)
9. WIE DER
KODE DER ERINNERUNG ENTSCHLÜSSELT WIRD 165
Wie
die biologischen Sollwerte wieder in Ordnung gebracht werden (171)
10. DER AUSLÖSE - EFFEKT 183
Komm einfach darüber
hinweg! (185)
11.
LEBEN IM
MUTTERLEIB: VORSPIEL ZUM REALEN LEBEN 198
Berührung
ist Liebe (
201)
12. DAS GEBURTSTRAUMA: WIE
ES UNSER LEBEN BESTIMMT 219
Ist das Unbewusste gefährlich? (220)
13. DER STRESS -
FAKTOR: EIN ANDERES
GEHIRN WIRD AUFGEBAUT 228
14. DIE SCHLEUSENTHEORIE 231
Die Angst vor dem Tod (235 Die Rolle des Serotonins im Schleusungsprozess (238)
TEIL III:
DIE MACHT DER LIEBE
261
Wie man einen Fetus liebt (264)
Und die Kinder werden die Eltern sein (267)
16. FEHLENDER
SAUERSTOFF IST FEHLENDE LIEBE 287
17.
OXYTOZIN UND VASOPRESSIN: DIE HORMONE DER LIEBE 291
Liebe und Überleben (298)
18. ÜBER SEXUALITÄT
UND HOMOSEXUALITÄT 313
Kleiner
Junge - völlig verloren (315)
19. WAS HAT LIEBE DAMIT ZU TUN ? 322
20. PSYCHOTHERAPIE UND DAS GEHIRN: WIE MAN DAS GEHIRN
GESUND MACHT 330
BEGRIFFSERKLÄRUNGEN 343
WARNUNG 351
NAMENS- UND SACHREGISTER
355
DANKSAGUNG
Die Arbeit an diesem Buch erstreckte sich über viele
Jahre. Entlang des gesamten Weges gab es Menschen, die dabei geholfen haben, es
zu dem zu machen, was es ist. Da ist mein Forschungsassistent, David Lassoff,
und mein wissenschaftlicher Berater, Dr. Jonathan Christie. Ich möchte
Professor Frank Wood vom Wake
Forest University Medical Center danken, der einen Großteil der Neurologie für
mich bearbeitet hat. Wenn ein paar Unstimmigkeiten geblieben sind, so trage ich
die Verantwortung. Meinen Dank an Dianne Woo, die das Buch hinsichtlich der
englischen Sprache und der Organisation bearbeitete, und schließlich an meine
Frau France, Doktorandin und Kodirektorin des Primal Institute in Venice,
Kalifornien, die sicher stellte, dass meine Auffassungen von der aktuellen
Praxis der Primärtherapie mit ihren klinischen Erfahrungen übereinstimmen. Sie
verbrachte Monate damit, mich bei
diesem Werk zu unterstützen. Ich bin Dr. Paul MacLean vom Nationalen Institut für
Psychische Gesundheit zu Dank verpflichtet für seine Arbeit und für sein
unermessliches Wissen über das Gehirn; wir alle sitzen zu seinen Füßen. Nicht
nur ich schulde Dr. MacLean Dank. Wir alle im Fachgebiet erkennen an, dass ohne
ihn die Gehirnforschung nicht bis zu dem Punkt vorangekommen wäre, wo wir heute
stehen. Ich bin ebenso Dr. Allan Schore zu Dank verpflichtet, der das
geschrieben hat, was für mich die Bibel der modernen Neuropsychologie ist. Dr.
Michael Odent, Autor von The Nature of Birth and Breastfeeding und Birth
Reborn, gab uns viele hilfreiche Anregungen zur Geburt. Dank an Carol
Donner, die das Gehirn bildlich so dargestellt hat, dass einige meiner Begriffe
leichter zu verstehen sind. Schließlich danke ich meinen Patienten, von denen
ich jeden Tag mehr lerne, und meinen Angestellten, die die jahrelange Ausbildung
zu einem äußerst schwierigen Beruf geduldig auf sich nehmen, weil sie um seine
Bedeutung für die Rettung von Leben wissen.
EINLEITUNG
Lassen Sie mich zu Beginn erklären, worum
es in der Biologie der Liebe geht und worum es nicht geht. Es geht darum,
wie die Liebe der Eltern in den frühen Phasen des Lebens uns alle beeinflusst,
wie sie buchstäblich das Gehirn formt und sich ein Leben lang auf uns auswirkt.
Die Biologie der Liebe handelt nicht von akademischer Neurobiologie.
Angesichts der aufregenden neuen Entdeckungen, die in diesem Bereich der
Gehirnforschung gemacht worden sind, besteht die Notwendigkeit, unser Wissen über
Neurologie und unsere Beobachtungen in der klinischen Praxis zusammenzuführen
und in einer nicht-technischen Weise zu präsentieren.
Dieses
Buch ist für Laien geschrieben, die erfahren wollen, wie Gefühle und
Emotionen - die ‚Motionen’, die wir machen, wenn wir fühlen - unser Leben
lenken. Auf diesen Seiten nehme ich ausgewählte Fakten aus aktueller
Forschung und setze sie in einen
Bezugsrahmen, der weit auseinander liegende Ergebnisse in bindenden
Zusammenhang bringt.
Über das Gehirn sind viele neue Untersuchungen angestellt worden, die es uns ermöglichen, die Gebiete der Dynamischen Psychologie und der Neurologie zu verbinden. Wir können alle diese neuen Forschungsarbeiten nutzen, um zu verstehen, warum wir nicht schlafen können, warum wir Albträume haben, warum wir so getrieben sind, warum wir oft weder mit anderen auskommen können noch Beziehungen halten können, warum wir nicht lieben können, warum wir Alkohol und Drogen nehmen und wie die sich auf das Gehirn auswirken, wo der Schmerz hingeht, nachdem wir ihn erfahren, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn sie ins Unterbewusstsein gezwungen werden, wie unsere Gefühle verdrängt werden, was im Unbewussten liegt und viele weitere Aspekte derNatur des Menschen. Diese Entdeckungen sind nur dann von Bedeutung, wenn sie uns schließlich helfen, dass wir uns besser fühlen und ein annehmbares Leben führen können. Wir werden sehen, wie sich die Liebe der Mutter direkt in die Biochemie ihres Kindes übersetzt und wie diese Liebe das Gehirn zu neuer Gestalt formt. Das „geliebte“ Gehirn ist anders.
Wenn wir
eine gute Vorstellung davon haben, wie emotionaler Schmerz das Gehirn verändert,
können wir vielleicht die Behandlung für diesen Schmerz hinsichtlich
neurologischer Veränderungen messen. Wo zum Beispiel entstehen
Zwangsvorstellungen, und ganz zuerst, warum entstehen sie? Ich glaube, wir
wissen warum, nachdem wir Dutzende von Fällen zwanghafter Rituale behandelt
haben. Wie können wir emotionale Probleme wie Phobien, sexuelle Abweichungen
und impulsives Verhalten lösen? Was genau ist „verrückt“? Wo im Gehirn könnten
wir diese Verrücktheit finden, falls es tatsächlich einen Ort gäbe, wo sie
existiert? Ich werde auch die verschiedenen aktuellen Tranquilizer diskutieren und erörtern,
wie sie funktionieren, um uns zu beruhigen. Was beruhigen sie wirklich?
Obwohl
der übliche Standesdünkel – oder dessen Mangel – besagt, dass wir
irgendwie niemals genug wissen, um endgültige Aussagen über die Ursachen
psychischer und emotionaler Probleme zu machen, glaube ich, dass wir nun genug
wissen und zu einigen Antworten gelangen können, ohne dass wir auf
„Psycho-Chinesisch“ oder technischen Jargon zurückgreifen müssen. Wir
werden nie genug wissen, um ein absolutes und endgültiges Urteil über
irgendein Thema abgeben zu können, aber das sollte uns nicht von dem Versuch
abhalten, einem Fachgebiet Sinn abzugewinnen, in dem das diagnostische Handbuch
dicker ist als das Telefonbuch von Manhattan. In meiner primärtherapeutischen
Arbeit habe ich das tiefe Unbewusste Tausender von Patienten ergründet. In den
vergangenen dreißig Jahren habe ich unentwegt an der Überzeugung festgehalten,
dass es vorgeburtliche und geburtliche Trauma-Erfahrungen gibt, die sich auf das
spätere Leben auswirken. Jetzt zieht die Forschung nach. Es gibt Beweise, wo
wir auch hinsehen.
Wenn es für die Theorie und Psychotherapie keine
wissenschaftliche Basis gibt und wenn Beobachtungen durch vorgefasste Ansichten
entstellt werden, ist das Resultat ein Phänomen wie Rebirthing-Therapie, in der
man Patienten anleitet, zu schreien und auf die Wände einzuschlagen, um
„ihren Schmerz freizusetzen“. Das ist keinesfalls „Therapie“, und es ist
schädlich. Man muss den Menschen gestatten, sich nach und nach ihren eigenen
Weg durch die Gehirnebenen hinab zu erarbeiten, damit sie die tiefste Ebene des
Unbewussten erreichen und mit ihr in Verbindung treten können. Um das zustande
zu bringen, müssen wir wissen, was sich unten im Gehirn befindet, und innerhalb
seiner Strukturen arbeiten. Ohne dieses Wissen ist jeder auf sich allein
gestellt, verloren in einem Meer von Ansätzen, die keine Verankerung in der
Wissenschaft haben. Eine einzige Auffassung, nämlich die Konzeption der Einprägung, würde meiner Einschätzung
nach die Praxis der gegenwärtigen Psychotherapie verändern. Deshalb werde ich
einige Zeit darauf verwenden, sie zu erörtern. Wir haben zu viel Zeit darin
investiert, gegenwärtige Quellen von Stress zu erforschen, um Erscheinungen wie
Angst, Magenbeschwerden, hohen Blutdruck, Herzrasen, Depression usw. zu
verstehen, weil wir den zentralen Bestandteil vieler Störungen ausgelassen
haben – die Geschichte......den eingeprägten Schmerz.
Obwohl ich siebzehn Jahre lang in der Praxis
psychoanalytischer Therapie tätig gewesen war, war ich erst 1967 zum ersten Mal
Zeuge tiefer Gefühle und verbrachte Jahrzehnte mit dem Versuch,
herauszubekommen, was dahinter steckt. Es waren Gefühle, die ich nie zuvor
gesehen hatte. Ja, meine früheren Patienten weinten und schluchzten , aber so
gut wie nie wälzten sie sich unter Höllenqualen am Boden und schrien ihren
Schmerz hinaus. Für Menschen, die nicht jeden Tag ihres Lebens unter Schmerz
stehen, mag diese Vorstellung abwegig scheinen. Sie ist es nicht.
Als mir im Jahr 1971 Professoren in der Abteilung für
Neurologie der UCLA sagten, dass die Speicherung von Geburtserinnerungen unmöglich
sei, warf das meine Arbeit um Jahre zurück. Schließlich lernte ich, dass die
Speicherung nicht nur möglich ist, sondern auch in hohem Maße bestimmend für
unser späteres Leben. Unsere Arbeit am UCLA-Lungenlabor brachte die Forschung
voran, insbesondere in Bezug auf das Geburtstrauma. Wir diskutierten die
Schleusung, noch ehe die Schleusentheorie in der aktuellen Literatur
auftauchte. In meinem Buch von 1971, Die Anatomie der Neurose, erörterte
ich die Rolle des Serotonins für psychische Krankheiten, bevor die Forschung
nach einigen Jahre nachzog. Ich sage das nicht aus Rechthaberei, sondern um zu
zeigen, dass wir neuen Ansätzen gegenüber nicht zu engstirnig sein dürfen. Es
ist bequem, an unseren alten Vorstellungen festzuhalten, manchmal zu bequem; sie
werden zu einem Katechismus, den wir jeden Tag herunterbeten.
Die
Biologie der Liebe wirft
einen Blick darauf, wie die ersten Wochen und Monate unseres Lebens – nicht
des sozialen Lebens, sondern des vorsozialen Lebens im Mutterleib – unser
Gehirn verändern; wie Gefühle und Erinnerungen ins Gehirn eingestempelt werden
und wie und warum sie für den Rest unseres Lebens fortdauern. Sie befasst sich
damit, warum nichts im Erwachsenenleben grundlegend ändern kann, was mit uns
als Kleinkindern und sogar schon vor der Geburt geschah. Wenn uns in einer
kritischen Periode ein Trauma widerfuhr oder
Liebe fehlte, kann nichts im Erwachsenenleben das ändern, weil die Änderungen,
die zu jener Zeit stattfanden, dem neurobiologischen System bleibend eingeprägt
wurden. Aber verlieren Sie nicht den Mut; es gibt Lösungen, die ich in diesem
Buch ansprechen werde.
Wir werden uns das Leben im
Mutterleib anschauen und seine Auswirkungen auf uns als Erwachsene. Wir wissen
zum Beispiel, dass die Praxis, der Mutter während der Schwangerschaft schwere
Beruhigungsmittel zu verabreichen, das System
des Babys lahm legt. Das hat lebenslange Auswirkungen zur Folge, die von
niedriger Libido bis zu passiven, phlegmatischen Charaktermerkmalen reichen. Wir
wissen, dass eine Frau, die während der Schwangerschaft Beruhigungsmittel nimmt
und/oder erhebliche Mengen Alkohol konsumiert, bereits den
Neurotransmitter-Spiegel ihrer Leibesfrucht beeinträchtigt; das führt möglicherweise
zu Ängstlichkeit oder Depression im späteren Leben des Kindes. Wenn im Gehirn
der schwangeren Mutter ein Mangel an hemmenden Neurohormonen auftritt, so trifft
dies auch auf ihr Baby zu. Wenn eine Mutter ihr Kind liebt, verstärken sich die
Hormone der Liebe (Oxytozin, Vasopressin und Serotonin) im Baby ein Leben lang.
Es wird als Erwachsener eine bessere Mutter oder Vater für seine eigenen Kinder
sein. Es wird eine andere Physiologie haben als die eines Menschen, der in
seiner frühen Kindheit keine Liebe erfahren hatte.......und ein anderes Gehirn.
Vorgeburtliche
Traumen verursachen Veränderungen im Neurotransmitter-Ausstoß und in der
Anzahl der Rezeptoren. Neurotransmitter sind die chemischen Vehikel, die unsere
Gefühle durch das gesamte Nervensystem transportieren oder diese Gefühle
abrupt zum Stillstand bringen. Eine zu große Menge an Schmerz, ein zu lange
anhaltender früher Mangel an Liebe kann die Schleusen gegen das Fühlen
verschließen. Einer teuflischen Dialektik folgend kann früher Schmerz die
„Schleusen“ schwächen, die unser Gehirnsystem errichtet, um eben dieses
Trauma zu blockieren. Das Neugeborene einer heroinsüchtigen Mutter ist im
wahrsten Sinne des Wortes arm dran. Seine Endorphin-Rezeptoren sind verkleinert,
um sich an die Drogensucht der Mutter anzupassen. Eine glückliche, wohlgenährte
Schwangere hingegen verleiht ihrem Fetus das ausreichende Rüstzeug, um sich den
potentiellen Hürden der Geburt und späterer Widerstände im Leben zu stellen.
Das Baby wird reichlich mit Anti-Angst- und Anti-Schmerz-Hormonen ausgestattet,
so dass es sich über Hindernisse und Widrigkeiten hinwegsetzen kann.
Ich untersuche auch die Auswirkungen mütterlicher oder väterlicher
Liebe auf unsere Biologie, und wie fehlende Liebe von Beginn an unseren
„denkenden“ Kortex und unser „fühlendes“ Limbisches System verändert.
Wenn die emotionale Harmonie zwischen Mutter und Neugeborenem gering ist,
entwickeln sich zum Beispiel Nervenzellen in bestimmten Gehirnstrukturen nicht
richtig. Der präfrontale Kortex – die planende, denkende, logische,
integrierende äußere Schicht der Gehirnzellen – wird durch fehlende Liebe am
Lebensanfang geschwächt, und er wird deshalb im späteren Leben nicht im vollen
Umfang funktionieren. Die Deprivation führt zu verringerter Impulskontrolle und
reduziert das abstrakte Denkvermögen; ebenso beeinträchtigt sie die
Koordination und mindert die Fähigkeit, im Voraus zu planen.
Wenn eine
Mutter oder ein Vater während der ersten Monate des Lebens dem Baby nicht mit
Liebe und Wärme in die Augen schaut, es nicht liebkost, nicht mit ihm redet und
keine Liebe zu ihm empfindet, dann bestimmt dieser Gefühlsmangel die
Wachstumsrate der kortikalen Nervenzellen - oder Neuronen - im Gehirn des
Kindes. Das Kind zu lieben bedeutet, sein Gehirn zu lieben. Unter sonst gleichen
Umständen ist das geliebte Gehirn das normale.
Die
Beschreibung von Schlüsselstrukturen des Gehirns in diesem Werk ist nicht als
endgültiges Modell gedacht. In späteren Kapiteln werde ich die Rolle, die
spezifische Gehirnstrukturen bei Emotionen und Gefühlen spielen, detaillierter
untersuchen und ebenso, wie sie Liebe oder dessen Mangel in körperliche
Symptome übersetzen.
Was hat
Liebe damit zu tun? Mehr als wir uns vorstellen können. Liebe ist nicht einfach
ein Wort, das man einem Kind gegenüber äußert, sondern ein Akt des Fühlens,
der ironischerweise meistens keine Worte erfordert. Wenn wir unser Kind herzen
und küssen und es innig lieben, empfängt es die Botschaft, und sein Leben wird
völlig anders sein. Wenn wir es nicht tun, werden Worte nicht helfen.
In der Biologie
der Liebe werde ich dem Leser eine neue Auffassung der Liebe anbieten, die
in größerem Einklang mit Informationen über das Gehirn und mit der
Psychologie steht. Wir werden sehen, wie konkret Liebe tatsächlich ist; es ist
nicht einfach nur die Auffassung verschiedener Personen über ihr Wesen. Wir
werden entdecken, wie Liebe letztlich bestimmt, wie wir denken, fühlen,
wahrnehmen und als Erwachsene handeln. Sie entscheidet, wie lange wir leben und
welchen Krankheiten wir später im Leben zum Opfer fallen. Es ist keine Übertreibung
zu sagen, dass fehlende Liebe ganz früh im Leben bereits die Grenzen unserer
Lebenserwartung und unserer Glücklichkeit festsetzt. Die sekundären
Abwehrmechanismen wie Rauchen, Trinken, übermäßiges Essen und Drogenkonsum,
die wir gebrauchen, um unsere frühen
Entbehrungen zu verdrängen, werden schließlich zu unserem vorzeitigen Ende
beitragen. In der Regel sterben wir nicht an Übergewicht. Wir sterben an dem
Liebesmangel, der uns dazu bringt, zu viel zu essen. Dasselbe gilt für Rauchen
und Trinken. Vor allem entscheidet frühe Liebe – als Kind geschätzt und
geliebt zu werden – darüber, wie sehr wir später das Leben lieben. Fehlende
Liebe lässt uns mit dem ständigen Gefühl zurück, dem Leben nicht viel
abgewinnen zu können, uns nicht viel daraus zu machen, ob wir leben oder
sterben, weil wir unser Leben nicht fühlen können. So viele Individuen
scheinen ihrem eigenen Tod gegenüber gleichgültig, weil das Leben so wenig für
sie bereit hält. Ich glaube wir wissen genug, um zu erklären, warum das so
ist.
Ich untersuche, wie unsere
Intoleranz und Unmenschlichkeit anderen und sogar unseren Kindern gegenüber mit
der Gehirnfunktion verknüpft ist und wie eine Veränderung der Gehirnfunktion
uns „menschlicher“ machen kann. Warum sind Drogen und Alkohol für manche
Leute so wichtig? Was machen sie mit dem Gehirn, und warum tun sich manche Leute
so schwer, von ihren Gewohnheiten zu lassen? Sind die Zwölf-Schritt-Programme
wichtig? Nur wenn man sich nicht mit dem Ursprung des Schmerzes befasst.
Bereiten wir uns darauf vor, in
unerforschte Gewässer hinauszusegeln und eine außergewöhnliche Reise in die
Tiefen des Unterbewusstseins zu unternehmen. Sind wir dort erst einmal
angelangt, werden wir herausfinden, dass es ein Ort voller Licht, Einsicht und
Frieden ist. All die verborgenen Dämonen - jene schmerzvollen dem Gehirn
innewohnenden Erinnerungen, die dafür verantwortlich sind, dass sich das Baby
verschließen musste und dass sich der Erwachsene noch immer verschließt -
werden befreit werden. Wir nennen sie Dämonen, aber es sind keine. Es sind präzise
Bedürfnisse und Erinnerungen, die in das System eingeprägt worden sind und
vorwärts drängen in dem beständigen Versuch, ihren Weg aus dem Unbewussten zu
finden. Der kortikale Apparat, der nötig ist, damit wir mit dem Verstehen und
Kontrollieren unseres Schmerzes auch nur beginnen können, entwickelt sich erst
im Alter von zwei Jahren, und erst viele Jahre später werden wir die vollständige
Kapazität besitzen, um das
integrieren zu können, was im Unbewussten liegt. In der Zwischenzeit werden
fehlende Liebe am Lebensanfang und andere Traumen diesen kortikalen hemmenden
Apparat vielleicht schädigen und das Kind hyperaktiv, manisch, ängstlich und
angespannt zurücklassen. Es ist kein Zustand, aus dem wir herauswachsen. Es ist
eine Verirrung.
Einfach
gesagt können nicht geäußerte Gefühle uns „verrückt“ machen oder uns
zumindest gehetzt und unwohl fühlen lassen. Diese Gefühle auszudrücken, kann
uns helfen, unsere Gesundheit und Stabilität wiederzugewinnen.
Damit wir
diese Reise unternehmen können, benötigen wir ein elementares Verständnis des
Gehirns und seiner Funktionsweise.
Das Gehirn spiegelt unsere evolutionäre
Geschichte wider. Vom Reptiliengehirn, das den Instinkt steuert, bis zum Limbischen System, das Gefühle verarbeitet, und zum frontalen Kortex, der den
Verstand und das Denken regelt, ist das Gehirn eine Karte zu unseren Ursprüngen.
Dieses bemerkenswerte selbstkonstruierte Organ befindet sich seit vielen
Hundertmillionen Jahren in der Entwicklung.
Gedanken liegen im
intellektuellen Bereich, Gefühle im emotionalen Bereich. Wenn eine Person
sagt „Ich fühle mich minderwertig“, so spricht sie von zwei Ebenen aus.
Der Gedanke der Minderwertigkeit ist eine Begebenheit der obersten kortikalen
Gehirnebene. Das Gefühl der Minderwertigkeit ist ein Ereignis der unteren
Gehirnebene. Es ist das Limbische System, das uns das Fühlen des Gefühls
anbietet. Hierin liegt der erste bedeutende Kernpunkt: Es reicht nicht, über
Gefühle nachzudenken. Es ist wesentlich, sie zu empfinden, so dass wir die Fähigkeit
zu fühlen erlangen. Gefühle sind unsere Menschlichkeit.
Wenn wir in unserer Kindheit
nicht geliebt und bewundert werden, sondern stattdessen mit Gleichgültigkeit
und Missachtung behandelt werden, können wir uns durchaus als „nicht gut
genug......nicht gut genug, um geliebt zu werden“ fühlen. Das wird zu einer
Einprägung.* Sie ist von Dauer. Wenn diese Art von
Behandlung durch die Eltern die ganze Kindheit weitergeht, dann wird die Einprägung
weggeschlossen. Das bedeutet, dass alle Ermutigung der Welt im Alter von
zwanzig Jahren dieses Gefühl nicht auslöschen wird. Ermutigung – „Du
bist wunderbar, weißt du“ – ist ein Gedanke; Gedanken können an Gefühlen
nichts ändern. Nur Gefühle können das. Diese scheinbar simple Auffassung
hat tiefgreifende Implikationen. Denn wenn wir unsere Menschlichkeit
wiedergewinnen wollen, müssen wir unsere Gefühle wiedergewinnen; und das
schaffen wir nicht allein auf dem Gedankenweg.
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Um das Fühlen wieder zu
erlangen, müssen wir all die Verletzungen voll erfahren, die es blockieren, und
den Schmerz zu vollem Bewusstsein bringen. Nur dann kann ein „Gedanke“ Veränderungen
bewirken, wenn er Gefühlen entspringt. Volles Bewusstsein beraubt das
Unbewusste seiner Macht, das Verhalten zu steuern. Gedanken und Gefühle
residieren an verschiedenen Orten im Gehirn. Wir dürfen nicht versuchen, die
eine Ebene die Arbeit einer anderen Ebene machen zu lassen. Wir dürfen nicht
danach trachten, Gedanken als Ersatz für Gefühle zu benutzen. Das Fühlen der
Gefühle involviert bestimmte Strukturen im Gehirn, wie den Hippocampus und die
Amygdala. Gedanken über diese Gefühle werden
in der obersten kortikalen Ebene verarbeitet, besonders im vorderen Gehirnteil
der linken Hemisphäre. Wenn wir allein den frontalen Kortex zum Fühlen
benutzen, stecken wir in Schwierigkeiten. Was wir bestenfalls erwarten können,
ist ein Weinen „darüber“, ein Rückblick eines Erwachsenen auf seine
Kindheit, aber nicht das Kind, das tatsächlich seine Verletzungen fühlt.
Die Kräfte, die unser Verhalten steuern,
befinden sich weitgehend in drei unterschiedlichen Gehirnsystemen: (1) der
Kortex, der vollständiges Bewusstsein bewirkt; (2) das Limbische System, das Fühlen
steuert; und (3) der Hirnstamm, der Instinkte und Überlebensfunktionen
reguliert. Einprägungen ereignen sich in verschiedenen Teilen des Gehirns; das
hängt von ihrer Kraft ab und vom Zeitpunkt ihres Auftretens. Ganz frühe
Entwicklungen – vor und während der Geburt – wirken sich auf das zu dieser
Zeit kompetenteste Nervensystem aus – auf den Hirnstamm. Traumen in der frühen
Kindheit beeinflussen den Hirnstamm und das Limbische System. Später, wenn sich
der Neokortex entwickelt, sind auch Denkprozesse betroffen. Der Hirnstamm ist
ein circa 7,5 cm großer Stiel, der das Gehirn mit der Wirbelsäule
verbindet und sich aus drei Hauptteilen zusammensetzt: Medulla, Pons und
Mittelhirn. Zu seinen weiteren Strukturen gehören das retikuläre
Aktivierungssystem (Gruppen von Nervenzellen, die höhere Gehirnebenen auf
Stimuli aufmerksam machen) und der Locus caeruleus (eine Ansammlung von
Neuronen, oder Nervenzellen, die das Nervensystem als Reaktion auf Schmerz und
manchmal auch auf Lust aktivieren). 1
Erst einmal ist das Gehirn horizontal in zwei Hemisphären geteilt, jede mit ihren eigenen speziellen Funktionen. Die rechte Hemisphäre ist größer als die linke; sie ist der Sitz der Gefühle und Emotionen und des ganzheitlichen, globalen Denkens. Gedanken, Vorstellungen und Planung sind die Domäne der linken Hemisphäre. Das rechte Gehirn ist im zweiten Lebensjahr weitgehend gereift; das linke Gehirn beginnt zu dieser Zeit erst mit dem Reifeprozess. Gefühle gehen Gedanken voraus. Im Sinne der Evolution sind wir schon lange fühlende Geschöpfe, ehe wir denkende sind. Wenn wir zeitlich in unserem Gehirn zurückgehen wollen, müssen wir mit einem
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geeigneten Vehikel reisen. Gedanken sind der falsche Zug. Wir müssen die
Zeitreise auf das Gehirn abstimmen, das zu jener Zeit mit der Einprägung
beschäftigt war; so kann ein Geburtstrauma weit unterhalb der Gedanken und
sogar unterhalb der Gefühle angesiedelt sein; eingraviert in den Hirnstamm, der
der primitivste Aspekt unseres Nervensystems ist. Diese Einprägung kann nur in
Form von Salamander-Bewegungen „erklärt“ werden, ein Winden und Drehen ohne
Benutzung der Glieder. Das ist die Sprache des Hirnstamms. Wenn wir später
verstehen, was wir durchgemacht haben, hilft uns das, aber wir können nicht
Stufen der Evolution überspringen und Veränderung erwarten. Das ist mein
zweiter gewichtiger Kernpunkt: Wir können uns nicht über die Evolution
hinwegsetzen, wenn wir Probleme verstehen und behandeln wollen. Das Gehirn wird
es nicht zulassen.
Der Hirnstamm spricht die
Sprache des hohen Blutdrucks, des Herzjagens und der Angina; die lautlosen
Killer, die sich ohne Worte ausdrücken. Er beinhaltet die Geheimnisse unserer
Geburt und unseres Lebens vor der Geburt im Mutterleib. Wenn wir wissen wollen,
wie unsere Geburt war, wird er es uns auf seine eigene Art sagen. Sie wird präzise
und unmissverständlich sein. Seine wunderbare Beschaffenheit besteht darin,
dass er nicht lügen kann und es nicht tun wird. Wenn die Erinnerung eine
Herzfrequenz von 180 Schlägen pro Minute einschloss, dann gibt es im
Wiedererlebnis exakt 180 Schläge pro Minute. Das ist eine Möglichkeit, wie wir
Erinnerung auf ihre Richtigkeit überprüfen können.
Die Struktur, die ganz zuletzt
etwas über uns selbst weiß, ist der linke frontale Kortex. Ereignisse früh im
Leben können von der rechten fühlenden Hemisphäre verarbeitet werden, ohne
dass sich die linke Seite dessen bewusst ist. Sie muss über Gefühle rätseln
und liegt oft falsch. Deshalb kommt es zu Fehlwahrnehmungen und
Fehlinterpretationen. Das Paradoxon besteht darin, dass der höchstentwickelte
Teil unseres Gehirns oft am wenigsten über den Rest von uns selbst und über
andere weiß. Ich werde mich bemühen zu zeigen, dass die alleinige Benutzung
des frontalen Kortexes in keinem Menschen tiefgreifende Veränderungen bewirken
kann. Das bedeutet, dass Einsichten in Verhalten und Symptome eine vergebliche
Übung sind. Verstehen ist manchmal hilfreich, ist aber nicht die sine qua non
der Persönlichkeitsentwicklung. Es ist möglich, auf kortikaler Ebene „gesund
zu werden“ und dennoch weiter unten „krank“ zu bleiben. Aus diesem Grund
ist Traumanalyse – Gedanken über Gefühle – keine Hilfe. Die beste Art von
Traumanalyse besteht darin, das Gefühl innerhalb des Traums zu fühlen, und
alle seine Symbole werden sich uns offenbaren.
Das Gehirn besteht aus drei
unterschiedlichen Bereichen. Die tiefste Ebene ist als Hirnstamm oder
Reptiliengehirn bekannt. Über dem Hirnstamm liegt das fühlende oder limbische
Gehirn. Das Limbische System übersetzt Instinkte in Gefühle und sendet die
Kombination an den frontalen Kortex, das Areal an der
oberen Front des
Seite 26
Fig. 1 An Gefühlen beteiligte
Schlüsselstrukturen
Der Hirnstamm kontrolliert automatische Grundfunktionen
wie Augenreflexe, Herzschlag, Verdauung, Atmung und Erbrechen. Er beherbergt die
meisten unserer Instinkte und Überlebensmechanismen. Er umfasst unsere fest
verankerten Bedürfnisse. Der Hirnstamm produziert die Antriebskraft, die
unseren Gefühlen Energie verleiht. Er fügt den Gefühlen den „Schwung“
hinzu. Unverfälschte Wut und Furcht können ihren Ursprung im Hirnstamm haben
und sich dann zur Scharfeinstellung ins Limbische System bewegen, oder sie finden Auslass in künstlerischem Ausdruck
wie zum Beispiel in Bildern oder Geschichten, die Gewalttätigkeit beinhalten.
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Die Medulla beinhaltet Gruppen
von Nervenzellen, die sich mit der Regulierung des Herzschlags, des Blutdrucks,
der Verdauung und Atmung befassen. Der Pons sitzt über der Medulla und ist über
Nervenfasern mit dem Kleinhirn verbunden, einem separaten Organ, das der Rückseite
des Hirnstamms anhängt. Sensorische Information von den Ohren, vom Gesicht und
den Zähnen wird vom Pons weitergegeben. Über dem Pons liegt das Mittelhirn,
das der kleinste Teil des Hirnstamms ist und Augenbewegungen,
Pupillenerweiterung und die Koordination der Gliedmaßen-Bewegung abwickelt.
Im
Idealfall bringen Hirnstamm, limbisches System und Neokortex unsere Instinkte,
Gefühle und Gedanken in harmonischen Zusammenhang. Über lange Zeit jedoch sind
die drei Ebenen voneinander getrennt, so dass beispielsweise unsere Gefühle in
einem Blizzard von Gedanken zermalmt werden. Wir werden sehen, wie ein frühes
Trauma eine Blockierung von einer Ebene zur anderen erzeugt, um zu verhindern,
dass andere Ebenen von Eingaben überwältigt werden. Sehr oft produzieren das
limbische System und der Hirnstamm ihre eigenen Hemmsubstanzen, um die
Schmerzinformation nicht in die Hände des frontalen interpretierenden Kortexes
geraten zu lassen. Das ermöglicht dem Kortex, ohne zu viel Einmischung von
unten zu denken, planen und weiter seinen Geschäften nachzugehen. Manchmal
jedoch sind die Einprägungen der unteren Ebenen so mächtig, dass sie durch die
Schutzbarrieren brechen; und genau dann leiden wir unter Ängstlichkeit, Panik,
Phobien und Zwangsvorstellungen. Genau dann können wir nicht schlafen, weil
Impulse vorwärts eilen und das frontale Areal herausfordern; es stürmt dann
los, um die Dämonen in Schach zu halten. Der diabolische Aspekt der Sache
besteht darin, dass genau dieselben Traumen -auch jene im Mutterleib-, die einen
hohen Spiegel hemmender Neurohormone erzwingen, auch diejenigen sind, die diesen
Spiegel senken. Das heißt, diese Traumen sind von solcher Größe, dass sie das
Verdrängungssystem lebenslang schädigen.
Die tiefer gelegenen Einprägungen versuchen ständig, das Bewusstsein über Dinge zu informieren, von denen es nichts wissen will. Die tiefere Ebene will dem Kortex erzählen, dass sie sich ungeliebt und verletzt fühlt, aber der Kortex ist zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, Liebe zu bekommen, als dass er der Botschaft Gehör schenken könnte. Er weiß nicht einmal, dass er sich ungeliebt fühlt, agiert es aber jeden Tag aus. Die zerebrale Schaltstation verweist die Botschaft der „Nichtliebe“ anderswohin; an das Herz, wo sie Herzklopfen erzeugt, an den Kopf, wo sie Migräne hervorruft, an die Blutgefäße, wo sie Bluthochdruck auslöst. Sie akzeptieren die Botschaft und übersetzen sie in ihre eigene Sprache. Wenn wir die Geheimsprache des Gehirns erlernen, können wir das Symptom in die reale Information zurückübersetzen und somit den Schmerz aus seiner Behausung in tieferen Ebenen entfernen. Es bedeutet, „den Kode zu entschlüsseln.“ Das bedeutet, die Einprägung anzuerkennen, die verschlüsselte Erinnerung, die vielleicht bis zur Geburt zurückdatiert. Deshalb ist die Konzeption der Einprägung so entscheidend. Ohne diese Konzeption treiben wir hilflos umher, können die Ursache vieler Dinge nicht verstehen, oder nicht einmal,
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dass es Ursachen gibt, die in den Antipoden des Gehirns liegen. Wir sind
dann gezwungen, alles in den gegenwärtigen Kontext zu stellen. Nichtsdestotrotz
sind wir historische Geschöpfe, und die Wahrheit über uns selbst liegt in der
Geschichte, und die Geschichte liegt im Gehirn. Sie kann in Erfahrung gebracht
werden.
Der
frontale Kortex und Gefühle
Der vordere Teil des Kortexes
sitzt auf Höhe der Augäpfel und bildet die oberste Schicht des Gehirns. Er
wird als orbitofrontaler Kortex (OBFK) bezeichnet und verarbeitet Informationen
von außen zusammen mit Erinnerung und persönlicher Geschichte, um Bewusstheit
herzustellen, nicht zu verwechseln mit Bewusstsein. Bewusstsein wird
definiert als ein Zustand, bei dem alle drei Ebenen der Gehirnaktivität
harmonisch funktionieren. Wenn es zwischen dem frontalen Kortex und tieferen
Zentren angemessenen Zugang gibt, spricht man von vollem Bewusstsein. Der präfrontale
Kortex, der sich hinter der Stirn befindet, und der OBFK spielen im Alter von
etwa zwei Jahren zum ersten Mal eine aktive Rolle, indem sie Verstehen und
Nachdenken organisieren. Weil nur wenige von uns in der nahen Zukunft
Gehirnchirurgie praktizieren werden, werde ich mir die literarische Freiheit
nehmen und den OBFK und präfrontalen Kortex einfach als frontalen Bereich oder
frontalen Kortex erwähnen. Der OBFK ist im allgemeinen der
„Stopp“-Mechanismus für die Hemmung von Impulsen. Wenn diesem Areal
schwerer Schaden zugefügt wird, finden wir Ruhelosigkeit, Mangel an Hemmung,
Hyperaktivität und Ablenkbarkeit. Das kann ohne einen Schlag auf den Kopf
geschehen, nämlich durch Schwächung in der Entwicklungsphase , wenn ganz früh
im Leben Liebe fehlt.2 Der Kortex ändert sich
dramatisch, wenn es zu früher Deprivation kommt. Seinen Platz nimmt ein anderes
Gehirn ein, das weniger Zellen zur Verfügung hat, um seine Arbeit zu erledigen.
Das Limbische
System
Das
Limbische System besteht aus mehreren Strukturen und ist im Alter von zwanzig
Monaten weitgehend entwickelt. Der Hippocampus dieses Systems ist im Alter von
zwei Jahren ziemlich gereift, aber neues Beweismaterial deutet darauf hin, dass
intellektuelle Stimulierung im späten Erwachsenenalter neue Hippocampus-Zellen
erzeugen kann. Das Gehirn kann neue Zellen hervorbringen, vielleicht für den
Rest unseres Lebens.
Die Amygdalae sind ein Paar mandelförmiger Strukturen auf der inneren Oberfläche der Temporallappen, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hippocampus.
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Sie agieren als eine Art Kreuzung
im Gehirn. Der Forscher Joseph LeDoux schreibt: „Die Amygdala hat direkte und
ausgedehnte Verbindungen mit allen sensorischen Systemen des Kortexes.......und
kommuniziert auch mit dem Thalamus.....Derselbe Teil der Amygdala, in dem
sensorische Eingaben zusammenlaufen, sendet Fasern tiefer ins Gehirn an den
Hypothalamus, den man für den elementaren Ursprung emotionaler Reaktionen hält.“
3 Die Amygdala scheint der Brennpunkt des Fühlens zu sein,
indem sie Nachrichten erhält und via Hypothalamus an die Organsysteme sendet.
Sie übermittelt auch emotionale Information – Leiden - an den Thalamus, der
sie dann für den frontalen Kortex übersetzt, welcher uns unserer Gefühle
bewusst macht.
Jüngste Forschungsergebnisse
zeigen, dass die Amygdalae sich lange vor dem Neokortex entwickeln, sowohl in
der persönlichen Entwicklung (ontogenetisch) als auch in unserer langen
Geschichte vom Tier zum Menschen (phylogenetisch). Sie sind eine der ältesten
Strukturen des Gehirns, eine Region in der Nähe des Hippocampus, der auch uralt
ist, aber nicht so alt wie die Amygdala. Die Amygdala ist in der Verarbeitung
emotionaler Information bis zur Mitte des ersten Lebensjahres dominant. Wenn wir
erfahren wollen, was das Unbewusste bereit hält, müssen wir Zugang zu dieser
Struktur erlangen. Das ist machbar.
Die Amygdalae scheinen ihr eigenes Opium „anzubauen“. Sie sondern Opiate ab, die Schmerz unterdrücken und schmerzvolle Information von vollem Bewusstsein fernhalten. Ich finde es verblüffend, das dieses Stück gallertartiger Materie, das wir Gehirn nennen, sich selbst anweisen kann, ein Mohnblumen-Derivat freizusetzen, um die Wahrnehmung von Schmerz auszuschalten. Mehr noch, es erteilt sich selbst die genaue Anweisung, wie viel und wann sie es freisetzen soll und auch, wann sie damit aufhören soll. Tatsächlich ist es nicht ganz so überraschend, wenn wir betrachten, dass viele Pflanzen, die Sonne brauchen, um Energie für ihr Wachstum zu produzieren (Sauerstoff erzeugende Photosynthese), zum Verschließen tendieren, wenn sie zu sehr dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Die Auffassung von Überlastung und Verschließen ist kurz gesagt etwas, das wir ins Pflanzenleben zurückverfolgen können.4 Für einige Pflanzen wird beständiges und unvermindertes Sonnenlicht gefährlich, weil es den Umsatz der Photosynthese senkt. Ich zitiere jetzt, was zwei Pflanzenforscher sagen: „Wenn die Schutzprozesse überwältigt werden, wird Photoinhibition (meine Betonung) die Effektivität und Kapazität der Photosynthese senken.“ 5 Der Blattschaden kommt einem Sonnenbrand gleich. Vielleicht trete ich die Sache jetzt breit: Sie fanden heraus, dass extrem intensives Sonnenlicht ein Signalsystem aktiviert, das die Regionen der Pflanze, die noch nicht dem Licht ausgesetzt sind,
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vor drohender
Gefahr warnt. Sie verschließt sich und wird wortwörtlich „das Licht nicht
herein lassen“; das könnten wir auf Menschen extrapolieren. Das Schlüsselprinzip
ist Überlastung und Verschließen.
Überlastung
und Verschließen: Wie wir verdrängen
Unser
Gehirn kann in der Evolution auf pflanzliches Leben zurückgreifen, um
Schutzvorrichtungen aufzubauen. In dem Pflanzenparadigma können wir
Anhaltspunkte finden, wie unser Gehirn arbeitet. Es gibt eine Anzahl von Studien
über Nervenzellen, die zeigt, dass Zellen „ruhig“ werden, wenn das Maß an
Eingaben überwältigend wird. Sie reagieren nicht mehr. Auch das demonstriert,
wie Überlastung zum Verschließen oder Stillstand führt. Wenn es in einer nuklearen Pflanze geschieht,
läuten die Alarmglocken. Wenn es mit dem menschlichen System geschieht,
passiert nichts. Zumindest nichts Offensichtliches. Unterdecks herrscht ständig
aufgeregte Aktivität, weil sich Hormone in das System ergießen: Die
Körpertemperatur steigt an, weiße Zellen huschen hin und her, und Hirnzellen
rekrutieren Helferzellen im Dienste der Verdrängung. Leider ist der Alarm
lautlos, und es ist auch keiner da, der ihn hören könnte. Der Alarm schrillt
und brüllt, doch wir sind taub. Die Eingeweide schreien auf, während wir mit
einem glückseligen Lächeln herumlaufen, als sei alles in Ordnung mit der Welt,
oder wir sind so in unsere Geschäfte vertieft, dass wir die Katastrophe
ignorieren, die gerade vorbereitet wird. Diese Katastophe kann das Ende unseres
Lebens bedeuten.
Hinter den Amygdalae bildet der
Hippocampus die Spitze des Widderhorns; das Wort bedeutet „Seepferdchen“,
dem diese Struktur ähnelt. Er ist eine sehr alte Struktur des Gehirns und
offenbar für das „deklarative Gedächtnis“ verantwortlich, für den Kontext
und die Umstände eines Ereignisses, im Gegensatz zu seinem emotionalen Inhalt,
welcher zum Kompetenzbereich der Amygdala gehört.
Der Hypothalamus liegt an der Anschlussstelle zur Widderhorn-Form des Limbischen Systems und hat etwa die Größe einer Kirsche. Er befindet sich hinter den Augen und unterhalb des Thalamus und ist mit anderen Gebieten des Nervensystems verbunden. Der Hypothalamus reguliert die Hormonproduktion und stimuliert das
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Immunsystem über die Hirnanhangdrüse,
die genau unter ihm sitzt. Er hilft auch bei der Regulierung vitaler Körperfunktionen,
einschließlich Blutdruck, Herzschlag und Körpertemperatur. Der Hypothalamus
steuert sowohl das parasympathische als auch das sympathische Nervensystem, die
das autonome Nervensystem bilden. Das autonome Nervensystem kontrolliert die
Funktion der inneren Organe. Wir werden sehen, wie wichtig dieses System ist.
Wir haben einen flüchtigen
Blick auf einige Schlüsselstrukturen des Gehirns geworfen, die am Gefühlsprozess
beteiligt sind. Im nächsten Kapitel werden wir untersuchen, wie diese
Strukturen interagieren und einander Botschaften zusenden und wie Informationen
in neuralen Highways, die als „Bahnen“ bekannt sind, verstärkt oder
blockiert werden. Wir werden sehen, wie das Unbewusste zum “Unbewussten“
wird. Wir werden entdecken, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn wir keinen
Zugang zu unseren höheren Zentren haben, wo die Bewusstheit liegt. In Kapitel 7
werde ich zwei neue Begriffe einführen: die Einprägung und die kritischen
Perioden. Wir werden herausfinden,
wie Ereignisse außerhalb unserer selbst – ein Blick, ein finsterer
Gesichtsausdruck oder ein harsches Wort – ein Leben lang in unser Gehirn eingeprägt werden. Und
wir werden entdecken, dass es entscheidende Zeiten gibt, in denen Einwirkung von
außen den größten Einfluss auf uns hat und somit die Entwicklung des Gehirns
ändern kann.
Es gibt Perioden vor der Geburt
und gleich danach, in denen sich das Gehirn mit unglaublich hoher
Geschwindigkeit entwickelt. Diese Perioden umfassen die Zeit, in der
Nervenzellen des Gehirns – Neuronen – ihre Verknüpfungen zu anderen
Neuronen entwickeln, um Nervenbahnen zu formen. Ein schweres Trauma während
dieser Perioden - eine ängstliche oder deprimierte Mutter oder eine Mutter, die
viel trinkt oder raucht, - kann dazu führen, dass das Gehirn permanent
abweicht.
Boten des
Gehirns
Das Nervensystem als Ganzes besteht aus Milliarden von Neuronen, die untereinander in Verbindung stehen. Diese Nervenzellen erhalten Signale - oder Informationen - von den Sinnesorganen des Körpers und übermitteln sie an das zentrale Nervensystem. Jedes Neuron besteht aus einem Zellkörper und Verzweigungen, die man Dendriten nennt. Signale reisen zwischen den Neuronen über leitende Fasern, Axone genannt, die sich am Ende verzweigen und Axon-Terminale bilden. Der Spalt zwischen einem Axonterminal und der empfangenden Nervenzelle wird als Synapse bezeichnet. Signale überqueren diesen Spalt mit Hilfe von chemischen Substanzen, die man Neurotransmitter nennt. Die Anzahl der Synapsen
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ändert sich durch frühe
Traumen und schafft dadurch eine andere Art von Gehirn. Wenn wir nicht von früh
an geliebt werden (und was ich diskutiere, das findet immer ganz früh im Leben
statt, vor der Geburt und in den ersten achtzehn Monaten nach der Geburt), haben
wir in gewissem Sinne „nicht alle unsere Tassen im Schrank“, um den
Lebenskampf antreten zu können. Diese „Tassen“ sind unter anderem die
synaptischen Anschlussstellen. Dort werden die chemischen Boten abgeladen, die
Information entweder zurückhalten oder ihre Kommunikationsfähigkeit
verbessern, besonders in Richtung höhere Ebenen, die aus all dem einen Sinn
machen könnten.Beruhigungsmittel wirken in diesen Spalten meistens dahingehend,
dass sie die Nachricht verhindern - eine sehr alte....“niemand kümmert sich
um mich.“ Das Gehirn, das Limbische System und der Hirnstamm sind mit
Nachrichten wie dieser beladen.
Die spinnenartigen Zweige, die
von einer Nervenzelle zu anderen Neuronen führen, werden Dendriten genannt; sie
liefern Informationen zu anderen Nervenzellen. Wenn Liebe fehlt, leiden die
Dendriten. Es gibt weniger Verzweigungen, und das Resultat ist ein anderes –
und permanent anderes – Gehirn. Die Anzahl der Stresshormon (Kortikosteroid-)
– Rezeptoren hat sich auch verringert, so dass es wahrscheinlich mehr frei
fließende Stresshormone im Gehirn gibt.6 Was besonders in den
limbischen Gefühlszentren übrig bleibt, ist ein toxisches Gehirnmilieu mit
weniger Synapsen, die Information von einer Region zur anderen befördern könnten.
Das mag erklären, warum ein Mensch anderen nicht sympathisch und für deren
Schmerz nicht empfindsam ist; weil er nämlich sich selbst gegenüber
unempfindsam ist. Seine Gefühlszentren sind geschwächt.
Viele verschiedene Substanzen
erfüllen die Funktion dieser Boten. Sie helfen dabei, Informationen einer
tieferen Ebene zu höheren Arealen zu befördern. Serotonin, zum Beispiel, unterstützt die Hemmung von Schmerz und
hat auch mit Sattheit zu tun - ein ganz positiver Aspekt. Ich werde mich jedoch
auf seine repressiven Komponenten konzentrieren, weil es im Grunde ein hemmender
Neurotransmitter ist.
Acetylcholin befördert Informationen zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark. Norepinephrin kontrolliert Herzfrequenz und Stressreaktion. Es steht mit Belohnung in Zusammenhang. Dopamin hilft bei der Koordination von Körperbewegungen und dabei, uns und unseren Kortex zu stimulieren, damit wir wachsam werden, und es wird mit Zielstrebigkeit in Verbindung gebracht. Zu viel Dopamin kann jedoch den Kortex überstimulieren und uns buchstäblich „verrückt machen“. Die Endorphine spielen eine Hauptrolle in der Kontrolle unserer Empfindlichkeit für Schmerz. Diese Neurotransmitter werden in späteren Kapiteln ausführlicher diskutiert, aber für den Augenblick müssen wir uns bewusst sein - und die meisten von uns sind es bereits -, dass das Gehirn seine eigenen Schmerztöter produziert. Gelegentlich werde ich mich auf bestimmte Transmitter konzentrieren, insofern sie sich auf emotionale Verstimmungen beziehen; ich denke aber immer daran, dass diese chemischen Substanzen einen weitgefächerten Funktionsbereich haben.
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Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter all den „Gefühlszuständen“, die in der psychiatrischen Literatur erörtert werden, ein Gehirn steckt, eines, aus dem Angst und Depression aussickern. Wir wollen herausfinden, wo dieses Phänomen stattfindet und warum. Was ist verantwortlich dafür, dass es geschieht? Sollen wir schmerzvolle Information auf ihrem Weg zu vollständigem Bewusstsein automatisch unterdrücken? Wenn sich der Mensch mit Beruhigungsmitteln besser fühlt,- können wir das als Heilung betrachten? Reicht das? Oder muss man für die Verdrängung einen Preis zahlen?
* Anm.
d. Übers.: „Imprint“: Prägung/Einprägung. In der
Psychologie/Verhaltensforschung existierte der deutsche Begriff „Prägung“
vor dem englischen „Imprint.“ Da aber der Begriff „Prägung“ meiner
Ansicht nach zu schwach ist, um ein früh eingraviertes Trauma angemessen zu
beschreiben, übersetze ich „imprint“ überwiegend mit „Einprägung.“
N. 1
Der locus caeruleus erzeugt Norepinephrin – Aktivierung. NE moduliert
den Kortex als Reaktion auf Stress oder Lust, aber ich werde mich auf Stress
konzentrieren.
Siehe: N.
Singewald und A. Philippu, „Neuroanatomy of the Pain System and of
the Pathways that Modulate Pain,“ Progress in Neurobiology 56, no. 2
(Oktober 1998): 237-67.
N. 2 Siehe
K. H. Pribram und D. Mcguinness, „ Arousal, Activation, and Effort: Separate
Neural Systems,“ Psychological Review 82, no. 2 (März 1975): 116-49.
N. 3 Joseph
LeDoux, The Emotional Brain (New York: Simon & Schuster, 1996), s. 163.
N. 4
C. H. Foyer und Graham Noctor, “Leaves in the Dark Sea the Light,”
Science 284, no. 5414 (23. April 1999): 599
N. 5
Ibid.
N.6 A. Barzanges et al., « Maternal Glucocorticoid Secretion Mediates Long-Term Effects of Prenatal Stress,” Journal of Neuroscience 16 (15. Juni 1996): 3943-49
KAPITEL
2
DER
FRONTALE KORTEX
Das Gehirn des denkenden Menschen
Der orbitofrontale Kortex (OBFK) liegt
hinter den Augäpfeln in der obersten Schicht des Gehirns und kombiniert
Informationen von außen mit Erinnerung und persönlicher Geschichte, um
bewusstes Verhalten zu erzeugen. Zusammen mit dem präfrontalen Kortex, der
sich hinter der Stirn befindet, beginnt der OBFK etwa im Alter von zwei Jahren
zu funktionieren und entwickelt sich weiter bis zum Alter von ungefähr
zwanzig Jahren.
Es reicht
hier, wenn man weiß, dass sich dieses vordere Areal der obersten
Gehirnschicht mit Gedanken, Ideen, Planung, Überzeugungen, Philosophien,
Logik, Vernunft, Verstehen, Voraussicht und Einsicht befasst, und all das
zustande bringt, indem es Informationen von innen mit Eingaben von außen
vereint. Es integriert auch Gefühle der unteren Ebene ins volle Bewusstsein
und verleiht unseren Gefühlen Bedeutung; damit hilft es uns, mit der Außenwelt
umzugehen. Es beinhaltet Ehrgeiz, abstraktes Denken und ausgeklügelte
Konzeptionen. Es hat mit Ehrgeiz zu tun, weil es Ziele für die Zukunft setzen
und Pläne schmieden kann, wie sie zu erreichen sind.
Das Problem besteht darin,
dass diese Konzeptionen manchmal allein im frontalen Bereich existieren ohne
solide Verbindung zu den subkortikalen Strukturen des Gehirns. Das erklärt,
warum wir schlau sein können, aber nicht intelligent. Durch die Abkoppelung
von tieferen Zentren können wir falsch wahrnehmen und falsch urteilen.
Das Wachstum des frontalen Kortexes erreicht zwischen achtzehn Monaten und zwei Jahren eine vorläufige Reife. Weil er in wechselseitiger Beziehung zum retikulären Aktivierungssystem steht,
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muss er angemessen funktionieren, um die
Weck- und Alarmfunktion modulieren zu können. Wenn ernsthafte Widrigkeiten vor,
während und nach der Geburt eintreten, schwächt das den frontalen Kortex; das
Schleusensystem wird beeinträchtigt, und das bedingt unzulängliche
Impulskontrolle und/oder lebenslange Spannung und Ängstlichkeit. Das Kind/der
Erwachsene hat keine starke Anti-Schmerz-, Anti-Angstfunktion mehr.
Ereignisse in unserem Umfeld
bestimmen die Tiefe kortikalen Wachstums; das wiederum legt fest, wie wir Dinge
wahrnehmen, wie wir denken und planen. Ein hohes Maß an Stress oder Vernachlässigung
in den ersten zwei Lebensjahren hat zweifellos dauerhafte Folgen für die
Gehirnentwicklung. Es kann auch eine Rolle bei der übermäßigen Straffung der
kortikalen Neuronen spielen, die dem Kind weniger Gehirnkapazität für den
Umgang mit zukünftigem Stress belässt. Neuronen
scheinen dorthin zu gehen, wo sie benötigt werden; sie verkümmern oder
schwinden, wenn und wo sie nicht gebraucht werden. Im Umgang mit frühen Traumen
werden neue Nervenbahnen konstruiert und andere eliminiert. Im Gegensatz dazu
kann es sehr wohl zu einem Defizit in der Entwicklung von Synapsen kommen, wenn
es im ersten bis zweiten Jahr nicht genügend Stimulierung oder emotionale
Interaktion zwischen Eltern und Kind gibt.
Ein Trauma kann die Sekretion
von Dopamin stören, eine aktivierende neurochemische Substanz, die oft als „Wohlfühlchemikalie“ bezeichnet
wird und die für die Entwicklung unserer frontokortikalen Nervenzellen
notwendig ist. (Hohe Dopaminwerte neigen dazu, Euphorie zu erzeugen.) Wie wir
sehen werden, ändert vor allem fehlende Liebe am Lebensanfang - und das ist
immer ein Trauma - die inhibitorischen Neurohormon-Systeme, so dass die Verdrängung
lebenslang an Wirkung einbüßt. Es ist kein Wunder, dass Angst, die ihre
Wurzeln im Mutterleib haben kann, für die konventionelle Psychotherapie so
schwer zu behandeln ist.
Ein richtig funktionierender Kortex arbeitet mit dem retikulären Aktivierungssystem zusammen, um die Weck- und Alarmfunktion zu regulieren. Ohne ihn kann man nicht zur Ruhe kommen, und das Ergebnis kann ein chronischer Hyper-Zustand - oder noch schlimmer - eine Angstattacke sein. Die Forschung zeigt, dass frühe Ereignisse unsere Gehirne buchstäblich formen. Ein geliebtes Kind hat wortwörtlich ein anderes Gehirn als ein ungeliebtes. Die Arbeit von Jean Lauder sammelt Indizen, die beweisen, wie Widrigkeiten im Mutterleib die Struktur der langen Axone verändern, die Informationen an andere Nervenzellen weitergeben. Manchmal kommt es zu übermäßiger Straffung, weil sich das Gehirn mit übermäßigem Schmerz befassen muss und Gehirnzellen für Verdrängung benutzt anstatt für den Umgang mit der Wirklichkeit der Außenwelt. Liebe erzeugt eine große Menge an Serotonin
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und
anderen verdrängenden Gehirnhormonen, die bei der Unterdrückung zukünftigen
Schmerzes helfen. Sie baut auch einen starken präfrontalen Kortex auf, so dass
Eingaben von innen und außen besser integriert werden können. Deshalb ist ein geliebtes Kind ein
kluges Kind.
Hier sei nur gesagt, dass die Mutter oder Bezugsperson
eines kleinen Kindes sein übriges Nervensystems konstituiert. Sie füllt die
Leerräume auf. Das Kind kann weinen oder schreien, aber es kann sich nicht
selbst trösten und somit nicht beruhigen; dafür braucht es die Liebe der
Eltern. Durch liebevolle Fürsorge wird es die Fähigkeit entwickeln, später
normale liebevolle Reaktionen zu zeigen. Ohne diese Fürsorge wird es zu einem
gestörten Erwachsenen, der für immer unfähig ist, sich in sich selbst zu
Hause zu fühlen. Wie könnte es anders sein, wenn doch Menschen, die unter
Schmerz stehen, ein anderes Gehirn haben?
Der frühe Schmerz wird zu einem reverbierenden oder zurückschwingenden
Schaltkreis.1 Was Schore vorgeschlagen hat, ist eine mögliche
neuronale Schleife für dieses Reverbieren. Überzogene Reaktionen lodern auf
angesichts des allerbanalsten Ereignisses. Eine Frau, die als Kind nie nach
ihren Meinungen oder Gefühlen gefragt wurde, wird bei der leisesten Andeutung
von Respektlosigkeit überreagieren, zum Beispiel wenn eine Verkäuferin sie beim Vornamen nennt oder ihr Kind ihr
widerspricht. Diese unangemessenen Reaktionen erhielten einst das Prädikat
„Neurose“. Es ist ein Begriff, den wir benutzen können, aber „Schmerz“
tut es ebenso.
Eine Einprägung hat eine lange Lebensspanne und wandert
endlos von subkortikalen Zentren des Hirnstamms zu kortikalen Orten und zurück.
Sie formt den Hintergrund, vor dem sich gegenwärtiges Verhalten bildet. Im oben
genannten Fall wird der fehlende Respekt seitens der Eltern im Limbischen System
deponiert, das dann jeder Situation Bedeutung verleiht, in der Respektlosigkeit
vorkommt.
Je katastrophaler das frühe Trauma ist, je länger die frühe emotionale Deprivation andauert, umso katastrophaler ist die spätere Krankheit, sei es psychisch oder physisch. Diese Einprägungen wirken sich nachteilig auf die kortikale Entwicklung aus; das bedeutet möglicherweise lebenslange Angst. Wenn genug Stresshormone in konstanter Wechselwirkung mit dem übrigen Hormonsystem stehen, kann es schließlich zu ernster Krankheit kommen. Eingestempelte Erinnerung verleiht Verhalten wie Aggression, Depression, Paranoia, Eifersucht, Albträumen, Trinken und Drogensucht beständige Dynamik. Wir können von der Zeit „wissen“, als unser Vater unsere Mutter verließ, aber wir müssen von diesem Ereignis auch „wissen“, indem wir uns mit den Gefühlen in Verbindung setzen, die in unserem Unbewussten unterhalb des Kortexes liegen. Dann werden wir voll bewusst; darin liegt die Agonie begründet. Sich einer Sache nur intellektuell bewusst zu sein, bedeutet nicht unbedingt Agonie. Sich ihrer voll bewusst zu sein, bedeutet sehr wohl Agonie (vorausgesetzt, diese frühen schmerzvollen Ereignisse existierten). Es ist kein Mysterium,
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warum ein
Urschmerz-Trauma später im Leben zu katastrophaler Krankheit führt. Jene frühen
Traumen führen zu sehr hohen Messwerten vitaler Körperfunktionen. Diese Kraft
bleibt im System und schafft Verwüstung, die schließlich zu ernsthaften Leiden
führt. Diese Kraft erfordert eine gleichwertige und entgegengesetzte Verdrängungskraft,
so dass das System eine Vielzahl hemmender biochemischer Substanzen in den
Dienst beordern muss. Diese tiefe Verdrängung (und es ist nahezu unmöglich,
die Stärke dieses Druckes mit Worten zu vermitteln) übt großen Druck auf die
Zellen aus, die schließlich zerfallen oder vom Normalzustand abweichen.
Der frontale Kortex kann uns
entweder mobilisieren oder bremsen (Regulierung nach oben oder unten). Frühe
Traumen und fehlende Liebe schwächen die Fähigkeit, langsamer zu werden und
bedingen ein hyperaktives und schwer zu kontrollierendes Kind. Überflutet von
Impulsen, die von all dem frühen Schmerz stammen, den es erlitten hat, besitzt
es nicht die kortikale Ausstattung, um Schmerz zu unterdrücken. Es wird dann
diszipliniert, weil es ihm an Disziplin fehlt. Das Kind braucht genau deshalb
Disziplin von außen, weil es seine innere verloren hat. Darüber hinaus
beschleunigt sich sein Herzschlag aufgrund der Einprägung und aufgrund seiner
mangelhaften Kontrollfähigkeit, und schließlich kann es Jahrzehnte später
eine Herzattacke erleiden.
Im Alter von zwei Jahren
befindet sich dieses Kind bereits auf dem Weg zu Herzproblemen, die mit fünfzig
auftreten. Er wird zu dieser Sorte von Erwachsenen, die sich immer in Bewegung
halten müssen, die keinen Urlaub machen und nicht ausspannen können. Es fehlt
ihm die kortikale Fähigkeit, seinen Stoffwechsel zu verlangsamen – „die
Abkoppelung der Erregung“, von der Schore spricht; das führt zu Geschwüren
oder zu ulzerativer Kolitis. Auch die Funktionen der Eingeweide können beeinträchtigt
werden, da sie ebenso unter Stress stehen. Dieser Personentyp kann reizbar und
leicht aufzubringen sein. Manchmal kann dieser Mensch sich fühlen wie: „Ich möchte
aus meiner Haut fahren.“ Er will die Dinge jetzt erledigt haben! Der
frontale Kortex ist ein Kraftwerk selbstproduzierter Analgetika – hemmender,
schmerztötender chemischer Substanzen. Stimulation dieses Areals hebt den
Spiegel abgesonderter Endorphine an. Auf diese Weise legen Vorstellungen und
Gedanken den Schmerz still. Das Geheimnis besteht darin, den Kortex nicht zu früh
überzustimulieren.
Der orbitofrontale Kortex (wann
immer ich eine Struktur auf globale Weise anspreche, ist unbedingt zu beachten,
dass nur Teilbereiche involviert sind) sendet direkte Botschaften an den
Hypothalamus, der dann Strukturen des Hirnstamms wie zum Beispiel die Medulla
und ebenso limbische Stellen aktivieren kann. Er sendet anregende Katecholamine
(Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) zur Amygdala des Limbischen Systems,
wogegen er hemmende (cholinerge) Sekrete
an den Hirnstamm schickt.
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Er sendet hemmende Information auf
biochemischen Routen an die Amygdala und an den Hirnstamm, weil der Input von
Schmerz es erfordert. Schmerz erzeugt automatisch und dialektisch seinen Unterdrücker,
um einen neuen Zustand herzustellen – einen verdrängenden oder partiell fühlenden
Organismus. In
Wie
ein zorniger Blick zu einer chemischen Substanz in unserem Gehirn wird
Wie wird das böse Wort eines
Vaters zu einer chemischen Substanz im Gehirn des Kindes? Die zornigen Worte
zeigen mögliche Gefahr und Zurückweisung an. Es gibt Hinweise im Tonfall der
Stimme, im Blick und in den Worten selbst. Nun geschieht im Kind Folgendes: Die
Achse Hypothalamus-Frontaler Kortex ist damit beschäftigt, Nachrichten, die zur
Wachsamkeit auffordern, an alle anderen Systeme zu versenden. Diese Nachricht
wird per chemischer Kurier geschickt. Es ist die der Nachricht innewohnende
Bedeutung, welche die chemische Transformation im Gehirn des Kindes in Gang
setzt. Der Hypothalamus löst dann die Freisetzung von Katecholaminen im
endokrinen System aus, die den Herzschlag und den Blutfluss beschleunigen.
Grundsätzlich verläuft der Prozess vom wahrnehmenden frontalen Kortex und
anderen Aspekten des Kortexes (Hören, Sehen, etc.) über den Hypothalamus zur
Hirnanhangdrüse und dann zu Neuronen des sympathischen Nervensystems, welche
die Kampf-oder-Flucht-Reaktion auf Gefahr organisieren.
Dieser Prozess kann auch für
den angestiegenen Serotonin-Ausstoß verantwortlich sein, der die Flut der Gefühle
zurückhalten soll. Wenn die Traumen schwer sind und früh genug stattfanden, können
diese Veränderungen fortbestehen, weil sich die Sollwerte verändert haben.
Terror des Vaters kann zu einem permanenten Anstieg der Stresshormon-Spiegel führen.
Die Frontalzone interagiert mit der
Medulla im Hirnstamm, um auf Herz- und Lungenfunktion einzuwirken. Umgekehrt hält
der Hirnstamm den Tonus und die Spannkraft des frontalen Kortexes aufrecht und
stellt ihn ständig darauf ein, auf Gefühle zu reagieren. Wenn der Hirnstamm
aufgrund eines frühen Traumas, besonders eines Geburtstraumas, in einem
hyperaktiven Zustand ist, können die Areale des Frontalhirns, Limbischen
Systems und Hirnstamms überreagieren. „Hysterie“ ist das Etikett, das wir
dem resultierenden Verhalten verpassen. „Worüber regst du dich so auf?“
„Weiß nicht.“ Nun wissen wir, woher die Überreaktion kommt.
Der frontale Kortex ist unser ganzes Leben hindurch der veränderbarste Bereich des Gehirns.
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Wenn wir vom Zugang zu unserem inneren fühlenden
Selbst abgeschnitten werden, so werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach
beeinflussbarer für Vorstellungen von außen, auch über uns selbst. Anstatt
mit Zentren des tieferen Gehirns Verbindung zu halten und ihnen Aufmerksamkeit
zu schenken, hört der Kortex auf die Gehirnzentren anderer und folgt ihrem
Beispiel. Die Gedanken anderer Leute können dominieren.
Wenn die Handlungen der Eltern
im Umgang mit dem Baby Wärme ausdrücken, wird das Gehirn des Babys von Opiaten
durchströmt, und das Ergebnis ist ein Gefühl der Behaglichkeit. Ich habe
vieler meiner Patienten ausrufen hören: „Zeig mir, dass du mich willst,
Mama!“ In der Tierforschung vermehrt die liebevolle Betreuung von
Versuchstieren gleich nach der Geburt die Anti-Angst–Chemikalien wie zum
Beispiel Serotonin. Dieses erhöhte Niveau ist von Dauer, so dass es auch später
im Leben noch einen passenden Mechanismus gibt, um mit Unglück oder Stress
umzugehen.
Wenn ein Vater sein kleines
Kind niemals berührt, wenn er ungeduldig und zornig ist und von einem Zweijährigen
Gehorsam verlangt, wird es an kortikalen Neuronen fehlen......für eine sehr
lange Zeit. Umarmungen und Küsse während dieser kritischen Perioden bewirken,
dass diese Neuronen wachsen und sich angemessen mit anderen Neuronen verknüpfen.
Sie können dieses Gehirn zur Reife küssen.
Ein Vater, der niemals Freude
zeigt, wenn er das Baby sieht, niemals freundlich auf sein Schreien
reagiert, formt ein neues Gehirn in seinem Nachwuchs. Jede Handlung der Eltern
kann ausstrahlen, dass sie unglücklich mit dem Kind sind, das nichts anderes
getan hat als geboren zu werden und sich in ihr Leben einzumischen. Jetzt ist
bereits alles vorbereitet für Unglück und Depression später im Leben. Es
steht nun in einem lebenslangen Kampf, den Vater dazu zu bringen, dass er
mit ihm glücklich ist – ein fruchtloses Unterfangen. Es ist eine Empfindung
des Ungewolltseins, die das Baby fühlen kann, lange bevor es die begrifflichen
Vorstellungen von ungewollt und ungeliebt versteht. Und was kann das Baby tun?
Nichts. Sein Gehirn wird in Alarmbereitschaft sein. Wenn auch seine Mutter kalt
und lieblos ist, kann es sich später als Frau dann Frauen zuwenden, um Liebe zu
bekommen. Oder, noch wahrscheinlicher, die Frau kann sich an Männer wenden, die
ihr gegenüber leidenschaftslos sind, so dass sie darum kämpfen kann, dass
diese sie lieben. Wer kann mit so einem Gefühl leben, total von Leuten abhängig
zu sein, die einen nicht mögen? Und aufgrund des frühen Traumas und seiner
Auswirkungen auf den frontalen Bereich kann die Person sich selbst und ihre Bedürfnisse
nicht kontrollieren. Sie wird sie umgehend ausagieren.
Alles ändert sich jedoch im Erwachsenenleben, weil das Kind jetzt für die Eltern sorgen kann; es kann sich um sie kümmern, kann ihnen Aufmerksamkeit schenken, ihre Plätze einnehmen und, kurz gesagt, es braucht kein kleines Kind mehr sein. Und warum macht das Kind das? Weil sich das Bedürfnis nie gewandelt hat und das Kind sich noch immer erwünscht fühlen muss.
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Nun ist es nicht nur erwünscht, sondern wird von den ältlichen
Eltern tatsächlich gebraucht; ein vollständiger Rollentausch und das, was die
depravierten Eltern die ganze Zeit brauchten.
Wie hätte sich die Mutter um das Kind kümmern können, wo sie doch
selbst das bedürftige Kind war?
Der frontale Kortex nimmt 30
Prozent der kortikalen Gesamtmasse ein. Wenn ein Defizit im Kortex auftritt, können
Impulse reagieren. Wenn ein Ehemann seine schwangere Frau verlässt, weil er
keine Kinder will, wird sie wahrscheinlich deprimiert oder ängstlich sein.
Damit konfrontiert, ein Kind alleine aufziehen zu müssen, sondert die Mutter
mehr Stresshormone ab. Dieses veränderte chemisch-hormonelle Gleichgewicht
wirkt sich letzten Endes auf das System des Fetuses aus und kann zu einer Früh-
oder Fehlgeburt führen. Natürlich wird eine Mutter, die wegen ihrer eigenen
miserablen Kindheit chronisch ängstlich ist, auch ohne ein aktuelles auslösendes
Ereignis hohe Stresswerte aufweisen.
Eine hyperaktive Mutter, die
sich wegen der Ereignisse, die ihr vielleicht in den ersten Monaten oder Jahren
ihres eigenen Lebens widerfahren waren, nicht entspannen kann und ihr Kind nicht
beruhigen kann, schwächt den frontalen Kortex ihres Kindes; nicht durch vorsätzliche
Handlungen, sondern weil sie so ist, wie sie ist. Können Sie ihr sagen, das
Baby sanft zu halten? Ja, aber Sie können ihr nicht sagen, das Baby mit Liebe
zu halten; denn die teilt sich auf natürlichem Wege mit. Wenn die Mutter ihrem
Baby niemals sagen würde „Ich liebe dich“, aber ihr Kind ständig
bewundern, herzen und küssen würde, so würde dieses Kind mit dem Gefühl
aufwachsen, dass es geliebt wird.
Die Anzahl
synaptischer Anschluss-Stellen nimmt kontinuierlich bis zum Alter von zwei Jahren zu, wo sie einen Höhepunkt
erreicht. Dann schwinden die Verbindungsstellen, die nicht mehr benötigt
werden, in einem Darwinschen Überlebensprozess, der als Straffung bekannt ist,
und belassen uns die Menge, die wir benutzen und brauchen. Schweres Trauma stört
den synaptischen Wachstumsprozess, was sich letztendlich in verminderter Denkfähigkeit
widerspiegelt – eine Lücke im Intellekt. Wir finden dann vielleicht
Unbeholfenheit vor, Mangel an Koordination, schlechtes räumliches
Vorstellungsvermögen und einen ganzen Haufen an Problemen, deren Vermeidung von
einem gut funktionierende Kortex abhängig ist.
Die gesamte aktuelle Forschung weist darauf hin, dass frühe elterliche Fürsorge einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Kinder, die von Anfang an ohne Herzlichkeit und Berührung aufgezogen wurden, wiesen einen abnorm hohen Stresshormon-Spiegel auf. Eine Studie an rumänischen Waisenkindern erbrachte dieses Resultat. Diese Hormone können das Wachstum und die Entwicklung des Gehirns schwächen. Beim Treffen der Gesellschaft für Neurowissenschaften in New Orleans (1997) bemerkte Michael Meaney vom Douglas Hospital Research Center in Montreal, dass die Gegenwart der Mütter dafür garantiert, dass die Stresshormone in ihrem Nachwuchs auf niedrigem Niveau bleiben. Jede Art von Berührung,
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einschließlich sanftes Bürsten, konnte bei
Tieren das hohe Stressniveau rückgängig machen, das durch frühe mütterliche
Deprivation verursacht worden war. Es braucht nicht viel Berührung, um ein Kind
zu beruhigen. Diejenigen meiner Patienten, die unter mangelndem Körperkontakt
zu leiden hatten, erleben den Moment wieder, als ihr Vater ihnen freundlich die
Hand auf die Schulter legte. Welch ein wundervoller Augenblick das für sie war!
„Haben Sie Ihr Kind (oder
Ihren Hund) heute schon geherzt?“, fragt der Autoaufkleber. Umarmung wirkt
nicht nur wie 25 Milligramm Prozac (Serotonin), sondern Umarmung gleicht im
wahrsten Sinne des Wortes physiologisch einer bestimmten Milligramm-Menge an
Prozac im Körper des Babys. Wir ermutigen unsere isolierten, zurückgezogenen
Patienten, sich ein Haustier zu beschaffen. Es ist ein erster Schritt dahin,
Zuneigung zu geben und zu bekommen. Sie müssen etwas oder jemanden umarmen. Ein
Hund wird sie dafür ablecken. Er kann nicht „Ich liebe dich“ sagen, aber er
wird es zeigen.
Berührung und Zärtlichkeit
sind von ganz früh an entscheidend. Berührung erzeugt Vorstufen oder Bausteine
unserer eingebauten Beruhigungsmittel wie Serotonin.2 Auf diese Weise
macht es uns stark gegenüber späteren Nöten. Eine Wirkung fehlenden Körperkontakts
am Lebensanfang besteht darin, dass es uns anfälliger für Angst macht, indem
es das Verdrängungssystem schwächt, das Furcht zurückhält, die tief im
zentralen Nervensystem an einem Ort gespeichert wird, wo Hirnstamm-Terror
organisiert wird: im Locus caeruleus. Eine Studie von Smythe und anderen fand
Langzeiteffekte in der Entwicklung und Vermehrung von Serotonin-Vorstufen bei
Tieren, die sehr früh im Leben liebevoll betreut worden waren. Das war nicht
der Fall bei erwachsenen Tieren, die außerhalb der kritischen Periode betreut
wurden.3
Die Langzeit-Wirkungen von frühem
Stress auf die spätere Entwicklung hat der Pharmakologe David Peters4
genau dokumentiert. In Tierexperimenten mit Föten beeinträchtigte eine
gestresste Mutter den Serotonin-Ausstoß des Nachwuchses. Peters fand heraus,
dass Stress die spätere Entwicklung von Schlüssel-Neuronen des
Hemmungsapparats schwächte und die synaptischen Kontaktstellen störte. Das ist
ein wichtiger Beweis dafür, dass der Zustand der austragenden Mutter das Kind für
den Rest seines Lebens beeinflussen kann.5 Die Arbeit von M.J. Meaney
gibt Aufschluss darüber, wie sehr früh eintretende Umstände die
Gehirnentwicklung beeinflussen, speziell die des Vorderhirns. Rattenjunge wurden
in dieser Studie in den ersten einundzwanzig Tagen nach der Geburt betreut. Später
im Leben wiesen sie ein niedrigeres Stresshormon-Niveau bei der Reaktion auf äußere
Stressoren auf. Sie normalisierten sich auch schneller, indem sie nach einer
Stress-Situation schneller zu den Ausgangswerten zurückkehrten. Der Autor
betont, dass die Veränderungen im System der Ratten ein Leben lang
anhielten.6
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Protokoll
einer Sitzung
Das Folgende ist die Abschrift einer Sitzung
mit Mary* . Wo (Weint) geschrieben steht, handelt es
sich oft um das tiefe kleinkindliche Weinen eines Babys. Dann kommt sie aus dem
Gefühl heraus und diskutiert ihre Einsichten. Der Leser wird sich fragen: Wie
kommt es, dass die Therapeutin so wenig sagt? Ich habe siebzehn Jahre lang
Einsichts-Therapie praktiziert und ich war wortreich. Primärtherapie erfordert
sehr wenig Intervention. Im Zeitraum einer Zwei-Stunden-Sitzung sage ich gewöhnlich
nicht mehr als zwei oder drei Sätze. Aber diese Worte müssen präzise sein und
sie müssen zählen. Wir Therapeuten reden am Ende der Sitzung sehr viel; das
ist bekannt als „Nachsitzung“. Dann beschäftigen wir uns mit den Einsichten
und versuchen, die heutige Sitzung mit der gestrigen zu verbinden. Wir wollen
auch verstehen, wie die in der Sitzung erlebten Gefühle zum gegenwärtigen
Leben des Patienten in Beziehung stehen. Es ist die Zeit der Integration.
Therapeutin: Sag mir, wie fühlst
du dich?
Mary: Nun, ich bin müde, ich
hab’ nur ein paar Stunden geschlafen.
Warum?
Ich glaube, ich hatte am
Nachmittag ein Nickerchen gemacht, weil ich gestern nachmittags so müde war.
Und weil mir so viele verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gingen. Ich war
einfach so aufgeregt und hab’ mich schwer getan es abzustellen. Ein Gefühl,
das ich heute morgen bemerkte, ist, dass mein Atem sich sehr, sehr flach anfühlt.
Da hab’ ich bemerkt, was mit meinem Körper los ist; dass ich einfach nicht
viel atme.
Dein Körper fühlt sich
einfach müde an?
Ich fühle mich, als möchte
ich in einen ganz tiefen Schlaf fallen. Ich spüre, dass ich keine Lust habe,
viel nachzudenken. Ich will nicht viel nachdenken. Ich möchte jede Stimulierung
abschalten. Und ich weiß wirklich nicht, wie ich an meine Gefühle rankommen
kann, weil ich überhaupt keinen Anhaltspunkt habe.
__________________
*
Die Namen der Patienten wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.
_____________________
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Ist das dein üblicher Zustand, wenn du körperlich müde
bist, oder denkst du, dass etwas nicht stimmt?
Ich glaube, dass ich Schlaf
benutze, um alles abzustellen; dass, wenn ich überlastet bin, es meine Art ist,
alles.......abzuschalten. Und so, tja, wie ich mich heute morgen fühle, ist
normaler Input. Es ist, als will mein Körper in diesen glückseligen Zustand
hineinkommen und ihn erreichen. Ich hab ihn durch Schlaf erreicht oder versucht
zu erreichen.
Fühlst du dich überwältigt?
Ja, ich fühle mich, als ob
eine Menge los wäre in meinem Tagleben. Eine Menge Dinge erfordern
Aufmerksamkeit.
Du möchtest darüber reden?
Die größte, ich glaube, die
größte Sache handelt vom Vater der Kinder. Er drangsaliert mich. Wie
Entscheidungen zu treffen sind darüber, wie wir mit unserer Trennung
weitermachen sollen,....und die Gefühle, die es hochbringt.
Kannst du genauer sein, welche
Gefühle bringt es hoch?
Es bringt das Gefühl hoch, dass ich gemein sein muss, und
ich will nicht gemein sein. Ich bin drauf und dran, das Boot wirklich ins Wanken
zu bringen, sein Leben durcheinanderzubringen. Ich will das wirklich nicht tun.
Es ist, Dinge tun zu müssen, die ich wirklich nicht tun will. Ich hätte
lieber, dass die Dinge einfach glatt liefen und dass es Verständnis gäbe. Als
ich durch diese Scheidung ging, hatte ich so viel Angst, ihn durcheinander zu
bringen und ihn verrückt zu machen, weil ich spürte, dass es mir Schaden zufügen
würde. Ich erkenne, dass das ziemlich zu der Situation mit meiner Mutter
passte. Ich wollte sie nicht verrückt machen, weil das sehr bedrohliche
Konsequenzen hatte. Sicher, als ich das mit Ted durchmachte, begriff ich nicht,
dass es das war, womit dieses große Gefühl verknüpft war, so ist noch ein
Rest davon da. Ich fühle mich, als ob es meinen Verstand einnebelt. Kann es mir
schaden, wenn ich weiter auf diesem Thema herumreite? Es fühlt sich einfach
nicht sicher an, es ist einfach unangenehm. Ich fühle mich, als müsste ich
durch ein Territorium gehen, das ich einfach nicht mag, und dass ich es lieber
nicht tun würde.
Also ich denke, das ist es....durch eine Situation gehen, wo ich nicht durch will.
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Fühlt sich nicht gut an. Das ist verwandt mit kämpfen
müssen. Ich habe versucht, diese Art von Druck wegzuschieben. Und noch weiß
ich, was ich tun muss. Dann wünsche ich mir, es sei anders, ich wünschte mir
immer, es sei anders. Es ist einfach erstaunlich für mich. Ich meine, hier rede
ich darüber, wie ich mir immer gewünscht habe, meine Situation mit Ted, dieser
ganze Trennungsprozess sei anders. Das ist genau so, wie ich über meine
Kindheit empfinde. Ich wünschte, es wär’ was anders als ein Kind zu sein,
ich wünschte, es wär’ anders. (Weint)
Ich wünschte, es gäbe Verständnis. Ich wünschte, es gäbe
Rücksicht. Rücksicht auf mein Leben. Ich wünschte, es gäbe keine Bedrohung.
Ich wünschte, es gäbe Unterstützung. Ich wünschte, jemand würde sich um
mein Leben kümmern, würde es mir leichter machen. (Weint) Ich höre alles, was
ich gerade sage und ich höre, wie zutreffend es für mein ganzes frühes Leben
ist. Ich weiß einfach, dass mein Leben mit Ted dadurch verkorkst wird. Ich fühle
mich, als würde er kontrollieren und die Dinge schwer machen, gerade
wie.....Sie hat sich einfach nicht gekümmert. (Weint) Sie hat sich nicht darum
gekümmert, wie ich mich fühle. (Weint heftig) Es war nicht wichtig. Die
Wirkung, die es auf mich hatte. Es gab einfach keinen Gedanken, keine Sensibilität
in meine Richtung, als Person, als ein anderes menschliches Wesen. Es hat nicht
bedeutet. Ich habe nichts bedeutet. (Weint)
Erinnerst du dich an solche
Zeiten ?
Ja, es gibt ein paar, die herausstechen,
einen sehr großen Eindruck auf mich machten. Eine davon..... Ich war etwa sechs
Jahre alt, und was ich tat, war, hm,......Es war Weihnachten, es war
Weihnacht-Abend, ja. Und sie hatte
Leber zum Abendessen gemacht, und als wir uns an den Tisch setzten zum Essen,...
und ich hab’es probiert und hab’ es nicht gemocht. Ich hab’ es überhaupt
nicht gemocht. Und es war ihr egal, dass ich es nicht gemocht habe. Ich musste
es essen. Und es brachte mich zum Würgen, so sehr habe ich es nicht gemocht.
Und es ist, als würde es nichts machen, dass ich diese Art von Reaktion hatte,
es machte nichts aus. (Weint)
Was ist passiert?
Nun, sie ließ mich hinsetzen und es essen. Verstehst du, ich hab’ daran gewürgt, obwohl ich es nicht mochte, hat sie es gemacht, und ich war dabei, es zu essen. Und dann fing sie an, mir zu drohen, dass, wenn ich es nicht aufesse, ich dann sofort ins Bett gehen müsse und kein Geschenk aufmachen dürfe. Sie fing an, alles wegzubringen. Und ich hasste es einfach, ich hasste es einfach!
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Ich mochte es
nicht! Ich wollte es nicht essen! Es schmeckte nicht gut! Und ich konnte es
nicht aufessen. Und so ging ich weinend ins Bett. Es gab einfach kein Mitleid,
keine Sensibilität. Ich tue das niemals meiner Tochter an. Niemals! Es gab
viele solche Momente. Wo ich einfach weinend ins Bett ging. Es spielte einfach
keine Rolle, wie ich mich fühlte. Und es war niemand da, der sich wirklich
sorgte, der dachte, dass meine Gefühle wirklich was bedeuteten. Sie bedeuteten
nichts.
(Weint) Ich habe nichts
Schlimmes getan, ich habe nichts Falsches getan, ich mochte einfach den
Geschmack nicht. Ich wollte nicht ungehorsam sein. (Tieferes Schluchzen) Ich
wollte nichts Schlimmes oder Falsches machen, es hat einfach so grauenvoll
geschmeckt. Ich will, dass du mich verstehst. Ich wollte dich sagen hören.....ich
wollte dich sagen hören „Schmeckt es wirklich so grässlich?“ Ich wollte,
dass du hörst, wie ich mich fühlte, wie es mir geschmeckt hat, wie ich es
nicht gemocht habe, wie es mich zum Würgen brachte, und dass es in Ordnung für
dich ist, dass ich es nicht gegessen habe; dass ich wichtiger für dich bin als
ein Stück Leber zu essen. Ich hätte mir gewünscht, dass du schaust, ob was
anderes da ist, das ich essen könnte. Aber du warst gemein. Du lässt mich
etwas essen, dass so furchtbar schmeckt. (Kehrt zum Weinen eines Erwachsenen zurück)
Ich wollte, dass du zuhörst, ich wollte, dass du zuhörst. Ich wollte, dass du
dir genug Sorgen machst, wie ich mich fühlte. Ich wollte wissen, dass ich
wichtiger war als dieses Stück Fleisch. (Nun als kleines Kind) Bitte kümmere
dich darum, wie ich mich fühle. Bitte lass’ mich nicht etwas tun, das ich
nicht tun will, das sich nicht gut anfühlt für mich. Oh bitte mach’ dir
Sorgen um mich und wie ich mich fühle (15 Minuten tiefes kindliches Weinen).
(Patientin liegt im
schalldichten Raum auf dem gepolsterten Boden. Hier ist das Gespräch an die
Therapeutin gerichtet.) Weil ... das ist, wie ich mich fühlte, als ich belästigt
wurde. Bitte zwing’ mich nicht etwas zu tun, dass ich nicht tun will. Und wenn
jemand Dinge macht, die ich nicht tun wollte, macht es mich verrückt. Meine
Mutter spielte geradewegs in diesen Prozess mit ein. Bitte zwinge mich nicht,
Dinge zu tun, die ich nicht tun will. Es fühlt sich nicht gut an.
Es gab eine Menge, es gab eine
Menge Dinge, die ich tun musste und nicht tun wollte. Ich wollte es nicht tun.
Ich musste es tun, weil ich überleben musste. So brachte mich dieser Mist,
Dinge zu tun, die ich nicht tun wollte, dazu, dass ich mich alleine fühlte. Da
war niemand, der zuhörte. (Wieder in der Kindheit, weint) Zwing’ mich nicht,
ich will es nicht tun. Du willst nicht hören! Niemand ist da, um mich zu beschützen.
(An die Therapeutin) Deswegen will ich schlafen gehen; deshalb will ich
unbewusst werden, weil ich in diesen Momenten nichts wahrnehme, nichts fühle,
mich nicht damit beschäftigen muss, was um mich vorgeht. Ich kann mir eine
Auszeit nehmen.
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Mein Bruder hat mich
herumkommandiert; wenn ich nicht getan habe, was er von mir wollte, hat er mich
verhauen. So viele Male, als ich aufwuchs, nannte er mich seine Sklavin. Wenn
ich nicht getan habe, was er wollte, drohte er damit, mir weh zu tun. So stand
ich da und hatte niemanden, an den
ich mich wenden konnte. Niemand, in dessen Arme ich mich flüchten und dem ich
sagen kann „Schütze mich, sie verletzen mich“. Niemand, der mich beruhigte:
“Ich lasse nicht zu, dass dich irgendwas verletzt.“ Das gab es nicht. Also
musste ich es hinnehmen.
Wer sollte dich beschützen?
Ich wollte von denen in meiner
Umgebung, dass sie mich beschützten. Ich wollte, dass meine Mutter sich um mich
kümmert und mich beschützt. Ich wollte einen Vater haben, der da war, der
nicht zuließ, dass mir was passierte. Ich wollte, dass mein Bruder sich um mich
kümmert und mich beschützt. Ich wollte, dass die ganze Welt mich beschützt.
Und sich um mich kümmert. Und kein Unrecht an mich heranließ. Ich wollte, dass
die ganze Welt sich um mich kümmerte
(Tiefes Weinen) Oh bitte. Bitte
kümmert euch um mich. Bitte habt mich lieb, bitte beschützt mich. Bitte seid
freundlich zu mir. Bitte! Bitte! Ich muss wissen, dass ihr euch Sorgen macht.
Bitte sorgt euch. Bitte! Ich hab’ nichts Falsches gemacht. Ich will nur
wichtig für euch sein. Bitte. Ich will nur, dass meine Gefühle etwas bedeuten.
Bitte, bitte, bitte, seid freundlich, bitte. Bitte verletzt mich nicht. Bitte
sorgt euch, wie ich mich fühle. (Zwanzig Minuten tiefes Weinen) Und ich dachte
daran, als mein Sohn auch so sechs oder sieben war, und er seine Schwester
schlug, da kam Wut in mir auf. Es war wie „Du wirst ihr nicht weh tun! Ich
werde sie beschützen! Und sie ist ein wunderbares Kind! Du wirst ihr nicht weh
tun!“ Genau so hätte ich gewollt, dass mich jemand beschützt! Was ich
wollte, war, dass jemand aufgestanden wäre, wie ich es für Betty getan habe,
und gesagt hätte „Nein, nein! Das wirst du nicht tun! Ich lass’ dich nicht.
Zuerst musst du durch mich hindurch!“ Aber da war niemand! Keiner da, der das
für mich getan hätte. Und ich ließ
es in keinem Fall zu, dass Rob Betty verletzte. Ich hab’ sie beschützt. Ich
ließ sie nicht erleben, was ich erlebt hatte.
Und es war mir wirklich ungemein wichtig, nachdem diese Situationen mit Rob passiert waren, ihm zu erklären warum, ihn wissen zu lassen, wie mir weh getan wurde, wie da niemand war, der mich beschützte. Wie es sich anfühlte und wie ich das in meinem Haus nicht zulassen konnte, wenn ich da war. Weil ich denke, dass Gefühle zählen, zählen sie eine Menge. Meine Gefühle haben niemals etwas gezählt. Ich wünschte, jemand hätte gefühlt, dass sie etwas zählen. Gefühle sind sehr wichtig. Ich wollte, dass sich jemand darum gekümmert hätte, wie ich mich fühlte.
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Ich wollte jemanden, in dessen Arme ich fliehen konnte um mich sicher
zu fühlen, jemanden, der mich beschützen würde. Ich konnte nirgendwo
hingehen.
Einmal passierte es, dass meine
Mutter an einem Wochenende fortging, und als sie zurückkam, war sie mit
jemanden verheiratet, dem ich nie zuvor begegnet war. Sah die Person nie zuvor.
Und ich wünschte, sie hätte sich die Zeit genommen zu sagen: „Schatz, was
denkst du darüber?“, weil es mir nicht gefiel! Es gefiel mir nicht. Dieser
neue Typ gefiel mir nicht. Es spielte keine Rolle, wie ich mich fühlte. Sie
nahm sich nie die Zeit, mich was zu fragen. „Willst du diesen Menschen hier
haben? Wie fühlst du dich dabei?“ Ich musste es einfach akzeptieren. Und sie
wollte, dass ich sofort Papi zu ihm sagte. Er ist nicht mein Papi. Und ich
wollte ihn nicht küssen, und ich wollte nicht, dass er mich berührt. Und ich
musste es einfach akzeptieren. Ich wurde nicht gefragt, wie ich mich fühlte.
Ich war nicht wichtig. Ich wollte, dass du mir sagst, was du tust, ich wollte,
dass du mich fragst, wie ich mich fühle. Ich wollte, dass du mich fragst:
„Will ich einen Papi?“ Ich wollte, dass du mir Zeit gibst, diesen Menschen
kennen zu lernen und dir zu sagen, wie ich mich fühlte. Und dass dir an meinen
Gefühlen liegt. Du hast ihn einfach auf mich geschmissen! Es gefiel mir nicht.
Es war nicht richtig, es war nicht richtig, das zu tun. Es ist nicht richtig.
Und ich habe die Tatsache nicht gemocht, dass er mir die Beachtung wegnahm, das
bisschen Beachtung, das ich von dir bekommen konnte. Ich mochte die Tatsache
nicht, dass er mehr bedeutete als ich. (Weint)
Und ich sehe, wie all das wahr
ist, auch für die Zeit im Mutterleib. Es spielte keine Rolle. Ich zählte
nicht, ich wurde nicht beachtet! (Tiefes Weinen). Ihr sollt wissen, dass ich zähle.
Ich bin etwas wert! Meine Gefühle spielen eine Rolle. Ich zähle! Und ich
wollte etwas wert sein! Du machst es mir so schwer!
Allein die Vorstellung, dass
das Leben leicht ist. Ich kann mir vorstellen, wie es in einer Umgebung wäre,
in der ich eine Mutter und einen Vater und eine Familie hätte, die sich um mich
kümmert. Ich hätte das Leben geliebt. Ich hätte gedacht, dass Leben sei
magisch, sicher, tragend. Ich wäre nicht voller Angst aufgewachsen. Stattdessen
bekomme ich eine Menge Schmerz, genau das bekomme ich. Meine Mutter hat mein
Leben nie unterstützt. Nicht am Anfang, nicht als Kind, nicht, als ich älter
wurde. Sie verursachte nur eine Menge Schmerz. Es war so grausam. (Zurück zu
kindlichem Weinen) Du kümmerst dich nicht! Du bist so böse. Es tut mir so weh.
Ich brauche es, dass du mich liebst. Ich brauche es, dass du mir hilfst. Es würde
so viel ausmachen. Du wärst so stolz auf mich. Ich könnte dich so sehr lieben.
Du denkst nur an dich selbst. Niemand anders ist wichtig, nur du, du bist
wichtig. So ist es.
(Zurück in der Gegenwart) Ich wollte, dass es ganz anders lief mit dem, was ich mit Fred durchmache. Ich wollte, dass es anders lief. Es sind dieselben Gefühle.
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Ich will, dass er sich darum kümmert, wie ich mich fühle.
Ich will, dass er versteht. So bringt es mich zum Kämpfen, weil ich darum kämpfen
muss, wie ich mich
Das sollte das Recht eines
Kindes sein. Ich bin immer so erstaunt darüber, wie fragil und doch unverwüstlich
ein Mensch wirklich ist. Ein Wort, ein Satz kann so große Wirkung haben, und es
kann dich durch und durch verletzen. Ich hab’ mich immer gefragt „Wie kann
das sein?“ Und ich denke, wenn ich ein menschliches Wesen wie ein Stück Lehm
betrachte, und wenn jede harte Sache, die du je gesagt hast einen Abdruck auf
dem Lehm hinterlässt,....du kannst den Lehm nehmen und draufsteigen und ihn
platt machen, er wird immer noch eine gewisse Form haben. Ich glaube, Menschen
sind wie Lehm; und abhängig von den Dingen, denen sie ausgesetzt sind, und von
den Erfahrungen, die sie machen, ist die Skulptur, zu der sie werden.
(An die Therapeutin gerichtet)
Also ist es die Wahrheit, dass Gefühle nicht wirklich verstanden werden, nicht
wahr? Sie sind wie eine Sprache, die nicht gesprochen wird. Wir verstehen die
Sprache, ihr versteht die Sprache. Ihr seid die Interpreten der Sprache. Ihr
werdet ein neues Fachgebiet sein, Fühlologen genannt.
Wenn du ein Kind hättest und
kannst die Striemen auf seinem Körper sehen, dann weißt du, dass du Schaden
angerichtet hast. Aber Worte und gedankenlose Kritik machen dasselbe. Du kannst es nicht
sehen. Und ich hab’ das alles so satt. Es ist ein bisschen schwer für mich zu
verstehen, warum das so schwer zu verstehen ist. Es ist ein bisschen schwer für
mich. Aber ich kann es doch klar sehen. Haben wir nicht unsere Augen, um das zu
sehen, oder unseren Verstand, um es zu begreifen? Natürlich, das passt zu meinen Gefühlen, dass wir primitiv
sind, noch nicht genug entwickelt.
Ich meine, Gefühle zu fühlen
würde einfach die Wesensart der Menschheit ändern. Zu wissen, dass es einen
Anfangspunkt gibt. Zu wissen, wenn du ein Kind austrägst, dass es so wichtig
ist, wie du dich fühlst. Weißt du, ich scherze mit dir über den sprechenden
Fetus, aber die Wahrheit ist, nüchterner gesagt, dass es der fühlende Fetus
ist. Wirklich. Was für ein Unterschied, wenn du weißt, du wirst geliebt. Das
gibt dir einfach Bedeutung, wirklich, dass glaube ich. Es trägt zu einem Gefühl
bei, dass du alles kannst, und das öffnet deine Seele noch mehr. Wenn du daran
glaubst, dass du alles kannst bis zu einem gewissen Grad, dann glaubst du, das
alles möglich ist.
Was hast du noch durchgemacht?
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Nun, ich kam heute herein und
dachte, ich hätte kein einziges Gefühl; und merkte dann, wie flach ich geatmet
habe. Und dass ich müde war. Das brachte mich dazu, einfach schlafen zu wollen.
Die Stimulierung ausblenden; diesen Frieden finden.
Kannst du identifizieren, was
es ist?
Nun, ich sag’ dir, wie sich
das für mich angefühlt hat. Ich war einfach in der Ruhephase.
Was bewirkt die?
Sie schont die Energie.
Und gefühlsmäßig?
Es hält mich vom Fühlen ab.
Ich will nicht fühlen, ich will keinen Input.
Was macht das aus?
Es ist eine Schutzmaßnahme. Es
ist ein Rückzug. Eine der Verknüpfungen, die ich dazu bilden kann, ist, dass
es grundsätzlich eine Schutzmaßnahme ist, um mein Leben zu schonen. Und ich
denke, es verdient Respekt.
Du weißt, es ist ein
Mechanismus, dessen du dir bewusst sein musst, wenn du fühlen willst, so dass
du nicht hineinfällst, weil es so bequem ist. Aber es ist gut für dich zu
wissen, dass, wenn du in diesen Zustand gehst, es ein Reparatur-Zustand ist. Es
ist auch ein Abwehr-Zustand in dem Sinn, dass du, wenn du da reingehst, alles
wegschließt. Du erholst dich, aber du fühlst auch nichts.
Aber ich brauche das, wirklich,
ich brauche das.
Es ist zu viel. Es ist eine
Abwehr. Das musst du wissen, und wenn es geschieht, weißt du, was mit dir
geschieht. Du hast gesagt „Dorthin muss ich mich begeben, wenn ich überlastet
bin.“ Und jetzt bist du überlastet.
Seite50
„Überlastet“ ist ein sehr
vertrautes Wort in meinem Leben. Teil meines, ja, Teil meines Vokabulars, „überlastet“
wäre eins. Zu viel.
Weißt du, wenn es zu viel
Schmerz gibt, lebst du tatsächlich in einem Zustand von Überlastung. Wir
laufen jeden Tag unseres Lebens in einem Zustand von Überlastung herum, weil
wir schon diese gewaltige Menge an Schmerz haben. Unser System beschäftigt sich
mit so vielem. Irgendwas in der Gegenwart kommt noch hinzu, und dann ist es für
alle einfach zu viel, als dass sie damit klarkommen könnten. Genau das ist
passiert. Du könntest ein anderes Wort verwenden, nämlich „Leiden.“
Aber ich bin sowas wie dran gewöhnt,
weil ich mich so lange darin aufgehalten habe. Aber ich sehe, da gibt es andere
Möglichkeiten. Ich spüre, das ist die Richtung, in die ich mich bewege.
Deshalb..., ich meine, ich habe Vertrauen, das ich da durchkomme. Einmal, weil
ich dieses alte Muster habe, in das ich zurückfallen kann, von dem ich weiß,
dass es mich da durchbringt. Ich kann überlastet sein, ich kann leiden, aber
ich werde überleben. Aber ich sehe auch diese andere Richtung, die, wenn ich
mich weiter dorthin bewege und es fühle und die Gefühle wieder nach oben
bringe, geradewegs die Tür zu der Erfahrung öffnet, in die ich eintauchen
will.
Könntest du mir jetzt sagen,
warum es sich so unangenehm anfühlt, durch diesen Prozess zu gehen?
Ich gehe da durch, aber ich
will nicht. Ich spüre, ich muss es tun. Und es beschwört diesen Kampf um meine
Rechte herauf. Ich meine, es spielt in so viel hinein. Ich meine, das ist der
schwierige Part für mich. Ich bin ständig am Kämpfen, von dem Moment an, als
sie diesen Ehevertrag aufgesetzt hatten, und sie gaben sich zehn Jahre, um mich
auszuzahlen, und es war ganz und gar nicht in Ordnung für mich. Ich denke
nicht, dass es fair ist, und mein ganzes System ist aufgebracht, um es zu ändern.
Was auch immer nötig ist, das zu klären, ich mach’ es, weil ich nicht daran
gebunden sein will, weil wir nicht mehr verheiratet sind.
Meine erste Reaktion in der Therapie ist, ich werde nicht um das bitten, was eigentlich selbstverständlich gewesen wäre. Ich werde sie nicht bitten. Doch als du mich gedrängt hast, es zu tun, hat es die Fluttore geöffnet. Soviel Leiden. Das bringt mich in Rage, das macht mich rasend, lässt meinen Atem stocken. Weißt du, das ist der richtige Weg. Ich bin mir bewusst, wohin bestimmte Dinge mich bringen. Aber es hat sich gut angefühlt, in meiner Kindheit zu leben und mit all diesen Gefühlen Verbindung aufzunehmen.
Seite 51
An der Kreuzung: Das Limbische System: Thalamus, Amygdala und Hippocampus
Das Limbische System, ein Ring
von Strukturen, der direkt unterhalb des zerebralen Kortexes liegt, verarbeitet
und organisiert Fühlen. Einige der Schlüsselstrukturen sind der Thalamus, die
Amygdala, der Hippocampus und der Hypothalamus. Der Hippocampus, der das
faktische Wissen eines Ereignisses beinhaltet, steht mit der Amygdala in
Verbindung, die sich mit dem Gefühlsinhalt dieses Ereignisses befasst. Wenn uns
unsere Mutter zornig angestarrt hat, nehmen wir mit dem Limbischen System
Verbindung auf und fühlen: „Sie hasst mich.“ Es ist der erste Schritt zu fühlen,
was wir wissen und zu wissen, was wir fühlen. Das Ergebnis ist, dass wir
leiden.
Das Limbische System kombiniert
Emotionen mit tieferen Hirnstamm-Empfindungen, und bildet dadurch den Kern und
die Agonie des Erlebnisses. Es ist das „fühlende“ Gehirn. Ich nenne es die fühlende
Ebene. Es kapselt Empfindungen ein, die aus der Hirnstammregion (erste
Ebene) kommen. Diese Ebene verteidigt das Bewusstsein gegen den Terror eines
Traumas der ersten Ebene und verwandelt den Terror in Bilder und Szenen. Sie ist
für Albträume verantwortlich, in denen man stranguliert wird, oder für
Platzangst. Sie hilft, künstlerische Bilder zu schaffen.
Daniel Goleman, ein
Wissenschaftsjournalist, der für die New York Times schreibt, wirft in
seinem Buch Emotionale Intelligenz Licht auf die Kluft zwischen Denken
und Fühlen.8 Er schreibt, dass wir zwei Arten von Intelligenz haben,
eine rationale und eine emotionale, die als Gegenstück zwei Arten von Gedächtnis
haben, eines für Fakten und eines für emotionalen Inhalt. Diese Funktionen
werden in unterschiedlichen Teilen des Gehirns vermittelt. Er betont etwas, das
wir alle wissen, nämlich dass viele hoch intelligente Leute ihr privates Leben
verpfuschen, weil ihre Impulse und Gefühle die Oberhand über ihre Vernunft
gewinnen. Goleman zitiert Forschungsergebnisse darüber, wie das Gehirn
machtvolle Erinnerungen eingraviert und verarbeitet, und wie diese Erinnerungen
eine gewichtige Rolle im späteren Leben spielen.
Viele Leute können keine Entscheidungen treffen, weil sie so von ihren Gefühlen abgeschnitten sind, das sie nichts haben, das sie führen könnte. „Ich weiß nicht, was ich bestellen soll. Was hast du bestellt?“, ist ein Beispiel dafür, was ich meine. „Es spielt keine Rolle, nach welchem Essen mir zumute ist, weil ich nicht weiß, was ich fühle. Ich muss wissen, welche Entscheidung du getroffen hast, damit ich nachziehen kann.“ Anders ausgedrückt sekretieren die Amygdala des Limbischen Systems (und andere limbische Strukturen) so viele unterdrückende Nervensäfte, die sich mit eingeprägtem Schmerz beschäftigen, dass es eine funktionale Unterbrechung
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zwischen Gefühlszentren und ihren kortikalen Gegenstücken gibt. Wir sind dann
gezwungen, uns allein von kortikalen Zentren leiten zu lassen.
Wir versuchen, den Grund für
unsere Wut zu erklären: „Wenn du das nicht gesagt hättest, würde ich nicht
wütend werden“; „Wenn du aufhören würdest, mich unter Druck zu setzen, wäre
ich nicht so aufgebracht.“ Solche Vorstellungen sind niemals irrational; sie
sind zuallererst Antworten auf die vergangene Geschichte. Deshalb gibt es so
viele Einsichten nach einer Wiedererlebens-Erfahrung: Unter blockierten Gefühlen
liegt die wahre Ursache für die Wut. Anstatt zu sagen „Ich bin verrückt
geworden, weil du mich nicht respektiert hast“, lernen wir: „Ich bin verrückt
geworden, weil mein Vater mich die ganze Zeit heruntergesetzt hat und
dann, als ich protestierte, gedroht hat, mich zu verhauen.“ Es ist nun
therapeutisch, aus Protest gegen sein Verhalten auf die gepolsterten Wände
einzuschlagen und die Wut rauszulassen. Es ist niemals genug, über den Zorn zu
diskutieren.
Jemand kann den Drang verspüren,
die Energie des frühen Liebesmangels in bestimmte Kanäle zu lenken, und
niemals wissen warum. Schlimmer noch, vielleicht ist der Person nicht einmal
klar, dass es diesen Mangel gab. Sie fühlt sich einfach unbehaglich, nicht wohl
in ihrer Haut. Eines ist sicher: Wenn sich die Person nicht in Bewegung hält, fühlt
sie sich nicht wohl. Eine Patientin war ständig auf Achse, reiste hierhin und
dorthin, nur um herauszufinden, dass es keinen Ort gab, wo sie hätte hingehen können.
Genauer gesagt: Um sich davor zu bewahren es herauszufinden, hatte sie nie einen
Ort, wo sie hingehen – hinfliehen konnte. Sie war auf der Flucht vor dem
Innersten ihrer qualvollen Kindheitsschmerzen, die in einem kalten, harten, gefühllosen
Elternhaus geschaffen worden waren, aus dem sie entkommen musste.
Ohne volles Bewusstsein wird
die Person einfach ängstlich sein.
Der Thalamus: Schalt- und Relaisstation des
Gehirns
Der Thalamus ist eine Schlüsselstruktur
im Limbischen System und ein Hauptakteur bei frühen Traumen. Nach der
vierzehnten Schwangerschaftswoche ist er voll funktionsfähig.8 Zum
Teil besteht die Funktion dieser Struktur darin, Gefühle zu integrieren und
dabei zu helfen, sie an den frontalen Kortex weiterzuleiten, wo sie konkreten
Zusammenhang und Bedeutung annehmen. Nach der vierzehnten Woche können wir
sehen, wie entscheidende Verbindungen
zwischen thalamischen und kortikalen Zentren hergestellt werden. Es gibt einige
Beweise, dass der Tastsinn, der teilweise durch den Thalamus organisiert wird,
bereits im Mutterleib nach dem dritten oder vierten Monat registrierfähig ist.
W. J. Nauta, ein Pionier auf dem Gebiet der Neurologie, und Mitverfasser Michael Feirtag
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beschreiben den
Thalamus als „letzten Kontrollpunkt, bevor Nachrichten aus allen sensorischen
Eingängen der Zutritt zu höheren Stationen des Gehirns gestattet wird......an
jeder synaptischen Kontaktstelle in den sensorischen Bahnen wird der Input
transformiert: Der Kode, in dem die Nachricht ankam, wird grundlegend geändert.
Vermutlich könnten die Daten auf höheren Ebenen nicht verstanden werden: Eine Übersetzung wird benötigt.“ 9
Der Thalamus übersetzt die
Nachricht mit Hilfe des Hippocampuses in die Sprache des Kortexes. Diese Übersetzung
befähigt den Kortex, einen emotionalen Reiz mit Bedeutung zu versehen. Er befähigt
einen Menschen, auf ein vages unbehagliches Gefühl zuzugreifen und es zu
artikulieren als „Vater hasst mich und bringt mich dazu, dass ich schlecht über
mich selbst denke und fühle“. Der Thalamus übermittelt auch unser Bedürfnis
nach Genugtuung, wie in „Bitte sei nett zu mir, Mama!“
Wenn jedoch das Fühlen der
Entbehrung zu überwältigend ist, wird die Botschaft umgeleitet, die Einprägung
endet in einem reverbierenden Kreisprozess im subkortikalen Unbewussten, und
versucht mit Macht, die Schleusen zu öffnen und sich mit dem frontalen Kortex
zu verbinden. Es ist das Reverbieren, das uns angespannt, nervös, traurig und
gehetzt macht. Viele der biochemischen Substanzen, die gegen überwältigende
Gefühle freigesetzt werden, erzeugen den gleichen Effekt, als hätte jemand
einen Virus – zum Beispiel verursachen sie Veränderungen in den natürlichen
Killerzellen des Immunsystems. Diese Zellen stehen Wache und halten Ausschau
nach neu geformten Krebszellen; sie zerstören sie, bevor sie sich voll
entwickelt haben. Nach einem Jahr Primärtherapie sehen wir eine Normalisierung
dieser Zellen.
Wenn der Thalamus geschwächt
ist, versagen die kortikalen Schleusen ihren regulären Dienst. Die Schleusen
haben nicht genug Saft, um ihren Job zu erledigen. Die Person kann nicht klar
denken; alles ist ein Wirrwarr, und Konfusion regiert. Ihr System versucht, sich
mit Gefühlen oder Empfindungen zu befassen, die keinen Sinn ergeben; denn als
sich das ursprüngliche Trauma enfaltete, war der präfrontale Kortex noch nicht
weit genug entwickelt, um ihnen einen Sinn zu geben.
Wenn der Thalamus die Informationen umleitet und vom Kortex fern hält, dann tut er dies „im Glauben“, er rette unser Leben und unsere Gesundheit. Der Aufbau einer kortikalen Verbindung würde eine exakte Wiederholung der ursprünglichen Reaktionen der Person auf das Vergangenheits-Trauma hervorbringen – schnelle Herzfrequenz, erhöhten Blutdruck, hohes Fieber und anhaltende Ausschüttung von Stresshormonen; sie alle bedrohen das Überleben des Organismuses. Ich habe „im Glauben“ oben in Anführungszeichen gestellt,
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aber dennoch ist klar,
dass der Thalamus in gewisser Hinsicht an unseren Denkprozessen teilnimmt.
Wenn ein frühes schmerzvolles
Gefühl abgeblockt wird, sendet es dennoch Signale nach oben, partielle Aspekte
des Gefühls, die letztendlich zu Illusionen oder Halluzinationen werden, zu
hohem Blutdruck oder Herzklopfen. Je näher eine alte traumatische Empfindung
dem vollen Bewusstsein kommt, umso intensiver und aufdringlicher ist die
Zwangsvorstellung, Illusion oder Halluzination oder das körperliche Symptom.
Die Evolution zwingt sie nach oben zur Verknüpfung, genau wie es in frühesten
Zeiten eine Migration nach oben und außen gab, als sich der Kortex bildete.
Leider wenden der Thalamus und andere verwandte Strukturen die Empfindung ab.
Jede traumatische Einprägung tendiert immer dazu, den Strömen zu den höheren
Zentren hin zu folgen, die sich in unserer Geschichte entwickelt haben. Der
frontale Kortex ist die Endstation für das Fühlen.
Es stellte sich heraus, dass
Psychotiker, die Stimmen hören, wirklich Stimmen hören – ihre eigenen. Ihre
eigenen Sprachzentren sind während dieser Episoden aktiviert. Sie wissen nicht,
dass es von ihren Gefühlen und Sprachzentren kommt, aber sie hören wirklich
etwas. Ihre Gefühle „Meine Eltern wollen mich verletzen“ werden zu
Gedanken, die zu ihnen sprechen, wie zum Beispiel: „Der Mann an der Ecke will
mich verletzen.“ Sie spüren Gefahr, nicht von innen, wo sie residiert,
sondern von außen, wohin sie projiziert wird. Weil sie keinen inneren Zugang
haben, müssen sie sich nach außen konzentrieren. Deshalb können sie, wenn sie
weiter vorankommen und inneren Zugang gewinnen, diese Gefühle auflösen, und
die Halluzinationen und Wahnvorstellungen verschwinden. Manchmal, wenn sich
Patienten in einer Sitzung einem schweren Gefühl annähern, können sie
vielleicht eine vorübergehende Halluzination haben. Das geht beinahe immer mit
radikalen Sprüngen bei den Messwerten der vitalen Körperfunktionen einher.
Bei vielen meiner Patienten
fehlt zu Beginn der Therapie jeglicher Optimismus. Ihr gesamtes System hat sich
in den (ursprünglichen) Versagensmodus begeben – Pessimismus. Eine Patientin
begann eine Sitzung deprimiert, hilflos und zynisch: „Was hat das für einen
Zweck? Das bringt nichts. Diese Therapie funktioniert nicht bei mir“. Ihr
Geburtserlebnis, eine Geburt, während derer ihre Mutter schwere Betäubungsmittel
erhielt, war Motiv für ihre Haltung. Auf ihrem Weg durch den Geburtskanal war
sie von Drogen behindert worden, die in sie das Gefühl einprägten, dass nichts
von dem, was sie tun könnte, etwas bewirken würde. In einer Kindheit, in der
nichts, was sie tat, ihre Mutter dazu bringen konnte, sie zu lieben, verstärkte
sich dann der Pessimismus und das Gefühl des Geschlagenseins.
Hier finden wir zuerst eine physiologische Hirnstamm-Erinnerung. Mit dem Erscheinen von Worten wird sie zu „Hoffnungslosigkeit.“ Keine andere Erinnerung; eine detaillierter ausgearbeitete.
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Hoffnungslosigkeit steigt später zum Kortex auf und erhält ihr
Prädikat. Manchmal ist sie so gut maskiert, dass jemand zum Therapeuten gehen
muss und dort eben herausgefunden wird, dass er in Hoffnungslosigkeit ertrinkt.
Sie läuft in der Psychotherapie unter vielen Namen – „maskierte
Depression“ ist sehr beliebt. Also haben wir zuerst eine Physiologie der
Hoffnungslosigkeit; dann die Leidenskomponente auf der limbischen Ebene; und
schließlich den Gedanken an sie. Alle drei tragen zu dem überwältigenden Gefühl
bei. Das System kann sich hoffnungslos fühlen: und dieses Gefühl kann bereits
Schaden am Organsystem anrichten, lange bevor wir bewusst darunter leiden.
Eine Patientin fühlte als
Kind, dass sie nichts hatte, an das sie sich halten konnte. Im Erwachsenenalter
eignete sie sich auf der Suche nach einem Anker eine mystische New-Age-Idee nach
der anderen an. Sie fiel ständig auf aggressive Verkäufer herein, weil sie
nicht wusste, wie sie sich widersetzen, wie sie Nein sagen sollte. Ihr übermächtiger
und fordernder Vater hatte ihr diese Fähigkeit genommen. Vor allen realen
Hindernissen wollte sie aufgeben, fühlte sie sich resigniert und geschlagen, so
ziemlich das Gefühl, das sie bei der Geburt hatte. Es prägte sich ein und
wurde zu einem Dauerzustand. Sie erlebte wieder, wo all diese Schlüsselgefühle
begannen, und versetzte sie in die Vergangenheit zurück, wo sie hingehörten.
Bei den seltenen Gelegenheiten, als das Gefühl wieder aufstieg, war es seiner
früheren Kraft beraubt, und sie konnte beschließen, nicht nachzugeben. Sie
hatte die Kraft, ihr Leben zu ändern.
Eine meiner Patientinnen, deren
Blutdruck normal ist, erlebte einen Anstieg des Blutdrucks auf 220/110, als sie
sich der tiefen Hoffnungslosigkeit annäherte, die sie als Kind erfuhr. Als sie
dann in das Gefühl hineinfiel, sank der Druck radikal ab. Diese Messwerte
weisen auf den Zusammenhang zwischen Gefühlen und Blutdruck hin. Der Anstieg
bei den vitalen Funktionen gibt uns einen Hinweis auf das Ausmaß des Gefühls.
Sich in der Therapie hoffnungslos zu fühlen, erlaubt einem schließlich, dieses
Gefühl abzustreifen. Weil der Kampf, in der Gegenwart Liebe zu bekommen, von
jenem entsetzlichen Gefühl veranlasst wird. Dieses Gefühl ist die Basis allen
möglichen Ausagierens. Zu oft gibt es nicht einmal einen Kampf um Liebe, weil
das Individuum einfach die Hoffnung aufgibt, sie jemals zu bekommen. Die Frau
zieht sich zurück, hat keine Freundinnen, die ihr mit ihren Gefühlen helfen könnten,
und wird immer deprimierter. Man kann sie ermutigen, sie solle Freunde gewinnen,
ausgehen und Leute treffen, aber es bedeutet, gegen eine mächtige Einprägung
zu kämpfen, die besagt: „Gib’ auf, versuch’ es nicht, es hat keinen
Zweck.“
Patienten, die in Hoffnungslosigkeit versunken sind, beginnen eine Sitzung gewöhnlich mit sehr niedrigen Vitalfunktions-Werten, die gleichen Werte, wie sie im ursprünglichen Trauma aufgetreten waren, weil jenes Trauma wieder ausgelöst wird. Eine Art und Weise, wie Erinnerung sich fortsetzt, besteht in der niedrigen Körpertemperatur und in der
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niedrigeren Lymphozyten-Produktion des Immunsystems. Kurz gesagt,
„psychosomatisch“ bedeutet nicht, dass sich etwas Psychisches auf das Soma
oder den Körper auswirkt. Vielmehr bedeutet es, dass ein Bestandteil der
Erinnerung darin besteht, dass Ereignisse in das körperliche System eingepresst
werden. Es ist nicht entweder das eine oder das andere. Es ist beides zugleich.
Es gibt auf Immunzellen Rezeptoren für schmerztötende Substanzen, welche die
gleichen sind, wie das Gehirn sie herstellt. Schmerz geht direkt zu diesen
Zellen und verändert ihre Immunfunktion.
Nach einem Gefühlserlebnis fällt
die Körpertemperatur erheblich, und ebenso der Blutdruck. Der Körper schaltet
in den Energiebewahrungs-Modus. Warum? Weil genau das ursprünglich (während
der Sauerstoffnot infolge der Anästhesie bei der Geburt) erforderlich war. Oft
verlassen diese Patienten die Sitzung mit höheren Vitalfunktions-Messwerten.
Wiedererleben normalisiert, weil die Einprägung des Traumas destabilisiert. Mir
ist keine Möglichkeit bekannt, wie eine Therapie die Körpertemperatur so
radikal ändern könnte, wie wir das schaffen. Es ist ein Beweis dafür, dass
der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist; Gefühle spiegeln sich in der
Temperatur und anderen Vitalfunktionen wider, und alle zusammen bewegen sich in
Richtung einer Normalisierung. Die Temperatur bewegt sich auf normale Messwerte
zu, während die Patientin berichtet, sie fühle sich viel besser. Wenn jedoch
die Patientin berichtet, dass sie sich viel besser fühle, aber die
physiologischen Messwerte dies nicht widerspiegeln, müssen wir uns die Sache
noch einmal genauer ansehen. Das passiert oft bei der Abreaktion, bei der der
Patient Spannungs-Energie entlädt aber keine Verknüpfung hergestellt hat, was
zu einem Zustand von Selbsttäuschung führt. Die Vitalfunktionen fallen dabei
sporadisch und nicht alle zusammen. Dies ist ein Hinweis, dass sich das
System nicht in Harmonie mit sich selbst befindet.
Organisation der Erinnerung
Nachdem der Thalamus geholfen
hat, die Information der Erinnerung zu verschlüsseln, verfestigen die Amygdala
(rechte und linke Seite) und der Hippocampus diese Information. Die Amygdalae
liegen nahe am Hippocampus auf der inneren Oberfläche der Temporallappen und
bilden eine Art Kreuzung im Gehirn. Das Bedürfnis-Gefühl „Ich brauche meinen
Papi“ wird vielleicht vom Thalamus verschlüsselt und gespeichert und von den
Amygdalae und dem Hippocampus konkretisiert. Wenn das Bedürfnis nicht erfüllt
wird, signalisiert es „Gefahr“ und wird über den Hypothalamus an die Körpersysteme
geschickt, wo es unsere physischen Funktionen verändert und uns schließlich
krank macht.
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Die Verbindung der Amygdala zum
frontalen Kortex und Hippocampus ermöglicht uns, ein Gefühl zu empfinden, es
zu benennen und ihm einen Titel zu verpassen. Sie kann eine dumpfe Empfindung in
der Magengrube in ein Gefühl von Leere, Einsamkeit und Verlassenheit
transformieren. Man hat kürzlich herausgefunden, dass die Amygdala
„Stop-versus-Go“-Mechanismen im frontalen Kortex reguliert, so dass die zwei
zusammenarbeiten, um Schmerzimpulse zu hemmen. Wenn die Amygdalae ruhig sind,
brandet weniger Energie hoch, die jemanden schlecht fühlen lassen würde. In
diesem Fall kann der frontale Kortex aufwallende Gefühle blockieren. Er tut
dies, indem er Gedanken erzeugt, die der Gegenpol der inneren Realität sind:
„Ich fühle mich großartig. Ich habe Gott gefunden, und er beschützt
mich.“ Die Realität gleicht Folgendem: „Ich fühle mich verloren, schutzlos
und unsicher“. Oder die Person kann zu grübeln anfangen, so dass bestimmte
Gedanken zwanghaft werden: z.B. „Der Untergang naht.“
Die Gedanken drücken wirklich
ein tief verborgenes Empfindungs-Gefühl aus.
Irgendwo spürt das System, dass das Verhängnis (das wirkliche Feeling, das im
Aufsteigen begriffen ist) naht. Nun projiziert es dieses Gefühl in die Welt. Die Person sieht überall Verderben. Es
ist nicht so, dass nicht die Möglichkeit ernsthafter Probleme bestünde. Man
kann niemals die Zukunft voraussehen. Aber in diesen Leuten ist es übertrieben.
Es wird zum Ende der Welt. Und in der Tat, das Ende der Welt und des Lebens können
für diese Personen jene ganz früh eingeprägten Erfahrungen auf Leben und Tod
gewesen sein. Tod und Verderben liegen ständig auf der Lauer, weil der Tod
wirklich drohte und in der Tat nur einen Sprung entfernt war. Die Person wird
dieses oder jenes finden, das ihr als Brennpunkt dient, aber der Inhalt ist
immer der gleiche – das Ende von allem – die Apokalypse.
Die Dopamin-Connection
Jüngste Forschung hat eine
Korrelation zwischen abgesenkten Dopamin-Werten und Depression gefunden.10 Oft weisen die Forscher darauf
hin, es seien genetische Faktoren im Spiel. Es ist meine Überzeugung, dass die
meisten von uns nicht mit genetischen Defiziten an Dopamin geboren werden. Es
geschieht so viel in utero, bei der Geburt und gleich danach, das für Veränderungen
der Dopamin-Sollwerte verantwortlich sein könnte. Neue Forschungsarbeiten
zeigen, dass Stress vor der Geburt in einer Veränderung des Dopamin-Spiegels in
der rechten Gehirnhemisphäre resultiert. Das führt schließlich zu
gesteigerter Emotionalität und zur Unfähigkeit, Emotionen angemessen zu
regulieren. 11
Es ist kein Zufall, dass eine Umarmung oder ein Kuss den Dopamin-Spiegel erhöht. Es muss ein intrauterines Äquivalent zu einer Umarmung geben, das ein Gefühl des
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Wohlbehagens erzeugt. Ich glaube,
dieses Äquivalent ist eine Mutter, die sich wohl in ihrer Haut fühlt, die glücklich
mit dem Baby ist, die sich richtig ernährt und ein ausgeglichenes inneres
System hat. Ich denke nicht, dass Depression durch genetisch verringertes
Dopamin „verursacht“ wird. Wahrscheinlicher ist, dass ein schlechtes
uterines Milieu und dann eine erstickende, repressive häusliche Umgebung die
Dopamin-Werte verändert und die Voraussetzung für Depression schafft.
Niedrige Dopamin-Pegel stehen
mit der Aufmerksamkeitsmangel-Störung in Zusammenhang. Viele der Medikamente,
mit denen sie behandelt wird, tendieren dazu, die Dopamin-Vorräte zu erhöhen.
Ich bin überzeugt, dass viel Liebe am Anfang und ein angenehmes Leben im
Mutterleib solche Defizite vermeiden würden, besonders da niedrige
Dopamin-Werte eher im linken Gehirn in Erscheinung treten, wo Gedanken und
Gedankenbildung die Unterdrückung von aufwallenden Impulsen unterstützen. Es
ist diese Hirnhälfte, die Ankurbelung durch Dopamin benötigt, um
Hirnstamm-Impulse zu unterdrücken. Und es ist vielleicht diese Hemisphäre, die
ihre Ressourcen aufgrund fehlender Liebe am Lebensanfang aufgebraucht hat.
Es gibt jüngste Beweise, die
auf die Rolle von Dopamin auch bei Drogen- und Alkoholsucht hindeuten. Es
scheint, je mehr das Dopamin-System durch Drogen gestärkt wird, umso
wahrscheinlicher ist die Abhängigkeit. Im chemischen Sinne nimmt es den Platz
von Liebe ein; je besser ich mich drinnen fühle, je weniger tot und taub ich
mich fühle, umso mehr will ich die Droge, die mich so gut fühlen lässt.
Kokain hält das Dopamin-Niveau hoch und macht süchtig. Dopamin hat Einfluss
darauf, wie gut wir schlafen.12
In einer Studie in Paris,
durchgeführt von Merle Ruberg vom Salpetriere Hospital, stellte sich heraus,
dass die Patienten oft weinen und depressiv werden, wenn Elektroden in einer
Gehirnregion platziert wurden, die als Substantia nigra bekannt ist, wo die
Parkinsonsche Krankheit mit der Zerstörung von Gehirnzellen beginnt.13
Sie sagten Dinge wie „Ich will nicht mehr leben.“ Die Depression lichtete
sich, sobald die Elektrode entfernt wurde. Hier beginnen wir die Beziehung
zwischen Depression, Hoffnungslosigkeit und Hirnzellentod zu verstehen. Die
Substantia nigra ist die Region der Dopamin-Produktion, die bei der
Parkinsonschen Krankheit ins Stocken gerät. Deshalb benötigt man L-Dopa, um
das Dopaminniveau in diesen Individuen anzuheben. Es kann sein, dass eingeprägter
Schmerz wegen der Notwendigkeit, ständig vor der Einprägung auf der Hut zu
sein, die Dopamin-Vorräte erschöpft, Nach sechzig Jahren Wachsamkeit kann das
System den Bedarf nicht mehr befriedigen. Es braucht Hilfe von außen. Diese
Wachsamkeit kann im Mutterleib angefangen haben und gegen ein Trauma wie zum
Beispiel Rauchen oder Trinken der Mutter gerichtet gewesen sein. Es beginnt so
früh, dass wir leicht zu dem Glauben kommen, es sei genetischen Ursprungs.
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Wenn jemand während der
Schwangerschaft hochreguliert worden war (eine unruhige Mutter, die viele Tassen
Kaffee getrunken hatte), dann kann die Einnahme eines „Downers“ für den
Erwachsenen ein wichtiger Moment sein, weil die Person bei sich denkt: „Also
das ist es, was ich schon immer gebraucht habe.“ Natürlich will sie noch mehr
davon haben. Jemand, der zu hoch oder zu niedrig eingestellt ist, wird sich
immer unbehaglich fühlen, und er wird sich durch normalisierende Hilfe von außen
besser fühlen.
Die Amygdalae: Mutter Natur bei der Arbeit
Wird über die Nervenfasern,
die von den Amygdalae zum frontalen Kortex führen, eine Verbindung hergestellt,
beginnen die weiter unten brodelnden Gefühle einen Sinn zu ergeben. Aber wenn
die Schleusensysteme aktiv sind, werden die Gefühle maskiert. Sie kennen das
alte Sprichwort „Mutter Natur lässt sich nicht täuschen“? Die Amygdalae
und ihre kleinen Helferlein im Hirnstamm sind Mutter Natur so nahe, wie wir ihr
nur kommen können. Das frontale Areal jedoch ist ein Gimpel. Im unverknüpften
Modus kann man ihm alles weismachen. Wenn wir die Gedanken eines Menschen
manipulieren wollen, brauchen wir nur bei seinen Bedürfnissen einhaken. Dann
wird er absolut dumm, weil er nur die Erfüllung der Bedürfnisse vor Augen hat
und sonst nichts.
Opiathaltige Fasern laufen von
den Amygdalae zu den sensorischen Systemen, wo sie die Funktion eines Torwächters
erfüllen. In Antwort auf emotionale Zustände, die im Hypothalamus und in
limbischen Strukturen erzeugt werden, setzen sie Schmerztöter frei. Wenn ein
kleines Mädchen Inzest erleidet, werden Schmerztöter freigesetzt und die
Botschaft wird auf dem Weg zum frontalen Kortex blockiert. Dennoch dringt das
schreckliche Leiden durch. Die Person fühlt sich elend und weiß nicht warum.
Auch wenn sie die Existenz des Inzests mit ihrem frontalen Kortex erkennt, wird
sich nichts ändern. Das Elend wird bleiben. Manchmal ist die Verdrängung oder
Hemmung so effektiv, dass sogar die Leidenskomponente blockiert wird und die
Person überhaupt nichts fühlt. Vielleicht ist da nur ein vages Empfinden, dass
dem Leben überhaupt nichts abzugewinnen ist.
Die Amygdalae beinhalten unverarbeitetes Gefühl. Sie sorgen für den Schmerz, und der Hippocampus hängt den Namen „erniedrigt“ an und sendet ihn zum frontalen Kortex. Während eines Wiedererlebnisses feuern die Amygdalae auch Informationen in Richtung Thalamus, der sie dann für den frontalen Kortex übersetzt; zum Beispiel „Sie demütigen mich!“ Wenn die Botschaft beim Kortex ankommt, deaktiviert sie
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den
linken präfrontalen Bereich und überlässt das Regiment dem rechten Hirn, der
„fühlenden“ Seite. Jetzt haben wir eine verknüpfte Gefühlserfahrung.
Die Amygdalae beinhalten den
Gefühlsanteil eines Ereignisses; den „Klang“ und die „Eingeweide“ des
Feelings; das Fühlen des Gefühls. Es ist das Fühlen des Gefühls, das
meiner Überzeugung nach bei so vielen Individuen fehlt und auch bei so vielen
Psychotherapien. Überdies beinhaltet der limbische Bereich, besonders der
Hippocampus, die Geschichte des Gefühls. Somit wird das Gefühl zuerst als
„Meine Freunde sind ziemlich beleidigend“ empfunden. Wenn man dann in das
Gefühlserlebnis eingeschlossen ist, übersetzt es sich in „Meine Eltern haben
mich immer schlecht gemacht.“ Das wird dann durch geeignete therapeutische
Techniken zu „Papi, sag‘ ich bin gut. Sag‘ ich bin gut, bitte!“
Es ist keine Überraschung,
dass die Amygdalae während des Traumschlafs sehr aktiv sind, während der
frontale Kortex weit weniger aktiv ist. Träume symbolisieren Gefühle. Wir
sagen „Letzte Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum.“ Tatsächlich war es
nicht der Traum, der furchtbar war, sondern die „furchtbare“ Einprägung,
die den Traum erzeugt hat. Diese Gefühle sind die ganze Zeit in uns, was dafür
verantwortlich ist, dass wir immer wieder die gleichen Träume haben. Nur dann
ziehe ich in der Therapie Träume in Betracht, wenn wir uns mit dem zugrunde
liegenden Gefühl befassen. Denn das ist real und historisch. Die
Traumgeschichte ist die Tarnung. Wie bei Watergate wollen wir nicht nur die
Kriminellen fassen, sondern wir wollen wissen, wer das ganze Ding organisiert.
Die Traumgeschichte ist das, was das Limbische System und Aspekte des rechten
Kortexes machen, um reale Gefühle zu tarnen. Wir wollen uns nicht mit den
Tarnungen befassen, weil sie ständig wechseln. Gefühle und Bedürfnisse tun
das nicht.
Limbische Strukturen wie die Amygdalae unterliegen einer
kritischen Reifeperiode, die vor der Geburt beginnt und bis zum Alter von zwei
Jahren dauert. Lange bevor der Kortex myelinisiert und handlungsbereit ist,
dominiert die Amygdala in der Verarbeitung emotionaler Information. Das ist ein
Grund, warum das Unbewusste das Unbewusste ist – weil der denkende Kortex auf
der oberen Ebene noch nicht „bewusst“ ist. Beinahe jedes Wirbeltier hat eine
Amygdala und ein hemmendes Serotonin-System. Sie datieren einige
Hundertmillionen Jahre zurück. Hunde und Katzen können keine Gefühle
artikulieren, aber sie können fühlen und aufgrund ihrer handeln. Schmerzbahnen
und das Serotonin-System scheinen in allen Vertebraten ähnlich zu sein. Überdies
scheinen sie im Nervensystem dieselben Plätze einzunehmen. Auch limbische
Strukturen sind in den meisten Säugetieren ähnlich, so dass es keine
Vermessenheit ist, die Reaktivität von Tieren mit unserer eigenen zu
vergleichen. Wo die zwei auseinanderlaufen, das ist im Bereich der Gedanken über
diese Gefühle.
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Die Provokation von Gefühlen,
die durch vergangene Ereignisse eingeprägt worden waren, geschieht vielleicht
dann, wenn ein Auslöser von außen, sagen wir der drohende Ton in der Stimme
eines Elternteils (oder egal in wessen Stimme), die Amygdalae in Bewegung setzt,
die der Hypothalamus-Hypophyse-Achse signalisiert, Stresshormone zu produzieren,
die das gesamte Gehirn in Wachsamkeit versetzen. Der Ärger wird in limbischen
und kortikalen Arealen des Kindes verinnerlicht. Wenn die Menge an
Stresshormonen zu große Ausmaße annimmt, droht sie Gehirnzellen zu schädigen.
Gewöhnlich ist die Bedrohung weitaus subtiler. Wenn es in den ersten Wochen des
Lebens keine Worte gibt,
keinen emotionalen Kontakt,
keine elterliche Wärme, wird das System des Säuglings in die Stressreaktion
getrieben; hier ist die eingeprägte Gefahr das Fehlen von Liebe. Es ist ein
Mangel, der das Baby unter Stress setzt. Das ist das wirklich Subtile. Wenn
jemand versucht, sich an schlechte Szenen aus seiner Kindheit zu erinnern, gibt
es vielleicht überhaupt keine schrecklichen Szenen; nur das Nichts, keine Wärme,
keine Liebe, keine Berührung, und keine Fürsorge.....nichts, worin man
einhaken könnte. Hier ist das Gefühl allein die Erinnerung, und es genügt,
sich von ihm überfluten zu lassen; es zu integrieren und zu verknüpfen. Unser
Gehirn kann „nichts“ (ein Fehlen von Augenkontakt) in physischen Schaden
umformen. Es ist kein „Nichts“ für das Gehirn. Es ist die Versagung des Bedürfnisses.
Kein Hormon funktioniert allein; aus diesem Grund wird es als endokrines
„System“ bezeichnet, eine Kaskade von Hormonen, die zusammenarbeiten, und
eine Kaskade von Abweichungen, wenn Schmerz eindringt.
Wenn wir die Amygdalae eines
Patienten in der Therapie übersehen, indem wir tiefe Gefühle ignorieren (und
damit meine ich nicht, dass der Patient schluchzt oder über seine
Kindheit weint), erhalten wir als Endresultat einen klugen, leidenschaftslosen
Menschen. Schlimmer noch, sie oder er kann nicht einmal fühlen, dass sie oder
er nicht fühlt, und erlebt nie das Fühlen des Gefühls. Ein Mensch, der
wundervolle Einsichten in sein Verhalten hat, kann völlig von sich selbst
vereinnahmt sein und gedankenlos und unsensibel gegenüber den Leuten in seinem
Umfeld.
Manchmal führen Eltern früh im Leben eine Amygdalektomie* an ihren Kindern durch, indem sie einfach nicht für sie da sind. Auf diese Weise werden die Gefühle des Kindes nicht direkt unterdrückt; sie werden einfach ignoriert, was auf dasselbe hinausläuft. Das Ergebnis ist, dass die Gefühle unverknüpft, unausgedrückt und ungelöst im Inneren bleiben. Therapie sollte Amygdaloide herstellen, Leute, die in Kontakt mit ihrem tiefen, fühlenden Selbst ste
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* Anm.d.Ü.: Operatives Herausschneiden (eines Organs, hier der Amygdalae)
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Sind wir zuerst bewusst und dann unbewusst?
Die Amygdala (zusammen mit
anderen limbischen und mit Hirnstamm-Strukturen) kann mit einem Delirium von
Wut, Furcht oder Sex reagieren, noch ehe der Kortex weiß, was los ist, weil
solche rohe, unbearbeitete Emotionen unabhängig von und früher
als Gedanken ausgelöst werden. Auf diese Weise überkommen
uns Gefühle. War etwas schmerzhaft in unserem Bewusstsein und wurde dann ins
Unbewusste verlegt? Nein, es hat es nie bis ins vollständige Bewusstsein
geschafft. Bevor schließlich der präfrontale Kortex wachsam wird und versucht,
diese aufsteigenden Gefühle aufzuhalten, ist die Amygdala bereits sehr geschäftig
gewesen; bevor er zum Beispiel unseren Fress-Orgien Einhalt gebieten kann.
Tiefsitzende Einprägungen üben die Kontrolle aus. Es ist klar, dass Bedürfnisse,
die Überleben involvieren, mächtiger sind als Gedanken über diese Bedürfnisse.
Wenn jemand außer Kontrolle ist, steht die Person gewöhnlich unter der
Kontrolle von Einprägungen der tieferen Ebenen und außer der Kontrolle des
frontalen Kortex. So viele Anleitungsbücher („Wie man...“) konzentrieren
sich auf die Kontrolle unserer selbst, unserer Impulse, unseres Zorns, etc., und
dennoch werden die Einprägungen niemals aufhören, unser Leben zu
dominieren.....bis sie sich mit den kortikalen Prozessen der obersten Ebene
verbinden. Gefühle sind keine Geschäfte, die man „verwaltet.“ Sie sind
dazu bestimmt, gefühlt zu werden.
Ein Mensch, der keinen Kontakt mit seinem fühlenden
Selbst hat, kann wegen eines vermeintlich sexuellen Problems in die Therapie
kommen. Bei wenig Zugang zu tieferen Strukturen wie den Amygdalae kann ein Mann
asexuell und mit nur geringer Libido und gedämpfter Leidenschaft ausgestattet
sein. Die Amygdalae sorgen für eine Erektion. Ein Mann erkennt jedoch
vielleicht nicht, dass dies das Problem ist, weil es wie bei Hunger ist; wenn
Sie Ihren Appetit verloren haben, so begreifen Sie nicht, dass Ihr Problem darin
besteht, dass Sie nichts essen. Der Schlüssel in der Psychotherapie für
sexuelle Probleme besteht darin, Zugang zu den Amygdalae als auch zu anderen
limbischen Orten zu erlangen.14
Antonio Damasio erklärt in seinem jüngsten Buch The Feeling of What Happens,15 wie wir auf der Grundlage unbewusster Gefühle handeln. Er schildert den Fall David, der eine massive Beschädigung des Hippocampuses aufwies, was bei ihm zu der Unfähigkeit führte, neue Erinnerungen zu verankern. Es bestand auch ein Schaden an der Amygdala. Damasio führte an ihm ein Experiment durch, das als „Guter Junge, schlechter Junge“ – Versuchsanordnung bekannt ist. David hatte Begegnungen mit jemanden, der sehr nett und freundlich zu ihm war, und andere Begegnungen mit jemandem, der brüsk und unangenehm war. David konnte diese Leute nicht wiedererkennen, waren sie einmal aus seinen Augen verschwunden.
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Er hatte keinerlei Fähigkeit, die
Geschichte als Führer für sein Verhalten zu benutzen, weil er diese Fähigkeit
verloren hatte. Er konnte nicht zu sich selbst sagen: „Dieser Mensch ist böse,
und ich sollte ihn meiden.“ Er konnte seine Erfahrungen nicht integrieren oder
sie artikulieren; dennoch tendierte er immer zu den netten Leuten hin und weg
von den unerfreulichen. Er wurde von einer unsichtbaren und unerkannten Kraft
geführt – von seiner Geschichte, von Gefühlen, die auf vergessenen
Erfahrungen beruhten. David war buchstäblich und physisch von seiner Geschichte
abgeschnitten und dennoch von ihr motiviert, und das ist genau der Punkt, auf
den ich bei denjenigen hinaus will, die nicht unbedingt einen Schaden aufweisen,
sondern wegen der Verdrängung von tieferen Zentren abgeschnitten sind. Seine
Reaktion war eher organismisch als bewusst. Hier haben wir ein neurologisches
Paradigma für das Verständnis der Depression; zum Beispiel ohne
offensichtlichen Grund in Stimmungen hineingetrieben zu werden. Stellen Sie sich
vor, David hätte seine Verknüpfungen zu tieferen Zentren wiedergewonnen. Er würde
nicht mehr von seinem Unbewussten gelenkt werden. Genau darauf will ich hinaus,
wenn die funktionellen Verknüpfungen zu tieferen Zentren durch Aufheben der
Verdrängung wiedergewonnen werden. Bei vollständigem präfrontal-limbischen
Bewusstsein (das unbewusste Gefühle ins Bewusstsein integriert) gäbe es keine
Depression mehr. Das Unbewusste würde bewusst gemacht, so dass wir nicht länger
von unbewussten Gefühlen herumgestoßen würden, worum es bei der Depression
geht. Wir verwenden darauf den anspruchsvollen Begriff
„Stimmungsschwankungen“, aber unser gesamter Organismus dreht sich um
tiefsitzende Gefühle, von deren Existenz wir keine Ahnung haben. Diese
Erfahrungen geschehen oft viele Jahre, bevor wir einen voll funktionierenden
frontalen Kortex haben, der ihnen einen Sinn geben könnte. Volles Bewusstsein
ist, wie ich bei meinen Patienten beobachtet habe, DAS Gegenmittel bei
Depression.
Ich erhielt heute mit der Post einen Brief von einer meiner Patientinnen, Regina, der mein Argument exemplifiziert: „Ich möchte Dir meine Erfahrungen mitteilen, als ich am ersten Tag dieses neuen Jahres (das Millenium) aufwachte und in Tränen aufgelöst war. Warum? Nachdem ich letzte Nacht all die Feierlichkeiten überall auf der Welt beobachtet hatte, ohne einen einzigen Ausrutscher, keine Terroristen, keine Stromausfälle oder Flugzeugabstürze, erkannte ich, dass all die schlechten Dinge, die mir, wie ich im vergangenen Jahr glaubte, passieren würden, dass all die Katastrophen, über die ich mir den Kopf zerbrochen habe, gar nicht meine Intuition waren, sondern vielmehr aus der Vergangenheits-Realität kamen, die in mir lebendig ist. Es war, als sei ein großer Spiegel vor mir, der mir zeigte, dass es meine Vergangenheit war, die das Problem war. Ich fühlte, dass ich mich selbst schützen müsse und kaufte eine Vierteltonne Getreide. Ich musste auf das vorbereitet sein, was mir begegnen würde. Es war mir bereits begegnet, und ich hatte mich selbst belogen:
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dass ich verletzt werden würde, wenn ich mich
nicht genügend vorbereitete. Also war ich besessen vom Gedanken an Y2K. Quälte
mich mit „Was-Wenns“. Jetzt weine ich wegen all dieser Gefühle, nicht
sicher zu sein, und ich weiß, wohin sie gehören. Dass ich diese Gefühle nach
Y2K verlagerte, ließ mich
erkennen, wie ich den inneren Dingen einen neuen äußeren Brennpunkt gab.“ 16
Einige meiner männlichen
Patienten, die ständig sexuell erregt sind, finden heraus, dass auch ihr
sexueller Drang nachlässt, wenn sich ihr emotionaler Schmerz aus einem frühen
Trauma vermindert. Ereignisse im Mutterleib haben so tiefgreifende Auswirkungen
auf das spätere Leben. Zum Beispiel fand man heraus, dass die Verabreichung von
Morphium an trächtige Ratten deren männlichen Nachwuchs femininisiert.17
Das gesamte sexuelle Gleichgewicht kann durch Ereignisse im Mutterleib
umgeworfen werden. Morphin ist ein Unterdrücker bzw. Hemmer. Wir produzieren
die gleiche chemische Substanz selbst, möglicherweise mit den gleichen Effekten
für die spätere Sexualität. Wenn wir in ausreichendem Maße verdrängen,
verdrängen wir unsere Sexualität.
Hypersexualität kann ihren
Ursprung im Hirnstamm haben und von einer Einprägung herrühren, die tatsächlich
nichts mit Sex zu tun hat. Satyriasis sodann als Sexproblem zu behandeln, trifft
nicht den wesentlichen Punkt. Sex ist nur eine Möglichkeit, wie Primärenergie
freigesetzt wird. Und die beteiligte Energie kann von Anoxie bei der Geburt
kommen, auch wenn sie Sex als Ventil bevorzugt. So behandeln wir Sex, wenn wir
Anoxie behandeln sollten. Es ist niemals nachteilig, das Symptom zu behandeln,
solange wir verstehen, dass es ein Symptom ist – von etwas anderem. Ein altes
Bedürfnis kann in einem Mann oder einer Frau sexuelles Interesse wachrufen; zum
Beispiel könnte eine Kindheit ohne Vater den Sexualimpuls auf andere Männer
umleiten. Schmerz wird in den Sexualtrieb umgewandelt. Die Raserei des sexuellen
Verlangens entspricht der frühen Entbehrung von Liebe; dieses Verlangen erfährt
seinen Antrieb durch das retikuläre Aktivierungssystem des Körpers, welches
das System in Wachsamkeit versetzt. Dann kanalisieren Kindheitsereignisse - ein
tyrannischer oder abwesender Vater - den Trieb. Homosexualität kann das
Ergebnis sein. (Später mehr darüber).
Bei Frauen, die Inzest erlitten
und deshalb Angst vor Männern haben, kann der Sexualtrieb, sobald er in
Erscheinung tritt, in Richtung Frauen umgelenkt werden. Geschlechtsverkehr mit Männern
würde den Schmerz des Inzest reaktivieren und die Frau überwältigen. Deswegen
wendet sie sich an Frauen, um ihr Bedürfnis nach Liebe zu erfüllen und,
wichtiger noch, um den Schmerz in Schach zu halten. Viele meiner lesbischen
Patientinnen erlitten Inzest in der Kindheit.
Wir werden die Amygdala niemals täuschen, aber wir können ihre kortikalen Abkömmlinge zum Narren halten. Beispiel: Ein Mädchen wurde von ihrem Vater sehr früh im Leben sexuell missbraucht, aber irgendwie lernt sie in der Therapie ihm zu vergeben.
Seite 65
Der Vater
und die Tochter sind nun versöhnt, aber das Problem besteht darin, dass sie
einer Einprägung nicht vergeben kann. Und die Amygdala kann nicht verzeihen;
das ist nicht ihre Aufgabe. Es ist, als müsste sie der Physiologie der Frau
verzeihen. Die alten Gefühle sind noch immer an Ort und Stelle, nur dass sie
jetzt von kortikaler „Vergebung“ überlagert sind. Wenn genügend viele
Schichten darüber liegen,
verlieren wir den Zugang zu den realen Gefühlen. Es ist seltsam, aber diese Überlagerung
kann dazu führen, dass wir uns wunderbar fühlen. Also, was ist das Problem, könnte
man fragen? Was ist falsch daran, sich gut zu fühlen? Wenn wir uns gut fühlen
könnten, wäre es wunderbar. Wenn Sie denken, dass Sie sich gut fühlen, so ist
es eine andere Sache. Es bedeutet, irreal zu sein; in einem Zustand der Irrealität
zu leben, nur um später vorzeitig von einer verborgenen Realität
niedergestreckt zu werden.
Eine junge Frau, die ich
behandelte, erlebte wieder, wie sie von ihrem Stiefvater sexuell attackiert
worden war. Ihre Hände überkreuzten sich automatisch hinter ihrem Rücken (ihr
Stiefvater fesselte ihr die Hände auf den Rücken), sie krümmte sich nach
hinten und ihre Herzfrequenz stieg auf 180 Schläge pro Minute. Diese Frau fürchtete
sich vor Männern und Sex in der Gegenwart, aber die Einprägung selbst war
Jahrzehnte alt; dennoch dominierte sie die meisten ihrer Beziehungen.
Eine Patientin fand heraus,
dass sie immer dann Migräne bekam, wenn sie auch nur unter dem leichtesten
Druck stand, wie zum Beispiel eine Arbeit für die Klasse vorzubereiten. In
ihren Sitzungen erlebte sie ihre Geburt wieder, während der sie nicht genug
Sauerstoff bekam (ihre Mutter erhielt schwere Betäubungsmittel). Der Druck, der
ihre Blutgefäße zusammenzog und sie dann erweiterte, war ihre Einprägung.
Jeder Druck, den sie später im Leben spürte, führte bei ihr zu einer Migräne,
brachte sie durcheinander und ließ sie nicht mehr funktionieren.
Die Amygdala entsteht, lange bevor der Neokortex (neuer
Kortex) sich entwickelt, sowohl in der Entwicklung des Individuums
(ontogenetisch) als auch in unserer langen Historie vom Tier zum Menschen
(phylogenetisch). An einem bestimmten Zeitpunkt in der individuellen und
phylogenetischen Geschichte musste die Amygdala die ganze Arbeit alleine machen.
Sie hatte keinen Hippocampus und keinen Neokortex, um die Dinge genauer zu
bestimmen und um Gefühle zu lenken. Sie leitete einfach Instinkte. Sie fügte
der Gleichung ihren Anteil an Furcht hinzu.
Wenn sich die Schmerzimpulse anhäufen, tendieren sie dazu, das Rezeptorsystem zu überwältigen. Das Resultat kann frei fließende Angst sein. Sie fließt frei, weil die Einprägung geschah, lange bevor Worte in Erscheinung traten, die sie hätten umschreiben und eingrenzen können. Wenn die Amygdala Ruhe gibt, ist weniger Energie auf dem Vormarsch, die uns schlecht fühlen lässt. In diesem Fall kann der frontale Kortex Angstattacken und/oder Besessenheit und Zwänge blockieren. Man könnte versucht sein zu sagen, dass die neuen Medikamente obsessiv-zwanghafte Symptome „heilen“,
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aber in Wirklichkeit heilen sie gar nichts. Sie schieben das Problem nur hinaus!
Dieselben Einprägungen sind immer noch da, sie werden nur besser von
Medikamenten in Schach gehalten, die sie unterdrücken und die verhindern, dass
die Botschaft den frontalen Kortex überwältigt. Eine Glaubensüberzeugung ist
wie eine selbst verabreichte Droge. Der Kortex weiß, was er tut, wenn er
Glaubensvorstellungen ausheckt. Diese Überzeugungen gehen dorthin, wo sie benötigt
werden, und helfen uns zu überleben. Es ist nicht immer eine gute Idee,
jemanden von irrationalem Glauben abzubringen. Er erfüllt eine wichtige
Funktion in der Ökonomie der Psyche. Und wenn wir die Glaubensüberzeugung mit
der Geschichte verknüpfen, ist sie nicht so irrational wie es scheinen mag.
Der Tabernakel der Wahrheit
Die
Amygdalae sind der Tabernakel der Wahrheit. Ein junger Mann erlitt eine
Panikattacke, als er um eine Präsentation vor seinen Arbeitskollegen gebeten
wurde. Hier kann die wirkliche Reaktion diejenige auf den Sauerstoffverlust sein
und nicht Lampenfieber. Vor anderen Leuten zu sprechen, nahm die Bedeutung eines
Ereignisses auf Leben und Tod an. Dieser Mann litt bei der Geburt unter Anoxie.
Seine gegenwärtige Furcht resoniert mit dem Terror der Vergangenheit, und das
Ergebnis ist, dass er sich so fühlt, als müsse er wieder sterben. „Es gibt
nichts, wovor Sie Angst haben müssten. Es sind Ihre Freunde,“ sagt ihm
vielleicht ein Berater. Indessen haben die Amygdalae sehr viel gefunden, wovor
er Angst haben müsste; der Hirnstamm greift mit der alten Anoxie und Todesangst
in die Präsentation ein, und wiederum geht es um Leben und Tod. Die gegenwärtige
Furcht setzte die Schmerzkette in Bewegung und rief den ursprünglichen Terror
am Anfang des Lebens wach. Ja, es gab Ängste später in seiner Kindheit, die
ebenso zählten. Aber die viszerale Angst hatte ihre Wurzeln vor der Zeit, als
er den ersten Menschen sah. Würde der ursprüngliche Terror später nicht zusätzlich
verstärkt, hätte er bei der Präsentation weit weniger Angst.
Wenn jemand in einem Zustand
ist, in dem er dringend Drogen oder Alkohol braucht, so ist es die Amygdala, die
sehr aktiv ist. Wenn sich ein Süchtiger
in Qualen windet und unbedingt einen Schuss braucht, dann ist laut Dr. Hans
Beiter vom Massachusetts General Hospital die Amygdala die treibende Kraft. Sie schickt ihre Botschaft hinaus, dass
sie unter Schmerz steht und etwas braucht, das diesen Schmerz lindert. Es überrascht
nicht, dass Antidepressiva auf die Amygdala wirken. Man beachte, dass
Depressionen trotz des phlegmatischen, energielosen Ausdrucks des Individuums Zustände hoher Aktivierung sind.
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Weil die
Amygdala und andere Strukturen, die Gefühle verarbeiten, auch unterdrückende,
hemmende Hormone abscheiden, kontrollieren sie letztlich den Zugang zu diesen
Emotionen und haben Einfluss darauf, was wir wahrnehmen und was wir nicht
wahrnehmen. Schaden an der Amygdala hindert jemanden daran, einen angstvollen
Gesichtsausdruck bei anderen (und vermutlich bei sich selbst) zu erkennen; ein
weiteres Indiz für die Rolle dieser Struktur bei der emotionalen Wahrnehmung.
Amygdalae, die aufgrund der Schmerzlast geschwächt sind, können uns weniger
einfühlsam für die Empfindungen anderer machen. Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle
bei emotionaler Sprache und beim Weinen, so dass wir sicher sein können, dass
die Amygdala beteiligt ist, wenn meine Patienten mit der Stimme eines Fünfjährigen
jammern: „Mama, bitte halte mich!“ Es ist meine Vermutung, dass die
vermittelnde Gehirnstruktur umso älter ist, je entfernter die Erinnerung ist.
Sehr alte Gehirnstrukturen scheinen mehr in die eher geheimnisvollen und weit
abgelegenen Erinnerungen unserer frühen Kindheit und der Zeit davor verwickelt
zu sein.
Ein weiterer Grund, warum
Einsichtstherapie, die den sich spät entwickelnden präfrontalen Kortex
erfordert, nicht so wirksam ist, wie sie sein könnte, besteht darin, dass die
Frontalzone versucht, die Arbeit eines sehr alten Gehirns zu erledigen, das sich
mit Gefühlen befasst. Es ist der Versuch, Zugang zum Fühlen und zu tief
gelegenen Empfindungen zu gewinnen. Das alte Gehirn, die Amygdala und der
Hippocampus werden diesen Versuch der Einmischung nicht tolerieren und den
Zugang verweigern. Es ist ein Dialog unter Tauben. Das alte Gehirn kann nicht hören
und verstehen, worüber sich der frontale Kortex auslässt. Michaela Gallagher,
eine Neurowissenschaftlerin an der Johns Hopkins Universität, hat
herausgefunden, dass ein voll funktionierender Kortex die Amygdala und ihr Gefühle
in Schach halten kann. Anders ausgedrückt wäre eine Person hyperreaktiv und würde
zu sehr auf Stimuli reagieren, wenn der frontale Kortex nicht intakt wäre. Aber
ein übermäßig aktiver Kortex ist genau das, was wir nicht brauchen, wenn wir
fühlen wollen. Seine Hyperaktivität wird zu einer Abwehr gegen die Regression
zur fühlenden Ebene. Deshalb befinden sich unsere Patienten in einem
abgedunkelten, ruhigen Raum.
Der Hippocampus: Zugriff auf Kindheitserinnerungen
Der
Hippocampus liegt hinter den Amygdalae und bildet die Spitze der Widderhorn-Form
des limbischen Systems (siehe Kapitel 1). Der Hippocampus befasst sich mit dem
Kontext und den Umständen eines Ereignisses; die Amydalae sind mit dem
emotionalen Inhalt beschäftigt. Wenn Sie fünf Jahre alt sind und Ihre Mutter
zu Ihnen zum hundertsten Mal sagt: „Du bist nutzlos und dumm. Geh’ mir aus
den Augen!“, werden die Umstände und das Gefühl des Ereignisses durch den
Hippocampus bzw. durch die Amygdalae eingeprägt.
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Eine präzisere Bedeutung fügt
der denkende Kortex hinzu, so dass die volle Verknüpfung lauten kann: „Mutter
hasst mich!“ Die unterbewusste Logik des kleinen Kindes ist wahrscheinlich
folgende: „Sie ist wütend, weil ich schlecht bin.“ Weil diese Erkenntnis für
ein Kind so vernichtend ist, werden Endorphine abgesondert, um die volle Verknüpfung
zu verhindern. Die Gefühle werden jetzt geschleust und im Unbewussten gehalten.
Dann beginnt der Kampf, weil das Kind und später der/die Erwachsene sich bemüht,
andere dazu zu bringen, dass sie ihn/sie lieben. Das Gefühl ist unbewusst und
wird unbewusst ausagiert.
Der Hippocampus verankert neue
Erinnerung, indem er mit der Frontalzone zusammenarbeitet, um Gefühle zu
festigen. Sobald die Erinnerungslast zum Kortex verlagert worden ist, kann sie
zu Bewusstheit gebracht werden. Der Hippocampus hat nun Raum, um mit dem
Benennen von neuen Gefühlen und Bedürfnissen fortzufahren und kann neue
Erinnerungen ablegen, die auf aktuellen Stimuli gründen. Bei der Konsolidierung
von Gefühlen tastet der Hippocampus mit Hilfe der Amygdalae die persönliche
Erfahrung ab und sucht in der Geschichte nach Schlüsseln. Wenn diese Geschichte
mit Schmerz beladen ist, ist es schwer, an diese Schlüssel zu gelangen.
Entweder reagiert die Person übermäßig oder sie reagiert zu schwach – redet
zu viel, isst zu viel, hat keinen Sex oder nicht genug Sex, und so weiter.
Der Hippocampus ist eine der
wenigen Gehirnstrukturen, die sich mit dem Alter weiter entwickeln. Forscher am
Salk Institute in La Jolla, Kalifornien haben herausgefunden, dass die Anzahl
der Hippocampus-Zellen als Ergebnis geistiger oder körperlicher Betätigung
zunimmt.18 Ich glaube, dass früh im Leben erfahrene Liebe dem Gehirn
ebenso hilft, sich weiter zu entwickeln.
Betrachten Sie den Hippocampus
als Handlanger der Amygdalae. Beide haben direkte Verbindung zum Thalamus.
Furcht kann sich vom Thalamus zu den Amygdalae bewegen, oder zum Thalamus via
Kortex, dann zu den Amygdalae, um auf vielfältige Weise eingraviert zu werden.
Bei einigen kann es schon zu einem plötzlichen Angstanfall kommen, wenn sie
morgens aufstehen, weil sie in dieser Phase relativ abwehrlos sind. Furcht kann
vom Thalamus unter Auslassung des frontalen Kortexes zu den Amygdalae wandern
und dort eine unmittelbare Krisenreaktion auslösen. Das nennt man emotionales
Lernen. Eine Region der Amygdalae hat Verknüpfungen zum Hirnstamm, der den
Herzschlag und andere automatische Funktionen erhöht. Eine traumatische Geburt
bringt das Gehirn in Schieflage, so dass thalamische Bahnen den Vorrang vor den
kortikalen Bahnen gewinnen. Die Frontalregion wird dann nach einem Feeling
lediglich für „Aufräumarbeiten“ eingesetzt.
Der Hippocampus schwächt auch emotionale Reaktionen ab. Wenn sich schwerer Schmerz einprägt, so bürdet das dieser Struktur eine große Last auf.
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Schließlich
beginnt der Hippocampus zusammenzubrechen oder er schwindet, und die Erinnerung
wird fehlerhaft und flacht ab. Wenn die Degeneration anhält, kann es zu
permanentem Gedächtnisverlust kommen. Es hat sich mittels Autopsie
herausgestellt, dass Hippokampus-Zellen bei Psychotikern total ungeordnet sind.
19 Eine Reihe von Studien über schwere psychische Krankheiten hat
aufgedeckt, dass die Hippocampus-Region überaktiv wird, wenn die Funktion des
frontalen Kortexes nachlässt. Emotionen brodeln, während die
Integrationszentren verfallen.
Eine massive Gefühlsentladung
der Amygdalae legt den Hippocampus still. Das ist eine weitere Art, wie die
Schmerzbotschaft daran gehindert wird, den frontalen Kortex zu erreichen. Der
Hippocampus sagt: „Mir reicht’s. Die Nachricht überbringe ich nicht. Das
ist zuviel Leid.“ Er lässt den frontalen Kortex im Dunkeln. Niemand kann dem
Individuum sagen, welche Gefühle
tief drinnen verborgen sind, weil sie niemand außer diesem Individuum fühlen
kann.
Abb. 2. Hippocampus: Verankert neue
Erinnerung; bewahrt die Erinnerung als Fakt. Amygdala: Das Fühlen des Gefühls;
Erinnerung als Emotion.
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Jeder Auslöser, sagen wir ein angewiderter Blick eines
Elternteils oder ein verächtlicher Tonfall des Chefs kann den Hippocampus dazu
bringen, dass er die Erinnerung wieder hervorholt. Das bewerkstelligt er durch
seinen Abtastmechanismus: Der Auslöser resoniert mit einem verschlüsselten Gefühl
aus der Vergangenheit, holt es aus dem limbischen Lagerhaus heraus und
katapultiert es in Richtung vollständiges Bewusstsein. Die Information
aktiviert physische Systeme, die Angst erzeugen und die Gefahr signalisieren,
dass sich das ursprüngliche Ereignis dem Bewusstsein nähert. Es ist das frühe
Trauma im Mutterleib plus das Geburtstrauma, welche die viszerale Reaktion
erzeugen, die wir Angst nennen. Sie geschieht, weil ein bestimmtes gegenwärtiges
Ereignis (ein ärgerlicher Tonfall eines anderen) den Prototyp in Gang setzt.
Die Gefahr im Tonfall löst die primär eingeprägten Ängste aus. Es kommt zu
einer übermäßigen Sekretion des Stresshormons Kortisol, weil das die ursprüngliche
lebensrettende physiologische Reaktion war. Das Problem ist, dass diese Reaktion
ohne Verknüpfung geschieht, weil es praktisch unmöglich ist, Zugang zu der
Erinnerung ohne systematische Annäherung zu gewinnen, die darin besteht, dass
man zuerst durch geringere Schmerzen geht. Somit haben wir jetzt frei fließende
Angst.
Wir brauchen Zugang zu unseren Gefühlen, um ein
intelligentes Leben zu führen. Jemand kann fähig sein, mathematische Probleme
logisch auszuarbeiten, während er gleichzeitig ein chaotisches Leben führt,
das von Drogen und gefährlichem Ausagieren geprägt ist. Ein brillianter Geschäftsmann,
zum Beispiel, versteht die Kunst des Geschäftsabschlusses, ist erfolgreich,
sozial, und dennoch ist sein Leben leer. Sein Leben sieht gut aus, aber er kann
es nicht genießen. Wie einer meiner Patienten sagte: „Ich habe einen
faszinierenden Job. Zu dumm, dass er mich nicht interessiert.“ Ein Mann kann
sein ganzes Leben mit dem Versuch verbringen, sich wichtig zu fühlen, weil er
niemals für die Leute wichtig war, die zählten, nämlich seine Eltern. Wir können
unsere Beziehungen verpfuschen, weil uns diese „Liebes-Einprägung“ früh im
Leben fehlt.
Wenn meine Patienten ein Gefühl voll wiedererleben, kommen sie daraus mit einer großen Anzahl von Assoziationen und Einsichten hervor, die ganz unterschiedliche Verhaltensmuster abdecken. „Jetzt verstehe ich, warum ich mein ganzes Leben zu spät kam, und warum ich es in der Schule nie in einem Klassenzimmer ausgehalten habe,“ sagen sie. „Ich konnte es nicht aushalten, eingeengt oder eingeschlossen zu sein, zuerst im Geburtskanal, dann im Kinderbettchen und dann zu Hause, wo meine Eltern so streng waren.“ Fühlen hat ihrem Verhalten Bedeutung verliehen. Eine Patientin musste vor Gericht erscheinen. Dort stand sie einem Psychopathen gegenüber, der lügte. Sie fühlte sich völlig hilflos. Sie kam hinterher in die Sitzung und fühlte sich zuerst allgemein hilflos, dann im Umgang mit ihren Eltern, die jeden ihrer Schritte kontrollierten, und schließlich fühlte sie die Hilflosigkeit bei der Geburt, als ihre Mutter eine massive Dosis Betäubungsmittel erhalten hatte.
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Diese Hilflosigkeit war der Prototyp, auf
dessen Grundlage sich alle späteren Erfahrungen entwickelten. Hilflosigkeit
wurde zu einem Gefühl, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetzte und
sich immer wieder verstärkte.
Der Prototyp der Hilflosigkeit steuert viele
Charakteristika des späteren Lebens wie Angst vor Veränderung, Rigidität und
Mangel an Spontanität. Das
Abb. 3. Frontaler Kortex:
Bedeutung und Verstehen; Integration des Feelings; Hippocampus: durchsucht die
Geschichte und ruft ähnliche Ereignisse ab; reichert den Strom des Bewusstseins
an; Amygdala: hilft, das System zu elektrisieren, wenn sie Gefahr entdeckt.
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Unbewusste warnt: „Du kannst an deiner Situation nichts ändern.“
Wenn Sie ursprünglich nichts tun konnten, um Ihr Leben zu retten, sind Sie in
der Tat hilflos.
Der Schmerz, der zu Magersucht führt
Ein magersüchtiges
junges Mädchen, das ich behandelte, wurde im Alter von sechs bis neun Jahren
zum Oralsex am Freund ihrer Mutter gezwungen. Als sie später Anorexie und
Bulimie entwickelte und sich immer wieder vollstopfte und anschließend übergab,
erbrach sie unbewusst das, was der Freund ihrer Mutter in sie ejakuliert hatte.
Das Abstoßen der Sperma-Flüssigkeit war ein Überlebensmechanismus; ihr Körper
wies eine fremde und bedrohliche Kraft von sich. All dies geschah nach dem Alter
von fünf Jahren. Ich hätte niemals die Verknüpfung zustande bringen können,
die sie in Ihren Gefühlserlebnissen herstellte, weil es dann mein Kortex wäre,
der versuchen würde, die Einprägung einer tieferen Ebene im Gehirn eines
anderen Menschen herauszufinden.
Anorexie hat ihren Ursprung oft
im Hirnstamm, während die bewusste Entscheidung, sie zu bekämpfen, weit vom
Hirnstamm entfernt lokalisiert ist. Sich auf einen solchen Dialog zwischen dem
Kortex und dem Hirnstamm einzulassen, kommt einer Konversation gleich, die viele
Millionen Jahre der Entwicklung überspringt, weil der frontale Kortex gebeten
wird, die Arbeit des Hirnstamms zu erledigen. Es ist nichts anderes als der
Versuch, allein Willenskraft im Kampf gegen Anorexie einzusetzen.
Es ist bekannt, dass
„Speed“ den Appetit reduzieren kann. Die Person, die durch interne Überstimulierung
auf Speed ist, kann allein durch diese Tatsache ihren Appetit verlieren.
Anorexie kann in einem beruhigenden und ermutigenden häuslichen Gruppenmilieu
behandelt werden, zum Beispiel in einem Reha-Zentrum, und manchmal können die
Symptome ausgemerzt werden, aber die dahintersteckende Dynamik wird niemals
ausgelöscht. Dennoch ist es wichtig, das Symptom zu behandeln, weil es fatal
sein kann.
Das untere Gehirn weiß mehr über
seine eigene interne Realität als irgendein außenstehender Experte. Die
Anorexie meiner Patientin hielt an, weil ihr Überlebensmechanismus stärker war
als jede therapeutische Methode. In diesen Fällen kann die konventionelle
Psychotherapie keine Hilfe bieten, es sei denn auf einer oberflächlichen Ebene.
Oft glauben sowohl Patient als auch Arzt, es sei ein Fortschritt erzielt worden,
obgleich der Arzt sich in Wirklichkeit mit der einen Realität befasst, während
Gehirn und Körper der Patientin sich mit einer anderen beschäftigen.
Seite 73
Eine
Patientin von mir, Sandra, erzählte von ihrem Kampf mit Anorexie und von ihrem
Weg zur Genesung. Die folgende Fallgeschichte von Sandra stellt wieder einige
Ursachen heraus, nicht nur von Anorexie, sondern auch von suizidalen Tendenzen.
In ihrem Fall wäre sie beinahe bei der Geburt gestorben. Sie war zu Beginn
ihres Lebens von Todesgefühlen überflutet, die zu einer Einprägung wurden, so
dass sie davon besessen war. Es ist nicht oft der Fall, dass jemand sterben
will. Es ist vielmehr so, dass die Einprägung besagt, dass der Tod die Agonie
beenden kann. Es ist diese Gleichung aus der Geburt, die einen Menschen sowohl zum Tod hin als auch von ihm weg
treibt. Fügt man der Mixtur Hoffnungslosigkeit hinzu, ergibt das ein Gefühl
drohenden Todes zusammen mit dem Gefühl, dass es keinen Zweck habe, irgendetwas
ändern zu wollen. Die meisten meiner Patienten, die vom Tode besessen sind,
sagen mir, ihr Gefühl sei, dass der Tod unmittelbar bevorstehe und kein weit
entferntes Ereignis sei. Was unmittelbar bevorsteht, ist, dass die
Todesempfindung aus der Geburt in Richtung Bewusstheit aufsteigt und
Zwangsvorstellungen erzeugt.
Sandras Geschichte
Meine
Mutter wollte mich nicht; sie versuchte mich abzutreiben. Als das nicht
funktionierte, hungerte sie, damit man ihr die Schwangerschaft nicht ansehen würde.
Schließlich fing sie während ihres (meines) siebenten Monats zu essen an, weil
sie begonnen hatte, sich zu zeigen. Als ich geboren wurde, war ich anorektisch
und konnte nichts unten halten. Ich spüre jetzt, dass ich mich am Rande des
Verhungerns halte, weil ich dieses Gefühl ganz von Anfang an gehabt habe.
Bevor ich
geboren wurde, verlor meine Mutter während des fünften Monats ein Baby.
Dasselbe geschah mit mir, nur dass ich irgendwie stark genug war, um zu überleben.
Heute fühle
ich dieselbe Toxizität und mit ihr die Todesgefühle, die mich mein ganzes
Leben lang gequält haben. Ich hatte immer eine leichte Empfindung von Übelkeit,
vor allem gleich nach dem Essen. Mein Impuls war, alles auszuspeien, das in
meinen Körper kam. Ich verstehe jetzt, dass ich jene Vergiftungs-Erfahrung im
Mutterleib immer wieder inszeniert habe. Ich muss diesen Impuls zum Ausspeien
gehabt haben, um im Mutterleib zu überleben – und vielleicht war es sogar
dieser Impuls oder eine primitivere Variante, der mich am Leben hielt. Dennoch hätte
mich dieser Impuls später dann beinahe getötet, als ich begann, soviel Gewicht
zu verlieren.
Wann immer ich mich in einer Situation von Stress oder Verletzlichkeit befinde, kommen dieselben Todesgefühle herauf, und mein Körper ist gezwungen, sie zu unterdrücken.
Seite 74
Im Schlaf sinke ich auf etwas hinab, das sich wie die Bewusstseinsebene eines
Babys anfühlt; das Ergebnis ist, dass ich schreckliche Angst bekomme und
Probleme habe, überhaupt in Schlaf zu fallen. Beim Sex bin ich verletzlich, so
dass ich einfach abschalte, wenn ich zu erregt bin. Ich bin seit Jahren
suizidal, und nun sehe ich warum. Schon bevor ich geboren wurde, war ich vom Tod
umzingelt und musste ihn abwehren!
Demselben
Muster, meine Gefühle zu blockieren, folgte ich in der Therapie. Sobald Gefühle
aufkamen, war ich überlastet und verdrängte das Gefühl, das mich in der
Gegenwart beschäftigte, und reagierte die ganze Energie, die in mir gefangen
war, einfach ab oder setzte sie Hals über Kopf frei. Ich wurde immer als
„Hysterikerin“ betrachtet. Ich konnte mich nicht auf irgendein Gefühl
konzentrieren, weil ich einen Vulkan in mir hatte, mit dem ich mich befassen
musste. Keiner meiner Körperprozesse funktionierte richtig, weil mein Körper
immer das Todesgefühl gefangen hielt. Um dieses Gefühl mussten sie sich in der
Primärtherapie kümmern, bevor mein Körper wieder funktionierte.
Der Hirnstamm: Instinkt und Überleben
Der
unterste Teil des Gehirns, der in die Wirbelsäule überleitet, wird als
Hirnstamm bezeichnet. Er besteht aus vielen Strukturen und beinhaltet das
retikuläre Aktivierungssystem, die Medulla und den Locus caeruleus. Er ist das
erste organisierte Zentralsystem, das sich mit Ereignissen befasst und sie
registriert, besonders mit solchen vor der Geburt und mehrere Monate danach.
Wenn Gefahr
im Verzuge ist, schlägt der Hirnstamm Alarm und energetisiert den Körper. Er
ist an der Regulierung vitaler Funktionen wie Atmung, Blutdruck und Herzschlag
beteiligt. Das alles sind instinktgesteuerte, automatische Funktionen. Der
Hirnstamm trommelt die Truppen zusammen, indem er das übrige Gehirn und den Körper
über Nervenfasern aktiviert, die direkt zum frontalen Kortex und auch zum
Limbischen System verlaufen.
In Hirnstamm-Strukturen
wie dem Locus caeruleus eingravierte Furchtsignale werden zum Kortex auf die
obere Ebene gesendet, der sie dann zu einer Phobie, einer Zwangsvorstellung oder
zu einem Angstgefühl zusammensetzt, deren Ursachen für den Menschen tief im
Dunkeln liegen. „Warum Angst?“ könnte man fragen. Weil Angst kortikale
Verarbeitung erfordert; andernfalls ist es Terror der unteren Ebene. Sie müssen
sich des viszeralen Grollens bewusst sein. Angst ist nur amorpher Terror. Angst
ist ein „teilbewusster“ Zustand. Wir fühlen uns schrecklich, wissen, dass
etwas nicht stimmt, aber wir wissen nicht, was es ist und warum es geschieht.
Als ich ein MRI* für meinen Rücken machen ließ und eineinhalb Stunden in
einer engen Metallröhre eingeschlossen war, wies ich den Techniker an, in
unregelmäßigen Intervallen hart auf meine Füße zu klopfen (sie ragten
heraus), um Angst zu vermeiden. Es funktionierte. Keine Angst; keine Fähigkeit,
die Furcht kortikal zu erzeugen und aufzubauen.
_______________________________
*
Magnetic
Resonance Imaging (Magnet-Resonanz-Tomographie), Anm d.Ü.;
____________________________________
Seite 75
Stellen Sie
sich den Hirnstamm als das Reptilien-Gehirn vor.20 Er ist das, was
wir mit unseren animalischen Vorfahren gemeinsam haben. Traumen, die in der
Schwangerschaft geschehen, stehen in direkter Verbindung mit diesem System.
Das ist der
Grund, warum sich ein Patient während eines Feelings in der Sprache tierischer
Physiologie und Anatomie „erinnert“, mit überkreuzten Beinen,
Kurzatmigkeit, Grunzen, Würgen und Husten. Indem wir geeignete Techniken
benutzen, können wir auf diese primitive Ebene zugreifen.* Wenn der Patient während
einer Sitzung schreit, ist es das Wimmern eines Neugeborenen, nicht der Schrei
eines dreijährigen Kindes. Wenn eine Patientin etwas wiedererlebt, das im Alter
von sechs Jahren geschah, ist das Schreien charakteristischerweise das einer
Sechsjährigen. Steigt sie jedoch die Schmerzkette hinab, wird das Schreien
automatisch infantiler. Wenn sie beim Hirnstamm ankommt, ist es kein Schreien
mehr; es ist ein Grunzen oder ein Ächzen. Selbst ein Babyschrei, wenn er während
eines Geburts-Primals geschieht, sagt uns, dass es kein reales Ereignis ist.
Anoxie kann
niemals erklärt werden. Sie ist ein physiologischer Zustand und kein Gedanke.
Deswegen ist Angst so amorph. Sie ist rein physisch, viszerale Empfindung –
ein Würgen, eine Enge in der Brust, ein aufgewühlter Magen und ein einengendes
Band um den Kopf, Benommenheit, Schwindel, Kurzatmigkeit, Herzaussetzer, und so
fort. Diese Anoxie ereignete sich lange vor der Entwicklung des logischen
Kortex, der ihr einen Sinn hätte geben können. Je eingeschränkter die gegenwärtige
viszerale Reaktion ist (zum Beispiel ein umgedrehter Magen, Kolitis, Diarrhoe),
umso wahrscheinlicher liegt die Ursache in der präverbalen Vergangenheit. Die
prototypische Reaktion, die ihren Anfang bei der Geburt nahm, ist jetzt die
erste Antwort auf jede neue Bedrohung. Im Angesicht einer aktuellen Gefahr
tastet der Hippocampus die Geschichte ab, um den Prototyp zu finden, der die
Reaktion bestimmt. Sie gründet auf dem Überlebensinstinkt.
Der
Hirnstamm hat sein eigenes Gedächtnissystem. Die Art, wie wir atmen, zum
Beispiel, und die Kraft und der Tonfall unserer Stimme oder unser generelles
Energieniveau haben ihren Ursprung in dieser Gehirnregion der ersten Ebene.
Diejenigen, deren Sprechweise etwas Durchdringendes an sich hat, werden oft von
der Macht eingeprägter Empfindungen gelenkt, welche die Domäne der ersten
Ebene sind. Obwohl die Sprache an sich eine höhere Gehirnfunktion ist, kann die
Energie einer eindringlichen Sprechweise vom Reptilienhirn aus gesteuert werden.
Wenn wir jedoch krank sind, verlieren wir oft unsere kraftvolle Sprache. Warum
sehen kranke Leute krank aus? Weil uns eine Virusattacke genau wie eine Gefühlsattacke
unter Stress setzt, der Energie verbraucht. Die Stimme zum Beispiel ist nicht
mehr dröhnend und gewaltig.
______________________
*Die Veröffentlichung
unserer Techniken würde ein weiters Buch erfordern. Es dauert sechs Jahre, sie
zu erlernen. Sie zu veröffentlichen birgt die Gefahr des Missbrauchs.
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Die Arbeit des frontalen Kortexes: Wie sich sonderbare Gedanken entwickeln
Der
Hirnstamm hält den Tonus und die Spannkraft des frontalen Kortexes aufrecht. Er
benötigt eine gewisse Menge an Eingaben, um sich selbst in einem guten,
arbeitsfähigen Zustand zu halten. Der frontale Kortex hat direkten Zugang zur
Medulla und beeinflusst somit die Herz- und Atmungsfunktion. In umgekehrter
Manier reguliert der frontale Kortex den Ausstoß des Hirnstamms.
Zuviel
Input vom Hirnstamm bewirkt, dass wir leicht ablenkbar und konzentrationsunfähig
sind. Stellen Sie sich bildlich eine Faust vor, die nach oben in ein Puzzle
hineinstößt und die Teile kreuz und quer verstreut. Grob gesagt geschieht das,
wenn Eingaben von unten mit unverminderter Wucht zum frontalen Kortex
aufsteigen, der verzweifelt versucht, all die Teile wieder zusammenzusetzen. Der
frontale Kortex fällt auseinander und verliert den Zusammenhalt. Paranoia zum
Beispiel ist ein letzter Versuch, die Fragmentierung abzuwehren. Es ist der
Versuch des Kortex, alle Ängste zu sammeln und ihnen eine vernunftmäßige Erklärung
beizufügen. Wenn Paranoia versagt, haben wir eine geisteskranke Person. Hier
also haben wir ein Beispiel, wie jemand psychotisch wird (Paranoia), um völlige
Verrücktheit abzuwenden. Zumindest funktioniert der Paranoide: Er kann einen
Job beibehalten, für sich selbst sorgen, eine Familie unterhalten, etc.
Ein Patient, der unter Paranoia litt, glaubte, der Zeitungsverkäufer unten an der Straße wolle ihn töten. In unseren Sitzungen gelangte er schließlich zu der Hirnstamm-Einprägung der Anoxie (Sauerstoffentzug) bei der Geburt. Die Einprägung stieg nach oben zum frontalen Kortex, wo das Gefühl vier Jahrzehnte später von „Ich werde sterben“ zu „Sie wollen mich töten“ umgewandelt wurde. Die Einprägung wusste, dass der Tod lauerte, aber weil sie keine Verbindung zustande brachte, kannte der Kortex nicht den Grund für dieses Gefühl. Seine Paranoia nahm so weit zu, dass er Wahnvorstellungen entwickelte und alle seine Befürchtungen auf die Gegenwart konzentrierte. Das bizarre Zeitungsverkäufer-Szenario entwickelte sich aufgrund der großen Kraft seines Geburtsschmerzes, bei dem es um Leben oder Tod ging, und weil sein Abwehrsystem durch so viele Verletzungen in seiner Kindheit geschwächt worden war.
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Auch seine Eltern verletzten ihn
beinahe jeden Tag seines Lebens. Sie wollten keine Kinder. Er war ein Unfall,
und sie wollten sicher stellen, dass er dafür bezahlte, dass er sie ihrer
Freiheit und ihres Lebens beraubte. Hätte die Einprägung ihren Ursprung nicht
bei der Geburt gehabt sondern viel später im Leben, würden wir kaum so eine
Wahnvorstellung sehen, wie sie dieser Patient hatte.
Albträume
sind ein Anzeichen, wie der Kortex und Teile des Limbischen Systems bis zum Äußersten
getrieben werden. Das Gefühl im Albtraum ist die
exakte Replik des ursprünglichen Traumas; das Gefühl, nicht die Bilder. Die
Bilder sind eine Verkleidung der Empfindung. Wir verwenden keine Zeit darauf,
die Bilder und den Inhalt zu analysieren; wir gehen der Sache geradewegs auf den
Grund. Wir benutzen die Symbole und Bilder in dem Traum. Der Patient lässt sich
von dem Gefühl überfluten und gleitet dann auf dem Gefährt des Fühlens den
Weg zu dessen Wurzeln hinab. Wenn das Gefühl jedoch zu stark ist, werden wir
den Patienten nicht dorthin gehen lassen, besonders wenn er neu ist. Grundsätzlich
wird sein Gehirn es nicht zulassen und die Schleusen dicht machen. Aber wenn die
Schleusen durch vielschichtigen Schmerz aus dem ganzen Leben geschwächt sind,
dann helfen wir aus. Es könnte sein, dass man an diesem Punkt Beruhigungsmittel
benötigt. Sie leisten genau das, was der Kuss einer Mutter geleistet hätte.
Albträume bedeuten defekte Abwehr, den Durchbruch von schwerem Schmerz. Gewöhnlich
schaffen es die Träume ganz alleine, das Gefühl in Bilder einzuhüllen. Nur
wenn das versagt, haben wir Alpträume. Träume sind die Maskierung für Primärgefühle;
andernfalls würden wir aufwachen und wären in der Realität. Sie lassen uns
weiterschlafen. Einige von uns erinnern sich ihrer Träume, weil sie partiellen
Zugang zu dieser Ebene haben.
Unser
Versuch, den oben genannten Patienten mit Vernunftargumenten zu überzeugen,
dass ihn niemand töten wolle, war zwecklos, weil sein Körper und Gehirn
wussten, dass der Tod um die Ecke lauerte. Das war keine „Gedankenstörung“,
wie sie in der psychiatrischen Literatur berichtet wird. Tatsächlich ist es überhaupt
keine Störung. Es ist eine Anstrengung der letzten zerebralen
Verteidigungslinie des Körpers, einem verborgenen Gefühl einen Sinn zu geben.
Es ist ein Kompensationsmechanismus, der uns hilft, gesund zu bleiben,
wenigstens einigermaßen gesund. Seine Funktion besteht darin, das
Zustandekommen der Verknüpfung zu verhindern, weil das bedeuten würde, dass
sich die Messwerte vitaler Funktionen in einem gefährlichen Bereich bewegen.
Medikamente, welche die hochwallende Botschaft des Hirnstamms besänftigen oder unterdrücken, lindern nur das Syndrom. Es ist keine Überraschung, dass diese Medikamente auch obsessiv-zwanghafte Symptome dämpfen, wie ständiges Händewaschen oder dutzende Male zu überprüfen, ob die Türen verschlossen sind. Sie verringern die Arbeit,
Seite 78
die der Kortex zu leisten hat,
indem sie im Neokortex endende Impulse des Hirnstamms und Limbischen Systems
verlangsamen. Es ist egal, ob es sich um Zwangsvorstellungen,
Aufmerksamkeitsmangel oder Paranoia handelt; alles das bezieht den denkenden
frontalen Kortex und seine limbischen Verknüpfungen mit ein. Es ist
offensichtlich, warum dieselbe Pille alle diese Störungen bis zu einem gewissen
Grad unterdrückt.
Zwangsvorstellungen,
nächtliche Grübeleien, während man versucht einzuschlafen, und mystische
Ideen sind die Art und Weise, wie der Kortex mit Gefühlen verfährt und sie zurückhält.
Es ist gewiss ein angenehmeres Gefühl, wenn Sie glauben, von einer mächtigen
Instanz beschützt zu werden, als wenn Sie sich völlig nackt und schutzlos fühlten.
Wenn unsere Gefühle mit unserer Gedankenwelt übereinstimmen, kann das System
schließlich zur Ruhe kommen.
Fühlen - Kern unseres Menschseins
Wann immer
Hirnstamm-Einprägungen im Spiel sind, kann ich es aus dem Muster des Weinens während
eines Gefühlserlebnisses heraushören; das sporadische, abgeflachte Schluchzen;
und der Ausfall der Atmung. Wenn ich eine Normalisierung der Körperfunktion
sehe - eine niedrigere Körpertemperatur zum Beispiel - bin ich mir sicher, dass
Abspaltung der Missetäter war und Wiederverknüpfung mit dem ursprünglichen
Ereignis der Retter. Ich bin in der Lage, mit Gewissheit zu behaupten, dass
Wiederverknüpfung das System neu stabilisiert, weil ich es bei meinen Patienten
immer wieder gesehen habe. Nichts ist so wohltuend, als nagende Spannung und
Angst loszuwerden und dieses Gefühl abzuschütteln, ungeliebt zu sein.
Fühlen macht uns menschlich. In
der Primärtherapie helfen wir den Patienten, sich unwohl zu fühlen, aber nur für
kurze Zeit. Wollten wir nicht instinktive Gewalten des Hirnstamms mit höheren
Ebenen des Gehirns verbinden, hätten wir keine so direkte Verknüpfung von
Nervennetzwerken.
Es gibt ein biologisches
Bedürfnis nach Ganzheit und Wiedervereinigung; eine Erinnerung an Gesundheit,
daran, wie wir einst waren, liegt in jedem von uns. Wenn sich der Körper durch
die Wiedererfahrung früher Gefühle
normalisiert, dann können wir annehmen, dass er durch die ursprüngliche
Erfahrung jenes Schmerzes aus der Bahn gebracht worden war. Wenn der Patient ein
Trauma wiedererlebt, das seinen Blutdruck auf das Zweifache erhöhte, und er ihn
später auf normale Werte zurückbringt, gibt es nichts, was wir rauskriegen müssten.
Die Geschichte bindet das Symptom an die Vergangenheit.
Seite 79
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 Allan
Schore beschreibt den reverbierenden Prozess: “Diese posterior kortikal-präfrontal-subkortikal
limbisch-präfrontal-posterior kortikale Schleife aktiviert einen reverbierenden
(sich selbst wiederauslösenden) Kreisprozess, der eine Langzeitgedächtnis-Funktion
vermittelt.“ Allan Schore, Affect
Regulation and the Origin of the Self: The Neurobiology of Emotional Development
(Hillsdale, N. J.: Lawrence Erlbaum and
Associates, 1994), s. 297.
N. 2
J. W. Smyth et al., « The Interaction between Prenatal Stress and
Neonatal Handling on Nociceptive Response Latencies in Male and Female Rats,” Physiology and Behavior 55, no. 5 (Mai 1994): 973
N. 3
J. W. Smyth, W. B. Rowe und M. J. Meaney, “Neonatal Handling Alters
Serotonin (5HT) Turnover and 5HT Receptor Binding in Selected Brain Regions,”
Developmental Brain Research 80 (15. Februar 1994): 183-89.
N. 4
D. Peters et al., « Effects of Maternal Stress During During
Different Gestational Periods on the Serotonergic System in the Adult Rat
Offspring, » Pharmacology, Biochemistry and Behavior 31 (1989): 839-43.
N. 5
Ibid.
N. 6
M. J. Meaney et al., “Early Enviromental Regulation of Forebrain
Gluto-corticoid Receptor Gene Expression: Implications for Adreno-cortical Responses to Stress,” Developmental Neuroscience (Montreal, Kanada) 18 (1996):
49-72.
N. 7
Daniel Goleman, Emotional Intelligence (New York: Bantam, 1995).
N. 8
B. Dalens, “La Douleur Aigue de l’enfant et son Traitement,” Annals
Franciases D’Anesthesie et De Reanimation (Paris) 10 (1981) : 40-41.
N. 9
W. J. H. Nauta und Michael Feirtag, « The Organization of the
Brain, » Scientific American 241, no. 3 (September 1979): 88-98.
N. 10 Siehe Time,
5. Mai 1997, s. 78 für eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse.
N. 11
M. Weinstock, „Prenatal Stress Increases Anxiety-Related Behavior and
Alters Cerebral Lateralization of Dopamin Activity,” Life Sciences 42
(1988):
1059-65.
N. 12 Es sollte
jedoch hinzugefügt werden, dass unterschiedliche Neurotransmitter in
unterschiedlichen Teilen des Gehirns unterschiedlich wirken. So kann Dopamin in
einigen tieferen Arealen inhibitorisch sein und und inhibitorisch im Kortex,
indem es die frontale Region zu erhöhter Effektivität stimuliert.
N. 13 „A
Shocking Case of Depression,“ Science News 154, no. 22 (28. November 1998): 344.
Seite 80
N. 14 Siehe unsere
eigene Forschung, The New Primal Scream (Der Neue Urschrei), erhältlich im
Primal Center, Venice, Kalifornien.
N. 15
Antonio Damasio, The Feeling of What Happens (New York: Harcourt Brace,
1999), s. 46.
N. 16 Persönliche Korrespondenz, 1. Januar
2000.
N. 17
R. Gagin, E. Cohen und Y. Shavit, „Prenatal Exposure to Morphine
Feminizes Male Sexual Behavior in the Adult Rat,“ Pharmacology, Biochemistry
and Behavior 38 (1997): 345.
N. 18
H. Van Praag er al., „Running Enhances Neurogenesis, Learning, and
Long-Term Potentation in Mice,“ Proceedings of the Natinal Academy of Science
USA 96, no. 23 (9. November 1999): 13427-31; G. Kempermann, H. G. Kuh und F. H.
Cage, „More Hippocampal Neurons in Adult Mice
Living in an Enriched
Environment,“ Nature 386, no. 6624 (3. April 1997): 493-95.
N. 19
Stephen Plotkin, University of California at Irvine, in “Study Links
Schizophrenia, Cells,” Outlook, 16. Mai 1996.
N. 20 Paul Mac Lean, The Triune Brain in Evolution: Role in Paleocerebral Functions (New York: Plenum Press, 1990).
KAPITEL 3
____________________
___________________
Eist nicht in erster Linie Aufgabe des retikulären
Aktivierungssystems, globale Information an höhere Zentren weiter zu leiten.
Vielmehr „misst“ es den Betrag der durchlaufenden Information und
aktiviert das Gehirn in ausreichendem Maße, so dass es sich mit der gegebenen
Menge befassen kann. Das System reift früh, noch vor der Geburt, und
aktiviert die auf einer gegebenen Entwicklungsstufe jeweils höchste verfügbare
Ebene neurologischer Funktionen.
Schmerz mobilisiert das System, hält es wachsam, signalisiert Gefahr und möglichen Schaden. Diese Information zu organisieren, ist Aufgabe des retikulären Aktivierungssystems. Diese netzähnliche Struktur ist eines der Schlüsselareale für Norepinephrin-Konzentration, die dazu beiträgt, dass wir wachsam bleiben. Ein Spezialist erklärt: „Sowohl Norepinephrin als auch Dopamin (die aktivierenden neurochemischen Substanzen) schicken ihre Axone (die langen Verbindungsarme) in den zerebralen Kortex......hochkomplexe und komplizierte Muster intellektueller Aktivität im Kortex werden von evolutionär primitiven Katecholaminsystemen beeinflusst.“ 1 Das bedeutet, dass Hirnstamm-Orte lange Verbindungsarme – Nervengeflechte - zu den frontokortikalen Arealen senden, die der Information Bedeutung geben. Das ist die Art und Weise, wie Hirnstamm-Einprägungen den Gedanken bildenden Geist aktivieren und ihn in große zwanghafte Unruhe versetzen. Das hindert uns dann daran, uns zu entspannen und einzuschlafen. Wir sind überaktiviert, nicht durch Gedanken, sondern durch nonverbale Einprägungen, die uns zum Denken und Grübeln antreiben. Warum können wir nicht schlafen? Weil wir von unserem zerebralen Abwehrsystem loslassen, wenn wir uns Strukturen einer tieferen Ebene annähern, nämlich genau denen, die Schmerz signalisieren.
Wenn sich
Schmerz eingeprägt hat, kann es sein, dass das System den frontalen Kortex überstimuliert.
Dann sehen wir obsessiv-zwanghaftes Verhalten oder Phobien, da der
Frontalbereich sich anschickt, die eingeprägte Überlast zu entladen. Oder abhängig
von der Natur des frühen Traumas, wie zum Beispiel massiver Anästhesie bei der
Geburt, schaltet das retikuläre Aktivierungssystem ab und kann vielleicht keine
ausreichende Stimulierung liefern, um den frontalen Kortex in aktivem und
effektivem Zustand zu halten. Das Resultat ist eine phlegmatische Persönlichkeit
mit Passivität und unkonzentrierten, wirren Gedankenmustern. Das ist auch das
Muster eines „Verlierers“, der anscheinend nichts in die Wege bringt.
Manchmal schalten Gedanken, die sich auf absteigenden retikulären Bahnen
bewegen, Empfindungen und Gefühle ab und verhindern, dass Impulse den frontalen
Bereich überfluten.
Der
Frontallappen hat direkte Verbindungen zu diesem System und kann physiologische
Zustände kontrollieren. Tierstudien weisen darauf hin, dass Streicheln oder
Tragen dieser Tiere das retikuläre Aktivierungssystem abschwächen oder
modulieren kann, was sie weniger nervös sein lässt. Man kann das retikuläre
Aktivierungssystem durch Berührung als auch durch Medikamente beruhigen. Berührung
ist weitaus effektiver. Ich habe Patienten beobachtet, die sich in Qualen
wanden, als sie ihre Eltern um Berührung anflehten. Während kritischer
Perioden ist Zärtlichkeit und Berührung wesentlich für die Entwicklung des
menschlichen Gehirns. Nach dieser Periode wird alle Berührung der Welt den
Schaden nicht völlig beseitigen können; eine bestimmte Menge an Körperkontakt-Deprivation
wird bleiben. Und genau das ist oft der Antrieb hinter zwanghafter sexueller
Aktivität bei Frauen – und ebenso bei Männern. Wenn das System aktiviert
wird, wie bei sexueller Erregung, droht auch die gesamte Aufmachung vergrabener
Gefühle wieder an die Oberfläche zu kommen. Wenn die Einprägung hochgradiger
Erregung ursprünglich zum „Abschalten“ führte, dann wird hochgradige
sexuelle Erregung zum Abschalten des sexuellen Erlebens führen. Wenn etwas wie
bei Sex sehr erregend ist, tastet das Gehirn seine Geschichte nach Erregung
gleichen Niveaus ab und sucht nach der richtigen Antwort. Wenn die ursprüngliche
Reaktion auf massive Stimulierung Verschließen oder Abschalten war (wie im
Geburtstrauma), dann wird es wieder zum Verschließen kommen. Hier liegt eine mögliche
Ursache von Frigidität.
Ich möchte hier ganz deutlich werden. Wenn im Erwachsenenalter ein Ereignis hoher Valenz (Kraft) stattfindet, wie zum Beispiel sexuelle Erregung, zwingt dieses Ereignis die limbischen Strukturen, nach anderen Ereignissen von gleich hoher Valenz zu suchen, wie zum Beispiel nach dem Geburtstrauma, und löst es dann aus. Es holt auch andere Kindheitstraumen hervor, so dass jetzt hochgradiger Schmerz im Aufsteigen begriffen ist mitsamt den Abweichungen, die sich ereigneten – zum Beispiel, Mutters Slips anzuziehen.
Seite 83
Der Sextrieb wird nun durch die persönliche
Lebensgeschichte beeinträchtigt. Vielleicht ergeben sich unablässige
homosexuelle Fantasien, wenn sexuelle Erregung aufkommt – das Bedürfnis nach
Vaters Liebe in einem Mann. Dieses normalerweise gut verdrängte Bedürfnis ist
aus den Angeln gehoben worden und dringt in den sexuellen Akt ein. Wenn das
aktuelle Ereignis, ein vergnügliches Basketballspiel, von nicht so hoher Valenz
ist, würde es vielleicht die sexuellen Fantasien oder Abweichungen nicht auslösen.
Der Locus
caeruleus: Im Zentrum des Terrors
Der Locus
caeruleus ist ein wichtiges Zentrum der Furcht- und Schmerzreaktion im
Hirnstamm. Hoch oben im Hirnstamm liegend (siehe Kapitel 1), sekretiert er
Noradrenalin, eine chemische Wecksubstanz, als Reaktion auf präverbale Traumen,
Vorfälle bei der Geburt oder auf frühen Mangel an Körperkontakt und Wärme.
Wenn sich Noradrenalin mit seinen Rezeptoren verbindet, erleben wir Schmerz. Der
Locus caeruleus ist eine primitive Struktur, die nur Empfindungen kennt und
wenig mit Gefühlen zu tun hat. In evolutionärer Hinsicht geht er der
Entstehung von Gefühlen um Millionen Jahre voraus.
Der Locus
caeruleus besteht nur aus wenigen Hunderten bis wenigen Tausenden von Neuronen;
dennoch erstrecken sich seine Äste, oder Axone, durch das gesamte Gehirn. Das
setzt den Locus caeruleus in die Lage, das Nervensystem auf globale Weise zu
aktivieren. Aber obleich der Locus caeruleus auf Schmerz reagiert, weist er auch
eine dichte Konzentration von Opiatrezeptoren auf, die Schmerz abwürgen. Mit
anderen Worten ist das Haus der Schmerzen auch das Haus der Schmerzverdrängung.
Frühe Einprägungen elektrisieren das System, so dass es sich auf die Aufnahme
von Schmerz einstellen kann, und bringen das System dann dazu, diesen Schmerz zu
unterdrücken, wenn er ein übermäßiges Niveau erreicht. In einer Anzahl von
Tierversuchen, die sich mit Schmerz befassten (ausgelöst durch elektrische
Stimulation oder durch Schwanzkneifen), stellte sich heraus, dass er den Locus
caeruleus sowohl in Hinsicht auf Stimulierung als auch auf Hemmung beeinflusste.
2
Da der
Locus caeruleus ein Schlüsselzentrum des Schreckens ist, wird diese Empfindung
letztlich die Arbeit des denkenden Kortex stören, wenn der Schrecken vom
retikulären Aktivierungssystem zur kortikalen Verknüpfung nach oben gesendet
wird.
Das
Medikament Clonidin ist ein Hirnstammblocker, der das Feuern von
Noradrenalin-Neuronen im Locus caeruleus verhindert. Bruce Perry vom Baylor
University Medical Center fand heraus, dass „Ratten, die perinatalem (die Zeit
um die Geburt) Stress ausgesetzt waren, bedeutende Veränderungen ihrer
Stressreaktionen im späteren Leben aufwiesen.“ 3 Bei
misshandelten Kindern stellte sich heraus, dass sie im späteren Leben
„Frustration, Wut, Schmerz, Hilflosigkeit, Schreckreaktionen, Schlafabnormitäten,
Impulsivität und veränderte kardiovaskuläre Regulierung erleben.“ 4
Seite 84
Perry fand
auch heraus, dass gestresste und misshandelte Kinder gut auf Clonidin
ansprachen, weil es die Aktivität des Locus caeruleus regulierte. Es half den
Schlaf zu verbessern, stabilisierte die Herzfunktion, verlangsamte Rastlosigkeit
und verminderte Hyperaktivität. Ebenso besserten sich viele impulsgesteuerte
Charakterzüge wie Aggression, Stehlen und unkontrollierte Gefühlsausbrüche.
Ich
behandelte eine Frau, die als Neugeborene tagelang ohne ihre Mutter gelassen
wurde, die mit Tuberkulose in die Klinik eingewiesen worden war. Diese
Erfahrung, ohne Unterstützung oder Wärme in einer neuen Welt zu sein, wurde
sowohl als Schrecken als auch als Alleinsein eingeprägt. Die meisten ihrer
Hirnstamm-Strukturen trugen auf ihre eigene Weise zur Valenz des Schmerzes bei,
sonderten Dopamin und/oder Norepinephrin ab, um Gehirn und Körper zu
mobilisieren, und machten sie hyperaktiv.
Ihr Schmerz
des Alleinseins wurde von Neurotransmittern blockiert und dann zu anderen
Zentren umgeleitet. Seine Energie reichte jedoch, um ihre Konzentration zu erschüttern
und bei ihr Hyperaktivität hervorzurufen. Auf der Highschool erhielt sie
Sechser und Fünfer. Viele ihrer Lehrer dachten, sie sei „blöd“, und ihre
Eltern bekräftigten diese Ansicht. Schließlich fühlte sie ihren Schrecken,
ihre Lebensangst und ihre Angst, etwas Neues zu versuchen. Ihr ganzes Leben war
von Furcht dominiert. Diese Frau ist jetzt eine erfolgreiche Ärztin.
Nichtsdestotrotz hat sie gelitten.
Wenn die
Stimulierung mit der Zeit ein übermäßiges Niveau erreicht, lässt die
Aktivierung seitens des Locus caeruleus nach, was sicher stellt, dass die
Schmerzbotschaft nicht das vollständige Bewusstsein erreicht. Der Locus
caeruleus antwortet auf eintreffende Reize gewöhnlich mit heftigen Ausbrüchen
neuraler Aktivität, denen eine Ruhephase folgt. Diese Ausbrüche können für
Panikattacken verantwortlich sein. Diese Panikattacken sind Reaktionen auf Einprägungen.
Der Locus caeruleus feuert nicht ohne Grund von selber los.
Der Locus
caeruleus ist nicht der Logik unterworfen; in Gegenwart früher schmerzvoller
Einprägungen reagiert er einfach und mobilisiert uns. Man kann sagen: „Es gibt nichts, worüber man sich
beunruhigen müsste,“ aber der Alarm ist nach innen gerichtet. Eine Person fühlt
sich in einem geschlossenen Raum, als müsse sie ersticken. Eine andere gerät
in Panik, wenn sie mit einem Aufzug fährt. Der Locus caeruleus und andere
tiefer gelegene Strukturen beinhalten die nonverbale postnatale Botschaft „Ich
ersticke im Inkubator“, die zu
Panik führt; es ist dieselbe physiologische Reaktion, wie sie im Inkubator
erlebt worden war. Clonidin wird seit dreißig Jahren gegen hohen Blutdruck
eingesetzt. Es kann ein
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Gespeicherter Terror kann das ganze Leben
hindurch in Myriaden von Kanälen entströmen: durch Phobien, schnelles Reden,
Hyperaktivität, Angst und Panikattacken. Schlechte Träume und nächtliches
Albdrücken sind gute Beispiele für undichte Stellen.
Wie zu
erwarten ist, kommt es bei Morphiumentzug zu vermehrtem Feuern im Locus
caeruleus. Wiederum ist das System in Gefahr, und der Locus caeruleus lässt uns
das wahrnehmen, indem er den oberen kortikalen Kortex stimuliert. Wir können
die Feuergeschwindigkeit der Neuronen des Locus caeruleus und auch der Neuronen
in der Medulla durch Medikation verlangsamen. Das plötzliche Absetzen von
Medikamenten, die auf den Hirnstamm wirken, steigert den Ausstoß von
Noradrenalin (beschleunigt Herzschlag, erweitert Blutgefäße), was mehr
Erregung bewirkt. Dies bedeutet mehr Schmerz und deshalb mehr Notwendigkeit, ihn
zu unterdrücken; das ist das Entzugssyndrom. Wie bereits früher erörtert,
kann der plötzliche Entzug effektiver Hirnstamm-Medikamente gefährlich sein
und in einigen Fällen zu Anfällen führen – massiven Entladungen von
Gehirnneuronen. Es ist das übermäßige Feuern des Locus caeruleus, das
bewirkt, dass sich die unter Entzug stehende Person so unwohl fühlt. Sie/er ist
aufs Äußerste erregt, ohne zu wissen warum, was die Sache umso teuflischer
macht. Die Einnahme von Medikamenten, die das Feuern verlangsamen, stellt das
Wohlbefinden wieder her.
Alles, was das retikuläre Aktivierungssystem und der Locus caeruleus wissen, ist, dass sie einsatzbereit sein müssen. Sie mobilisieren unsere Abwehrmechanismen: Schlechter Schlaf in der Nacht gestattet tiefsitzenden Einprägungen, aus ihrem Speicherort an die Oberfläche zu kommen. Je näher dieses eingeprägte Ereignis dem vollen Bewusstsein kommt, umso mehr nötigt es den Kortex zur Produktion zwanghafter Vorstellungen. Sie können dem Menschen diese Ideation nicht ausreden, weil sie in einer unbewussten Gefühlserfahrung ankert. Beruhigungsmittel können den Schmerz dauerhaft blockieren, aber werden sie einmal abgesetzt, erhöht der sich ergebende Ausstoß von Noradrenalin den Herzschlag, erweitert Blutgefäße und bereitet erneut eine Angstattacke vor. Wir zahlen immer einen Preis für künstliche Manipulation.
Seite 86
Quellenverweise und Anmerkungen
N.
1 M.
Huttunen und P. Niskanen, „Prenatal Loss of Father and Psychiatric
Disorders,“ Archives of General Psychiatry 35 (1978): 429-31.
N. 2 Siehe:
S. L. Foote et al., Nucleus Locus caeruleus: New Evidence of Anatomical and
Physiological Specifity,“ Physiological Reviews 63 (Juli 1983): 868.
N. 3 Bruce
Perry, „Clonidin Decreases Symptoms of Physiological Hyperarousal in Traumatized Children,” vorgelegt
der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (17. Februar 1996): 313.
N. 4 Ibid., s. 314
4
__________
DER HYPOTHALAMUS
Kurier der
Gefühle
___________
Außer dem Thalamus, den
Amygdalae und dem Hippocampus sind auch die limbischen Strukturen mit dem
Hypothalamus und seinem Zusatz, der Hirnanhangdrüse verbunden. Der
Hypothalamus reguliert die Hormonproduktion und dirigiert das Immunsystem über
die Hirnanhangdrüse, die direkt darunter liegt. Der Hypothalamus unterstützt
auch die Regulation des Herzschlags und der Körpertemperatur. Wenn der
Hypothalamus mit Schmerz überlastet ist,
scheidet der Körper entweder zu viel oder zu wenig Hormon ab, was zu
Veränderungen des Herzschlags und der Körpertemperatur führt.
Zusammen mit dem Hirnstamm ist der Hypothalamus an der
„homöostatischen Regulation“ des Körpers beteiligt, indem er Atmung,
Herzfunktion, Blutdruck, Verdauung, elektrolytisches Gleichgewicht, viszeralen
Tonus und andere vitale Funktionen kontrolliert. Der Hypothalamus ist eine
gemeinsame Endbahn, auf der das Limbische System Gefühle in das Körpersystem
sendet. Er bewirkt, dass das Gefühl der Kritik den Magen aufwühlt und die
natürlichen Killerzellen und die Lymphozyten des Immunsystems verringert. Im
Gegensatz dazu kann Stimulierung des Hypothalamus die Antikörper vermehren,
um fremde Substanzen und/oder Infektionen zu bekämpfen.
Auch der Hypothalamus braucht Liebe. Seine Verbindung
zum frontalen Kortex beeinflusst das Wachstum der Hirnstamm-Neuronen. Seine
Art, das Bedürfnis zu zeigen, besteht darin, dass er uns ständig wachsam
sein lässt und uns dann krank macht, wenn er nicht bekommt, was er will. Ich
entsinne mich einer Patientin, die Dermatitis
hatte. Wir fanden heraus, dass ständiges Streicheln während der Sitzungen
ihren Zustand beträchtlich verbesserte. Was schließlich das Symptom
ausmerzte, war, dass sie das Gefühl wiedererlebte, wie ihr Körper um die Berührung
einer Mutter flehte, die unfähig war, körperliche Zuneigung zu zeigen. Sie
hob ihre Arme und schrie und flehte wochenlang darum.
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Gefühle bewegen sich zum Hypothalamus und
manifestieren sich in solchen Symptomen wie Magenkrämpfen, Beklemmung in der
Brust, schnellem Herzschlag und hohem Blutdruck. Die Symptome zeigen an, dass
sich das System in Disharmonie befindet. Die Person mag sich des Unbehagens
bewusst sein, aber sie kann es nicht abstellen, weil sie das frühe Gefühl
nicht abstellen kann.
Das Geburtstrauma bringt den Hypothalamus aus der
Symmetrie, so dass er sympathischen Ausstoß begünstigt und uns damit ‚überdreht’.
Wenn ein Baby mit Allergien „geboren“ wird, können der Hypothalamus und
andere Strukturen, die bei der Bewältigung von Allergien helfen, im Mutterleib
beeinträchtigt worden sein. Wenn ein Kleinkind in den ersten ein oder zwei
Jahren seines Lebens nicht geliebt wird, kann das den Hypothalamus schwächen,
was wiederum in einem chronisch kranken Kind resultiert, das ständig von
Allergien, Infektionen und Fieber geplagt wird.
Seite 89
Stimulierung des Hypothalamus kann die Menge der Antikörper
ansteigen lassen, die fremde Elemente (wie Pollen oder Katzenhaar), Antigene,
Viren und so fort bekämpfen. Autoimmun-Krankheiten wie z.B. Arthritis sind eine
weitere mögliche Folge. Ein Spezialist für Immunfunktion, Hugo Besedovsky aus
Davos in der Schweiz, hat über die Mechanismen geschrieben, die an der Übertragung
elektrochemischer Informationen vom Kortex zum Hypothalamus beteiligt sind, der
dann die Immunzellen anweist, ihre Aktivität zu steigern oder zu senken.1
Vom Hypothalamus ausgehende Informationen sagen auch
den sympathischen Neuronen, dass sie sich in Bewegung setzen sollen. Einer
meiner Patienten war ständig auf Achse, als wollte er versuchen, der Gefahr aus
dem Weg zu gehen – was er wirklich tat. Als er ein Kind war, stritten seine
Eltern ständig untereinander. Er fühlte sich hilflos, glaubte, es gebe keinen
Ausweg. Als er aufhörte herumzuhetzen, stellte sich äußerste Hilflosigkeit
und Hoffnungslosigkeit ein. Konstante Aktivität war seine Abwehr gegen das Gefühl,
dass er nichts tun konnte, um sein Familienleben zu ändern. In unseren
Sitzungen entdeckten wir, dass er bei der Geburt im Kanal eingequetscht wurde
und stecken blieb, da ein Tumor den Weg blockierte. Seine Eltern bestätigten
das später. Durch Raten wären wir nie auf dieses letztere Erlebnis gekommen,
dass er eingequetscht wurde. Die Empfindung und die mit dem Schmerz einhergehenden Körperkontraktionen übermittelten
uns, dass es die Wahrheit war. Sein Ausagieren war von der Gefühlserfahrung gesteuert und sollte ihn davon abhalten,
sie zu erleben. Lassen Sie mich gleich hinzufügen, dass wir keine Ausschau nach
dem Geburtstrauma halten und es nicht erwarten. Der Körper der Patienten bietet
es an, wenn er dazu bereit ist, und nicht früher. Es kommt vor, dass dieses
Trauma nicht existiert. Das ist häufig bei Hausgeburten der Fall, in denen
keine Anästhesie angewendet wird.
Der Hypothalamus ist zum Teil für Herzklopfen,
Tachykardie und andere Herzrhythmus-Störungen verantwortlich, die durch
Erregung aufgrund von Norepinephrin-Absonderung zustandekommen. Wenn der
Hypothalamus das sympathische Nervensystem aktiviert, schaltet das
parasympathische System weitgehend ab. Das sich ergebende Ungleichgewicht ist
der Grund, warum es oft so schwer ist einzuschlafen, oder warum wir uns nicht
konzentrieren können. Von frühem Schmerz stammende Aktivierung hört nicht
einfach auf, weil wir schlafen wollen. Im Gegenteil, wenn wir im Einschlafen
begriffen sind und von einigen kortikalen Abwehrmechanismen loslassen, werden
wir sogar noch mehr aktiviert. Durch lebenslange Übersekretion von
Stresshormonen, welche die Bekämpfung der Einprägung zum Ziel hat, gehen die
Vorräte schließlich zur Neige. Schlaf bedeutet die aufeinander folgende
Unterdrückung der höheren Ebenen des Bewusstseins beginnend mit dem Kortex,
dann weiter schreitend zum limbischen System, das im Traumschlaf aktiv ist, und
dann absteigend zum Hirnstamm und zu tiefem Schlaf. Er bedeutet auch, dass Einprägungen
tieferer Ebenen freigesetzt werden.
Seite 90
Auf der Rückseite des Hypothalamus liegt ein
bedeutendes Zentrum für Agonie. Ungeachtet dessen, ob der Schmerz von einem
Treppensturz stammt oder von der Erinnerung, dass „Mami mich nicht liebt“,
bleibt die Agonie dieselbe. Das Herz wird schneller, mehr Stresshormone werden
angesondert, der Blutdruck steigt, und eventuell erhöht sich die Amplitude der
Gehirnwellen. Das System hat in den Kampfmodus geschaltet, weil ein Bedürfnis
um seine Erfüllung kämpft. Das Bedürfnis kann sein: „Hab’ mich ein wenig
lieb! Bitte hass’ mich nicht!“ Wenn eine Patientin, die bewegungslos in
einem ruhigen Raum liegt, plötzlich einen radikalen Anstieg der Herzfrequenz
erfährt, wissen wir, dass sie mit dem Wiedererleben des Gefühls beginnt. Das
Gefühl beinhaltet viele Jahre, in denen sie nicht imstande war, „Hab’ mich
ein wenig lieb!“ „Sei freundlich zu mir“ zu artikulieren. Das scheint
jetzt vielleicht nicht viel Gewicht zu haben, aber in der Kindheit kann es kein
Kind ertragen, nicht geliebt zu werden. Die Eltern sind alles für das Kind, und
wie wir gesehen haben, bedeutet Liebe die richtige Entwicklung des Gehirns.
Die Botschaft „Liebe mich!“ ist niemals
kompliziert, weil sie in Strukturen organisiert wird, die keine komplizierte
Syntax bilden können. Tatsächlich wissen wir, wenn jemand ein frühes
Kindheitstrauma wiedererlebt und sein Schreien sich in komplizierten Sätzen äußert,
dass es nicht real ist. Auch wenn die Person Worte eines Erwachsenen benutzt wie
„erkennen“, wissen wir wiederum, dass es keine echte Erfahrung ist.
Wenn das Gefühl nach oben steigt, kommt es in der
Phase der Annäherung an das volle Bewusstsein zuerst zu Agonie, und dann
entspannt sich das (sympathische) Alarmsystem, das den ganzen Organismus
mobilisiert hat, um gegen die Verknüpfung anzukämpfen, während das
parasympathische System die Regie übernimmt. Das ist die Zeit der Ruhe und
Erholung. Nach einer solchen Verknüpfung habe ich den systolischen Blutdruck
innerhalb von Minuten um hundert Skalenpunkte fallen sehen. Hier erkennen wir
wieder die Dialektik: Die Strukturen, die Fühlen organisieren, sind auch
diejenigen, die es durch die Sekretion von Neurohemmern unterdrücken. Ist die
Botschaft aus den limbischen Gefühlszentren schon relativ simpel, so ist die
Nachricht, wenn sie dem Hirnstamm entspringt, die Einfachheit selbst – „Ich
ersticke. Es ist hoffnungslos. Ich krieg keine Luft! Ich sterbe! Ich komme um.
Dräng’ mich nicht!“ Meistens gibt es überhaupt keine Worte, nur
Empfindungen – das Gefühl, zermalmt zu werden.
Wie ich schon früher betont habe, sind manische und
depressive Zustände keine verschiedenen Krankheiten, sondern unterschiedliche
Wirkungsgrade in der Blockade von Gefühlen. Wenn eine manische Person schließlich
depressiv wird, ist ein großer Teil der Gefühlsenergie durch das manische
Verhalten aufgebraucht worden, so dass sich die Verdrängung jetzt durchsetzen
kann. Diese nämlichen Gefühle der Hoffnungslosigkeit sind nicht einfach
verschwunden, sondern sie werden wirksamer
verdrängt, weil die Kräfte, die sich ihren Weg zum Kortex und den limbischen
Arealen bahnen, schwächer geworden sind.
Seite 91
Ich habe ausführlich über die Liebe diskutiert.
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun der Frage zu, woraus Liebe gemacht ist. Sie
ist kein vergeistigtes Konzept, das im Himmel existiert; sie ist etwas Konkretes
und lässt sich anhand der Spiegel bestimmter Hormone im Körper und anhand
spezifischer Gehirnstrukturen erklären. Wie sich der Leser vielleicht denken
kann, hat Schmerz seine Hand im Spiel, wenn sich der Spiegel der Liebeshormone
verändert. Wir können versuchen, unseren Lebensgefährten gegenüber liebevoll
und warmherzig zu sein, aber dabei sind biologische Grenzen zu überwinden.
Der cinguläre Kortex
Die letzte Gehirnstruktur, die
der Erörterung bedarf, ist bei weitem nicht die unbedeutendste – der cinguläre
Kortex. Er ähnelt in etwa einem Bogen, der sich über das Limbische System wölbt
und limbische Strukturen umrahmt. Denken Sie nochmals daran, dass das Limbische
System mit Gefühlen und deren Ausdruck zu tun hat. Der NIMH-Wissenschaftler
Paul MacLean glaubt, dass der cinguläre Kortex als Empfangsorgan für das
Erleben von Emotionen agiert. Es hat drei Grundfunktionen: (1) Der
Trennungsschrei, (2) Spielen, und (3) Säugen/Stillen und anderes
familienorientiertes Verhalten. Es unterscheidet uns von niedrigeren Tierformen
und repräsentiert den evolutionären Übergang von den Reptilien zu den Säugetieren.
Es hat ungemein viel mit Liebe zu tun – mütterlicher Fürsorge und schließlich
auch mit Altruismus.
Nehmen wir den Trennungsschrei. Dieser Schrei ist
charakteristisch für die meisten Säugetiere und entscheidend für das Überleben.
Das Neugeborene/Kleinkind/ Junge braucht Liebe, um zu überleben. Der Schrei ist
ein Ruf, der eilends Liebe herbeiholen soll. Er ist verantwortlich für den
Urschrei; durch den Schrei des Kleinkinds/Jungen soll die Agonie der Isolation
beendet werden. Es gibt für das Kleinkind/Junge keinen größeren Schmerz, als
von der Mutter getrennt zu werden. Wir brauchen Kontakt, um zu überleben.
MacLean glaubt, dass die frühesten Säugetiere winzige nachtaktive Geschöpfe
waren, die im Halbdunkeln lebten. Der Schrei war der heilbringende Fühler, der
die Trennung beendete. Wenn wir den cingulären Kortex beschädigen oder
entfernen, bereiten wir mütterlichem Verhalten wirksam ein Ende. Es gibt
Aspekte dieser Struktur, die in Bezug zur Schmerzwahrnehmung stehen. Also sehen
wir hier wieder die Beziehung zwischen Bedürfnis und Schmerz; ein versagtes Bedürfnis
wird zu Schmerz. Das Schlüsselgefühl ist ein Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt.
Es ist keine Überraschung,
dass dieses Areal üppig mit innerlich hergestellten
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Gibt man ihnen Opiat-Antagonisten, dann
schreien sie erneut. Hier erkennen wir wieder, dass Schmerztöter die Qualen der
Trennung erleichtern; und
umgekehrt, dass Trennung für ein
Kleinkind Höllenqual bedeutet. Es ist Schmerz, der andauert, weshalb Erwachsene
Schmerztöter brauchen – um die Schreie zu ersticken, die dem frühen Gefühl
entstammen, nicht geliebt zu werden. Der cinguläre Kortex steht auch mit
Empathie in Zusammenhang, mit der Fähigkeit zu fühlen, was ein anderer gerade
in seinem Inneren erlebt. Wenn der Präsident sagt: „Ich spüre Ihren
Schmerz“, meint er: „Mein cingulärer Kortex versteht Ihre Gefühle.“ Wenn
wir uns auf eine fühlende Ebene beziehen, dann ist diese Struktur beteiligt.
Oft entzieht sie sich dem Verständnis jener, die zur Erklärung psychischen
Verhaltens auf Zahlen, Worte und Formen bauen. Sie ist ein anderes Universum mit
einer anderen Art des Gesprächs, und sie war die zentrale, höchste Form von
„Gedanke und Kommunikation“ in niedrigeren Tieren.
Wenn wir weiterhin überleben und uns um unsere
Mitgeschöpfe kümmern wollen, müssen wir sicher stellen, dass der cinguläre
Kortex nicht übersehen wird.
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 H. O. Besedovsky, „Immune-Neuro-Endocrine Interactions : Facts and Hypotheses, “ Endocrinology Review 17, no. 1 (Februar 1996): 64-102.
5
__________
DER SYMPATH
UND DER PARASYMPATH
Wie die Persönlichkeit
im Mutterleib gestaltet wird
_____________
Ich habe schon zu Beginn erwähnt,
dass der Hypothalamus die zwei Abschnitte des autonomen Nervensystems
kontrolliert, das parasympathische (der Parasympath) und das sympathische (der
Sympath). Das sympathische System steuert Energie verbrauchende Prozesse wie
die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Es mobilisiert uns, erhöht die Körpertemperatur
und reduziert die periphere Zirkulation, um Blut für die Muskulatur zu
konservieren – eine mögliche Erklärung für ein bleiches Gesicht oder
kalte Hände und Füße. Häufiges Urinieren, vermehrte Schweißabsonderung,
trockener Mund und eine höhere Stimme sind weitere Effekte.
Im Gegensatz dazu kontrolliert der parasympathische
Zweig Energie bewahrende Prozesse, nämlich Ruhe, Schlaf und Genesung. Er
erweitert Blutgefäße, so dass die Haut warm wird, und fördert den
Heilungsprozess. Wenn wir uns im parasympathischen Modus befinden, entspannt
sich unsere Muskulatur, um Energie einzusparen, unsere Stimme wird tiefer und
nimmt eine langsame, honigsüße Klangfarbe an.
Eine gesunde Person hält das Gleichgewicht zwischen
den zwei Systemen. Im Idealfall arbeiten die zwei harmonisch zusammen, so dass
wir tagsüber mehr „sympathisch“ sind und im Schlaf mehr
„parasympathisch“. Aber ein Geburtstrauma oder eine harte Kindheit können
uns in die eine oder die andere Richtung verschieben. Zum Beispiel kann das
Neugeborene während einer schwierigen Geburt, bei der die Mutter schwere Anästhesie
erhalten hat, sich nicht selbst helfen, um geboren zu werden, weil sein System
lahm gelegt worden ist. Dieses Ereignis prägt Verzweiflung und Resignation
ein – ein parasympathischer Modus, der zukünftige Reaktionen steuert: Ein
Mensch könnte leicht aufgeben
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Ich habe ganz bestimmte Persönlichkeitstypen gefunden, die auf den zwei Arten der Erfahrung beruhen, die wir ganz am Anfang machen. Der Prototyp, der eingeprägt wird, ist im Großen und Ganzen lebensrettend. Danach tastet das Gehirn die Geschichte ab, um zu sehen, wie es in der Gegenwart reagieren soll, und es wird immer auf den Prototyp treffen. Beim Parasympathiker treffen wir auf eine regelrechte Konfiguration: niedrigere Körpertemperatur, langsamerer Puls und niedrigerer Blutdruck. Ein Schlüsselzeichen ist der etwas geringere Ausstoß an Schilddrüsenhormon. In einigen Fällen kann die Körpertemperatur während eines Geburts-Wiedererlebnisses um zwei bis drei Grad fallen. Da der Patient keine Ahnung hat, was sich abspielt, ist es eine weitgehend ungefälschte Reaktion. Der Grund für das Absinken kann in der massiven Anästhesie zu finden sein, die der Mutter verabreicht worden war; sie hat das System des Neugeborenen wirksam stillgelegt. Des Weiteren gibt es bestimmte Gedanken, die dieses Absinken begleiten, gewöhnlich Vorläufer des heraufkommenden Gefühls. Gedanken gehen Gefühlen voraus, wenn sich die Kräfte einer tieferen Ebene zu frontaler Bewusstheit bewegen. Gedanken ebnen den Weg, sozusagen; sie erzählen davon, was unterhalb liegt. Das ist der Grund, warum wir uns mit den richtigen Techniken auf Gedanken konzentrieren und dann zu den Ursprüngen regredieren können. Patienten kommen herein und sind allen Optimismuses beraubt; Resignation regiert, weil das gesamte System in den (ursprünglichen) Versagensmodus übergeht. Die Person -nehmen wir als Beispiel eine Frau- fühlt sich hoffnungslos, da der Tod naht, und sie findet, dass sie nichts daran ändern kann. Sie kann eine Therapiesitzung deprimiert, hilflos und zynisch beginnen: „Das wird nichts bringen.“ Was hat es für einen Zweck, es zu versuchen? Diese Therapie funktioniert nicht bei mir.“ Der Grund für diese Einstellung besteht darin, dass sie den Todesgefühlen bei der Geburt nahe ist. Während der Geburtssequenz konnte sie nicht versuchen, gegen den Widerstand massiver Anästhesie anzukommen. Die Werte der Vitalfunktionen stellen sich auf diese Tatsache ein; somit ist alles aus einem Guss – niedrige Vitalwerte einhergehend mit Verzweiflung und Resignation. Kurz gesagt, „hoffnungslos“. Sie konnte auch nach der Geburt keinen Versuch machen, als sie Tag um Tag allein gelassen wurde, als ihr Schreien unbeachtet verhallte, weil die Eltern dachten, es sei korrekt, „sie ausschreien zu lassen.“
Parasympathische Männer haben eine tiefe, gemächliche Stimme. Mattigkeit prägt ihr Erscheinungsbild, der Metabolismus ist langsam. Andere Attribute beinhalten Introspektion, Verträumtheit und emotionale Distanz. Parasympathiker sind oft Nachtmenschen, sie begegnen der Morgendämmerung jeden Tages wie sie der Geburt begegneten – träge (anästhetisiert). Jeder Morgen ist eine Art Rückblende auf die Geburtserfahrung.
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Der Sympathiker
jedoch hat bei der Geburt heftig und erfolgreich gekämpft. Auch diese
Konfiguration hat eine ausgeprägte Gestalt an sich: höherer Puls, erhöhte Körpertemperatur,
eine fröhlichere und optimistischere Haltung. Männliche Sympathiker haben
eine höhere, quieksende Stimme. Der sympathische Prototyp verändert die
Sollwerte vieler biologischer Systeme. Der Sympathiker tut sich schwer,
angesichts der Realität auf die Bremse zu treten. Sich voran zu kämpfen, war
der frühe lebensrettende Modus. Er manövriert sein Außenleben dergestalt,
dass es mit seinen inneren Gefühlen übereinstimmt. Er ist der Verkäufer,
der kein „Nein“ als Antwort hinnimmt.
Das parasympathische System spielt eine Hauptrolle bei
Depression. Frühe asymmetrische Verschiebungen zwischen dem parasympathischen
und dem sympathischen System ändern die Persönlichkeit auf genau bestimmte
Weise: von passiv zu aktiv, von reflektiv zu impulsiv, von nach innen
gerichtet zu nach außen gerichtet, von artistisch zu praktisch, von verträumt
zu pragmatisch, oder in umgekehrter Richtung. Das Geburtstrauma kann die Persönlichkeit
ein Leben lang verzerren. Natürlich ist es nicht einfach das Geburtstrauma,
sondern es sind auch die neun vorhergehenden Monate, die in gewisser Hinsicht
bestimmen, welche Reaktionen das Geburtstrauma nach sich zieht. Eine chronisch
rauchende Mutter hat bereits dafür gesorgt, dass schon bei leichter Anoxie während
der Geburt der parasympathische Modus dominieren wird.
Auch nachdem man frühe Erlebnisse wiedererlebt hat, lässt
sich die elementare Persönlichkeit nicht völlig verändern, weil sie durch
sich wiederholendes Verhalten verstärkt worden ist. Man kann aber die
Parameter abändern, so dass das Individuum weder außergewöhnlich energielos
noch außergewöhnlich überaktiv ist. In Fällen, bei denen die Eltern das
Verhalten oder die Aktionen des Kindes nicht belohnt haben, herrscht
wahrscheinlich das parasympathische System vor, weil die Erinnerung an die
Verzweiflung fortbesteht. Ich behandelte eine Frau, deren Mutter bei der
Geburt starb. Der Vater machte das Kind für ihren Tod verantwortlich, und
nichts, was sie je tat, war gut genug für ihn. Es gab keine Liebe, um die sie
hätte kämpfen können, es ging nur um die Vermeidung seines Zorns. Sie wurde
lethargisch und introvertiert. Mit drei Jahren gab sie auf. Es ist bekannt als
‚Mürrisches-Kind-Syndrom’.
Solange ein überladener Hypothalamus nicht zur sympathischen Seite verschoben worden ist, kann die parasympathische Seite dazu beitragen, Angst und Panikattacken ein Ende zu setzen. Dennoch kann sich das System nicht in bestem Zustand befinden,
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wenn es zu vorgeburtlicher
Vernachlässigung, schlechter Ernährung oder Alkohol- und Drogeneinnahme
seitens der austragenden Mutter gekommen war. Ein Bericht der Nationalen
Organisation über das Fetale Alkohol Syndrom im Oktober 1998 kam zu dem
Ergebnis, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft exzessiv Alkohol
konsumierten, geistig-psychische Defekte und geistig-psychische Verzögerung,
Wachstumsdefizite, mangelnde Verhaltens- anpassung und Funktionsstörungen des
zentralen Nervensystems aufwiesen.1 Zweifelsohne lässt sich
all das nicht einfach auf Asymmetrie im autonomen Nervensystem zurückführen.
Es gibt viele andere mitwirkende Faktoren. Ich biete ‚Asymmetrie’ an, weil
ich sie so oft bei meinen Patienten sehe. Mindestens zwei Drittel meiner
Patienten sind zur parasympathischen Seite hin verschoben. Wenn sie es nicht
sind, kommen sie im allgemeinen nicht zu uns, um sich helfen zu lassen.
Zweifelsohne geht dem Leser eine Frage durch den Kopf,
welche die gelegentliche Zigarette oder den gelegentlichen Drink einer
schwangeren Frau betrifft. Ich bezweifle, dass eine Zigarette viel Schaden
anrichten wird, aber wenn Trinken und Rauchen kontinuierlich wird, dann
sprengt es die integrative Kapazität des Fetuses und es kommt zu
Abweichungen. In einem Erwachsenen wird ein Glas nicht viel Schaden anrichten.
Fünf Gläser können zur Betrunkenheit führen. Im Fetus können fünf Gläser
mehr hervorrufen als Betrunkenheit; sie können vitale biologische Funktionen
verändern, weil das kleine System sich verzweifelt abmüht, mit dem Input
fertig zu werden. Viel besser ist es, sich zu enthalten. Ein Leben steht auf
dem Spiel.
Wenn ein Patient eine primärtherapeutische Sitzung
mit niedriger Körpertemperatur beginnt, steht er wahrscheinlich unter
extremer parasympathischer Dominanz. Das passiert bei unseren depressiven
Patienten, weil sie oft kurz davor stehen, ein Trauma mitsamt den ursprünglichen
parasympathischen Reaktionen – den Prototyp zu fühlen. Sie befinden sich in
einer sonderbaren Stimmung, wissen aber nicht warum. Nochmals:
Depressive/suizidale Reaktionen in der Gegenwart sind die exakten Reaktionen
aus dem ursprünglich eingeprägten Trauma. Der Hippocampus hat die Geschichte
durchforscht und etwas hervorgebracht, das ursprünglich lebensrettend war. Er
wird es immer wieder tun. Aufzugeben war ursprünglich lebensrettend; Kampf
war eine Bedrohung. Wir versetzen den Patienten in den historischen Kontext
zurück, so dass die Stimmungen und die Gefühle mit den Szenen übereinstimmen, denen sie entsprungen waren. Die Szene
mag kein wirkliches Bild sein, vielleicht einfach eine
anatomisch-physiologische Konfiguration. Reaktionen werden durch die Natur des
Traumas diktiert. Wenn ein Baby gleich nach der Geburt nicht zu seiner Mutter
gegeben wird, sondern stattdessen in ein Bettchen gelegt wird, kann
Resignation zum Prototyp werden. Das Baby wird als teilnahmslos und apathisch
geprägt. Heimkinder, die sehr wenig Liebe bekommen, entwickeln dieses
Verhaltensmuster der Lethargie und Passivität. Wenn sich alle drei
Gehirnebenen zu demselben Gefühl zusammenschließen, besteht die Möglichkeit
des Suizids. Wenn sich jemand im Hirnstamm, im Limbischen System und im gegenwärtigen
Leben hoffnungslos fühlt, besteht eine konkrete Gefahr. Ein klein bisschen
Hoffnung in der Gegenwart kann Depression so weit mildern, dass sich suizidale
Impulse vermeiden lassen.
Seite 97
Ein Opfer elterlicher Grausamkeit zu sein, kann
durchaus auf diesem Prototyp des Aufgebens beruhen. Im Erwachsenenalter kann
jemand als unbewusste Demonstration dieser Grausamkeit die Rolle des Opfers
annehmen. Durch ihr Verhalten anderen gegenüber sagt die Person: „Ich werde
misshandelt. Helft mir!“ Das ist auch bekannt als Verlierer-Syndrom: „Mir
wird nichts gelingen, bis ihr seht, dass ich leide.“
Ich behandelte einen Patienten, der sich in keiner
Konfrontation ausdrücken konnte. Nach zwei Stunden in unserer Sitzung erlebte
er eine Kindheit wieder, in der seine Mutter ihn ständig rügte. Er fühlte
sich unfähig, sich zur Wehr zu setzen, vor allem wegen ihrer enormen Wut. Das
reaktivierte eine verwandte tiefer liegende Erinnerung, in der er von der
Nabelschnur stranguliert wurde. Eine halbe Stunde lang war sein Gesicht
krebsrot angelaufen. Er kam aus der Sitzung mit der Einsicht heraus, dass
seine Unfähigkeit, sich zur Wehr zu setzen, aus der Primär- Einprägung
stammte, dass er bei der Geburt beinahe erwürgt worden war; diese Einprägung
wurde durch die Art, wie seine Mutter ihn behandelte, noch verstärkt. Der
Patient bemerkte, dass er immer dann verstummte, wenn ihn jemand grob zurecht
wies oder ihn kritisierte, genau wie es im Umgang mit seiner Mutter der Fall
war. Er brauchte eine Stunde, um sich zu überlegen, was er hätte sagen
sollen.
Für einige Babys ist der Geburtsprozess eine
Erfahrung, die sie dem Tod nahe bringt; diese Erfahrung wird einem naiven
Gehirn eingeprägt. Es ist kein Wunder, dass dem System bestimmte Züge und
Reaktionsweisen aufgedrückt werden; diese Züge waren nichts weniger als Überlebenstaktiken.
Die richtige Steuerung des Gefühlsprozesses erfordert den harmonischen
Einsatz des sympathischen und auch des parasympathischen Systems.
Unter extremer sympathischer Dominanz fühlt man sich
„gerädert“. Sympathische Neuronen halten Einprägungen im Hirnstamm und
im Limbischen System zurück und verarbeiten sie. Aber eine bestimmte Menge an
Angstenergie schafft es, nach oben durchzudringen und bewirkt, dass sich die
Sympathikerin im Bett herumwälzt, über dieses oder jenes Projekt nachdenkt,
was sie morgen tun wird, was sie heute tun hätte sollen. Das nennt man zwanghaftes
Grübeln. Nachdem genug Angstenergie durch ihre Besorgtheit absorbiert
worden ist, fällt sie schließlich in Schlaf. Aber der Terror holt sie ein,
und sie hat einen Albtraum. Sie wacht auf; ihr frontaler Kortex ist
„hellwach“ geworden, um den Terror des Limbischen Systems und des
Hirnstamms im Unbewussten zu halten. Das eine Gehirn wird dazu benutzt, dem
anderen zu entkommen. Sie nimmt eine Schlaftablette, um die Furcht zu besänftigen.
Die Tablette versetzt den Hirnstamm in Schlaf. Am nächsten Morgen wacht sie auf und fühlt sich noch
immer gerädert, sie springt aus dem Bett und beginnt einen neuen geschäftigen
Tag. Es ist ein endloser Zyklus.
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Einige Individuen sind so vollständig abgeriegelt,
dass sie die sympathische Energie nicht einmal spüren. Diese Individuen sind
weit von ihren Gefühlen entfernt und kommen gewöhnlich nicht zur Therapie.
Wenn der Schmerz so tief im Unbewussten versenkt ist, kann er von irrealen
Glaubenssystemen absorbiert werden. In diesem Fall leidet der Mensch nicht.
Stattdessen kann er „verrückte“ Ideen übernehmen, wie den Glauben an das
Okkulte. Man kann das in der Vorleben-Therapie beobachten. Vorleben-Therapie
ist jetzt der ‚Hammer’ im New- Age-Feld; alles Mögliche, nur keine Realität.
Es ist nie genug, sich mit dem Leben und seinen Problemen in dieser Welt zu
beschäftigen, nein, sie müssen der Spur zurück ins alte Ägypten folgen, um
ihr früheres Leben zu finden. Nur allzu oft findet die Person heraus, dass
sie eine Prinzessin in einem vergangenen Königreich war. All das gründet auf
der Vorstellung, dass unsere Vorgeschichte in unser Nervensystem eingeprägt
sei und wir sie nur anzapfen müssten. In dieser Hinsicht gibt es keine Realität,
mit der wir uns befassen müssten. In den Tausenden von Urerlebnissen, die ich
gesehen habe, habe ich niemals ein solches Phänomen beobachtet. Meine
Patienten berichten aber, dass solche Dinge geschahen, als sie vor der
Therapie LSD nahmen, wobei sie ihr ganzes Leben übersprangen und schließlich
in mystische Vorstellungen eintauchten. Vorleben sind ein Schlüsselzeichen für
Überlastung und Symbolisierung, und man sollte sie lediglich als
pathologisches Merkmal auffassen.
Der Sympathiker hat gelernt, dass Anstrengung und
Kampf lebensrettend sind; der Parasympathiker hat gelernt, dass zu viel
Anstrengung lebensgefährdend sein kann (es braucht zuviel Sauerstoff auf).
Der Parasympathiker ist nachdenklicher, grübelt mehr und verfällt leichter
in Depression. Der Sympathiker ist die Verkörperung des Optimismuses, weniger
nachdenklich und selten deprimiert.
Überlegen Sie sich die Sache in evolutionärer
Hinsicht: Empfindungen kamen zuerst; Gefühle kamen als zweites; Gedanken
kamen zuletzt. Gefühle existierten lange vor der Fähigkeit, paranoid zu
sein.
Eine Gedankenstörung lässt sich nicht ohne Bezug auf
ihren limbisch-hirnstammlichen Unterbau betrachten. Es sind ungeschleuste Gefühle
und Empfindungen, die uns verrückt machen, und nicht zwanghafte Gedanken. Die
Gedanken entstehen auf Grund des Druckes, den Gefühle ausüben, die keine
Verbindung mit dem frontalen Kortex finden.
Es gibt keine „Gedankenstörungen“, wie sie die
psychiatrische Literatur und wirklich jedes Pharma-Unternehmen vorschlägt,
das Beruhigungsmittel für solche Störungen unter die Leute bringt. Paranoia
wird für eine Gedankenstörung gehalten. Aber tatsächlich ist es eine Störung
der Gefühle, der zugrunde liegenden Gehirnprozesse, die durch Veränderungen
im System der austragenden Mutter verursacht worden war. Schizophrene Mütter
haben eine fünffach höhere Wahrscheinlichkeit, ein schizophrenes Kind zu
bekommen, nicht unbedingt wegen der Vererbung, sondern weil eine tief gestörte
Mutter eine tief gestörte Physiologie schafft, die den Fetus umgibt und
schließlich die limbischen Zentren desorganisiert.2
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Der Körper steuert den
Sexualtrieb eines Menschen automatisch auf der Grundlage des Bedürfnisses. Wenn ein Mann Slips
und Kleider anzieht, kann sein Verhalten auf die Erfüllung eines alten Bedürfnisses
ausgerichtet sein – nach Mutters Gegenwart früh im Leben. Wurde das Bedürfnis
zu Beginn des Lebens nicht erfüllt, geht es in den Untergrund. In meiner
klinischen Praxis entwickelten so viele Männer ihren Hang zum
„Auftakeln“, weil eine berufstätige Mutter nur ihre Kleider als
Erinnerung daließ. Das Bedürfnis ist, eine Mutter um sich zu haben; bleibt
es versagt, nimmt der Mann das nächstbeste Ding, symbolische Andenken –
Slips. Bei einer Frau, der eine Mutter versagt blieb, kann das verdrängte Bedürfnis
in der Adoleszenz an die Oberfläche kommen und seinen Brennpunkt auf Frauen
ausrichten. Das Resultat kann lesbische Liebe sein. Es mag schwer fallen, sich
dessen zu erinnern, dass unsere Eltern für uns Kinder das Ein und Alles
waren.3 Ein Mädchen, dem Körperkontakt mit ihrer Mutter
versagt blieb, erfährt vielleicht im Alter von fünfzehn Jahren die Berührung
einer Freundin. Es fühlt sich so gut an, dass es allmählich die sexuelle
Ausrichtung bestimmen kann. Sie will mehr von dem, was sie braucht. Sie ist über
das Alter hinaus, dass sie Wärme von ihrer Mutter bekommen könnte, und so
tut sie das Nächstbeste. Sie findet es bei Freundinnen.
Diese Frau kann vielleicht zu mir kommen, aber nicht
wegen ihrer lesbischen Neigung, sondern weil sie unter Angstattacken leidet
oder unter anderen Problemen, die von frühem Liebesmangel herrühren. Der
Lesbismus kann sich so richtig anfühlen, dass die Person überzeugt ist, er
sei normal und vielleicht sogar genetisch bedingt. Sie hat eine Geliebte und würde
es nicht anders haben wollen, weil ihr Bedürfnis nach einer liebevollen Frau
nichts anderem entspräche.
Ein Patient fühlte sich, als käme er aus einem
lebenslangen Trancezustand heraus. Er sollte als zweiter von Zwillingen
geboren werden, aber er lag in Steißposition im Mutterleib (Füße voran). Er
musste im Mutterleib umgedreht werden, was extrem schmerzhaft war, und wurde
schließlich nach mehreren Stunden geboren. Er glaubte, dass er an jenem Punkt
aufgrund des Schmerzes und des Erstickens das Bewusstsein verlor. Seine Lungen
füllten sich mit Flüssigkeit und ließen in ihm das Gefühl des Ertrinkens
zurück. Nachdem er geboren worden war, wurde seine Mutter in Folge des
Geburtsverlaufes krank und stand nicht zur Verfügung, um ihn zu trösten und
zu beruhigen.
Der Schrecken türmte sich auf und hielt sein ganzes Leben an. Er hatte einen Vater, der nie da war. Seine Mutter musste arbeiten, um sie beide durchzubringen. Sein ganzes Leben lang war er in Schmerz aufgelöst. Man konnte es auf Fotos aus seiner Kindheit sehen. Er wurde in der Slowakei geboren und während des Krieges ohne seine Mutter fortgeschickt. Er klammerte sich an seine Schwester, die später bei einer Explosion ums Leben kam und ihn völlig allein zurückließ. Er war präpsychotisch, mit gelegentlichen Wahnvorstellungen und Halluzinationen; er war sich sicher, dass der Mann in dem Parkplatzhäuschen böse auf ihn sei, weil er ihn lächeln sah. Trotz der Wahnvorstellung funktionierte er sehr gut.
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Die Verdrängung des grauenvollen Schmerzes machte ihn
zu jeder Zeit beinahe bewusstlos; in der Tat befand er sich in einer Trance.
Als er anfing, seine Bedürfnisse und Schmerzen zu integrieren, kam er allmählich
aus dem Trancezustand heraus, da er nicht mehr so tief in Gefühlen der
unteren Ebenen versunken war. Das ist eine Trance wirklich: Man ist in tiefere
Bewusstseinsebenen eingeschlossen, ohne dass der frontale Kortex die Dinge klären
könnte.
Eine Therapie für den
emotionalen Notfall
Wenn Patienten in der Primärtherapie
mit alten Gefühlen in Kontakt kommen, schalten weite Teilbereiche des
frontalen Kortexes ab, während tiefere Zentren die Regie übernehmen. Genau
das geschieht in Notsituationen, wenn der Instinkt in den Vordergrund tritt,
um unser Leben zu retten. An diesem Punkt haben wir keine Zeit, über unsere
Optionen nachzudenken; wir müssen reagieren. In der Therapie signalisieren
die im Aufsteigen begriffenen verfremdeten und gefährlichen Gefühle eine
Notsituation und zwingen die tieferen Zentren, die Herrschaft zu übernehmen.
Es findet ein Angriff der Gefühle statt. Teile des Immunsystems treten in
Aktion, als würde gerade ein Virus angreifen.
Das Gehirn verfährt mit Gefühlen, als seien sie
Aliens, die um jeden Preis zurückgeschlagen werden müssen. Das untere fühlende
Gehirn behandelt sie wie eine gegenwärtige Bedrohung. Ein Grund dafür ist,
dass die unteren Zentren keinen Zeitschlüssel haben; es ist der Kortex, der
die Zeit misst. Deshalb brauchen wir den Kortex, um ein Gefühl richtig der
Vergangenheit zuzuordnen, so dass es nicht länger in das gegenwärtige Leben
eindringt. Wie wir an anderer Stelle feststellen, sind die
limbisch-hirstammlichen Prozesse schon lange voll ausgereift, ehe der frontale
Kortex in Aktion tritt. Aus diesem Grund bezeichnete Freud sein Unbewusstes,
das Es, als „zeitlos“.
Gefühlstherapie ist beinahe immer auf einen Notfall
ausgerichtet, denn wären die Gefühle keine Bedrohung, so wären sie bereits
gefühlt worden. Wir müssen es zulassen, dass der Patient sich dieser Krise
hingibt und die Kette der Evolution hinabsteigt. Wir achten sehr darauf, dem
Patienten, der seinen Gefühlen nahe ist, keine Fragen zu stellen. Wir wollen
keine Erklärungen, und wir wollen nicht, dass der Patient Worte für ein
wortloses frühes Trauma benutzt. Kurz gesagt wünschen wir keine Einmischung
des frontalen Kortexes, bis wir zur Einsichtsphase des Gefühlserlebnisses
gelangen. Zu oft sind Gedanken der Gefühle Feind.
Bei einer Sitzung in dem abgedunkelten Raum sitzt der Therapeut hinter der Patientin. Die Patientin beginnt gewöhnlich damit, dass sie über etwas in der Gegenwart redet, zum Beispiel über einen Streit mit einem Freund.
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Sie kann deshalb wütend sein oder weinen. Sie wird immer mit
der gegenwärtigen Situation weitermachen. Etwa dreißig Minuten später kann
sie in etwas Ähnliches aus ihrer Kindheit fallen. Ihre Mutter musste immer
Recht haben und duldete keinen Widerspruch. „Lass mir meine Gefühle,
Mama!“, könnte sie schreien. Automatisch macht sie mit anderen ähnlichen
Szenen ihrer Kindheit weiter, da das Limbische System anscheinend dem
Bewusstsein alle relevanten Szenen anbietet, als wären sie alle unter einem
übergeordneten Gefühl verschlüsselt. Und in der Tat sind die Szenen durch
das Fühlen chiffriert. Ist die Patientin einmal in dem Feeling
eingeschlossen, kann sie eine Zeit lang ganz ruhig sein, ein wenig husten und
würgen, und dann lautlos und langsam tieferen Zugang erlangen. Für neue
Patienten ist das gefährlich: zu schwerer Schmerz, zu früh für die
Integration ins Bewusstsein. Nach eineinhalb oder zwei Stunden öffnet sie die
Augen, blinzelt und kommt, wie es scheint, in die Gegenwart zurück. Dann
beginnen die Einsichten, und erst dann übernimmt der Therapeut eine viel
aktivere Rolle, erörtert ihr gegenwärtiges Leben und bespricht, wie diese
Gefühle in ihr früheres Verhalten hineingespielt haben. Alle anderen
Menschen wurden zu ihrer Mutter und lösten somit ihren Zorn aus. Nach der Gefühlserfahrung
setzt sie sich auf, sie ist erfrischt und keinesfalls am Boden zerstört, wie
man es sich vielleicht vorstellen würde, und sie grüßt uns zum Abschied.
Sie entscheidet, wann sie wiederkommen will. Die Macht liegt in ihren Händen.
Sobald ein Gefühl oder frühes Ereignis das volle
Bewusstsein im Frontalhirn erreicht, koppelt es an. Es entsteht eine feste
Verbindung, und das Körpersystem kehrt zur Normalität zurück. Das ist die
Verbindung, die ursprünglich hätte stattfinden sollen, hätte das
Schleusensystem nicht eingegriffen, um den frontalen Kortex und das Körpersystem
vor Überlastung zu bewahren. Es sind jetzt genügend frühe Gefühle verknüpft
worden, so dass das System bereit ist, tiefere Schmerzen in Angriff zu nehmen.
Das wird geschehen, solange kein Außenstehender, das
heißt Therapeut, bestimmt, was der Patient fühlen soll und wann er es fühlen
soll. Das Gehirnsystem und der Körper des Patienten kümmern sich schon
darum. Wir müssen lernen, der Biologie und dem Individuum zu vertrauen und
dem Verlangen nach Macht abschwören. Wenn ein Mensch seine Klaustrophobie
besiegt, nachdem er die schreckliche Angst und Qual fühlte, als er als Kind
bestraft und in einem kleinen Raum allein gelassen wurde, kommen die Verknüpfungen
und Einsichten automatisch zustande. Es kommt sogar zu noch weiter reichenden
Einsichten, wenn die Patientin in eine Geburtssequenz hinabgleitet und
wiedererlebt, wie sie für vielleicht Stunden oder Tage in einem Inkubator
allein gelassen worden war.
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Nach der Wiedererfahrung und Verknüpfung der Gefühle
kehren die Vitalfunktionen meiner Patienten zu Werten zurück, die unterhalb
der Anfangswerte liegen. Die Verdrängung von Gefühlen erzeugt im Körper Wärme,
aber wenn man ermöglicht, dass diese Gefühle an die Oberfläche kommen,
sehen wir ein Absinken der Körpertemperatur, oft eine permanenten Senkung um
ein halbes bis zu einem Grad. (Wir messen die Vitalfunktionen eines jeden
Patienten vor und nach jeder Sitzung.) Wenn ein Patient abreagiert – wenn
die Energie eines Gefühls sporadisch freigesetzt wird und nicht fest mit der
Vergangenheit verhakt ist – fallen die Vitalfunktionen sporadisch oder überhaupt
nicht. Das ist für uns ein Schlüsselkriterium, anhand dessen wir überprüfen,
ob eine Verknüpfung zustande gekommen ist
So viele Selbsthilfe-Bücher konzentrieren sich
darauf, wie wir uns selbst kontrollieren können, unsere Impulse, unsere Wut,
aber sie ignorieren die Einprägungen, die nie aufhören werden, unser Leben
zu dominieren. Nun verstehen wir, warum die meisten gewalttätigen
Gefangenen noch immer eine Gefahr für die Gesellschaft sind, nachdem sie
entlassen worden sind. Kein noch so großes Quantum an Wut-Kontroll-Therapie
hilft, weil die Ursache der Wut nicht berührt worden ist. Beratung liefert
uns lediglich Vernunftargumente, warum wir nicht ausagieren sollen. Am
Ende aber sind es die Gefühle, die gewinnen, besonders wenn die Energie des
Hirnstamms diese Gefühle steuert.
In den 1950er Jahren erfand Kaiser Permanente Hospital
eine „bequeme“ Methode, wie Mütter mit ihren Neugeborenen umgehen
sollten. Sie stellten ein Schubfach zur Verfügung, das auf und zu glitt. Wenn
die Mutter mit dem Füttern des Säuglings fertig war, wurde das Baby in einem
Schubfach weggeschlossen. Der Terror dieses Traumas ist eine wirkungsvolle
Methode, um den Kortex und andere Gehirnzellen fehlzusteuern. Würde man an
diesen Kindern, die jetzt erwachsen sind, eine Studie durchführen, kämen die
Auswirkungen dieses ziemlich monströsen Konzepts allen guten Absichten zum
Trotz zum Vorschein.
Wenn Sie wie ich gesehen haben, wie jemand seine
Geburt wiedererlebt, werden Sie zu der Überzeugung gelangen, dass die
Energie, die eingesetzt wird, um diese Empfindungen und Emotionen all die
Jahre im Zustand der Verdrängung zu halten, schließlich die zelluläre
Struktur des Körpers beeinträchtigen muss. In unseren therapeutischen
Sitzungen sehen wir, welchen massiven, furchtbaren Schmerz die meisten von uns
im Inneren verbergen. Es erfordert eine gleichermaßen massive Hemmkraft, um
diese schrecklichen Schmerzen unten zu halten. Die plötzliche Freisetzung
dieses frühen Schmerzes kann explosiv sein. Fügen Sie nun ein gewisses Maß
an elterlicher Gleichgültigkeit und Mangel an Wärme gleich nach der Geburt
und während der ganzen frühen Kindheit hinzu, und Sie erhalten massiv verstärkten
Schmerz mit Schaden im frontalen Kortex und in limbischen Strukturen. Das
bedeutet chronisches Leiden. Es ist nicht nur so, dass ein hoher Angstpegel
bei der austragenden Mutter von Kortisolsekretion begleitet wird, sondern die
schleichende Sekretion wird schließlich auch limbische Zellen des Babys schädigen.
Das ist eine direkte Demonstration, wie fehlende Liebe ganz am Anfang des
Lebens das Gehirn schädigen kann.
Seite 103
Bruce Bower in Science News stellt fest, dass
„zwanzig Jahre währende Studien an Ratten und anderen nichtmenschlichen
Lebewesen nahelegen, dass Zellverlust im Hippocampus die Folge ist, wenn diese
Lebewesen permanent hohen Konzentrationen von Stresshormonen ausgesetzt
sind.“4 Er impliziert, dass chronisch hohe
Kortisol-Spiegel zu Schaden am Hippocampus führen können und zu den
kognitiven Krankheiten, die wir oft mit fortgeschrittenem Alter in Verbindung
gebracht haben. Das kann bedeuten, dass Gedächtnisverlust nach dem
sechzigsten Lebensjahr vielleicht das Resultat einer Geburtseinprägung ist,
die das ganze Leben hindurch chronisch hohe Kortisol-Spiegel hervorrief. Und
genau deshalb ist es so teuflisch, wenn wir versuchen, exakte Ursachen für
Gedächtnisverlust zu finden und uns dabei nur auf physiologische und
neurologische Ereignisse im hohen Alter konzentrieren.
An diesem Punkt könnte uns eine Analogie das Verständnis
erleichtern. Wenn ein Arzt einem Patienten über Wochen oder Monate
schmerzstillende Mittel verschreibt, warnt
er ihn, sie nicht abrupt abzusetzen. Der Grund........Anfälle. Tiefe innere
Kräfte entweder mit unseren eigenen innerlich gefertigten Dämpfern oder mit
Medikamenten zu unterdrücken, bewirkt, dass sich das verdrängte Material
aufbaut. Wenn man es mit einem Male frei werden lässt, bedeutet das eine
ausgedehnte explosive Eruption von Gefühlen überall im Gehirn – ein Anfall
-, sobald die Abwehr gegen die anströmende Gewalt schwächer wird. Eine
Sache, die dem sehr nahe kommt, sehen wir in unserer Therapie – eine zufällige,
massive, ungezielte Eruption, wenn sich Gefühle aufbauen und dem Bewusstsein
nähern. Es ist der Brennpunkt, eine Szene oder Erinnerung, der das Gefühl in
die richtigen Kanäle schleust und einen Anfall vermeidet. Aber wenn zu viel
zu früh hochkommt, geht der Brennpunkt verloren und das Gehirn wird überlastet.
Im Schlaf werden wir stufenweise unbewusst, angefangen
von gegenwärtiger Bewusstheit bis zu tiefem Schlaf. Schlaf erfordert die
Unterdrückung höherer
Bewusstseins-Schichten. An einem gewissen Punkt, wenn sie dem Tiefschlaf nahe
kommt, befindet die Person sich buchstäblich in demselben Gehirn und
physiologischen Zustand wie ein sechs Monate altes Kind: keine
begrifflich-intellektuellen Abwehrmechanismen gegen den Schrecken. Genau das
ist für diejenigen, die ein präverbales Trauma wiedererleben, so
entsetzlich. Es gibt nichts in ihren Köpfen, das in Begriffe oder Bilder
fassen könnte, was sich gerade abspielt. Es ist pures Entsetzen, das oft von
Einprägungen der ersten Ebene im Locus caeruleus organisiert wird.
Da wir gerade über physiologische Erinnerung reden,
in den letzten Monaten hatten wir zwei Patienten, die Meningitis und
Scharlachfieber aus ihrer Kindheit wiedererlebten. In beiden Fällen hatten
die Patienten während des Wiedererlebens Fieber.
Nehmen wir als Beispiel ein kleines Kind, dem in den
ersten Monaten des Lebens wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im
Erwachsenenalter aktiviert das Limbische System die furchtbare Verlassenheit
und spornt den Kortex zur Hoffnung an („Vielleicht kommt jemand und leistet
mir Gesellschaft. Ich rufe meine Freunde an. Vielleicht kommen sie und
vertreiben mir die Einsamkeit“). Diese Handlung findet vor jeder Überlegung
statt und ist eine Art, wie wir uns gegen das Gefühl verteidigen. Und wenn
unsere Eltern oft genug sagten: „Mach’ nicht so ein finsteres Gesicht“,
kann sogar Glücklichkeit eine Abwehr sein; der Schein gibt vor, alles sei
gut, obwohl dem nicht so ist.
Seite 104
Könnte die Person die Traurigkeit und ihre Ursachen
erleben, wäre sie vielleicht nicht deprimiert. Im Grunde sind es diese
Traurigkeit und so viele andere Gefühle, die bei Depression eine Rolle
spielen. Traurigkeit überflutet so viele verschiedene Erlebnisse, in denen
das Kind sein Unglück nicht seinen Eltern mitteilen konnte. So viele meiner
Patienten kommen mit hohem Blutdruck und Migräne herein und erzählen mir,
dass sie eine sehr gute Kindheit hatten. Monate später winden sie sich auf
der gepolsterten Matte und beklagen ihr frühes Elend, während gleichzeitig
ihre Migräne verschwindet. Niemand redet dem Patienten diesen Schmerz ein. Er
entsteht, wenn jemand seine Kindheit wieder besucht. Wenn wir lernen, in
unseren persönlichen Gehirnarchiven zu stöbern, gibt es keinen Hinweis, was
wir finden könnten. Keinem Patienten wird jemals gesagt, was er zu fühlen
habe oder dass er weinen oder schreien solle.
Eine unserer gegenwärtigen Patientinnen wurde von
ihrem Freund, mit dem sie seit zwei Jahren ging, einfach sitzen gelassen. Sie
war am Boden zerstört und bettelte und rief ihn immer wieder an. Er ermahnte
sie, sie solle nicht mehr anrufen. Sie konnte nicht an sich halten; ständig
lauerte sie ihm auf. Dann verfiel sie schließlich wochenlang in einen
depressiven Angstzustand, konnte ihr Appartement nicht verlassen, rief ihre
Freunde nicht mehr an und gab ihr Leben auf. Das Gefühl, zu dem sie schließlich
gelangte, war eine schwer anästhesierte Geburt, die sie überlastete, und so
entwickelte sie das „Kämpfen-und-Scheitern“-Syndrom, das heißt, sie gab
bei Widerständen schnell auf. Dann bewegte sie sich die Gehirnebenen aufwärts
zu der Beziehung mit ihren verschlossenen Eltern, die emotional distanziert
waren, so distanziert, dass sie es aufgab, sich um Liebe zu bemühen, sich nur
noch mit sich selbst beschäftigte und als Einzelgängerin galt. Als sie als
Erwachsene die Chance sah, Liebe zu bekommen, wurde sie hartnäckig und
obsessiv. Sie klammerte sich an Hoffnung. Und genau das machte ihre Situation
hoffnungslos – sie litt so sehr unter Liebesentzug und war so bedürftig,
dass sie Männer abstieß. Je mehr sie brauchte, umso weniger bekam sie.
Es ist das Ziel der Primärtherapie, die frontokortikale Erinnerung mit der unbewussten Leidenskomponente (Limbisches System-Hirnstamm) zu verhaken, um vollständiges Bewusstsein zu erreichen – ein frontaler Kortex, der mit den Strukturen des Limbischen Systems und des Hirnstamms voll verknüpft ist. Das ist Zugang. Bewusstsein ist das Endziel der Therapie: das Unbewusste bewusst zu machen. Wir trachten danach, den Druck aus dem System zu nehmen, während gleichzeitig lindernde Maßnahmen Anwendung finden. Wir bestehen darauf, dass die Symptome ungeachtet ihrer Ursachen behandelt werden. Wir müssen eine Migräne oder hohen Blutdruck durch Medikation im Zaume halten, so dass wir funktionieren können.
Seite 105
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 Siehe
die New York Times, 19. Januar 1994. Der Untertitel des Artikels lautet:
“Wenn die Mutter trinkt, trinkt ihr Baby mit.“
N. 2 E.
Cantor-Grace, „Links between Pregnancy Complications and Minor Physical
Anomalies in Monozygotic Twins Discordant for Schizophrenia,“ American
Journal of Psychiatry
151, no. 8 (August 1994): 1188-93.
N. 3 R.
Gagin, E. Cohen und Y. Shavit, „Prenatal Exposure to Morphine Feminizes
Male Sexual Behavior in the Adult Rat,” Pharmacology, Biochemistry and
Behavior 38, (1997): 345.
N. 4 Bruce
Bower, Science News 153 (25. April 1998): 263.
6
________________
DIE DREI
EBENEN DES BEWUSSTSEINS
________________
Die drei Ebenen des Bewusstseins gründen auf den drei
schon eingangs besprochenen Schlüssel-Gehirnsystemen: der Hirnstamm, das
limbische (oder „fühlende“) Gehirn und der Neokortex. In meiner
Nomenklatur bezeichne ich sie als Linien. Die erste Linie umfasst das
primitive Nervensystem, im Wesentlichen den Hirnstamm. Obgleich die Strukturen
des Nervensystems erst bei der Geburt ausreichend leistungsfähig sind,
beginnen sie tatsächlich schon während der Schwangerschaft zu funktionieren,
um die physiologische Entwicklung zu koordinieren.
Erste Linie:
Instinktives Bewusstsein
Die erste Linie ist die viszerale Psyche, die
Verwalterin von Empfindungen. Die vitalen Funktionen sind weitgehend unter
ihrer Kontrolle: unter anderem Atmung, kardiovaskuläre Aktivität,
Hormonausstoß, Verdauung und Harnprozesse. Traumen, die sich vor der Geburt
und bis zu einigen Monaten danach ereignen, wirken sich wahrscheinlich auf
diese Funktionen aus. Wenn also ein erwachsener Patient chronische Kolitis
oder Herzklopfen aufweist, können wir voraussehen, dass ein Trauma der ersten
Linie darin verwickelt ist – etwas, das geschah, bevor das Kind sechs Monate
alt war, möglicherweise bei der Geburt oder vorher. Das kann zur Erklärung
beitragen, warum einige Leute einen weit niedrigeren Puls, Blutdruck und
Körpertemperatur haben als andere. Ereignisse im Mutterleib haben
Seite 107
Vielleicht sind sie partiell
auch durch Vererbung vorgegeben worden. Da sich diese Sollwerte in der
Therapie ändern können, scheint es, dass genetische Faktoren nicht der
vorherrschende Grund sind. Unser Vertrauensarzt hat in den vergangenen zwanzig
Jahren festgestellt, dass fortgeschrittene Primärpatienten, die ihn
aufsuchen, ausnahmslos niedrigere Vitalwerte aufweisen.
Zwanghafter Sex ist ein Beispiel für
Hirnstamm-Antrieb. Die Art, wie jemand seine Sexualität ausdrückt, hängt
von den Lebensumständen ab, aber die Energie dieses Triebes setzt sich schon
ganz früh fest. Bei diesem Symptom haben wir ein Auge auf den Hirnstamm. Ich
habe nie jemanden Tränen vergießen sehen, während sie/er die Geburt
wiedererlebte. Und Sprechen ist unmöglich, weil Sprache eine Funktion
höherer Ebene ist, die erst später kommt. Während des
Geburts-Wiedererlebnisses stellt sich eine charakteristische Fuß- und
Armposition ein. (Ich übergehe sie, um zukünftige Probleme mit Patienten zu
vermeiden, die versuchen könnten, diese Erfahrung zu simulieren). Dieses
Merkmal kann man nicht vortäuschen, weil der Patient keine Ahnung hat, was er
während des Primals macht. In dem Augenblick, da der Patient aus der Sequenz
herauskommt und zu sprechen beginnt, ändert sich die Fußposition – ein
klarer Beweis für die Vollständigkeit und Einheit einer jeden
Bewusstseinsebene.
Der Gebrauch von Worten versetzt das Individuum
automatisch auf eine höhere Bewusstseinsebene, weil es jetzt auf andere
Gehirnstrukturen zugreift. In den Wiedererlebnissen können wir beobachten,
dass die drei unterschiedlichen Linien den drei Schlüssel-Gehirnfunktionen
entsprechen. Die erste Linie kann jedoch die katastrophale Empfindung der
Todesnähe speichern, das hektische Atmen und die gewundenen
Körperbewegungen, wie sie auftreten, wenn traumatische Geburtserinnerungen
durch die Barrieren der Verdrängung brechen. Diese nämlichen Erinnerungen
belasten den Körper für Jahre und Jahrzehnte und können bei der Entwicklung
kardiovaskulärer Krankheiten, Schlaganfall und auch Krebs eine Rolle spielen.
Es gibt eine steigende Anzahl von Forschungsergebnissen, die belegen, dass
Traumen in den allerersten Monaten des Lebens die Neurobiologie1
verändern. Diese Traumen können den Reifeprozess des Limbischen Systems
ändern.
Wie Martin Teicher vom McClean Hospital,
Massachusetts, betont, „können (diese Traumen) das biologische Substrat
für eine ganze Aufmachung späterer psychiatrischer Folgen sein, die
affektive Instabilität, Unfähigkeit, Wut zu modulieren, schlechte
Impulskontrolle, eingeschränkte Stresstoleranz, aggressive Episoden,
Beeinträchtigung des Gedächtnisses und halluzinatorische Phänomene
umfassen.“ 2 Diese Autoren fanden heraus, dass von
zweiundzwanzig Patienten, die als Kinder inzestuösen Beziehungen anheim
gefallen waren, 77 Prozent Anomalien der Hirnwellen aufwiesen.3
Die Schlussfolgerung ist unausweichlich: Frühe schwere Traumen führen zu
Abweichungen der Gehirnwellen, und diese Abweichungen deuten auf mögliche
psychiatrische Probleme hin, weil Gehirnabweichungen das Substrat für
spätere Denkstörungen bilden.
Seite 108
Steve
Ich kam per Kaiserschnitt zur
Welt, wurde entfernt, weil die Ärzte befürchteten, ich würde wegen der
Medikamente bei der Geburt sterben. Schon mein ganzes Leben lang habe ich ein
Muster ausgeprägter Aktivität, gefolgt von ausgeprägter Inaktivität. Ich
habe Angelegenheiten immer so erledigt, als bliebe mir sehr wenig Zeit und als
müsste ich sie zu Ende bringen, solange ich noch die Energie dazu hatte. Das
konnte ich aber nur eine Zeit lang beibehalten, und dann kam immer der Punkt, wo
ich sehr müde wurde und „zusammenbrechen“ oder für eine Weile untätig
sein musste. Das manifestierte sich auf vielerlei Art, hauptsächlich durch
Trinken und Drogen, gefolgt von Katerstimmung, in der ich nichts anderes tun
konnte als auszuruhen und nicht zu funktionieren. Dann wiederholte sich der
Kreislauf. Das Traurige daran ist, dass ich mein ganzes Leben verbracht habe,
ohne das, was ich gemacht habe, zu erleben. Ich war immer ‚entfernt’, wenn
ich mit Freunden beisammen war, solche Dinge machte wie Sport, Musik, und wenn
ich mit Mädchen zusammen war. Ich möchte immer zu diesen Erinnerungen
zurückkehren und eine zweite Chance bekommen, oder ich erlebe sie ein zweites
Mal und bin traurig darüber, wie vollkommen doch jede Erfahrung wirklich war,
wie großartig meine Freunde wirklich sind, wie gut mein Leben doch in vielerlei
Hinsicht war. Ich war einfach nicht wirklich „präsent“, um es zu erleben.
Und ich war ganz einfach zu sehr damit beschäftigt, Schmerz abzuschalten –
den körperlichen Schmerz. Das zu erleben, was ich in meinem Leben gemacht habe,
hätte bedeutet, auch diese Verletzungen in meinem Körper zu fühlen. Und das
sind reale körperliche Schmerzen. Sie tun weh. Sie sind unangenehm. Aber ich
glaube, ich fange an, sie in ihren richtigen Zusammenhang zu stellen. Ich bin
„kontraphobisch“, das bedeutet, dass ich mich zum Beispiel zum
Weiterarbeiten zwinge, wenn ich anfange, müde zu werden. Gewöhnlich suche ich
gezielt nach Herausforderungen und manchmal nach Gefahr. Das ist die einzige
Art, wie ich mich lebendig fühlen kann. Wie schon erwähnt, brauche ich
gewöhnlich Vernunftgründe für gewisse Dinge, wie den Kauf eines Autos, den
Abschluss eines Geschäftes, etc., weil ich kein Gefühl daür habe, was sich
abspielt. Meine Schmerzanzeiger sind überlastet, deshalb versagen sie den
Dienst. Ich muss mich auf andere Möglichkeiten verlassen, mein erfolgreiches
Überleben zu gewährleisten. Ich kann nicht behaupten, dass sich das bereits
geändert hat, aber ich weiß bestimmt, dass es mir irgendwie hilft, meinem
Leben einen Sinn zu geben und dass es eine Erleichterung ist, wenn ich den
Schmerz in meinem Körper fühle. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass sich,
wenn ich weiterhin diesen Schmerz fühle, die Überlastung verringert und ich
Zugang zu den Gefühlen bekomme, die ich so sehr will und brauche. Für mich ist
es nicht anders als irgendein anderes
Handikap, wie z.B. ein fehlendes Glied, Taubheit, Blindheit.
Vielleicht ist es weniger extrem, aber die Wirkung ist beinahe genau so
einschränkend.
____
Seite 109
Die Situation mit Steve ist
selbsterklärend, während Myras Fall anders ist; ein äußerst atypisches
Ereignis, das wir selten sehen. Hier ist ein dramatisches Beispiel dafür, wie
Ereignisse im letzten Drittel der Schwangerschaft lebenslange Auswirkungen haben
können. Sie war überlastet und wurde unbewusst – der Prototyp für spätere
Überlastung und späteren Blackout: nichts verstehen oder hören. Zeuge dieses
(gefilmten) Ereignisses zu sein, bedeutet, die schreckliche Gewalt früher
Geschehnisse zu sehen und wie sie ein Leben lang in ihrer Ursprünglichkeit
erhalten bleiben, so dass Myra in ihren Vierzigern ein Ereignis wiedererlebte,
das sich vor vierzig Jahren abgespielt hatte, als sei dazwischen nichts
geschehen. Für die Einprägung ist das so. Sie bleibt von Erfahrung
unbeeinträchtigt, weil Erfahrung sie nicht berührt. Nur die eine
Erfahrung zählt: die Wiedererfahrung des ursprünglichen Ereignisses. Jetzt
verstehen wir Marylin Monroe. Alle Bewunderung
der Welt änderte nichts an der Tatsache, dass sie in einem Heim war und
ganz am Anfang sehr wenig Liebe bekam. Diese Bewunderung fand niemals Zutritt zu
ihrem System. Sie wurde durch Schmerz und Verdrängung blockiert. Nur wenn sie
im richtigen Zusammenhang in ganzer Tiefe gefühlt hätte, dass sie am Anfang
ungeliebt war, hätte sie sich schließlich geliebt fühlen können.
Myra
Eines Tages sahen wir in einer
Therapiesitzung etwas Merkwürdiges, eine Patientin in Konvulsionen, in
anfallsähnlicher Aktivität, die nicht auf die Geburt hindeutete; keine
typische Arm- und Beinposition. Es ging tagelang so weiter, und auch die
Patientin war verwirrt. Wir gingen der Sache nach, indem wir ihre Mutter
befragten, und fanden heraus, dass sie in ihrem achten Schwangerschaftsmonat
einen Stecker in eine 220Volt–Dose eingeführt und einen massiven Schlag
erhalten hatte. Dieser Schlag traf auch das Baby. Das Kind wurde in komatösem
Zustand geboren, der drei Tage anhielt; kein Lebenszeichen und keine Bewegung
wie vorher. Dann kehrte sie ins Leben zurück. Aber alle Erinnerung an das
Vorausgegangene war zunichte gemacht, und später war ihre prototypische
Reaktion bei Überlastung der Blackout. Offensichtlich war der Schlag
überwältigend. Wenn die Stimulierung zu viel war- zum Beispiel wenn sie
Anweisungen von ihrem Chef erhielt, die leicht kompliziert waren-, konnte sie
nicht sehen oder verstehen, was direkt vor ihr war. Sie erlebte einen Blackout,
weil das alte unbewusste Ereignis und die ursprünglichen Reaktionen zum
Vorschein kamen, im zerebralen Kortex eintrafen und sie hilflos machten.
Seite 110
Sie wurde tatsächlich unbewusst. Die meiste Zeit
ihres Lebens war sie, wie sie sagte, „benommen.“ Der Schlag, den ihre Mutter
in ihrem achten Monat erhalten hatte, war der gleiche wie bei
Elektroschocktherapie. Ihre Reaktion auf eine Überlastung im Alter von zwei und
drei Jahren war sofortiges Abschalten, es wurde zum Prototyp. Sie wuchs im
Zustand der Unbewusstheit auf. Sie konnte den einfachsten Kursen in der Schule
nicht folgen. Sobald in ihrem Leben eine Überlastung geschah, war sie „wie in
einem Koma oder wie benommen“, sie wusste nichts und sah nichts. Spätere
Überlastung – zu viele Aufgaben zugleich, sogar die Lektüre eines
langatmigen Buches -, war genug, um sie völlig abzuschalten. Sie kaufte sich
nur dünne Bücher. Alles war zu viel, weil ihr unbewusstes Stressniveau bereits
sehr hoch war.
Als sie begann, den elektrischen Schlag
wiederzuerleben und ihn mit den verarbeitenden kortikalen Integrationszentren
verknüpfte, ließ ihre Benommenheit immer mehr nach, und sie konnte die Dinge
besser verstehen. Die Hirnstamm-Einprägung, die ihr Leben kontrollierte und ihr
späteres Denken, reverbierte nicht mehr ausschließlich um ihre tieferen
Gehirnzentren, sondern hatte Zugang zu höheren frontalen Integrationszentren.
Das passiert vielen meiner Patienten, die bei der Geburt schweren
Betäubungsmitteln ausgesetzt waren. Die physiologische Gleichung lautet
ursprünglich und gegenwärtig: Stress führt zu Unbewusstheit. Oder eine
Variation: Stress führt zu Alkoholkonsum, der zu Unbewusstheit führt. Warum
ist das so? Weil der ursprüngliche Stress eine gegenwärtige
eingeprägte Erinnerung ist. Neue Ereignisse resonieren mit dieser Erinnerung
und erzeugen die gleiche prototypische Reaktion. Der Prototyp kontrolliert das
Verhalten, weil er die erste Erinnerung an Trauma und Überleben ist und sich in
einer frühen Situation auf Leben und Tod abspielte.
Betrachten wir Anästhesie bei der Geburt. Eine neue
Studie, die im Oktober 1999 von der Amerikanischen Gesellschaft für
Anästhesieforschung veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich die Anzahl der
Fälle, in denen Müttern während der Geburt schmerzstillende Medikamente
verabreicht worden waren, zwischen 1981 und 1997 verdreifacht hatte. Die neuen
Artikel, die diesen „Fortschritt“ verkündeten, sagten, dass Frauen sich
endlich dafür entschieden, sich besser zu fühlen, während Ärzte bemerkten,
dass Frauen während der Kindgeburt nicht unnötig leiden sollten. Ich bin
einverstanden, dass Frauen nicht unnötig leiden sollten, - aber nicht auf
Kosten des Babys, das den Rest seines Lebens leiden wird! Betäubungsmittel sind
kein Fortschritt; sie sind ein Notbehelf, und der kann gefährlich sein. Die
vollen Kontraktionen sind bei der Geburt aus vielen Gründen notwendig,
einschließlich dem der Stimulierung des Atmungs- und Harnsystems des Babys.
Kontraktionen sind kein Trauma, wenn sie den Geburtsprozess fördern.
Seite 111
Wenn sich ein frühes Trauma ereignet, verbleibt das
System - abhängig von der Art der Reaktion auf das frühe Ereignis - entweder
lebenslang im erregten Modus oder im gedrückten, nach unten regulierten Modus.
Es hängt nicht nur von der Reaktion des Babys ab, sondern auch von den
Umständen, insbesondere von der Art der Medikamente, die der gebärenden Mutter
- falls überhaupt - verabreicht
werden. Schwere Anästhesie bereitet oft die Grundlagen für spätere
Depression, vorausgesetzt, das familiäre Milieu ist so repressiv, dass das Kind
sich nicht ausdrücken darf. Spätere depressive Reaktionen sind, wie ich
erklärt habe, genau die gleichen wie die ursprünglichen Reaktionen auf die
Geburt unter Anästhesie: „Ich kann nicht mehr. Es ist alles hoffnungslos. Was
hat es für einen Sinn? Das bringt nichts.“ Anders gesagt verstärkt sich das Grundgefühl mit den
Jahren. Es ist dasselbe Gefühl, das jetzt auf drei verschiedenen Ebenen
gründet.
Eine depressive Person, die die Sitzung mit einer
Körpertemperatur von 96,0 F ((35,6°C)), einem Blutdruck von 85/65 und
einer Herzfrequenz von 55 beginnt, wird sie meistens mit den normalisierten
Werten einer nicht-depressiven Person beenden, falls sie gefühlt und die
Verbindung zu dem zugrunde liegenden Gefühl hergestellt hat. Das heißt, mit
einem Blutdruck von 120/80 und einer Körpertemperatur von 97,5 F ((36,4°C))
(Durchschnittswert meiner fortgeschrittenen Patienten).4 Wenn dann die Person aussagt,
dass sie sich besser fühle, können wir ihr glauben. Die an Angst leidende
Person beginnt mit den genau entgegengesetzten Werten. Nach der Sitzung
normalisieren sich alle Vitalfunktionen.
Unter bedrohlichen Umständen, wenn zum Beispiel der
Fetus von der Nabelschnur stranguliert wird, scheint die Produktion von
Katecholaminen radikal anzusteigen. Diese Reaktion graviert die Einprägung –
als Überlebenserinnerung – tiefer in das System ein. Es wird zum Prototyp.
Der nach unten regulierte Prototyp steuert später im Leben viele
Charakteristika, wie Angst vor Veränderung, Rigidität und Mangel an
Spontanität. Rühr’ dich nicht! Die Gefahr lauert! Der Prototyp ist die erste
wesentliche Reaktion auf ein Ereignis, bei dem es um Leben oder Tod ging. Er
wird zu einer Schablone für alle zukünftigen Reaktionen auf Gefahr.
Die zweite Linie: Emotionales Bewusstsein
Die zweite Linie – die emotionale Ebene des Limbischen Systems – beginnt mit der Entwicklung vor der Geburt und erreicht ihre volle Entfaltung im Alter zwischen zwei und drei Lebensjahren. Mit der Zeit bezieht sich das Kind auf eine immer größere Welt, die über Brust und Wange der Mutter hinausreicht, und stellt eine emotionale Bindung
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zu Freunden, Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten her. Das ist
die Ebene von Gefühlszuständen, Tränen und Schluchzen. Es gibt viele
Individuen, die von der ersten Linie, dem Hirnstamm, gesteuert werden: impulsiv,
voller Zorn, pausenlos angetrieben, ungeduldig und unaufmerksam, unfähig, sich
zu konzentrieren. Sehr oft entwickeln diese Individuen keine angemessene
limbische/fühlende Bindung. Es fehlt eine gewisse Art emotionaler Empathie.
Ihre erste Linie dominiert und verhindert, dass sie die emotionale Ebene richtig
entwickeln. Große Athleten stehen manchmal nahezu ausschließlich mit ihrer
ersten Linie in Verbindung. Ein Interview mit einigen dieser Athleten ist keine
intellektuelle Glanzleistung. Aber auf dem Feld weiß der Fußballspieler
instinktiv, wo er hinlaufen muss. Müsste er darüber nachdenken, wäre er kein
guter Spieler.
Ein Patient beginnt eine Sitzung vielleicht auf der
zweiten Linie mit Weinen im Alter von zehn Jahren, als seine Eltern seinen
geliebten Hund fortgaben. Bald jedoch wird er das grundlegend andere Weinen
eines Kleinkinds annehmen, weil er in einen Modus wechselt, der die
Kleinkind-Erinnerungen birgt, wie ihm zur Strafe der Teddybär weggenommen
worden war, als er zwei Jahre alt war.
Kommt es zu Würgen und Husten inmitten einer
Kindheitsszene (zweite Linie), bezeichnen wir das als Intrusion der ersten
Linie. Wir sehen das ziemlich oft. Wir stehen dann vor der Entscheidung, die
Energie der ersten Linie entweder abzuleiten oder sie mit Beruhigungsmitteln zu
unterdrücken. Wenn sie weiterhin eindringt, dann kann der Patient kein
integriertes Gefühlserlebnis haben und fühlt sich schlechter, wenn er die
Sitzung verlässt. Wenn wir entsprechende Techniken benutzen, um dem Eindringen
größeren Zugang zu verschaffen, kann der Patient einen Teil der
Hirnstamm-Energie (erste Linie) ableiten und dann zu seinem Gefühlserlebnis
zurückkehren.
Ein traumatisches Ereignis wie die Scheidung der Eltern im Alter von fünf oder sechs Jahren, betrifft weitgehend die zweite Linie, obgleich es wegen seiner katastrophalen Bedeutung (es gibt keine Familie mehr) Komponenten der ersten Linie beinhaltet. Die Leidenskomponente des Schmerzes wird auf der limbischen Ebene gespeichert. Auf dieser Ebene kann das Kind den Zustand von Anspannung erleben. Angst ist eine viel primitivere Reaktion, welche die Viszera oder Eingeweide einbezieht. Diese viszeralen Reaktionen bildeten die höchste Ebene der Gehirntätigkeit, als das Trauma geschah. Ist es einmal eingeprägt, diktiert es die viszeralen Reaktionen auf spätere Widrigkeiten: In dem früher erwähnten Fall von Angst bei einer Präsentation kam es zum Beispiel zu Magenkrämpfen, Beklemmung in der Brust, Schmetterlingen im Bauch, Herzklopfen und häufigem Urinieren.
Seite 113
Eine Möglichkeit, vom Ursprung eines Traumas Kenntnis
zu erlangen, ist die Art der sich zeigenden Reaktionen. Ein aufgewühlter Magen
kann eine Reaktion auf Mutters Zorn sein, wenn das Kind sechs Jahre alt ist,
aber die körperliche Reaktion an sich ist prototypisch und betrifft die erste
Linie. Sie ist präverbalen Ursprungs, und das kann ein eingeprägtes
intrauterines Trauma bedeuten.
Aus diesem Grund sind Gedanken
gegen Angst wirkungslos. Gedanken bedeuten den Versuch, den neuen Kortex zu
benutzen, um eine 300 Millionen Jahre alte Instinktreaktion zu unterdrücken.
Man kann niemals die eine Ebene des Gehirns dazu bringen, die Arbeit einer
anderen Ebene zu erledigen. Angst muss man als vollständig viszerale Reaktion
ohne Worte erfahren, um sie zur Auflösung zu bringen. Sie kann Worte haben,
wenn die Reaktion mit Kindheitsszenen verknüpft ist, aber es kommt die Zeit, da
man den Prototyp in seinem nackten Zustand erreicht, die Zeit, als der Kortex
noch nicht entsprechend entwickelt war.
Wenn sich Individuen mit den
limbischen Strukturen erinnern, erinnern sie sich an Bilder aus der Kindheit, an
Szenen, Bilder und an die Küchengerüche. Insbesondere an Gerüche, weil es das
uralte Geruchshirn der Reptilien ist, das sich zum fühlenden Gehirn des
Menschen weiter entwickelte. Auf diese Weise bringen wir Patienten in ihre
Kindheit zurück. Und wenn sie sich an ein Zimmer erinnern, als sie drei Jahre
alt waren, können sie die Farbe des Linoleums und das Arrangement der Möbel
beschreiben; Später verifizieren die Eltern diese Beschreibungen, welche die
Patienten vor der Wiedererlebens-Episode nie zustande gebracht hätten. Sie
können Mutters Backwerk riechen, als wären sie wieder als Kinder in der
Küche.
Das Ziel jeder tiefgreifenden
Therapie sollte die Wiedergewinnung von Gefühlen aus Strukturen des Limbischen
Systems und des Hirnstamms sein, wobei darauf zu achten ist, dass man nicht bei
limbischen Einprägungen stehen bleibt. Wenn die Wiedergewinnung vollständig
zustande kommt, normalisiert sich die Person. Das macht Ratschläge,
Kindererziehung, Eheberatung oder Hilfe bei Alltagsproblemen nicht
überflüssig. Zu oft jedoch stammen Eheprobleme von ziemlich tiefen
Einprägungen in einem oder beiden der Partner.
Wenn ein Patient sich in einem
Gefühlserlebnis aus der Vergangenheit befindet, kommt es zu einem Fluss an
Worten und Gedanken, der von Gedankenbildung
kortikalen Ursprungs nicht erreicht wird. Mühelos sprudeln die
Einsichten, und das geht lange Zeit so weiter,
anscheinend ohne dass der Patient bewusst und gezielt nach Gedanken
sucht. Ich habe immer wieder festgestellt, dass sich diese Art von
Gedankenmuster qualitativ von rein links-kortikalen Prozessen unterscheidet, die
rein intellektuell sind.
Seite 114
Die dritte Linie: Intellektuelles Bewusstsein
Die präfrontalen und
orbitofrontalen Kortices der dritten Linie beginnen ungefähr im Alter von zwei
Jahren eine aktive Rolle zu spielen und entwickeln sich bis zum Alter von
ungefähr zwanzig Jahren weiter. Unter Vermittlung des Frontallappens
organisiert das Gehirn alle intellektuellen Angelegenheiten. Das Bewusstsein der
dritten Ebene integriert die tieferen Ebenen, hilft Impulse zu hemmen, befasst
sich mit der Außenwelt und fügt den Gefühlen Bedeutung bei. Es ist der Sitz
ausgeklügelter Ideen. Es erledigt die Vorausplanung und kann Handlungsfolgen
absehen.
Das Problem besteht darin, dass Gedanken und Begriffe
allein auf der dritten Linie existieren können, ohne eine solide Verbindung zu
den unteren Linien zu haben. In diesem Fall sind wir schlau, aber nicht
intelligent. Unsere Gefühle können uns nicht führen. Leute, die nie Hunger
haben, die tagelang auskommen können, ohne ans Essen zu denken, sind ein
Beispiel. Einige Individuen können monatelang ohne Sex auskommen, fühlen
keinen Mangel und kein Verlangen danach. Für guten Sex brauchen Sie Zugang zur
ersten Linie. Zu viel Zugang aufgrund schlechter Schleusung erzeugt jedoch
Hyperreaktivität, die mit schlechter Impulskontrolle einhergeht. Diese
Individuen können ihre sexuellen Impulse und ihr Verlangen oft nicht
kontrollieren. Schlechte Schleusung kann zu vorzeitiger Ejakulation oder zu
Nymphomanie führen, ganz zu schweigen von Vergewaltigung.
Als unsere Vorfahren vor langer Zeit Widrigkeiten aus
dem Weg gehen mussten, brachte ihnen die Wanderung von Gehirnzellen nach oben
und außen einen evolutionären Vorteil. Dank dieser evolutionären Entwicklung
erwarben wir die Fähigkeit des Verstehens und Sprechens. Die dritte Linie, der
Neokortex, handelt in Logik, Rationalität, Begriffen, Kalkulation und
Wirklichkeitsprüfung. Er kann „vernünftig“ sein und komplexe Philosophien
entwickeln.
Das Bewusstsein der dritten Linie findet
„Vernunftgründe“, um das Verhalten anderer und unser eigenes zu erklären,
befähigt uns, Motive auf andere zu projizieren, falsch wahrzunehmen und Logik
so zu biegen, dass sie mit unseren inneren Wahrheiten übereinstimmt. Das ist
eine Methode, Kritik abgleiten zu lassen. Es ist die dritte Linie, die
Zwangsgedanken organisiert. Die Gefühlszentren müssen wegen der frühen
Entbehrung von Liebe Überstunden leisten, während der frontale Kortex
versucht, sich gegen die Flut zu stemmen. Er benutzt Obsessionen, um Gefühle zu
absorbieren und zu kontrollieren. Obsessionen entstehen aus dem Zusammenprall tiefsitzender Gefühle erster und
zweiter Linie mit dem frontalen Kortex. Das Ergebnis ist die Überlastung dieses
Kortexes und die Erzeugung von Zwangsvorstellun- gen.Beruhigungsmittel
funktionieren, weil sie die Menge an Eingaben dämpfen, die aus den zwei
tieferen Ebenen aufsteigen.
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Unverwurzelte Einsichten kommen auf der dritten Linie
vor. Wenn es keine Verankerung im Unterbewusstsein gibt, bleiben Einsichten auf
dieser Ebene, ohne die instinktive und fühlende Basis zu berühren. Wenn erste,
zweite und dritte Linie in Zusammenhang und Verbindung gebracht werden, kann der
Mensch schließlich sich selbst trauen und seine eigenen Motive und ebenso die
der anderen erkennen. Er ist bewusst.
Die linke Hemisphäre gräbt in unserer Vergangenheit
nach den Fakten des Fühlens, während das rechte Gehirn das Rohgefühl an sich
hervorholt. Es ist die
Zusammenarbeit der zwei Seiten, die gestaltloses Leiden in spezifisches Fühlen
umwandelt. Es bedeutet das Ende von Zwangsvorstellungen; endlich weiß die linke
Seite, was die rechte fühlt. Das ist Verknüpfung.
Also haben wir drei nach ihrem evolutionären
Zeitpunkt voneinander getrennte Ebenen des Bewusstseins, die verschiedene
Gehirnstrukturen beinhalten und spezifische Funktionen erfüllen. Schaden auf
einer Ebene muss nicht unbedingt Auswirkungen auf eine andere haben. Man kann
beeinträchtigte motorische Funktionen haben und dennoch eine kristallklare
Wahrnehmung behalten. Leute im Koma funktionieren auf der ersten Linie, wobei
die zwei höheren Ebenen inaktiv sind. Sie agieren auf einer elementaren Ebene,
aber sie „funktionieren.“ Wenn Sie sie mit einer Nadel stechen, zucken sie
zurück. Die Hand eines Menschen zu halten, der unter Narkose steht, kann den
Schmerz lindern helfen. Die Person fühlt den Kontakt, obgleich sie sich auf
einer anderen Ebene aufhält. Körperlicher Kontakt ist wichtig. In der
Primärtherapie halten wir die Hand von Patienten, um den Schmerz zu
besänftigen und um sie in die Gefühlszone zu bringen. Wir achten darauf, nicht
zu viel oder zu lange dauernden Körperkontakt anzuwenden, um die Patienten
nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. Zuviel Beruhigung
blockiert Gefühle. Es ist eine knifflige Angelegenheit.
Jede Ebene des Bewusstseins trägt zu vollständigem
Bewusstsein bei. Intellektuell bewusst zu sein, ist die dritte Linie. Voll
bewusst zu sein, umfasst die fließende Zusammenarbeit aller drei Linien – die
rechte und linke Hemisphäre und der Hirnstamm mit dem limbischen und frontalen
Kortex in harmonischer Kofunktion. In einer normalen, gesunden Person
entsprechen diese drei unterschiedlichen Psychen spezifischen Gehirnstrukturen
und funktionieren als integrierter, ausgeglichener psychischer Apparat. Sie
ermöglichen dem Menschen, ein fühlendes und denkendes Wesen zu sein. Gedanken
können tiefere Bewusstseinsebenen prompt erreichen. Bewusstsein hilft uns,
ungesunde Tätigkeiten wie Rauchen oder übermäßiges Essen zu vermeiden. Man
ist kein Opfer seiner Impulse mehr.
Gesundheit bedeutet optimale Kohärenz oder
Zusammenhang zwischen Ebenen,
harmonisches Funktionieren, das dem Überleben dient. Werden die Ebenen
gewissermaßen zerlegt, besteht die Neigung zu späterer Krankheit. Die
instinktive erste Linie ist damit betraut, unser Leben in einem Notfall zu
retten. Ein Trauma beeinträchtigt diese Harmonie, bringt jemanden dazu, etwas
zu tun, das er wissentlich nicht tun sollte, wie z.B. Alkohol- oder
Drogenkonsum. Ohne diese Hilfsmittel müssten wir uns mit zu viel Schmerz
befassen.
Seite 116
Wenn meine Patienten in einem Gefühlserlebnis sind
und sich von der Gegenwart zur fernen Vergangenheit bewegen, dann zur Gegenwart
zurück, nennen wir das eine 3-2-1-2-3 Sequenz. Das ist ein vervollständigtes
Feeling: Zugriff auf die tiefsten Gehirnebenen und dann Rückkehr zum
integrierenden frontalen Kortex, wo die Erinnerung zur letzten Ruhe gebettet
wird. Die Ebenen formen eine Gefühlskette oder eine Schmerzkette. Deshalb kann
jemand, der eine Kindheitserinnerung wiedererlebt, im weiteren Verlauf der
Sitzung in etwas Tieferes eintauchen. Niemand muss den Patienten den Weg dorthin
zeigen; es geschieht automatisch, weil ein frühes Trauma Repräsentationen auf
jeder der aufeinander folgenden Ebenen hat. Wenn eine Mutter und ein Vater
liebevoll und freundlich, warmherzig und glücklich waren, wird ein Baby diesen
Zugang schließlich ohne Therapie erlangen.
Wenn sie es nicht waren, bedarf es tiefschürfender Therapie, um diesen
Zugang anzubieten.
Eine meiner Patientinnen war bestürzt, weil sie nicht
auf eine Dinner-Party eingeladen worden war. Sie kam in die Sitzung auf der
dritten Ebene, fühlte sich „vergessen“.
Im weiteren Verlauf der Sitzung brachte sie das Gefühl auf die zweite
Linie hinab, wo sie von ihren Eltern ausgeschlossen wurde, deren emotionale
Beziehung unter Ausschluss ihrer Kinder stattfand. (Den Kindern war nicht
erlaubt, mit den Eltern zu essen.) Schließlich fühlte sie ihre Geburt. Sie war
die zweite von Zwillingen. Die Ärzte hatten sie zuerst nicht wahrgenommen, und
sie blieb für, wie sie es jetzt betrachtet, übermäßig lange Zeit im
Mutterleib. Sie litt physiologisch, was später durch die limbisch-frontalen
Verknüpfungen zu einem Gefühl des Vergessenwordenseins oder
Ausgeschlossenseins ausgearbeitet wurde. (Tatsächlich ließ man sie drinnen,
aber sie fühlte sich draußen gelassen).
Die erste Erinnerung ist strikt physiologisch, aber mit der Entwicklung des Gehirns interpretieren die Nervennetzwerke auf höheren Ebenen die Erinnerung auf ihre eigene Weise; das fühlende Gehirn im Sinne von Bildern, Poesie, Gemälden und Träumen, während der denkende Kortex dafür das Etikett oder die Bedeutung zur Verfügung stellt. Zum Glück können wir diesen Repräsentationen folgen, bis uns das Gehirn des Patienten zum Ursprung zurückführt. Wir fangen nicht mit dem ursprünglichen Schmerz an. Wir versuchen immer, bei Schlüssel-Repäsentationen auf den höheren Ebenen anzufangen. Das Gehirn erledigt den Rest, falls wir uns nicht einmischen und die Patienten zu „behandeln“ versuchen. Jetzt verstehen wir, warum ein Patient, der sich in der Gegenwart hoffnungslos und deprimiert fühlt, sich die Ebenen des Bewusstseins hinab zu einem Geburtstrauma bewegen kann, bei dem schwere Anästhesie jegliche Art von Reaktion verhindert hatte.
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Dieser Prototyp führt
zu Resignation und zu Gefühlen des Scheiterns. Es standen keine Alternativen
zur Wahl. Als mein Patient mit dieser Art von Einprägung sich von seiner
Freundin verlassen fand, steckte er wieder im gleichen Gefühl, sah keinen
Ausweg, fühlte sich überwältigt und geschlagen. Er war total
handlungsunfähig, die ganze Strecke von Anfang an. Wenn wir ein gewisses
Verhalten sehen, zum Beispiel Handlungsunfähigkeit, und es als separate
Angelegenheit behandeln, lassen wir alle mit der Erinnerung einhergehenden
Aspekte aus.
Wenn ein Trauma seinen
Ursprung auf der ersten Linie hat und der Therapeut nicht weiß, wie er den
Patienten sicher dort hinbringen kann, wird der Patient nicht gesund werden.
Kurz gesagt kann es Ihnen auf der dritten Linie „gut“ gehen; Sie können gut
angepasst sein, in der Schule gut zurecht kommen, eine gute Ehe führen, und
dennoch mit Schmerz belastet sein. Wenn jemand mit diesem Ergebnis zufrieden
ist, dann ist es gut. Aber er oder sie sollte wenigstens darüber informiert
sein, dass es Vieles gibt, das darunter verborgen liegt.
Die oben genannte Patientin,
die bei der Dinner-Party übergangen wurde, begriff ihre Angst. Das Unbewusste
war bewusst gemacht worden. Keine Angst mehr. Sie wird nicht in einer einzigen
Sitzung aufgelöst, weil unser Verdrängungssystem jeweils nur eine begrenzte
Menge an Gefühl zulässt. Wenn zuviel Schmerz Zugang gewinnt, haben wir eine
Überlastung und in der Folge entweder völliges Abschalten oder mystische
Symbolisierung, weil der Kortex sich windet, um mit dem Schmerz fertig zu
werden. Das ursprüngliche Trauma auf Leben und Tod ist von solcher Größe,
dass es vieler, vieler Primals zur Auflösung bedarf. Wir würden gar nicht
wollen, dass wir in einer einzigen Sitzung die Auflösung erreichen.
Der frontale Kortex ist
wesentlicher Bestandteil des Fühlens. Er schreit oder weint nicht einfach für
sich selbst. Er hat Zugang zum limbischen Gefühl, um es richtig verstehen zu
können; er befasst sich mit den limbisch-kortikalen Schaltkreisen, die das
Gefühl vollständig machen. Solange Sie den frontalen Kortex nicht einbeziehen,
können Sie brüllen und schreien, weinen und schluchzen und auf die Wände
einschlagen, ohne jemals einen Fortschritt zu erzielen. Aber wenn Sie nur den
frontalen Kortex benutzen, ohne Zugang zu tieferen Ebenen zu haben, werden Sie
auch kein vollständiges Gefühlserlebnis haben.
Ein Trauma erstreckt sich
über alle Ebenen des Bewusstseins und wird letzten Endes im Neokortex
hinterlegt. Therapie involviert das Zurückholen der Erinnerungen auf allen drei
Ebenen. Endgültige Verknüpfung bedeutet, die Erinnerungen unter Einbeziehung
aller drei Ebenen zurückzugewinnen: der instinktiven/das Überleben sichernden,
der fühlenden, und der kognitiven Ebene.
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Die Hemisphären der Liebe: Die rechte und die linke Hemisphäre
Wenn ein Baby Emotion bei
einem Elternteil miterlebt, feuern Nervenzellen in der rechten Hemisphäre
seines Gehirns, und der Blutzufluss
in diese Region nimmt zu. Diese Zellen feuern auch, wenn das Baby die Emotion
erwidert. Die rechte Seite antwortet auf Liebesimpulse, die von den Eltern
kommen. Dementsprechend leuchtet
sie auf, wenn ein Patient ein emotionales Trauma aus der frühen Kindheit wiedererlebt.5
Für uns ist das eine weitere Möglichkeit, uns zu
vergewissern, dass das Wiedererlebnis ein reales Ereignis ist. Wenn ein Patient
ein altes Trauma erzählt, dann ist weitgehend das linke Gehirn
beteiligt. Der zentrale Kern der Höllenqualen liegt indessen ein paar
Zentimeter westlich und südlich. So verläuft die Route, wie wir sie in unseren
Patienten sehen können, die eine Sitzung damit beginnen, dass sie von fehlender
Liebe im Alter von sechs Jahren erzählen. Die kortikal-limbischen Netzwerke
operieren mehr von der rechten Seite des Gehirns aus. Kurz gesagt kommunizieren
Gefühle mehr mit dem rechten Gehirn als mit dem linken und enden im rechten
frontalen Kortex.
Verbale, analytische, Probleme lösende Prozesse
werden von der linken Seite des Gehirns ausgeführt, wogegen Gefühle,
emotionale Bindung und Kreativität die Domäne der rechten Seite sind. Folglich
würde ich die rechte Seite in der Tat als Hemisphäre der Liebe betrachten. R.
J. Davidson glaubt, dass die rechte Seite die Hemisphäre ist, die das große
Bild sieht, einschließlich der Gesamtheit der Beziehung zu den Eltern.6
Die linke und rechte Hemisphäre haben ihre jeweils
eigenen spezifischen Funktionen. Die rechte Hemisphäre ist größer als die
linke und bearbeitet emotionale Einprägungen. Es ist die Seite des Fühlens,
des ganzheitlichen und globalen Denkens. Die linke Seite steuert Denken, Planung
und Begriffsbildung. Der frontale Kortex ist gegen Ende des zweiten Lebensjahres
halbwegs entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt ist das rechte Gehirn weitgehend reif,
während das linke Gehirn erst mit dem Reifeprozess beginnt.
Es ist interessant, dass die rechte Seite mehr mit dem Rückzug aus einer Konfrontation assoziiert ist. Es scheint, dass die Verschiebung zum parasympathischen Modus das rechtsseitige sozial-emotionale Rückzugssyndrom begünstigt. Was ich hier diskutiere, ist gezwungenermaßen zum Teil Spekulation. Es ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, weil dahinter viele Jahrzehnte klinischer Erfahrung stecken. Nichtsdestotrotz sollte der Horizont manchmal über die aktuellen Fakten hinausreichen; ein atavistischer Sprung in bloße Möglichkeiten. Aber wenn wir das Mögliche nicht sehen, werden wir keine großen Sprünge machen.
Seite 119
Diese Möglichkeiten müssen jedoch in gewisser Beziehung zur
aktuellen Forschung stehen. Seit dreißig Jahren schreibe ich über das
Geburtstrauma und eingeprägten Kindheitsschmerz. Jetzt zieht die Forschung
Vielleicht bin ich der Schuster, der nur Schuhe in der
Welt sieht; da ich Therapeut bin, sehe ich nur Schmerz in Menschen. Alle
Wissenschaftler müssen in dieser Hinsicht vorsichtig sein, denn wenn wir einen
Hammer haben, sieht alles auf der Welt wie ein Nagel aus.
Die Empathie des rechten Gehirns
Das rechte Gehirn ist
empathisch, fähig zu spüren, was andere fühlen, fähig wahrzunehmen, ob
jemand aufrichtig ist. Es hält uns in Kontakt mit uns selbst und unseren
Gefühlen. Weil es sich früher entwickelt, ist es empfindlicher für die
Emotionen der schwangeren Mutter, geht eine Bindung mit ihr ein und organisiert
die limbischen Strukturen, soweit sie zu kortikalem Wissen in Bezug stehen. Auch
auf diese Weise wissen wir, dass Gefühle Gedanken vorangehen, besonders
abstraktem Denken, und stärker als Gedanken sind. Das rechte Gehirn ist von
Gefühlen abhängig. Es braucht die „Liebe“ der Mutter, um sich weiter zu
entwickeln. Mit dem limbisch-fühlenden Strukturen steht es durch starke
interaktive Schaltkreise in Verbindung und dominiert deshalb, wenn es um
Gefühle geht.
Schore kommentiert, wie das
Kleinkind das rechte Gehirn der Mutter „als Schablone für die Einprägung und
feste Verdrahtung der Schaltkreise in seinem eigenen rechten Kortex
(benutzt).“ 7 Diese Hemisphäre ist weitgehend dafür verantwortlich, wie sich Kind und
Erwachsene aufeinander beziehen. Defekte Beziehungen in den ersten zwei Jahren
des Lebens reduzieren die Anzahl kortikaler Synapsen und verändern die Struktur
der rechten Seite.
Wenn die Mutter zu aufgeregt
ist und zuviel Aufmerksamkeit von
ihrem Baby verlangt, überlastet und überwältigt sie das Baby. Wenn eine
Mutter zu wenig Interesse hat und auf ihr Baby nicht eingeht, werden die sich
schnell entwickelnden Nervenbahnen zwischen dem frontalen Kortex und dem
limbischen System beeinträchtigt, und zwar mehr in der rechten Hemisphäre als
in der linken. Das ist in der aktuellen Literatur als fehlende
Übereinstimmung bekannt. Das
Gehirn braucht optimale Stimulierung, um sich zu entwickeln.
Seite 120
Wenn es in der frühen
Kindheit anhaltenden Stress und elterliche Gleichgültigkeit gibt, wenn Liebe
ständig fehlt und auf Bedürfnisse nicht eingegangen wird, dann leidet das
rechte Gehirn. Oft wird oder kann es dem linken Gehirn nicht mitteilen, was
nicht stimmt oder nicht einmal, dass etwas nicht stimmt. Der Grund mag sein,
dass das linke Gehirn noch nicht voll entwickelt ist. Wenn wir älter werden,
geht das linke Gehirn lustig seinen Weg weiter, blind für das Leiden des
rechten Gehirns. Wollte man einen Psychopathen erzeugen, jemanden ohne wirkliche
emotionale Bindung, müsste man Vernachlässigung, Mangel an Körperkontakt und
Gleichgültigkeit am Anfang des Lebens zudiktieren. Dann schnellen die
Kortisolwerte im Baby in die Höhe und „fühlende“ Zellen beginnen zu
sterben. Die rechte Hemisphäre ist dann unfähig, den Schmerz anderer
mitzufühlen oder ihn auch nur zu sehen.
Früher Stress beeinträchtigt
die Verknüpfungen zwischen dem rechten Gehirn und dem Limbischen System und
verursacht einen Dominanzwechsel von links nach rechts. In unserer
Forschungsarbeit mit Dr. Erik Hoffman und Dr. Leonid Goldstein von der Rutgers
Universität fanden wir eine Normalisierung und eine größere Ausgeglichenheit
zwischen den Hemisphären nach einem Jahr Primärtherapie.8 Hoffman
schreibt: „Im Verlauf der Therapie werden die bilateralen Amplituden
symmetrischer.“ 9 Das Gehirn befindet sich in größerer
Harmonie. Bei eingeprägtem Schmerz scheint es zu einer Asymmetrie zwischen den
Hälften zu kommen, die vielleicht auf unterschiedlich starken Druck aus
tieferen Ebenen zurückzuführen ist. Der Druck scheint auf der rechten Seite
größer zu sein. Therapie hilft, die Symmetrie wieder herzustellen.
Leute, die ein
beeinträchtigtes Rechtshirn haben, können ein „hölzernes“ Gesicht,
Ausdruckslosigkeit oder Teilnahmslosigkeit an sich haben. Vielleicht fehlte
ihnen in der Kindheit eine spontane, warmherzige, empfängliche Beziehung mit
ihren Eltern. Im weiteren Verlauf kippt das Gehirn zur linken Seite hin, weil es
die Gefühle vergräbt. Die linke Seite denkt analytisch bis ins kleinste Detail
über äußere Angelegenheiten nach, im Gegensatz zur rechten, die
Selbst-Bewusstheit organisiert. Die linke Seite achtet nur auf den Text,
während das rechte Gehirn sich zu der Musik bewegt.
Die rechte Hemisphäre ist in
jegliche Art von Psychopathologie schuldhaft verwickelt, von Autismus bis
Psychose und Depression. Bei Angstzuständen ist es das rechte Gehirn, das
hochaktiv ist. Reaktivierung früher Erinnerungen stimuliert das rechte Gehirn
und seine limbischen Ergänzungen.10 Kleinkinder, die schrien,
wenn sie von ihren Müttern getrennt wurden, zeigten größere rechtsfrontale
Aktivierung als die Kinder, die nicht schrien.11 Aber um genau
zu sein: Auch das linke Gehirn hat man mit Schizophrenie in Zusammenhang
gebracht. Ich denke, das hat eine Menge damit zu tun, dass das linke Gehirn tut,
was es kann, also paranoide Ideen gebraucht, um mit den Gefühlen von der
anderen Seite fertig zu werden.
Seite 121
Es ergibt einen Sinn, dass die rechte Hemisphäre so
vielen unterschiedlichen Störungen zugrunde liegt, da sie durch frühes Trauma
und fehlende Liebe Schaden erleidet. Beim Wiedererleben dieser frühen Traumen
ist hauptsächlich diese Hemisphäre beteiligt. Eine stattliche Reihe von
Krankheiten psychischer und physischer Art wurzelt in fehlender Berührung und
Zärtlichkeit am Anfang des Lebens, in ungesunden Gewohnheiten der austragenden
Mutter, in den chaotischen ersten paar Jahren des Lebens und in schweren
Geburten, die den massiven Einsatz von Anästhesie erfordern.
Die Wirkung hält bis ins
Erwachsenenalter an, wo dann vielleicht anhaltende Lernprobleme wie Dyslexie
auftreten. Ein Defizit im rechten Gehirn kann sich darauf auswirken, wie gut
jemand stabile Freundschaften schmiedet und wie leicht sie oder er starke
emotionale Bande entwickelt. Es ist nicht so leicht, mit einem Rechtshirndefekt
eine beständige warmherzige Beziehung zu unterhalten. Die linke Seite
argumentiert vernünftig und entschuldigt sich, und zwei Monate später gibt es
vielleicht einen weiteren gewaltigen Ausbruch der rechten Seite, die vergaß,
was die linke bei ihrer Entschuldigung gesagt hat. In einem zusammenhanglosen
Gehirn ist das linke Gehirn unfähig, das rechte zu kontrollieren. 12
Die rechte Hemisphäre befasst
sich im allgemeinen nicht mit Worten, zumindest nicht im komplexen Sinn von
Worten. Das ist logisch, zumal sie genötigt ist, mit präverbalen Traumen
fertig zu werden. Wenn meine Patienten lebendige frühe Szenen ‚anzapfen’,
folgt die Emotion gewöhnlich nach. Neurochemikalien wie Serotonin haben den
Informationstransfer von der rechten Seite zur linken blockiert und lassen den
Erwachsenen in einem Zustand zurück, in dem er keinen Zugang zu seinen
Gefühlen hat. Er glaubt, was immer ihm gesagt wird, weil er keine Gefühle mehr
hat, die ihn leiten könnten. Es gibt eindeutig ein Rechtshirn-Bewusstsein und
ein Linkshirn-Bewusstsein, aber vollständiges Bewusstsein erfordert beide.
Emotionales Gedächtnis (implizites
Gedächtnis genannt) gehört zum rechten Gehirn, während das Erinnern von
Fakten und Figuren (explizites oder deklaratives Gedächtnis genannt) zum linken gehört. Wenn meine
Patienten auf eine tiefere Bewusstseinsebene zurückgehen, kann sich das
überwiegend auf Bahnen der rechten Hemisphäre abspielen, die sie zu limbischen
Trakten hinabführen und von dort zum Hirnstamm. Unterdessen ist sich die linke
Hemisphäre nur vage bewusst, was in der rechten los ist. Wenn jemand auf die tiefste
Gefühlsebene hinabsteigt, kann das linke Gehirn ankoppeln und beginnen, das
frühere Verhalten der Person zu erklären.
Seite 122
Das linke analytische Gehirn
Das linke Gehirn analysiert
und folgert, kann Erinnerung aber nur auf abstrakte Weise abrufen. Wenn wir
versuchen, in der Therapie allein durch die Einsichten des linken Gehirns gesund
zu werden, betreten wir ein Gedanken-Labyrinth ohne Ausgang. Es bedeutet, nur
halbwegs gesund zu werden. Das linke wird gut angepasst sein, während das
rechte dem Emotionalleben entsprechend ein Durcheinander ist. Aber das linke
Gehirn kann noch immer mit einem Rechner umgehen, gute Noten bekommen und
erfolgreich arbeiten. Es ist nicht möglich, das linke Gehirn die Arbeit des
rechten Gehirns machen zu lassen. Wir müssen die verletzte Seite mit dem
Gehirn heilen, das verletzt wurde.
Wenn wir älter werden, entwickeln wir raffiniertere
linkshemisphärische Rationalisierungen für unsere Gefühle. Gedanken können
sich ändern, aber sie sind doch durch die Parameter der Gefühle und
Einprägungen eingegrenzt. „Du kannst keinem trauen“ ist das, was ein Zyniker jeden Tag ausagiert. Seine
Vorstellungen folgen seiner Vergagenheits-Geschichte. Wenn er niemals liebevolle
Eltern hatte und sich niemals sicher fühlte, wenn er Eltern hatte, die nie ihr
Wort hielten, dann traut er vielleicht anderen nicht. Viele Patienten haben
diese Erfahrung gemacht. Sie gehen vorsichtig zu Werke und können sich einer
Beziehung nicht voll hingeben. Auf diese Weise führt das linke Gehirn das
Diktat des rechten Gehirns aus; es führt Befehle aus, die aus einer
unsichtbaren, ungefühlten Quelle stammen.
Das rechte Gehirn fügt einer Situation Gefühl –
Bedeutung – hinzu. Roboter haben kein Gefühl; sie reflektieren nicht über
ihr Verhalten. Auch überwiegend vom Linkshirn dominierte Leute tun es nicht.
Die rechte Seite ist sich innerer Zustände bewusst, sie erkennt zum Beispiel,
was unsere Stimmungen verursacht. Die linke Seite ist sich der Außenwelt
bewusst und benutzt diesen äußeren Brennpunkt, um sich weit von Gefühlen
entfernt zu halten. Sie engagiert sich darin,
sich über den Punktestand beim Fußball, über die Entwicklung im
Basketball, über Kasseneinnahmen und ökonomische Trends auf dem Laufenden zu
halten. Sie kann auch fantastische Einsichten in der Psychotherapie loslassen,
ohne je das geringste zu fühlen. Wenn die Erinnerung des rechten Gehirns wieder
zum Vorschein kommt, kann sie durchaus wortlos sein, und sie beinhaltet den
innersten Kern des Schmerzes, weil der limbische Hippocampus und die Amygdala
geheime Leidensbotschaften zum Kortex losschicken.
Die linke Hemisphäre bleibt auf Distanz. Sie kann uns
sagen lassen: „Oh, wie schrecklich.“ Aber um zu fühlen und sich
einzufühlen und zu „wissen,“ wie schrecklich etwas tatsächlich ist,
brauchen wir die Kooperation und Assistenz der rechten Hemisphäre.
Seite 123
Die Wiedergewinnung emotionaler Erinnerung kommt durch
den Hippocampus der rechten Seite zustande. Er bringt Gefühle zum frontalen
Kortex, so dass es zu einer Verknüpfung kommt. Wir brauchen diesen frontalen
Kortex, um uns unseres inneren Zustands bewusst zu sein. Der frontale Kortex
kann mit Gefühlen alles Mögliche machen; das schließt ein, dass er sie
symbolisieren und in mystische Ideen umleiten kann. „Gott wacht über mich und
lässt nicht zu, dass mir Böses widerfährt,“ sagt ein Mensch, über den zu
Beginn des Lebens nie jemand gewacht hat und den nie jemand beschützt hat. Der
Schmerz/das Bedürfnis hat sich ins Gegenteil gewandelt: symbolische Erfüllung
durch eine Gottheit. Es ist eine Erfüllung, die der Kortex ausgeheckt hat,
indem er uns den trügerischen Glauben gibt, wir werden beschützt, obgleich dem
nicht so ist. Die Person fühlt sich sicher und beschützt, nicht von der
Gottheit, sondern von dem Wort „Gott“. Kortikale Ideen sind sehr gute
Hemmer.
Das Frontalhirn bewirkt, dass wir uns durch die
Freisetzung von Opiaten, die im obigen Fall durch die Idee „Gott“ ausgelöst
werden, „besser fühlen“. Wenn die Menge an Opiaten, die im System aktiv
sind, gemessen wird, finden wir, dass wir uns umso besser fühlen oder nicht
fühlen, je höher der Grad der Hemmung oder Schleusung ist. Es ist ein
Oxymoron: Nichts zu fühlen bewirkt, dass wir uns besser fühlen. Genau das
verwirrt so viele von uns. Der frontale Kortex ist sehr erfinderisch, wenn es
darum geht, mit Gefühlen fertig zu werden. Der linke Kortex kann beschließen:
„Liebe ist ein Mythos. Niemand braucht Erfüllung,“ während die rechte
Seite danach schreit. Dieser lautlose Schrei arbeitet sich durch das
Körpersystem, bis schließlich ein blutendes Geschwür, ein Schlaganfall oder
eine Herzattacke auftritt. Er erhöht den Blutdruck, weil das System für den
permanenten Kampf gegen einen unsichtbaren Feind - gegen katastrophale Gefühle
- hochschaltet.
Das Limbische System hat auf der rechten Seite des
Kortexes mehr zweibahnige Nervenfasernetze als auf der linken. Liebe trägt zur
Entwicklung dieser Hemisphäre bei. Ein umsorgtes Kind ist empathischer und
sympathischer, bereitwilliger, die Gefühle anderer anzuerkennen und zu
verstehen, so dass es eines Tages eine bessere Mutter oder ein besserer Vater
sein wird, weil es schon seit seiner frühen Kindheit die ausgeprägte
Fähigkeit zu fühlen besitzt. Frühe Liebe formt das Gehirn im wahrsten Sinne
des Wortes. Sie brauchen nicht zu resignieren. Sie können eine Menge tun, um
frühen Schmerz und seine Folgen zu reduzieren, auch wenn er nicht völlig
ausgelöscht werden kann.
Der Krieg im Gehirn zwischen Gedanken und Gefühlen
Gedanken können an
eingeprägten Gefühlen nichts ändern. Es ist kontra-evolutionär, verkehrte
Logik. Das Gehirn hält sich an seine Evolution: Die rechte fühlende
Hemisphäre war und ist vor der kritisierenden linken entwickelt. Gefühle
Seite 123
Frontalbereich aufsteigende
als vom frontalen Kortex absteigende Bahnen. Gefühle gehen der Entwicklung von
Gedanken voraus und sind stärker; wohingegen die dem Hirnstamm eingeprägten
Empfindungen weitaus stärker als Gefühle und Gedanken zusammen sind, weil sie
mehr mit dem Überleben in Verbindung stehen.
Was geschieht mit unseren Gefühlen? Der emotionale
Schmerz im limbischen Areal bewegt sich zum Kortex, damit wir uns seiner bewusst
werden. Aber er wird von einer Reihe von Strukturen blockiert und abgelenkt,
nicht zuletzt vom Thalamus. Er bewegt sich dann in Richtung Assoziationskortex,
wo die Gefühle zerhackt und neu definiert werden. „Ich bin nicht wirklich
eifersüchtig. Ich bin nicht wütend.“ Sie werden entschärft. Unterdessen
greift unsere Hand sofort nach einer Zigarette, um das System ruhig und die
Verdrängung aufrecht zu halten.
In einer Studie der Kinderärzte R. J. Harmon und
Paula D. Riggs wurde fünf Kindern im Vorschulalter mit posttraumatischem
Stress-Syndrom Clonidin (ein Hirnstammblocker) verabreicht. Die Kinder wurden
weniger aggressiv und impulsiv, erlebten weniger emotionale Ausbrüche und
schliefen besser.13 Clonidin ist bei der Behandlung von
Erwachsenen mit Angst- oder Zwangsstörungen sehr effektiv, weil die Wurzeln der
Angst in primitiven Gehirnstrukturen liegen, die Einprägungen aus der fernen
Vergangenheit verarbeiten. All das bekräftigt tendenziell unsere klinischen
Forschungsresultate, dass sehr frühe Einprägungen Regionen des Hirnstamms
beeinträchtigen und die Grundlage so vieler späterer Symptome bilden. Die
Symptome können sich von Person zu Person unterscheiden, aber die Startrampe
ist die gleiche.
Bei zwanghafter Besorgtheit kann es sein, dass der
Thalamus und die Amygdala der rechten Seite zusammen mit dem retikulären
Aktivierungssystem zu viel Input zu höheren Zentren und insbesondere zum linken
Frontalbereich zulassen, was den Kortex zu Überstunden veranlasst. Die Gedanken
treiben die Person nicht zum Wahnsinn; die Gefühle treiben die Gedanken, was
die Gedanken dann verrückt erscheinen lässt. Furcht aus einem frühen Trauma
bahnt sich seinen Weg zum frontalen Kortex. Ein Teil des Leidens gelangt durch
die Schleuse und erreicht den frontalen Kortex, wo es in ständige Besorgtheit
übersetzt wird: „Was , wenn ich einen Autounfall habe?“ „Wenn es ein
Erdbeben gibt?“ „Und wenn ich meinen Job verliere?“ Die schlechte
Nachricht hat sich bereits ereignet. Wenn der Schmerz noch stärker ist, können
die Gedanken in den bizarren Bereich ausstrahlen wie zum Beispiel: „Ich weiß,
es wird jeden Augenblick ein Erdbeben geben, und Kalifornien wird im Meer
versinken“.
Seite 125
Das Gehirn ist in der Tat eine wundersame Struktur in
dem Sinne, dass es uns vor Schlimmem bewahrt, und in dem Sinne, dass die eine
Hälfte nicht weiß, was die andere Hälfte gerade vorhat; eine Zweiteilung, die
als weiterer Überlebensmechanismus
dient. Die Neuronen, die mit einer Art Gallert gefüllt sind, wissen, wann
Gefahr im Verzug ist, und konstruieren die Kräfte, die sie zurückschlagen.
Dieses Gallert kann farbenprächtige Bilder hervorzaubern und einen Teil des
Gehirns „anweisen“, Schmerztöter zu produzieren. Letztlich ist es nur ein
Stück Materie. Aber was für außergewöhnliche Kräfte!
Solange wir nicht unter den Kortex gehen, werden wir
weiterhin dem Trinken, Stehlen, den Migränen, Geschwüren, Drogen und was immer
Sie haben zum Opfer fallen. Es steht zur Wahl: Entweder wir lassen die Gefühle
nach oben zur Verknüpfung kommen und verbinden die rechte Seite des Gehirns mit
der linken, oder wir unterdrücken sie, indem wir sie ignorieren, sie umleiten,
betäuben oder indem wir uns selbst glauben machen, dass sie nicht existieren.
Das ist das Dilemma, mit dem sich jede Psychotherapie auseinandersetzen muss.
Wann immer tiefer Schmerz ignoriert wird, ist das gleichbedeutend damit, unsere
Physiologie zu verleugnen.
Meine Kollegen und ich führten 1984 in England in
Verbindung mit Open University und St.Bartholomews Hospital, London,
Imipramin-Messungen durch. Es war eine Doppelblindstudie, die von Professor
Steven Rose von der Open University geleitet wurde, unter Mitarbeit von
Professor Bernard Watson vom St. Bartholomews.
Wir maßen die Imipramin-Bindung an Blutplättchen.
Imipramin ist ein Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer und ebenso ein
Norepinephrin-Hemmer*, also nahmen wir an,
die Vorgänge im Blutsystem würden mit den Vorgängen im Gehirn
übereinstimmen. Wenn wir von Aufnahme-Hemmern reden, brauchen wir nur zu
wissen, dass das Endresultat mehr Serotonin und Epinephrin in der Synapse ist,
und das bedeutet bessere Verdrängung oder Hemmung. Bei Depressiven ist die
Imipramin-Bindung geringer.
Blutplättchen ähneln in biochemischer Hinsicht den
Neuronen, was den Besitz von Stellen zur Transmitteraufnahme und
Transmitterbindung einschließt. Die Werte stiegen im Verlauf unserer Therapie
an, so dass sich die Imipramin-Bindung an Blutplättchen, obwohl sie bei
Depressiven geringer ist, in unserer Therapie normalisiert. Mit der
Normalisierung stieg dann die Antischmerz- und Antiangstkapazität der
Patienten. Das Verdrängungssystem arbeitete besser.
Hier sind Professor Roses Schlussfolgerungen:
________________________________
* Wenn
ein „Aufnahme-Hemmer“ in Aktion ist, bedeutet dies, dass die chemische
Substanz Serotonin nicht aufgenommen oder nicht
zurückgenommen wird. Das Resultat: mehr Serotonin in der Synapse, um die
Verdrängung zu fördern.
__________________________
Seite 126
1.
Selbstbezogene Individuen zeigen zu Anfang der Psychotherapie einen
Bindungsgrad von 3H-Imipramin an Bluttplättchen, der ungefähr die Hälfte des
Wertes einer Kontrollgruppe von selbstdefinierten normalen Versuchspersonen
beträgt, die nicht in Therapie sind.
2.
Sechs Monate nach Beginn einer primärtherapeutischen Behandlung hatte
sich ihr durchschnittlicher Imipramin-Bindungsgrad erhöht, bis er nicht mehr
von den Kontrollwerten zu unterscheiden war, und diese Erhöhung hielt weitere
sechs Monate an.
3.
Elf von zwölf Versuchspersonen zeigten während dieser Periode
Verbesserungen der Punktezahl auf einer willkürlichen psychischen
Bewertungsskala, und es gab eine positive Korrelation zwischen dieser
verbesserten Bewertung und erhöhter Imipramin-Bindung.
Wenn wir Imipraminbindung
diskutieren, müssen wir uns „Serotonin“ denken (oder noch leichter:
„Prozac“). Wir messen etwas, das, wie wir glauben, im Gehirn nachgemacht
wird. Die Bedeutung dieser Forschung liegt darin, dass neue Patienten, die oft
äußerst ängstlich sind, eine niedrige Bindung aufweisen. Wenn die Therapie
jedoch fortschreitet, kommen sie auf normale Werte. Durch die Auflösung von
Gefühlen wird ihr Verdrängungssystem effektiver. Deshalb sind sie ruhiger und
entspannter, was wir durch unseren Fragebogen herausfanden.
Diese Studie repräsentiert nach unserem Wissen den
ersten Versuch, eine biochemische Messung, die in der biologischen Psychiatrie
allgemein gebräuchlich ist, auf eine psychotherapeutische Behandlung zu
beziehen. Sein positives Ergebnis sollte zu ausgedehnteren experimentellen und
theoretischen Studien biochemischer Kennzeichen in der Psychotherapie ermutigen.
Wer soll sagen, dass ich mich nicht gut fühle, wenn
ich mich tatsächlich gut fühle? Der Körper soll es, weil er vielleicht
aufgrund dieser Selbsttäuschung einer Herzkrankheit, einem Geschwür oder
Schlaganfall erliegt. Es mag sein, dass wir rauchen wollen, egal, was die
Forschung sagt. Unser Kortex wird sich dafür einen Grund suchen. Wir
argumentieren, dass ein Raucher in Russland 110 Jahre alt geworden ist, bringen
uns selbst zu der Überzeugung, es sei möglich, ohne Schaden davonzukommen. Das
Bedürfnis, den Schmerz zu unterdrücken, ist übermächtig; niemand ist
schlauer oder stärker als dieses Bedürfnis, und niemand setzt sich je darüber
hinweg. Es ist Grundlage des Überlebens. Wir müssen daran denken, dass
Selbsttäuschung Teil des Abwehrapparats und somit zwingend notwendig ist, genau
wie es die Wahnvorstellungen des Paranoiden sind. Nichts ist so grenzenlos wie
Selbsttäuschung. Es ist Teil der menschlichen Existenzbedingung. Wir sollten
noch einmal nachdenken, ehe wir unsere Patienten hinsichtlich ihrer sonderbaren
oder irrationalen Ideen eines Besseren belehren, weil hier der Kortex versucht,
unsichtbare und unbekannte Kräfte zu rationalisieren.
Seite 127
Nolan
Ich kam wegen der
Primärtherapie von Australien nach Venice, Kalifornien, weil ich immer
unglücklich, alleine und ängstlich war und mich vor den Leuten versteckte. Ich
war nicht in der Lage, mich zu ändern. Achtzehn Jahre lang war ich schwerer
Trinker, um Erleichterung zu finden und um es bei Leuten auszuhalten. Aber
schließlich war alles zu viel - mein Verhalten, meine Schuldgefühle und die
gräßlichen Kater hinterher. Ich ging zu den Anonymen Alkoholikern, aber nach
neun Jahren Nüchternheit im Zwölf-Schritte-Programm und nach vielen
verschiedenen Therapeuten war ich verzweifelt. Als ich Dr. Janovs Bücher las,
kam in mir Hoffnung auf. Ich war wütend auf meine Eltern. Mit meiner Lohntüte aus elf Jahren
Arbeit kam ich hierher – was erstaunlich für mich war, weil ich so viel Angst
hatte, alleine wohin zu gehen. Die Hoffnung auf ein glückliches Leben bedeutete
mir alles. Ich bin nun seit zwei Jahren hier und zu einem großen Teil bestand
die Therapie darin, mehr über mich selbst zu erfahren.
Es ist unglaublich, aber mir war nie klar, wie
ängstlich und deprimiert ich immer gewesen war. Jahrelang habe ich versucht,
alle meine Probleme durch Trinken zu lösen. Das war eine große Abwehr, um
nicht fühlen zu müssen, wie sehr ich litt. Ich hatte immer Streit mit Leuten
und war unfähig, mit den Gefühlen umzugehen. Entweder ging ich gekränkt weg
oder ich attackierte sie rasend vor Wut. Wenn ich nun den Schmerz eines
gegenwärtigen Ereignisses fühle und ihn zu ähnlichem Schmerz in der
Vergangenheit zurückverfolge, kann ich verstehen, warum ich so sehr leide. Es
befähigt mich auch, näher bei Menschen zu sein. Zum Beispiel sagte mir eine
meiner Zimmergenossinnen hier, dass ich ihr Freund sei und dass sie mich möge
– magische Worte für mich. Es bedeutet alles für mich, gemocht und
erwünscht zu sein.
Wir wurden Freunde, aber allmählich begriff ich, dass sich unsere Beziehung allein um ihre Bedürfnisse drehte. Dass sie das zu mir gesagt hatte, damit ich mich um sie kümmern würde. Ich erkannte, dass meine Gefühle nicht zählten. Schließlich explodierte ich in der Gruppensitzung und fühlte die ganze Frustration und den ganzen Ärger. Ich wollte, dass sie für mich da ist, so wie ich für sie da war. Durch diese Beziehung konnte ich zurückzugehen und fühlen, wie meine Mutter all die richtigen Worte sagte, sich aber nicht um mich kümmerte – all den Schmerz, nicht erwünscht zu sein – und wie ich darum kämpfte, dass sie mich liebte.
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Das Schlimmste an dieser Therapie ist, fühlen zu
müssen, wie sehr ich meine Eltern lieben wollte und wie sehr ich es brauchte,
dass sie das wissen. Aber sie mochten mich nicht. Das hat alle meine Beziehungen
beeinträchtigt. Es fühlt sich für mich an wie der Tod – ungewollt zu sein.
Vor kurzem fühlte ich, wie sehr ich wollte, dass meine Tante Maisie mich zu
sich nahm. Ich liebte sie und wusste, dass sie mich wirklich mochte. Ich war
erst drei Jahre alt und wusste schon damals, dass meine Eltern mich nicht
wollten. Mein ganzes Leben drehte sich um Unglück und Hoffnungslosigkeit. Indem
ich zurückgehe und den Horror meiner Kindheit fühle, gibt es mir Hoffnung auf
eine Zukunft. Mein Vater beging Selbstmord - und ich fühlte, dass ich auch
darauf zusteuerte. Da ich mehr von meinen Gefühlen erlebe, komme ich meinen
Kindern näher. Vor der Therapie war es zu schmerzvoll, bei ihnen zu sein, weil
es meine eigenen Gefühle auslöste. Indem ich diese Gefühle mit meiner
Beziehung zu meinem Vater verknüpfe, kann ich sie nun mehr sie selber sein
lassen und ihnen zuhören.
Ich möchte ein liebevoller Vater sein – mein Vater
schien mich zu hassen. Es erreichte eine Phase, in der er mich mied, wo immer es
möglich war. Ich war am Boden zerstört. Ich war in der Gruppe und redete über
meine Kinder. Ständig und immer wieder sagte ich: „Es tut mir Leid“. Ich
hatte ein Bild in meinem Kopf, wie ich sie in meinen Armen hielt, und dennoch
hatten sie Schmerzen. Ich begriff, dass ich derjenige war, der sie verletzte.
Das ließ mich losschluchzen. Später hatte ich eine Erinnerung, wie ich in
einem Laufstall war und sah, wie meine Eltern die Tür schlossen und mich allein
ließen. Ich weinte und flehte sie an, mich nicht zu verlassen: „Ich tue alles
– aber verlasst mich nicht.“ Der Schmerz darüber, nicht erwünscht zu sein,
war zu viel – alles lieber als das.
Nachdem ich mich ausgeruht hatte, verspürte ich Erleichterung darüber, den Schmerz
gefühlt zu haben, und hatte ein paar Einsichten: Wenn meine Kinder mich
brauchen, bringt es mein Bedürfnis nach meinen Eltern hoch, und ich laufe
davon, genau wie meine Eltern es taten. Indem ich fühle, wie sehr ich leide,
bin ich, wie mir scheint, viel mitleidsvoller mit meinen Kindern.
Es fällt mir so schwer, mich in Bewegung zu setzen.
Ich warte immer ab. Dadurch, dass ich mehr in Kontakt mit meinem Körper bin,
lerne ich, mich in meinem eigenen Tempo zu bewegen. Vorher leugnete ich immer
die Gefühle, dass ich aufgeben wollte. Ich war getrieben. Ich konnte nie
entspannen. Ich konnte nie genug tun, um meinen Vater zu erfreuen. Jetzt komme
ich dem Gefühl näher, dass es alles zu viel ist. Ich fange an, um Hilfe zu
bitten – zu akzeptieren, dass ich sie brauche. Es war mir schon ganz am Anfang
eingeimpft worden, dass ich um nichts bitten sollte – stark sein und keine
Anzeichen von Schwäche zeigen. Nun
ist es so eine Erleichterung, dass ich endlich menschlich sein kann. Dass ich
über meinen ganzen Schmerz weinen und schluchzen kann.
Seite 129
Für mich geht es in der Primärtherapie darum, meine
Erlebnisse in der Vergangenheit mit meinem gegenwärtigen Verhalten zu
verknüpfen – die wunderbare Erleichterung von: „Oh, deshalb mache ich
das!“ Ich begreife allmählich, warum ich so viel Angst vor den Leuten habe,
indem ich die Gefühle wiedererlebe, wie schrecklich die Angst war, die ich vor
meinem Vater hatte – totaler Schrecken, der mich lähmte. Ich dachte, ich sei
ein Feigling, weil mich das Gefühl so total durchdrang. Ich lerne, dass ich
tatsächlich funktionieren kann, auch wenn ich Angst habe. Vorher waren die
Gefühle so überwältigend, dass ich handlungsunfähig war. Jetzt weiß ich, es
sind Gefühle und ich weiß, woher sie kommen und wie sie mich beeinträchtigen.
Es ist nicht leicht, aber nach und nach schaffe ich es.
Ich kehre immer wieder zur Primärtherapie zurück,
weil ich ein voll fühlender Mensch sein will. Vorher habe ich überlebt, nicht
gelebt. Ich fühle mich, als wäre ich eingefroren und taute langsam auf. Nach
jahrelanger Suche glaube ich, dass dies der richtige Weg für mich ist.
Roger
Warum Primärtherapie? Die
Antwort schien so offensichtlich, dass ich es niemals richtig durchdacht hatte.
Warum durch all diesen Schmerz gehen? War es nicht beim ersten Mal schon schlimm
genug? Warum ihn ausgraben? Welcher Vorteil lässt sich erzielen? Ich werde
versuchen, während des Schreibens an diese Fragen zu denken.
Ich fange damit an, dass ich Ihnen von meiner
jüngsten Sitzung erzähle. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich nun seit
ungefähr sechzehn Monaten in der Therapie bin. Es war eine unglaubliche Reise.
20.
April
Ich begann vorige Woche in der
Gruppe davon zu erzählen, wie unehrlich meine Chefin meinem Empfinden nach
gewesen war. Sie hatte jedem erzählt, wie gut sie ihre Angestellten behandle.
Es hatte mich damals nicht gestört, aber an diesem Morgen quälte mich die
Nachricht, dass sie mich aus meinem Job feuern wolle. Ich hatte nichts falsch
gemacht. Es schien so unfair. Sie traute mir nicht. Ein paar Tage zuvor hatte
sie meine Bezahlung kürzen wollen, wegen einer Sache, die nicht mein Fehler
war. Ich erhob mich gegen sie, aber ich fühlte mich schuldig, als hätte ich
etwas Falsches getan. Ich wollte ihr wirklich sagen, dass sie mir Unrecht tat
– mich alleine zu lassen. Eine Therapeutin ermutigte mich, und ich geriet
sofort in Wut.
Seite 130
Sie platzte aus meinem Bauch heraus, füllte meine
Arme und Beine aus – unglaubliche Wut. Ich wollte einfach, dass sie damit
aufhört. Ich beruhigte mich, und dann schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte
mir immer gewünscht, eine solche Wut zu bekommen – machtvoll in meinem Umgang
mit Leuten zu sein.
Mir wurde klar, dass ich mich immer schuldig gefühlt
hatte, wenn mich eine Autoritätsperson zur Rede gestellt hatte, auch wenn ich
nichts falsch gemacht hatte. Sie müssen mich als Kind dazu gebracht haben, dass
ich mich so schlecht fühle. Die Wut und die Frustration war noch immer da. Ich
wollte alles in Stücke reißen. Ich begann, heftig und unkontrolliert zu atmen.
Ich ging mit dem Gefühl mit. Die Frustration brachte mich um. Mein Körper
krümmte und streckte sich. Mir war, als könnte ich nicht atmen. Dann
reißender Husten, der bis zu meinem Unterbauch hinabreichte.
Als ich da raus kam, hatte ich plötzlich eine gewisse
Lücke. Es fühlte sich so vertraut an – klein sein und gesagt bekommen, ich
sei schuldig und schlecht. Dann kam es mir wie ein Schatten in den Sinn: „Es
ist, wie wenn mein Vater mich schlägt.“ Ich war beschämt und wollte nicht
darüber reden. Ich rollte mich zusammen. Ich weinte jetzt. „Bitte Papi,
bitte. Es tut mir Leid, Papi.“ Ich
fühlte mich so schuldig. Es machte mich betroffen, wie viel mir mein Vater
bedeutete. Ich würde alles für ihn tun. Er war riesig. Er war alles. Ich
liebte ihn so sehr. Ich hatte nichts wirklich Schlimmes getan – vielleicht
zuviel Lärm gemacht. Gewöhnlich wachte er aus seinem Nachmittagsschlaf auf und
kam über uns wie ein wahnsinniges Tier, verdrosch zuerst den von uns, der ihm
gerade am nächsten war. Ich konnte mich beobachten sehen, wie mein Bruder
verprügelt wurde, und ich konnte den qualvollen Ausdruck in seinem Gesicht
sehen. Ich wusste, ich würde als nächster drankommen. Ich bettelte: „Tut mir
Leid, Papi“, und rollte mich zusammen, um mich selbst zu schützen. Ich ließ
so viel davon zu, wie ich konnte.
Ich wollte wirklich, dass jemand den ganzen Schmerz
wegnimmt. Ich dachte an meine Mutter. Sie beschützte mich nicht. Sie hatte
ebenso Angst vor meinem Vater. Ich war sprachlos. Wie konnte sie das tatenlos
zulassen? Sie ist meine Mutter. Ich konnte es nicht fassen. Ich hörte für eine
Weile zu weinen auf und lag einfach da. „Ich fühle mich noch immer
traurig“, sagte ich zu meiner Therapeutin. Ich bat sie, mich zu halten und
ließ mich einfach gehen. Ich versank in furchtbarer Verlassenheit.
Nach dem Weinen redete ich ruhig darüber, was bei
meiner Chefin passiert war. Ich wusste, dass ich mich in Zukunft gegen sie
behaupten müsste. Es war noch immer schwer für mich, dass ich das tun musste
– dass ich sie nicht ändern konnte – aber es war in Ordnung.
Wie also hilft es mir, wenn ich Gefühle wie diese wiedererlebe? Nun, ich hörte sofort auf, mir über die Situation am Arbeitsplatz den Kopf zu zerbrechen, und fühlte mich ganz wohl mit meiner Chefin, als ich sie nächstes Mal sah. Ich weiß, es wird wieder geschehen.
Seite 131
Ich werde mein ganzes Lebensmuster
nicht in einer einzigen Sitzung verändern. Aber nächstes Mal wird es ein
bisschen leichter sein. Der Punkt ist, dass das Wissen über die Ursachen das
Verhalten nicht ändert. Als ich mich nervös gegen meine Chefin erhob, ging mir
als letztes die Art durch den Sinn, wie meine Eltern mich behandelten. Zu diesem
gegenwärtigen Zeitpunkt konnte ich die Verknüpfung nicht herstellen. Diese
Therapie macht es mir möglich, dem Gefühl von der Gegenwart zu den wirklichen
Ursachen in der Vergangenheit zu folgen. Ich kann dann die Verknüpfung
herstellen und den ganzen Schmerz hinausschreien, der verhindert hatte, dass ich
normal auf meine Chefin reagieren konnte. Vor der Therapie wusste ich, dass mein
Vater mich schlug und dass meine Mutter schwach war und nie da, aber das
änderte nichts daran, wie machtlos ich mich fühlte, wenn eine
Autoritätsperson mich zur Rede stellte. Die Fakten waren nicht unbewusst - aber die Wahrheit war es. Nur die
Verknüpfung zu Gefühlen wie diesen ändert etwas.
Ich erkenne auch, wie wenig ich über mein eigenes
Verhalten wusste. Ich dachte, ich funktioniere gut. Die meisten Freunde, die
wussten, dass ich in die Primärtherapie gehe, konnten nicht verstehen warum.
Ich schien gut anpepasst und hatte eine enge und beständige Beziehung zu meiner
Frau. Es war ein Akt, und zwar einer, an den ich beinahe selbst glaubte. Meine
Freunde sahen nie die Wutausbrüche, zu denen ich neigte. Oft unterrichtete ich
eine Klasse von Zwölfjährigen und geriet plötzlich in Wut. Gewöhnlich
bestand der Auslöser darin, dass meine Autorität von einem Kind in Frage
gestellt wurde. Wenn dann die Situation zunehmend frustrierend wurde, drehte ich
gewöhnlich durch. Ich hatte zu der Zeit keine Ahnung, dass dies etwas mit
meinen eigenen Erfahrungen als Kind zu tun hatte. Gewiss assoziierte ich es
nicht mit den Schwierigkeiten bei meiner Geburt.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind von
Superhero-Comics fasziniert war und später von dem Gedanken besessen war, stark
zu sein und meinen Körper aufzubauen. Jedoch schien es, dass ich nie stark
genug war. Ich konnte noch immer verletzt werden. Als junger Erwachsener las ich
Bücher darüber, wie man Freunde gewinnen und Leute beeinflussen konnte. Ich
war auf dem Weg, meine Erwachsenen-Persönlichkeit zu entwickeln. Nach und nach
schob ich die schmerzvollen Erinnerungen meiner Kindheit beiseite. Erst seit den
letzten paar Monaten bin ich wieder bereit, meine Eltern in mein Leben
zurückkehren zu lassen – einzugestehen, dass ich sie noch immer brauche und
liebe. Ich sehe sie in klarerem Licht. Ich weiß, dass ich vielleicht anfangen
sollte, ihnen Fragen zu stellen, zum Beispiel, warum sie sich scheiden ließen.
Ich habe es nie wirklich erfahren. Nun könnte ich vielleicht wagen, wozu ich
damals nie in der Lage war.
Vor der Therapie klammerte ich mich an die Hoffnung, dass sich die Dinge für mich eines Tages wunderbarerweise ändern würden. Ich wollte, dass es jemand für mich machen würde. Ich agierte das in meinen Beziehungen aus. Auch die Therapie wurde zum Bestandteil dieser Hoffnung.
Seite 132
Ich musste die Hoffnungslosigkeit fühlen - die
bis zu meiner Geburt zurückreicht - um alles zu ändern. Bei meiner Geburt
brauchte ich „jemanden, der es für mich machen würde,“ der mich ins Leben
bringen würde. Ich schaffte es nicht alleine. Das Fühlen des Erlebnisses, dass
ich von den Medikamenten im System meiner Mutter nach einem gewaltigen Kampf,
auf die Welt zu kommen, gelähmt worden war – das hat mir in der Gegenwart
eine gewisse Freiheit gegeben, Dinge in Bewegung zu setzen. Ich habe das
Bedürfnis nach Hilfe hinausgeschrien, und dadurch konnte ich anfangen, mir
selbst zu helfen. Ich weiß, niemand wird es für mich machen. Es ist der Anfang
des Erwachsenwerdens. Der Anfang der Freiheit.
Gegenwärtig verspüre ich einen neuen
Kreativitätsschub. Ich war ein Maler und jahrelang haderte ich mit meiner
Kunst. Ich hatte Tage, an denen ich mich wie Picasso fühlte, gefolgt von Tagen,
an denen ich mich wertlos fühlte. Das Wiedererleben der Höhen und Tiefen
meiner Geburt hat diesen Kampf vermindert. Ich weiß, ich benutzte meine
Talente, um für meine Eltern etwas Besonderes zu sein. Ich habe über dieses
Bedürfnis geweint. Ich wollte etwas wert sein – geliebt werden, ohne mich
darum bemühen zu müssen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl,
etwas machen zu können, ohne mir selbst einzureden, dass es nicht gut genug
ist. Dass ich nicht gut genug bin. Ich kann sogar diesen Artikel hier schreiben,
ohne von dem Gedanken gelähmt zu sein, dass es nicht der richtige Stil sei. Es
ist ein großartiges Gefühl. Die Dialektik ist überall in dieser Therapie
sichtbar – je mehr ich die Vergangenheit fühle, desto mehr kann ich in der
Gegenwart machen.
Warum also Primärtherapie? Warum diese alten Gefühle
ausgraben? Ich denke, die einfache Antwort lautet: weil ich jetzt fühlen kann.
Ich hatte vor der Therapie keine Ahnung, was das bedeutet. Ich lebe nicht mehr
in meinem Kopf oder in den furchtbaren Empfindungen meines Körpers. Ich kann
jetzt zu den Leuten so sein, wie ich es zuvor nie konnte.
______
Die Schmerzkette
Lange Nervenbahnen erstrecken
sich vom Hirnstamm und limbischen System zum frontalen Kortex. Wenn ein
aktuelles Ereignis eine traumatische Erinnerung der Vergangenheit auslöst,
weiß das Gehirn nur eines zu tun: entweder die Nachricht zu übergeben oder
abzuschalten. Wenn jemand kritisiert wird und große Angst fühlt, kann das
zugrunde liegende Gefühl sein: „Ich bin schlecht, und ich werde nicht geliebt
werden (von meinen Eltern).“
Wenn in Ihrem Hirnstamm eine rohe, unverarbeitete Empfindung eingeprägt ist, muss sie, wenn sie aufgelöst werden soll, erkannt, benannt und integriert werden – das heißt, man muss sie erleben. Nicht wiedererleben, sondern zum ersten Mal erleben. Die Erinnerung kann im Kortex mit absoluter Klarheit enthalten sein, aber die
Seite 133
Leidenskomponente, die subkortikal gespeichert
wird, ist nur zum Teil erlebt worden. Wenn ein Bluterguss aus einer Tracht
Prügel im Alter von sechs Jahren auf dem Körper einer erwachsenen Patientin an
derselben Stelle wieder erscheint, sehen Sie, dass Erinnerung von den Jahren der
Erfahrung unangetastet bleibt und dass Aspekte der Erinnerung ein Leben lang
verborgen bleiben können. (Fotos davon erschienen in früheren Werken des
Autors.) Letztlich wird Ihnen klar, dass Erinnerung weit mehr ist als
intellektuelles Abrufen.
Kommt eine Erinnerung einmal zum Vorschein, scheint
sie alle verwandten Traumen aus den Tiefen des Gehirns mitzubringen und
überwältigt dadurch den Menschen. Der Kortex kann einfach die verschiedenen
Arten des Traumas nicht auseinander halten und nicht speziell auf jedes einzelne
in der richtigen Zeitfolge reagieren. Wir können bei unserer Arbeit
Beruhigungsmittel verabreichen, um die tieferen Aspekte der Schmerzkette zu
unterdrücken, so dass man spätere weniger traumatische Verletzungen fühlen
und integrieren kann. Wir wenden Medikamente lediglich als Zwischenstation auf
dem Weg zur Auflösung an. Sie sind nicht die Therapie und nicht das Endziel,
aber wir wollen jede Chance nutzen, dass die Therapie gelingt. Die Medikamente
dienen als Ersatz für die Entbehrung früher liebevoller Pflege und Berührung.
Sie sind wahrlich das, was mit der Gehirnchemie geschehen wäre, wenn es frühe
Liebe gegeben hätte.
Eine Patientin von mir fing in einer
primärtherapeutischen Sitzung nach ungefähr einem Jahr Therapie an, sich
schwach zu fühlen. Es war eine Frau, die in ihrem Leben ständig in Bewegung
war, aber jetzt konnte sie sich kaum bewegen, kaum atmen. Zuerst ging sie durch
ein Gefühl, in dem sie alles versuchte, die Liebe ihrer Mutter zu bekommen,
aber nichts half. Zwei Stunden später glitt sie voll in den Zustand von
Schwäche und Hilflosigkeit, den sie bei der Geburt erlebte, nachdem sie
anästhetisiert worden war (durch die ihrer Mutter verabreichten Medikamente)
und nichts hatte tun können, um sich selbst zu helfen. Wir ermutigten sie, sich
von dem Gefühl der Erschöpfung völlig überwältigen zu lassen.
Ihre ständige Aktivität in ihrem gegenwärtigen
Leben hatte den Zweck zu verhindern, dass sie diese Hilflosigkeit fühlte. Sie
musste sich immer auf Trab halten mit diesem oder jenem Projekt, um sich das
Gefühl der Hilflosigkeit vom Leib zu halten. („Ich kann an meiner Situation
nichts ändern“).
Die Empfindung von Schwäche, die meine Klientin
verspürte, verstärkte sich durch ihr Verhältnis mit ihrer Mutter. Ihr Vater
hatte die Familie nach ihrer Geburt verlassen, und die Mutter musste arbeiten
gehen, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Sie ließ ihren Zorn an ihren
Kindern aus, gab ihnen an allem, was schief ging, die Schuld. Von Anfang an
hatte meine Patientin das Gefühl, dass sie im Weg stand. Dieses Gefühl war von
Dauer. Als Erwachsene hielt sie sich in der Gruppe zurück und entschuldigte
sich ständig für alles, was sie tat oder sagte.
Seite 134
Diese Frau kämpfte so sehr darum, geliebt zu
werden, dass sie die Tiefen des Ungeliebtseins nie wirklich fühlte. Ihr
Verhalten glich einem verzweifelten Spurt, der sie von ihren Gefühlen fern
hielt. In unseren Sitzungen unterbanden wir ihre Versuche, die „perfekte“
Patientin zu sein, und das brachte ihre Ängste, unerwünscht zu sein, an die
Oberfläche.
Weil die ursprünglichen traumatischen Empfindungen in
den limbischen Gefühlszentren ausgearbeitet und später im frontalen Kortex
repräsentiert werden, müssen wir erst mit der Wahrnehmung von Schwäche (die
Empfindung) in der Gegenwart beginnen, dann der Patientin gestatten, voll in die
Empfindung der Müdigkeit zu fallen und von da in die Hilflosigkeit (das
ursprüngliche Trauma) und die Erschöpfung. Wenn die Patientin mit einer
Empfindung - extremer Müdigkeit - beginnt, können wir sicher sein, dass dem
Gefühl tiefe Hirnstammaspekte zueigen sind. Dann helfen wir der Patientin, sich
ihren Rückweg durch alle Ebenen zu bahnen. (Dieser Prozess kann Stunden dauern
und sich über viele Sitzungen erstrecken; es ist nicht so einfach, wie es sich
vielleicht anhört.)
Das System kann jeweils nur auf eine bestimmte Menge
Schmerz reagieren. Dann verschließt es sich wieder. Also bestimmen wir den
Schmerzgehalt, lassen je Sitzung diese Menge zu und warten dann bis zur
nächsten Sitzung, um mit demselben Schmerz weiter zu machen. Das Maß an
Schmerz in diesen Traumen ist unbeschreiblich; buchstäblich Furcht
einflößend, etwas, das ich als konventioneller Therapeut nie gesehen hatte.
Nachdem sie die Ebene der Empfindungen erreicht hatte,
begab sich meine Patientin direkt in die Erschöpfung/Hilflosigkeit bei der
Geburt. Als sie zur Geburt hinabstieg, gab sie kein Wort von sich. Über vierzig
Minuten lang krümmte sie ihren Rücken und stieß mit dem Kopf gegen die
gepolsterte Wand. Sie schien zu ersticken. Als sie sich schließlich ihren Weg
zurück auf die fühlende Ebene und dann zum Kortex bahnte, konnte sie schreien:
„Ich gebe auf! Du liebst mich sowieso nicht!“ Die Müdigkeit sagte: „Ich
kann nicht mehr. Lasst mich.“ Sie kehrte danach in vielen Sitzungen Dutzende
Male zu diesem Gefühl zurück, so stark und anstrengend war die Kraft des
Gefühls.
Wenn Patienten
aus einer Sitzung herauskommen, liegen sie einige Augenblicke still da, blinzeln
und öffnen dann ihre Augen. Alle Patienten berichten, dass sie weit weg waren.
Sie sehen aus, als seien sie gerade aufgewacht, und in gewissem Sinne sind sie
das auch. Sie kommen vom Traum-Gehirn in den präfrontalen Wachzustand, genau
so, als kämen sie gerade ins Leben. Es dauert einige Minuten, bevor die
Integration und die Einsichten beginnen. Sie sind in der Sitzung geblieben,
solange es nötig war. Es ist das Ende der Fünfzig-Minuten- Stunde. Ich könnte
mir nicht vorstellen, eine Sitzung zu beenden, wenn ein Patient sich noch
schlecht fühlt oder weint.
Seite 135
Dieses Eindringen in tiefe und ferne Ereignisse der
Vergangenheit geschieht nicht in den ersten Wochen der Therapie und sollte es
auch nicht. Hat ein Patient von Anfang an solchen Zugang, so ist es gewöhnlich
ein Anzeichen tiefer Störung, fehlerhafter Schleusung. Das bedeutet, dass der
Schmerzpegel sehr hoch ist und das Verdrängungssystem defekt. Es kann bedeuten,
dass Hirnstamm-Einprägungen von hoher Valenz vorhanden sind. In jedem Fall ist
es oft ein Zeichen für die Dominanz der Hirnstamm-Erinnerung. Wenn es in der
Therapie vorzeitig passiert, so ist das genau der Fall, für den wir
Tranquilizer verwenden. Diese Medikamente arbeiten genau wie Schleusen; eine
Funktion, die das Gehirn selbst erfüllen sollte.
Der präfrontale Kortex konzentriert sich auf die
Gegenwart, gibt dieser oder jener Person die Schuld. Diejenigen, die von ihrer
Geschichte getrennt sind, handeln, als würde sich das alte Trauma jetzt gerade
entfalten. Sie haben keine andere Wahl. Es wiederzuerleben ist im Wesentlichen
eine kortikale Anerkennung, es ist die Integration früher Empfindungen und
Gefühle und deren Platzierung in den historischen Zusammenhang.
Empfindungen (sich zerquetscht, begraben, erstickt
fühlen) bahnen sich ihren Weg aus den Tiefen des Gehirns zum rechten frontalen
Kortex, wo sie in „reinen“, einfachen Worten oder kurzen Sätzen Ausdruck
finden. Der Patient schreit vielleicht: „Ich gebe auf! Ich ertrinke! Ich komme
nicht vorwärts!“ In diesem Schrei liegt eine ganze Geschichte von Versuch,
Scheitern und schließlich völliger Aufgabe.......das
Kämpfen-und-Scheitern-Syndrom. Die Verknüpfung zwischen Hirnstamm und Kortex
findet weitgehend im rechten Gehirn statt, wo die Sätze kurz, genau und
unkompliziert sind und direkt tiefen Einprägungen entspringen. Es ist das linke
Gehirn, das die Dinge verkompliziert, die Realität verdreht und gewundene
Gedanken und komplexen Satzbau produziert.
Lassen Sie uns bis hier zusammenfassen: Wenn ein
Neugeborenes unmittelbar nach der Geburt und später liebevoll gepflegt und
berührt wird, bringt das in jeder Hinsicht ein neues Gehirn in Gang. Diese
Behandlung baut das innere Serotonin-/Verdrängungssystem auf, das dafür sorgt,
dass das Individuum sich dauerhaft wohl fühlt und entspannt bleibt. Sie
vergrößert und verstärkt den frontalen Kortex, der in oberster Instanz für
das Aussperren unwesentlichen Inputs im Leben, für die Organisation der
Gefühle, für Denken und Reflektieren und vor allem für die Hemmung von
Empfindungen und Gefühlen aus tieferen Gehirnschichten verantwortlich ist. Wenn wir unwesentliche Eingaben nicht
aussperren können, haben wir eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, können uns
nicht sammeln oder konzentrieren und sind leicht ablenkbar.
Seite 136
Wenn es frühe Liebe gibt, werden die mobilisierenden
Kräfte im Hirnstamm durch den frontalen Kortex moduliert. Wenn Liebe fehlt und
die Frontalzone schwach ist, kommt es zu Aktivierung, die die Gedanken
abschweifen lässt, und zu mangelhafter Kontrolle. Die Neuronen werden nicht
richtig reif. Ein starker frontaler Kortex dämpft Gefühle im Limbischen
System. Ein schwacher führt zu Hyperaktivität. Dasselbe frühe Trauma, das die
beeinträchtigte Kontrollfähigkeit des frontalen Kortexes bewirkt, erzeugt auch
die Hyperaktivität. Die aufsteigenden Impulse zwingen das Kind und dann den
Erwachsenen zu ständiger geschäftiger Tätigkeit.
Die Übersetzung von Gefühlen in Symptome
Es gibt direkte Verbindungen
vom frontalen Kortex zum Hypothalamus, die dafür verantwortlich sind, dass
Stress in körperliche Symptome übersetzt wird. Durch sie wird der Hypothalamus
„instruiert“, die Hypophyse anzuweisen, bestimmte Hormone abzusondern,
einschließlich der Stresshormone. Das Frontalhirn kann die Katecholamine nicht
herstellen, aber er kann anderen Gehirnstrukturen dazu den Befehl erteilen. Es
ist der frontale Kortex, der Aktivierung von unten durch den Gebrauch von
Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen absorbiert. Es gibt direkte
Fasergeflechte vom Hirnstamm zur frontalen Region, die als Zweiwegesystem
funktionieren, indem sie Impulse zurückhalten und den Kortex, falls nötig,
stimulieren. Sie stimulieren die Frontalregion auch dann, wenn es nicht nötig
ist – zum Beispiel ein ruheloser Geist, wenn man einschlafen will.
Der frontale Kortex sendet aktivierende chemische
Substanzen zur Amygdala, so dass wir fühlen können, was wir denken, und
umgekehrt. Jede limbische/fühlende Struktur hat sowohl aufsteigende als auch
absteigende Fasernetze. Wenn sie blockiert werden, baut sich in unseren Systemen
der Druck auf. Alles, was Fühlen und emotionales Wohlergehen ganz zu Anfang
positiv beeinflusst, unterstützt den Aufbau des integrierenden frontalen
Kortexes. Die meisten konventionellen Therapien zielen darauf ab, die Abwehr des
frontalen Kortexes gegen tief verborgene Impulse zu stärken. Das ist die eine
Methode, die Sache anzugehen, wenn man lediglich Kontrolle haben will. Wünschen
wir Integration, sieht die Sache anders aus. Wir müssen diese Impulse dämpfen,
so dass der frontale Kortex nicht so viel zu tun hat. Auch wenn es im frontalen
Kortex Entsprechungen zu Gefühlen gibt, entwickeln sich die tieferen
Gefühlsstrukturen doch früher. Aus diesem Grund müssen wir in das Babygehirn
hinabgelangen, um Erfahrungen wiederzuerleben, die sich, lange bevor wir die
Fähigkeit zu denken besaßen, stark auf uns auswirkten. Nach einem
Wiedererlebnis sind Gedanken wichtig. Sie helfen uns zu verstehen, was wir
durchmachten und wie es uns ursprünglich verändert hat.
Das Fehlen von Liebe bringt das System in Gefahr. Das Gehirn sendet Stresshormone aus, um den Alarm zu bekräftigen, und diese anhaltende Sekretion schädigt das Wachstum der Gefühlszentren und des frontalen Kortexes. Dies wiederum reduziert die Funktion des Immunsystems, indem es die Anzahl der Lymphozyten mindert,
Seite 137
die eindringende Bakterien überwachen
und töten. Es gibt einen Grund, dass die Mehrheit der Gefängnisinsassen auf
Drogen ist, bevor sie ins Gefängnis kommen: emotionale Deprivation unmittelbar
nach der Geburt und in den ersten zwei Jahren. Die meisten dieser Leute wurden
von Schmerz beherrscht und brauchten Drogen, um ihn zu kontrollieren. Sie waren
auch Opfer von so frühem und durch
Deprivation in der Kindheit verschlimmerten Schmerz, dass die kortikalen
Kontrollzentren beeinträchtigt wurden. Impulse lassen ihre Wutausbrüche außer
Kontrolle geraten und setzen viele von ihnen außer Stande, einzuhalten oder die
Konsequenzen ihrer Handlungen zu durchdenken und abzusehen. Man braucht einen
starken frontalen Kortex, um sich selbst gegen übergreifende Impulse
abzuschirmen.
Eine weibliche Patientin von
mir provozierte ständig den Zorn ihres Gefährten, obwohl sie wusste, dass er
sie schlagen würde. Den einzigen körperlichen Kontakt mit ihrem Vater hatte
sie, wenn er sie übers Knie legte und sie mit bloßen Händen verprügelte. Sie
brauchte es noch immer, wusste, es war „verrückt“, und tat es dennoch. Sie
brauchte körperlichen und emotionalen Kontakt.
Suzanne
Das Folgende ist die partielle Niederschrift zweier Sitzungen. Suzanne beschreibt ihr Wiedererlebnis eines Abtreibungsversuchs, den ihre Mutter mit ätzenden Substanzen durchgeführt hatte. Er wurde später bestätigt. Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft versuchte ihre Mutter erfolglos, sie abzutreiben. In ihrer Primärsitzung kugelte sie sich so klein wie möglich zusammen und zwängte sich in eine Ecke. Weil sie nicht die charakteristische Arm- und Fußposition zeigte, wurde der Therapeut, der zuerst dachte, es sei ein Geburtsprimal, argwöhnisch und forschte genauer nach, was geschehen war. Hier nach dem Primal diskutiert und weint sie über all das, was es für sie bedeutete. Die meisten Techniken des Therapeuten sind ausgelassen worden. Suzannes Ausagieren hatte darin bestanden, dass sie versuchte, eine unverschmutzte Atmosphäre zu schaffen und in ihr zu leben: einmal, weil ihre Familiensituation „toxisch“ war, und auch wegen der versuchten Abtreibung durch Chemikalien, die ihre Mutter einnahm. Sie war auf der Suche nach einer schützenden Umwelt. Schließlich entdeckte sie die Quelle dieser Toxizität, und erkannte, dass sie dieses toxische Gefühl auf ihre Umwelt projizierte. Der Prototyp wurde hier lange vor der Geburt etabliert, nämlich der Rückzug vor der
Seite 138
Gefahr. Wir alle ziehen uns vor Gefahr zurück,
aber in ihrem Fall wurde es zu einer übertriebenen und oft unangemessenen
Reaktion. Es ist nichts anderes als das auf kürzlich gemachten Aufnahmen
ersichtliche Phänomen, dass Feten sich angesichts einer Nadelpunktur
zurückziehen und schmerzhaft ihr Gesicht verziehen.
Sitzung
I
Ich sage dir, ich musste
wieder mit dem Rauchen anfangen, weil ich merkte, dass wegen der Woche, die ich
aufhörte, das Zeug so schnell hochschoss, dass ich nicht damit klar kam. Ich
hatte mein Zyban verdoppelt [ein Medikament gegen das Rauchen]. Aber was ich
merkte, war, dass es nach dem fünften Tag ohne Zigarette am sechsten Tag und am
siebenten Tag so stark hochkam, dass ich den ganzen Tag ein emotionaler Krüppel
war. Also bin ich wieder zum Nikotin übergegangen.
Was in den vergangenen zwei
Wochen, seit ich hier bin und mit dem Rauchen aufhörte, passierte, ist, ich
wache jeden Morgen auf und mir ist schlecht im Magen. Ganz speiübel. Gefühle
wie „Ich will nicht leben.“ Jeden Morgen. Allmählich macht mich das
wirklich fertig, weil, was ich will, ist einfach mal die Erfahrung machen, dass
ich morgens aufwache und mich freue, wach zu sein... zu leben...so wie „Was
für ein schöner Tag.“ Hinzu kommt noch das Gefühl von Angst. Was ich
wirklich sterben lassen will, ist dieses Gefühl, dass ich sterben will. Aber es
wird mich nicht in Frieden lassen; es hat mich so im Griff. Es bestimmt meinen
Willen. [ihre Mutter versuchte, sie mit einer sehr starken Salzlösung und noch
einer anderen ätzenden Substanz abzutreiben].
Überall in meinem Körper war
diese Chemikalie, von der mir übel wurde. Viele meiner Probleme scheinen da
herzurühren. Angst haben. Sich vergiftet fühlen. Sich nicht bewegen wollen.
Ein übles Gefühl. Um 5 Uhr morgens liege ich im Bett, und ich möchte mich
zusammenkugeln und dass dieses Gefühl aufhört. Ich hasse es einfach, meinen
Tag so zu beginnen. Ständig bringt es mich zum Weinen. Ich hielt es einfach
nicht mehr aus, also greife ich zu den Zigaretten, weil sie mir helfen und mich
beruhigen. Ich musste funktionieren, und trotzdem bin ich überschwemmt von dem
Gefühl, dass ich sterben will. Ich will nicht leben, wenn ich mich so fühlen
muss. Das holt auch Janis (Tochter) ein, weil sie in meiner Welt lebt und weil
die extrem vergiftet ist. Wieviel kann sie verkraften? Ich bin nicht da für
sie, und sie muss mit einer Mam’ auskommen, die die ganze Zeit weint.
Es verzerrt alles in meiner
ganzen Welt. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, sind meine Hände heiß, meine
Füße sind heiß, mein ganzer Körper ist heiß. Es lässt mich nicht los. Aber
ich kann noch nicht zulassen, dass ich es fühle, weil ich nicht genau weiß,
wohin es mich bringt
Seite 139
Therapeut: Was ist es genau?
Das Gefühl, dass mir schlecht
ist im Magen. Ich kann nichts Schönes sehen im Leben. Es ist etwas in mir, das
ständig hochkommt. [Weint und schluchzt]
Ich hasse es...
Ich hasse es...
Ich will Schluß machen. Ich will mich nicht so
fühlen. Es lässt mich nicht los. Es schüttelt meine Eingeweide. Es fühlt
sich so schrecklich an. Genau das tut es. Ich will mich übergeben, ich fühl’
mich widerlich. Es ist so stark (Ein Häufchen Elend, rollt sich zu einem
Knäuel zusammen).
Ich schätze, ich war einundzwanzig, und ich verließ
New York, um nach Kalifornien zu kommen. Es ist so interessant, weil da diese
Lebensangst war, diese Angst vor mir selbst. Als dieses Gefühl in meinem Leben
immer wieder hochkam, verstand ich nie, was es war. Warum hatte ich Angst? Es
war die Sch......-Erinnerung!
Ich weine einfach, weil ich es hasse. Mir wird so
schlecht dvon. Und es klebt an mir wie Leim. Es saugt mich einfach auf. Es ist
eine Ganzkörperempfindung. Und es zieht mich aus der Gegenwart raus. Ich will
nicht dahinvegetieren. Dieses Gefühl ist mit so vielen anderen Gefühlen
verknüpft, es ist mit meinem Gehirn verknüpft.
Es gibt so viel, worüber ich weinen muss. Janis sagte
mir heute, dass sie mein Rauchen überwacht. Sie hat sich einen kleinen Kalender
gemacht. Sie fragt mich, wie viele Zigaretten ich heute geraucht habe, und sie
schreibt es auf; sie sagt: „Mama, du hast wieder zu rauchen angefangen.“ Und
ich sagte, es ist, weil zu viel Schmerz zu schnell hochkam und weil die
Zigaretten mir helfen und mich beruhigen. Sie sagt: „Ich will wirklich, dass
du mit dem Rauchen aufhörst, Mama,“ und ich sagte: „Du willst mir also
sagen, du hättest es lieber, dass ich eine Menge mehr weine, als dass ich
Zigaretten rauche?“ Sie sagte: „Ja.“ Ich sagte: „Bist du sicher, dass du
damit klar kommst?“ Darauf sie: „Mir wäre es lieber, wenn du weinst,
anstatt Zigaretten zu rauchen.“ Ich glaube, ich glaube total, dass ich eine
schädliche Wirkung auf sie habe. Sie hat eine Mama, die so was durchmacht, und
wir sind nicht 100 Prozent zusammen. Ich fühle mich so schuldig, weil ich diese
Woche daran dachte, dass meine Mutter Asthma hatte, als ich aufwuchs, und ich es
hasste, wenn sie krank wurde. Und ich schätze, Janis muss es genau so
empfinden. Und dann denke ich, dass es nicht fair ist.
Seite 140
So fühle ich mich, wenn das Gefühl hochkommt, dass
ich diese kranke Person bin. Ich schaff’ es nicht, es verschlingt mich. Und es
bleibt mir treu, tagein, tagaus. Und ich fühl’ mich so verpfuscht. Ich will
mich nicht bewegen, ich will nicht hinaus. Ich will nicht reden. Die Einprägung
ist so groß! Es ist wie eine Folter.
Da ist ein ganz großes Gefühl im Inneren meines
Körpers. Es ist wild. Ich will nicht den Atem verlieren. Es macht was aus zu
wissen, wo das Gefühl herkommt [sie hatte das Mutterleib-Primal am Tag zuvor].
Ein paar Mal in diesen zwei Wochen, als das Gefühl hochkam, hat es mir geholfen
zu wissen, wo es herkam.
Ich habe immer gewusst, dass ich eine sehr naive und
unschuldige Seite an mir habe. Und ich kann sehen, dass sie ganz gelegen kam,
denn wenn ich wirklich alles begriffen hätte, was ich durchgemacht hatte, so
hätte ich es nie geschafft. Ich denke, naiv zu sein, nichts zu begreifen, half
mir, dass ich es nicht durchdenken musste. Janis sieht, was ich durchmache, sie
sieht meine Höhen und Tiefen. Ich hasse es, ich fühle mich so schuldig. Ich
lasse sie wissen, dass sie so etwas nie erleben muss, weil sie erwünscht war,
weil sie von Anfang an geliebt wurde, und sie wird das nie erleben. [Weint noch
immer] Jede Nacht kommt dieses Fieber, das so um 4 oder 5 am Morgen losgeht, und
meine Füße sind so heiß und meine Hände sind so heiß. Es ist, als versuchte
mein Hirn, das geradewegs aus meiner Seele rauszubrennen.
Sitzung
II
Ich fand es sehr interessant
gestern, als ich hier wegging. Ich freute mich, weil ich in die
Abtreibungserinnerung eingetaucht war. Ich fühlte mich einfach glücklich,
lebendiger. Ich spürte einfach, dass ich irgendwie glücklich darüber war,
durch den ganzen Prozess zu gehen, und über die Intensität der Wirkung, die es
hatte. Mag sein, es hat damit zu tun, dass ich weiß, es ist eine ganz bestimmte
Erinnerung, und mit der Erleichterung, dass ich nicht verrückt bin. Weißt du,
wenn du nicht weißt, woher katastrophale Gefühle kommen, musst du denken, du
seist verrückt. Dass meine Körperreaktion irgenwie erfreut war, als sie den
Prozess durchlief, dass sie endlich Gelegenheit hatte es auszudrücken.
Ich schlief gut, aber so gegen 4 Uhr 30, 5 Uhr war ich auf, nur das üble Gefühl war nicht so intensiv, es kam noch immer hoch, und je länger ich im Bett blieb, ohne mich zu bewegen, umso stärker kam es. Um 6 Uhr dachte ich, oh, jetzt kommt das vertraute Gefühl von Übelkeit hoch. Aber ich spüre dieses üble Gefühl noch immer. Um 6:30 ist es stärker; ich möchte mich zusammenkauern, dieses kleine Knäuel bilden.
Seite 141
Es ist
jetzt noch immer da. Ziemlich stark sogar. Und ich komme wieder dahin, dass ich
mich nicht bewegen will. Also stand ich auf und setzte mich auf die Couch im
Hotelzimmer. Und ich will mich nicht bewegen. Ich könnte den ganzen Tag so
verbringen, wenn ich mich so fühle. Und die einzige Sache, die mich in Gang
bringt, ist Bewegung, Aktion. Das Gefühl hat eine lähmende Wirkung auf mich.
Ich habe keinen freien Willen. Es ist, als würde jemand ständig auf mir
herumhacken, mich nicht zufrieden lassen.
[Schreit ständig: „Lass mich zufrieden
!!!!“]
Und ich wollte, dass mein
Stiefvater mich zufrieden ließ, als er mich belästigte. Manchmal fühle ich
mich so traumatisiert, so als wollte ich mich einfach in eine Ecke verkriechen.
Es ist, als bräuchte ich sowas wie Berührung. Einfach eine freundliche Hand
auf meiner Schulter. Ich verlange nicht viel. Ich wäre in der Lage gewesen,
etwas zu fühlen. Und mein Körper fühlt sich wie glühende Kohlen an. Es ist,
als suche ich nach sowas wie Berührung. Halt mich, Mama, bitte halte mich.....
[Weint lange Zeit tief.
Streckt flehend die Hände aus.]
[Zurück in der Gegenwart]
In diesen Augenblicken ist es,
wie wenn ich tanze. Es ist, als sei alles in Ordnung. Manchmal hört es auf, weh
zu tun, und es ist wie ein Hauch frischer Luft und ich fühl’ mich okay. Ich
fühle, dass ich keine Schmerzen habe. Ich hab so das Gefühl, dass mein
Optimismus und meine Freude daher kommen. Diese kleinen Fenster, wenn einfach
nichts mehr weh tut und das Gefühl so phantastisch ist.
Ich denke ständig daran, als ich vierzehn war und
hatte, was ich als „Haupt-LSD-Trip“ bezeichne. Und jetzt sehe ich die
Parallelen so klar; was hochkam, war die Geburtserfahrung, nicht die
Geburtserfahrung, aber was mir passierte, war, dass ich über zehn Stunden an
einem Platz saß und Angst hatte, mich zu bewegen. Und mein ganzer Körper, er
war einfach so sensibel. Es war, als könnte ich durch die Wände hören, alles
fühlen und mich einfach nicht bewegen. Ich musste dort bleiben. Jetzt sehe ich,
ich habe diese ganze Sache wiedererlebt. „Bewege dich nicht. Es ist okay, wenn
du dich nicht bewegst.“ Mein Körper war so sensibel, wie ein einziger großer
Nerv. Und dann, nach diesem ganzen Erlebnis habe ich dann mit Barbituraten und
Beruhigungsmitteln angefangen, weil das das einzige war, das meinem
Körpergefühl wie ein einziger riesiger Nerv die Schärfe nehmen konnte, und es
war das einzige, das meinen Körper beruhigen konnte. Ich fing mit den
Barbituraten an, mit Tuanols und Quaaludes. Ich fühlte einfach zu viel. Der
einzige Grund, warum ich sie absetzte, ist, weil süchtig nach ihnen wurde und
zu viele nahm. Ich ging zu einem Arzt, und sagte ihm, was ich tat, rechnete
damit, dass er es verstehen würde und mir helfen könnte, es zu verstehen. Er
konnte es nicht.
Seite 142
Es ergibt einen perfekten Sinn für meine Reaktionen
im Leben, wenn ich zu sehr fühle oder wenn der Input zu groß ist. Ich ziehe
mich zurück. Das ist die Einprägung, sich zurückziehen von dem, was mich
umbringen will. Was auf mich bis zum heutigen Tag zutrifft, ist, dass ich nie
verbergen konnte, wie ich mich fühlte. Ich gehörte zu den Leuten, denen ihre
Gefühle ins Gesicht geschrieben sind. Ich hatte kein Geheimnis. Wie ich mich
fühlte, lag da wie ein offenes Buch. Du konntest es einfach lesen. Und die Art,
wie ich durchs Leben navigierte, war mit meinen Gefühlen. Es ist so, wenn ich
mich sicher fühlte, bewegte ich mich vorwärts. Wenn ich mich nicht sicher
fühlte, kam ich vom Weg ab.
Mir scheint, dass ein Teil dieser Erfahrung, die
Wirkung, die sie hatte, war, dass sie sich auf mein Nervensystem auswirkte; dass
ich sensibler bin. Ich habe ein sehr gutes Gespür dafür, wie sich andere um
mich herum fühlen. Mein Nervensystem war einfach überlastet und als Ergebnis
hat es alles aufgebauscht, so dass ich fühlte und dachte, es ist alles zu viel.
Also war meine Reaktion im Mutterleib, es abzustellen, indem ich mich zurückzog
und so klein wie möglich wurde, mich zusammenzog. Und ich mache es noch immer.
Ich nehme an, das ist es, was Dr. Janov als Prototyp bezeichnet. Es scheint so,
dass ich vorprogrammiert bin. Ich muss stark sein, gleich, wie schlecht die
Dinge stehen. Ich meine, offensichtlich habe ich die ganze Zeit überlebt, weil
ich in den schlimmsten Situationen in der Lage war, etwas Gutes zu finden,
etwas, das ich lerne, etwas, das mich weise und stärker gemacht hat.
Therapeut: Zum einen hat es
dir das Leben gerettet.
Ich hatte immer diesen
Optimismus. Der Optimismus ist die Möglichkeit im Leben. Weißt du, ich denke
nicht, dass ich sonst überlebt hätte. Daran klammere ich mich. An diese
kleinen Fenster. Und ich trachte immer danach, darauf zurückzukommen. Aber es
ergibt einen Sinn, weil der Schmerz dann aufhört. So intensiv der Schmerz auch
ist, wenn ich zum anderen Ende des Spektrums schwingen wollte, dann bedeutet es,
wie großartig es ist, den Schmerz nicht zu fühlen, es ist wie Tanzen auf den
Dächern, die Freude, das ist magisch.
Nichts ist so, wie nichts zu wollen; außer die
Schönheit des Tages zu genießen, der Zauber, wenn du eine Blume betrachtest,
wenn du die Sonne scheinen siehst. Es ist alles ganz einfach. Es gibt kein
Streben, es gibt nichts als atmen wollen. Ich muss dir sagen, es ist alles ganz
faszinierend für mich. Was für eine Erleichterung darin liegt, wenn du weißt,
woher der Schmerz kommt und wo der Optimismus ist!
Seite 143
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 Y.
Ito et al., „Increased Prevalence of Electrophysiological Abnormalities in
Children with Psychological, Physical and Sexual Abuse,” Journal of
Neuropsychiatry 5, no. 4 (Fall
1993): 401-407.
N. 2
Viele synaptische Endungen haben Autorezeptoren, die auf
Transmitter-Freisetzung durch präsynaptische Neuronen reagieren.
N. 3 Ito,
„Increased Prevalence of Electrophysical Abnormalities in Children with
Psychological, Physical and Sexual Abuse,“ s. 401.
N. 4
Die Vitalwerte aller Patienten werden vor und nach jeder Sitzung
gemessen. Die Physiologie sagt uns
eine Menge darüber, in welchen Gefühlen der Patient steckt.
N. 5 Arthur
Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West Hollywood, Kalif.: Dove
Books, 1996).
N. 6 R.
J. Davidson und N. A. Fox, „Frontal Brain Asymmetry Predicts Infants’
Response to Maternal Separation,“ Journal of Abnormal Psychology 98, no. 2
(Mai 1989): 127-31.
N. 7 Allan
Schore, in Brain and Values, ed. Karl Pribham (New Jersey: Lawrence Erlbaum,
1998), s. 342.
N. 8 Siehe:
Eric Hoffmann, “Mapping the Brain in Repression,” vorgelegt der California
Psychological Association, Annual Meeting, Februar 23-26, 1995. Siehe auch E.
Hoffmann,
“Hemispheric Quantitative EEG Changes Following Emotional Reactions in
Neurotic Patients,” Acta Psychiatrica Scandinavica 63 (1981): 153-64.
N. 9 Ibid.,
s. 153
N. 10 S. L. Rauch
et al., „A Symptom Provocation Study of Posttraumatic Stress Disorder
Using
Positron Emission Tomography and Script Driven
Imagery,” Archives of General Psychiatry 53 (1996): 380-87.
N. 11 Davidson and
Fox, “Frontal Brain Asymmetry Predicts Infants’ Response to Maternal
Separation.”
N. 12 Siehe D.
Derryberry und D. M. Tucker, „Neural Mechanisms of Emotion,“ Journal of
Consulting and Clinical Psychology 60, no. 3 (Juni 1992): 329-38.
N. 13 R. J. Harmon und P. D. Riggs, „Clonidine for Posttraumatic Stress Disorder in Preschool Children,“ Journal of American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35 (September 1996): 1247-49.
7
___________
DER BEGRIFF
DER
_____________
Ereignisse werden in einer Phase, die als kritische
Periode bekannt ist, in das Nervensystem eingeprägt. Ereignisse, die
außerhalb dieser Periode stattfinden, haben nicht die gleichen unheilvollen
Folgen wie diejenigen, die in ihr geschehen. Mit acht Jahren die Eltern durch
einen Autounfall zu verlieren, kann mit einer Kraft eingeprägt werden, die
einem traumatischen Erlebnis in den ersten sechs Monaten des Lebens
gleichkommt, aber die Auswirkungen auf die neurologische Entwicklung sind
wahrscheinlich nicht so schwerwiegend.
Für den Vorgang der Einprägung ist ein Zustand
hochgradiger Erregung notwendig; mit anderen Worten, eine Notsituation, die
das System in Alarm versetzt. Das Gehirn beginnt sich zu verändern. Es kann
sowohl „Liebe“ als auch „Nichtliebe“ einprägen. Wenn es Liebe gibt,
expandieren die Neuronen und wappnen das Gehirn gegen spätere Widrigkeiten.
Schlüsselsynapsen vermehren sich, das Gehirn ist stärker und hat mehr
hemmende Nervenzellen, um Angst unter Kontrolle zu halten.
Wenn emotionale Deprivation etwas unabdingbar
einbezieht, dann ist es fehlende Berührung und Zärtlichkeit ganz zu Beginn.
Wenn das Baby wegen fehlenden Körperkontakts unter Stress steht, wird
Kortisol freigesetzt, und wenn dieses Stresshormon übermäßig lange
abgeschieden wird, erzeugt es ein toxisches Gehirnmilieu, das bestimmte
Gehirnstrukturen im Limbischen/fühlenden System schädigen kann und dies auch
tatsächlich tut.
Da wir gerade von vergifteter Umwelt sprechen, einer unserer fortgeschrittenen Patientinnen war oft übel, und sie litt in ihren Wiedererlebens-Episoden (Primal) unter einem brennenden Gefühl. Schließlich spürte sie während der Wiedererlebnis-Sequenz eines im Hirnstamm verwurzelten Traumas in ihrem ganzen Körper ein
Seite 145
schreckliches Brennen. Wir fanden heraus,
dass ihre Mutter versuchte, sie mit einer hochätzenden Substanz abzutreiben,
die offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Aber sie war auf die
wiederkehrende Zwangsvorstellung fixiert, dass sie in einer vergifteten Umwelt
lebte. Sie führte den gerechten Kampf gegen die Verschmutzung und zog
schließlich in eine saubere Kleinstadt. Ihr Kampf gegen die Verschmutzung war
richtig, aber die tiefgründige Motivation kam daher, dass sie sich im dritten
Monat in einer schwer toxischen Situation im Mutterleib befand. Diese Motivation
setzte ihre Vorstellungen über die Umwelt nicht unbedingt außer Kraft; sie
erklärte lediglich deren Ursprung.
Es gibt Perioden, in denen wir Liebe bekommen müssen,
um uns angemessen zu entwickeln, und andere, in denen es für die
Gehirnentwicklung nicht so wichtig ist. Forscher finden heraus, dass es während
der Schwangerschaft „kritische Perioden“ gibt, in denen sich permanente
Veränderungen in der Entwicklung ereignen könnten. Es sind viele Versuche an
Tieren durchgeführt worden, aber es gibt auch Forschungsergebnisse, die
Implikationen für Menschen haben. Es stellte sich heraus, dass kein durch
frühe Deprivation hervorgerufenes Versäumnis jemals nachgeholt werden konnte.1
Das mag in der Tat das Hauptmerkmal der kritischen Periode sein: Sie
kann nicht nachgeholt werden. Am Lebensanfang zugefügter Schaden, zum
Beispiel Tiere, die nach der Geburt nicht berührt wurden, konnte nicht
ungeschehen gemacht werden. Aber warten Sie! Vielleicht sind die Aussichten gar
nicht so düster.
Synaptogenesis
In den ersten achtzehn Monaten oder zwei Jahren des Lebens bilden sich die Synapsen zwischen kortikalen Neuronen und stärken oder schwächen sie, je nach Ausmaß des Traumas. Bei ausreichender Stimulierung, einfacher Berührung, ergibt sich eine größere Synapsendichte im Kortex, da sich Bahnen verstärken und Integrationskapazität aufbauen. Trauma wird definiert als etwas, das nicht reibungslos in das System integriert werden kann. Es tritt ein, wenn Bedürfnisse über längere Zeit nicht erfüllt werden. Der Zeitplan diktiert die Notwendigkeit optimalen Körperkontakts direkt nach der Geburt und in den folgenden Monaten. Das Maß an Körperkontakt wird von sensiblen Eltern bestimmt, die spüren, was das Baby braucht; nicht zu viel, damit es nicht überstimuliert wird, sondern gerade ausreichend, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Der Körper drückt einen Mangel in Allergien, Hautkrankheiten, Infektionen und Hyperaktivität aus. Wir können zu dem Gehirn eines Zweijährigen zurückkehren und uns mit diesem Gehirn an bestimmte Dinge erinnern, was wir mit dem Erwachsenengehirn niemals könnten.
Seite 146
Wenn dieses Gehirn weint, sind es die Laute eines Kleinkinds. Es
leidet Höllenqualen, weil Körperkontakt
und Zärtlichkeit fehlten, und dennoch hat der Mensch sein Leben vergnügt und ahnungslos verbracht.
Wir brauchen Liebe, um die Synapsen zu bilden, die
für die Schaffung eines Gehirns nötig sind, das stark genug ist, um Schmerz zu
dämpfen. Wir brauchen Eltern, die dem Baby in die Augen schauen, die auf seine
Stimmungen reagieren, sein Unbehagen spüren und sich in seinen Schmerz und
seine Beschwerden einfühlen können. Das ist Liebe. Der mitfühlende Blick
einer Mutter kann tatsächlich den Blutfluss zum Kortex des Babys regulieren und
seine Entwicklung wesentlich beeinflussen. Er tut dies durch die Sekretion von
Dopamin, welches das Wachstum kortikaler Neuronen anregt.2 Diese
Projektionen veränderter Dopaminzellen zum frontalen Kortex errichten einen
neuen Kortex. Je besser der Fluss ist, umso mehr Nährstoffe und Sauerstoff
werden dorthin transportiert. Die Zellen sind gesünder. Ein Maß für die
Effektivität und Aktivität eines Gehirnortes kann der Blutfluss sein. So ist
zum Beispiel bei der Aufmerksamkeitsmangel-Störung der Fluss zu präfrontalen
Orten geschwächt. Das Gehirn kann neue Information nicht leicht verarbeiten,
noch kann es unwesentliche Stimuli herausfiltern. Auf diese Weise formt fehlende
Liebe einen neuen Kortex, indem sie die Dopaminspiegel senkt. Und nicht nur der
Kortex wird verändert. Der Hippocampus ist durch Stress am Lebensanfang
besonders verwundbar, und seine Zellen können schwinden durch ein Trauma, das
ein gewisses Zeitmaß überschreitet.3 Nicht nur ein Schlag
auf den Kopf kann einen Gehirnschaden verursachen: einfache Vernachlässigung
kann das auch bewirken. Affen, die von Käfiggenossen misshandelt wurden, wiesen
Gehirnschäden im Hippocampus auf, nicht wegen der Schläge, sondern wegen ihres
Leidens. Wenn wir an der Unfähigkeit leiden,
uns räumliche Verhältnisse vorzustellen, die Architektur eines Hauses
oder Raumes, wenn wir unter Gedächtnisverlust hinsichtlich Zeiträumen,
Zeitpunkten und Plätzen leiden, müssen wir auf den Hippocampus schauen und
darauf, was ihm der Mangel an Liebe angetan hat, der uns am Lebensanfang
widerfahren war. 4
Je dichter die Synapsen in dieser Synaptogenesis genannten
Schlüsselperiode der Gehirnentwicklung sind, umso mehr Information kann das
Gehirn verarbeiten. Der Rückgang an Synapsen ist zum Beispiel eine
physiologische Möglichkeit, wie ein Trauma eingeprägt werden kann; er lässt
uns weniger Gehirnzellen, die wir brauchen, um mit Widrigkeiten fertig zu
werden. Die Einprägung kann eine einzige Lernerfahrung sein, die monatelange
Interaktion mit den Eltern umfasst und in einem Gefühl gipfelt wie: „Sie
wollen mich nicht“ Es ist ein epiphanischer Augenblick, wenn das Kind erkennt,
dass es niemanden gibt, an den es sich mit seinen Gefühlen wenden könnte. Oft
geschieht diese Erkenntnis zu einer Zeit, da das Baby am bedürftigsten ist, zu
einer Zeit, wenn das Gehirn nach Erfüllung schreit, wenn Synapsen sprießen und
neue Verknüpfungen, neue Netzwerke aus Nervenzellen herstellen; zu einer Zeit,
wenn sich fehlende Erfüllung in Schmerz verwandelt. Besonders schmerzvoll ist
sie in der kritischen Periode, weil sie ein biologisches Bedürfnis
repräsentiert; das System braucht Erfüllung für seine richtige Entwicklung.
Seite 147
Schnelle Synaptogenesis kann als Schlüsselmerkmal
einer kritischen Periode betrachtet werden. Schwere Deprivation beeinträchtigt
den Prozess der Synaptogenesis. Tiere, die traumatisiert wurden und an denen
dann eine Autopsie vorgenommen wurde, hatten weniger Gehirnsynapsen. Es geschieht in dieser Phase, dass
widrige Erfahrungen, z. B. eine Mutter, die trinkt und raucht, das Gehirn der
Nachkommen verändern können. Das Baby hat ein weniger reichhaltig
ausgestattetes Gehirn, um mit
späteren Nöten fertig zu werden. Es geschieht in dieser Phase, dass das
System, wenn bestimmte genetische Tendenzen – hoher Blutdruck, Migräne und
Allergien - gegeben sind, geschwächt wird und zulässt, dass sich diese
Anfälligkeiten schon früh im Leben manifestieren. Ein starkes Gehirn mit
angemessenen synaptischen Verbindungen kann in der Lage sein, diese Tendenzen
zurückzuhalten. Mit reduzierter Synapsenzahl sind die Vorbereitungen für
spätere Lernprobleme schon getroffen. All das kann sich ereignen, wenn der
Fetus noch ein Fetus ist und noch kein soziales Leben gehabt hat.
Es verstärkt das Problem,
dass alles das stattfinden kann ohne bewusste Wahrnehmung durch das Baby. Das
Baby wird einfach „dumm“ geboren. Sich einer Sache nicht bewusst zu sein,
beeinträchtigt in keiner Weise die Wirkung der Einprägung. Diese Einprägung
ist nicht einfach eine zerebrale Erinnerung. Sie steckt in einem mangelhaften
Gehirn. Dieser Mangel ist die Erinnerung, genau wie ein chronisch
schneller Herzschlag auf Grund eines intrauterin eingeprägten Traumas eine
Erinnerung ist. Es ist die Art, wie sich das Herz „erinnert“. Einige von uns
haben einen Ruhepuls von sechzig Schlägen pro Minute. Andere stellen fest, dass
ihr Puls bei achtzig Schlägen pro Minute liegt. Jetzt haben wir eine gewisse
Vorstellung, wie diese Unterschiede zustande kommen: es sind Unterschiede im
pränatalen Leben. Wirkliche Erinnerung hängt nicht von der Fähigkeit ab,
„sich zu erinnern“, frühe Ereignisse zu verbalisieren und in Begriffe zu
fassen. Erinnerung offenbart sich, lange bevor es Worte gibt. Ein schneller
Herzschlag ist die Erinnerung eines Ereignisses, das das Herz zum Beschleunigen
veranlasste, zum Beispiel zur Abwehr von Schrecken. Nun ist das Ereignis lange
vorbei, aber die Furcht bleibt; sie ist mitsamt ihrem Gehilfen, schnellem
Herzschlag, ins System eingeprägt. Das Herz sagt nicht: „Ich erinnere mich,
dass mir mein Vater immer dann Angst einjagte, wenn ich geweint habe“, sondern
es sagt es eindrucksvoll durch seinen lebenslang erhöhten Herzschlag. Wir
können es verstehen, wenn jemand sagt: „Ich erinnere mich an die
unkontrollierten Wutausbrüche meines Vaters.“ Aber es ist nicht einfach eine
rein begriffliche Erinnerung. Es gibt einen Körper, der sie begleitet, der der
Erinnerung „Schubkraft“ verleiht.
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Die kritische Periode ist die Lebensphase, in
der ein Baby für bestimmte Arten von Input am anfälligsten ist. Würde ein
Kind in seinen ersten Jahren geliebt, aber im Alter von acht Jahren sich selber
überlassen, würde es nicht von demselben Gefühl der Einsamkeit und
Verlassenheit geprägt sein, wie jemand, der direkt nach der Geburt nicht
geliebt und vernachlässigt wurde. Ein achtjähriges Kind kann sich selbst
ernähren, bei Verwandten oder Freunden Zuflucht suchen oder vielleicht in einer
Lehrerin/einem Lehrer einen Elternersatz finden. Ein Kleinkind ist hilflos und
braucht mit jeder Faser seines Seins Trost und Berührung. Ein
fünfzehnjähriges Kind, das von seinen Eltern nicht mehr berührt und in den
Arm genommen wird, mag sich dadurch verletzt fühlen, aber es wird keine
Gehirnschädigung erleiden wie jemand, der/die in der frühen Kindheit nie
gehalten wurde. Das ist der Unterschied zwischen Verletztsein und dem Erleiden
tiefen physiologischen Schadens. Dasselbe depravierte Kind kann vom Alter von
fünfzehn Jahren an jeden Tag in den Arm genommen werden, und doch wird es die
Prägung aus der kritischen Periode nicht auslöschen.
Es ist nicht so, dass unser Sohn Joe begonnen hat,
Heroin zu nehmen, weil er mit den falschen Leuten herumhängt. Im Gegenteil, er
hängt mit denen herum, die in der gleichen Notlage sind wie er; und diese
Notlage ist oft der gleiche Mangel an inneren Schmerztötern mit dem gleichen
impulsgesteuerten System. Joe ist auf schweren Drogen, weil er auf schwerem
Schmerz ist, und diese Schmerzen geschahen sehr früh im Leben, bevor er seinen
ersten Kumpel hatte. Im Großen und Ganzen gilt: Je tiefer und entfernter die
Einprägung ist, umso mehr Kraft hat sie.
Der Brennpunkt der kritischen Periode: Die Dopamin-Connection
Die wichtigste kritische
Periode findet statt, wenn sich das Gehirn während der Schwangerschaft formt.
Trinken und Rauchen der Mutter, ihre Angst oder Depression werden ihren Weg ins
fetale System finden und Verwüstung anrichten. Wenn Sie die Verfügbarkeit
eines Neurotransmitter-Elements während der fetalen Entwicklung ändern, so
wird das wiederum die spätere Anzahl solcher Zellen ändern. Wenn Sie zum
Beispiel die Verfügbarkeit von Dopamin (das die Informationsübermittlung auf
den Nervenbahnen fördert) an der Rezeptorstelle reduzieren, indem Sie den sich
entwickelnden Rezeptor blockieren, wird die Anzahl von Dopaminrezeptoren nach
der Geburt geringer sein.5 Dopamin ist im Großen und Ganzen
eine erregende chemische Substanz, die uns wachsam und auf der Hut sein lässt.
Es ist ein „Beeil-dich“-Transmitter, der die Nachrichtenverbindung
beschleunigt, im Gegensatz zu Serotonin und den Endorphinen, die blockierende
Wirkstoffe sind (und ebenso Wirkstoffe, die Befriedigung und Wohlbefinden erzeugen). Dopamin ist eine
„Halte-durch-Chemikalie“, ein Schlüsselelement für Hartnäckigkeit im
Menschen.
Seite 149
Wenn wir den Dopaminspiegel während der
Schwangerschaft ändern, erzeugen wir lebenslange Auswirkungen auf das Gehirn,
und das kann eine Persönlichkeit bedeuten, die leicht aufgibt, ein begonnenes
Vorhaben nicht durchzieht und nicht bis zum Ende durchhält. Ich möchte Eltern
nicht unnötig beunruhigen. Ich möchte sie einfach auf die lebenslangen
Konsequenzen des frühen Lebens aufmerksam machen. Ganz klar, ein Glas Wein wird
einem Fetus keinen Schaden zufügen, aber das ständige Trinken einer
schwangeren Mutter wird dies tun. Das sind keine unwesentlichen Fakten.
Wenn der Dopaminausstoß auf Grund eines frühen
Traumas (und das beinhaltet immer fehlende Liebe) beeinträchtigt worden ist,
finden wir später vielleicht einen niedrigeren Dopaminspiegel in der rechten
Hemisphäre, die sich mit Gefühlen befasst. Wegen des eventuell niedrigeren
Spiegels hat diese Art von Individuen (passiv, phlegmatisch) nicht das
neurochemische Rüstzeug, um anstrengende Aufgaben oder schwierige Verhältnisse
durchzustehen; sie geben leicht auf, weil ihnen die nötigen
„Durchhalte-Substanzen“ fehlen. Hier sehen wir, wie sich die Persönlichkeit
um Schlüsselereignisse im Mutterleib herum zu formen beginnt, Ereignisse, die
das Gleichgewicht der Hormone verschieben. Das ist das Kritische an den
kritischen Perioden. Ihre Auswirkungen dauern an.
Ich werde eine Reihe von Forschungsstudien zitieren,
um diesen Punkt zu bekräftigen, da er nicht nur Dopamin betrifft. Es scheint
ein biologisches Gesetz zu sein: Traumatische Ereignisse im Mutterleib können
außergewöhnlich schädlich sein und sie können später nicht ausgeglichen
werden. Hier können zum Beispiel leichte Veränderungen des
Schilddrüsen-Ausstoßes ihren Anfang nehmen, so dass wir in der späteren
Kindheit vielleicht Hypothyreoidismus oder Insulinmangel finden. Es ist der
Mutterleib, wo so viele biologische Sollwerte fixiert werden, die das System auf
subtile, oft subklinische Weise, die vielleicht Jahrzehnte lang nicht
offensichtlich wird, abweichen lässt.
Bei einem Trauma im Mutterleib werden die Dopaminwerte
nach oben (hyper) oder nach unten (hypo) reguliert, aber sie werden nicht normal
sein. Somit kann ungenügende Stimulierung durch Dopamin ihrerseits das
kortikale Integrationssystem beeinträchtigen, was bedeutet, dass die Person
später bereits durch den geringsten Input überwältigt werden kann. Es gäbe keine ausreichende kortikale Kapazität,
um Widrigkeiten zu trotzen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Parkinson und
Alzheimer das späte Resultat einer Traumatisierung im Mutterleib sein könnten.
Ein Übermaß an Dopamin kann das Schleusensystem durch Überreizung und
Überbeanspruchung seiner Kapazität schwächen. Janet Giler, eine Psychologin,
die im California Psychologist schreibt, bemerkt, dass sich die Person
konzentrieren kann, wenn das allgemeine Niveau äußerer Stimulierung niedrig
ist. Wenn ein Raum voller Lärm und Stimuli ist, geht alle Konzentration
verloren. Sie sagt: „Neuere Forschung weist darauf hin, dass dieses Versagen,
sensorische Information zu schleusen oder einzuschränken (und das ist eine der
Bedeutungen des Schleusens) vielleicht auf erhöhte Dopaminwerte
zurückzuführen ist.“ 6 Natürlich sind erhöhte
Dopaminwerte nicht die Ursache des Problems, sondern das Ergebnis sehr
früher Erfahrungen.
Seite 150
Wenn zu viel Schmerz die Dopaminsekretion zu sehr
anregt (Hochregulierung), besteht im frontalen Kortex, der die
Dopaminaktivierung aufnimmt, die Gefahr der Fragmentierung: „Es stellte sich
heraus, dass sich durch pränatale Verabreichung pharmakologischer Wirkstoffe,
die die Transmitterzufuhr zu dem entstehenden Dopaminrezeptor verändern, die
Anzahl der Rezeptoren ändern kann.“ 7 Wenn sich die Anzahl
von Dopaminrezeptoren verringert, gibt es möglicherweise nicht genügend
Stimulierung, um den frontalen Kortex wachsam und aktiv zu halten. Der
präfrontale „Geist“ kann Information nicht mehr angemessen integrieren und
ist schnell verwirrt und überwältigt. Im Gegensatz dazu kann ein überaktives
Dopaminsystem dazu führen, dass der frontale Bereich zu „geschäftig“ ist,
überreizt und unfähig, sich zu
sammeln und zu konzentrieren. Der entscheidende Punkt ist, dass das
Dopaminsystem das ganze Leben lang beeinträchtigt sein kann, wenn eine
schwangere Mutter Drogen oder Beruhigungsmittel nimmt.
Der Verlust der Anpassungsfähigkeit
Wenn die soeben zitierten
Forscher die Transmitterzufuhr zu den Dopaminrezeptoren während der
Schwangerschaft änderten, war das spätere Ergebnis eine lebenslange
Veränderung in der Anzahl der Rezeptoren. Wenn das nach der Geburt
geschieht, wird es das System durch Erhöhung der Anzahl und Dichte von
Rezeptoren kompensieren; aber wenn es in der Schwangerschaft geschieht, gibt es
keine Kompensation! Kurz gesagt fallen die Würfel im Mutterleib; nach der
Geburt gibt es dann hauptsächlich nur noch „Säuberungsoperationen“. Es ist
meine Vermutung, das dieses Paradigma für viele andere biochemische und
neurochemische Faktoren gilt. Ereignisse im Mutterleib prägen
Schlüsselveränderungen von Hormonen, Immunfunktionen und Nervenbahnen für
immer ein. Das ist keine bloße Vermutung mehr, wie wir sehen werden; es gibt
Forschungsbeweise dafür. Das Wichtige daran ist, dass es keiner chemischen
Injektion bedarf, um diese Veränderungen zu produzieren. Die Stimmung der
Mutter, zum Beispiel Übererregbarkeit, kann dieselben physiologischen
Veränderungen erzeugen. Der Fetus kann überreizt werden, und das kann auf
subtile Weise den sich entwickelnden Neokortex schädigen, der gerade am Anfang
seines Lebens steht.
A. J. Friedhoff und J. C. Miller, zwei wichtige Forscher für Rezeptorfunktionen, sagen: “Unter adaptiven Gesichtspunkten betrachtet ist es für das System
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erforderlich, wenn eine sich entwickelnde
Zelle, die Dopaminrezeptoren hervorbringt, registriert, dass es wenig Dopamin in
ihrer Umgebung gibt, außen weniger Rezeptoren anzubringen, damit die
Rezeptorzahl an die Transmitterzufuhr angeglichen wird.“ 8 Die
Zellen passen sich an ihre Umgebung an, so dass auch der physiologische Bedarf
geringer ist, wenn die Zufuhr geringer ist.
Wenn bei den Menschen eine Mutter während der
Schwangerschaft hochdosierte Beruhigungsmittel wie Haldol erhält, so wird das
permanente Auswirkungen auf den Neurotransmitterspiegel im Fetus haben, und das
kann bedeuten, dass der Erwachsene niemals „ganz richtig“ sein wird;
vielleicht nie das Rüstzeug besitzt, um richtig zu verdrängen; ein
hypernervöser, überaktiver, unruhiger Typ, der innerlich und äußerlich
ständig in Aktion ist. Es kann sein, dass diese Prägung es für den jetzt
Erwachsenen erforderlich macht, Beruhigungsmittel zu nehmen, und zwar aus genau dem Grund, weil die Mutter sie
eingenommen hatte, als sie schwanger war. Die Überladung mit Beruhigungsmittel
in der Schwangerschaft veranlasst das fetale System, weniger davon herzustellen,
weil es bereits gesättigt ist. Als Erwachsener mit verminderter Fähigkeit,
Schmerz zu verdränegen, muss er zu Medikamenten greifen, um der
Schmerzverdrängung nachzuhelfen.
Es ist keine bloße Vermutung, die mich an die
lebenslangen Auswirkungen früher Erfahrungen glauben lässt. Ich sehe es seit
Jahrzehnten an meinen Patienten und habe ausführlich darüber geschrieben. Aber
jetzt betreten andere die Arena. Friedhoff und Miller wiederholen, dass es zu
beständigen, lebenslang andauernden Veränderungen kommen kann, wenn das
pränatale System des Fetuses Medikamenten ausgesetzt wird.9
Es war bei Kindern psychotischer Mütter der Fall, dass sie im fetalen Stadium
antipsychotischen Medikamenten ausgesetzt waren, was sich wiederum auf die
Empfindlichkeit ihrer Rezeptorsysteme auswirkte und sie verletzlicher machte.10
Noch wichtiger ist, dass Rosengarten, Friedhoff und Miller feststellen: „Es
ist denkbar, dass mütterliche Neuropeptide, mütterliche Hormone (als Resultat
psychischer Zustände) und durch die Mutter übertragene Umweltchemikalien
solche Veränderungen vermitteln könnten.“ 11 Die
chemischen Veränderungen bei der schwangeren Mutter auf Grund ihrer Stimmungen,
sagen wir Depression, werden zu entsprechenden Veränderungen im fetalen System.
Wenn die Mutter deprimiert ist, so ist es vielleicht auch das Baby. Später dann
kann die ständige Depression der Mutter die Gefühle des Kindes dämpfen, weil
seine Ausgelassenheit auf keine angemessene Gegenreaktion seitens der Mutter
stößt. Durch ihre Niedergeschlagenheit unterdrückt sie schließlich das Baby
einfach auf Grund ihres emotionalen Zustands.
Ein Fetus kann die Angst einer schwangeren Mutter spüren. Er ist nicht im zerebralen Sinne des Begriffs bewusst; vielmehr ist er es in der Sprache von Unpässlichkeit, Unbehaglichkeit und vager Spannung, in der Sprache hormoneller Änderung und geänderten Blutflusses. Der Zustand der Mutter kann das Baby unruhig und ängstlich machen, und er kann diese Furcht zu einer permanenten Einprägung machen. In der Zeit vor der Geburt und in der Zeit nach der Geburt werden dieselben physiologischen Prozesse ersichtlich. Viele aktuelle Tranquilizer, die hochgradig gestörten Frauen verschrieben werden, ändern die Serotonin- und Dopaminspiegel des Fetuses und können ihn für spätere psychische Krankheit prädisponieren. Eine Frau, die andauernd raucht und trinkt, während sie schwanger ist, kann im Fetus den Ausstoß beider Transmittersysteme unterbrechen.
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Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1
A. J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter
Programming of Postnatal Receptor Function,“ in Progress in Brain Research
(Amsterdam, Niederlande) 73 (1988):
509-22.
N. 2
Ich frage mich, ob gering dosierte Dopamin-Tropfen, Deprenyl, bei
depressiven parasympath(et)ischen Patienten mit möglicherweise niedrigem
Dopaminspiegel gegen ihr
niedriges Energieniveau und ihre Depression helfen
könnte. Wir werden das in der Zukunft ausprobieren.
N. 3 H.
Uno et al., “Neurotoxicity of Glucocorticoids in the Primate Brain,”
Hormones and Behavior 28, no. 4 (Dezember 1994): 336-48.
N. 4 B.
S. McEwen, “Possible Mechanisms for Atrophy of the Human Hippocampus,”
Moleculary Psychiatry 2, no. 3 (Mai 1997): 255-62.
N. 5 H.
Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive Periods to the
Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin Receptors,” in Nervous
System Regeneration,
ed. A. M. Guiffrid-Stella (New York: Alan Liss, 1983), s.
511-13.
N. 6 Janet
Giler, “Attention Deficit Hyperactivity Disorder,” California Psychologist
(November/Dezember 1999): 52.
N. 7 H.
Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive Periods to the
Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin Receptors.”
N. 8 A.
J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter Programming of
Postnatal Receptor Function.“
N. 9 Ibid.
N. 10 Ibid.
N. 11 H.
Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive Periods to the
Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin Receptors.”