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DR. ARTHUR JANOV: DIE JANOV-LÖSUNG Primärtherapie - Ein Weg aus der Depression
Die amerikanische Originalausgabe mit dem Titel "THE JANOV SOLUTION - Lifting Depression Through Primal Therapy" erschien anno 2007 bei SterlingHouse Books, Pittsburgh, PA 15218. © Copyright 2007 Dr. Arthur Janov
aus dem Amerikanischen von Ferdinand Wagner
Es gibt zurzeit keine deutsche Übersetzung auf dem Buchmarkt |
Über dieses Buch Der Autor des Urschreis bietet an, das Leiden 'Depression' zu beenden. Dr. Arthur Janovs Buch Der Urschrei ist eines der populärsten Psychologie-Sachbücher, die je geschrieben wurden. Jetzt hat Dr. Janov ein Buch verfasst, das einen Durchbruch im Bereich der psychischen Gesundheit verspricht. Die Janov-Lösung stellt brilliante neue Techniken vor, um Depression auszurotten und somit das Bedürfnis nach antidepressiven Medikamenten, Elektroschock und sogar Gehirnchirurgie zu reduzieren oder zu beseitigen. Die Janov-Lösung erklärt in klarer, leicht verständlicher Sprache, wie Primärtherapie uns helfen kann, sicheren Zugang zu den tiefsten Gehirnebenen zu erlangen und die Urerfahrungen wieder zu erleben, die Verzweiflungsgefühle verursachen und antreiben. Somit können wir lernen, Depression für immer zu besiegen. Die Janov-Lösung ist nichts weniger als ein bahnbrechendes Buch für die Millionen Menschen, deren Leben aufgrund von Depression, Angst und lähmenden Trübsinns vielleicht auf dem Spiel steht.
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TEIL II
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"Ich verwende für meine Therapie die Begriffe ‚radikal’ und ‚revolutionär’ mit Vorsicht; dennoch glaube ich, dass sie das ist, und ich werde erklären warum. Sie ist in Form und Inhalt revolutionär, eine radikale Abkehr von den meisten Psychotherapien. Die involvieren gewöhnlich einen auf Einsicht versessenen Plausch zwischen zwei ungleichen Partnern, der eine mit Wortwissen und unfehlbarer Moralhaltung ausgerüstet, der andere ein williger Novize, der psychisch auf die Knie fällt, um das zu lernen, was der Wortgewaltige verabreicht, und sich dabei in das Äußere fügt anstatt in das Innere. Ich weiß es. Ich war dort, habe viele Jahre lang Einsichtstherapie praktiziert. Die Majestät all dessen ist berauschend für den Therapeuten. Die Macht, über das Leben eines anderen zu bestimmen, ist verführerisch – und falsch!"
----Arthur Janov, Kapitel 13 in diesem Buch
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Kapitel 7
Die
Wurzeln der Depression erforschen
(Wiedererleben)
Bei
einem Wiedererlebnis als Bestandteil der Primärtherapie beginnen wir die
Sitzung in der Gegenwart und bewegen uns vom linken Gehirn zum rechten - von
gegenwärtigen Wahrnehmungen zum Kontext der Vergangenheit, von einer
Unerfreulichkeit wie "Meine Freundin hat mich verlassen" zu den
tiefsten Zonen des Gehirns hinab, indem wir für einen Zugangskanal in unsere
Kindheit sorgen, wo wir fühlen: "Meine Mutter verließ mich, um eine neue
Familie zu gründen." Wir reisen wie in einer Zeitmaschine durch die
Geschichte und ermöglichen damit, dass Gefühle endlich aufsteigen und sich mit
dem linken frontalen Kortex verknüpfen. In der Tat ist das Gehirn eine
Zeitmaschine, die Äonen evolutionärer Geschichte widerspiegelt. Hier wird
jeder Schmerz nach Datum und Stärke verschlüsselt und etikettiert. Das System
reist auf natürliche Weise zurück; erst zu späterem und weniger intensivem
Schmerz, und dann tiefer zu qualvollerem früheren Schmerz. Wir können diese
De-Evolution nicht erzwingen. Der Patient kann und sollte Stufen seiner eigenen
Evolution nicht überspringen; er sollte nicht mit der Absicht, direkt in das
Geburtserlebnis einzutauchen, spätere Schlüsselereignisse umgehen. Genau das
machen leider die Rebirther heutzutage. Sie überspringen Entwicklungsstufen des
Gehirns und tauchen den Patienten in chaotische Geburtsempfindungen, ohne dass
eine richtige Verknüpfung zustande kommt. Diese Haltepunkte sind vom Gehirn
programmiert worden. Man muss uns nicht dorthin führen; das System ist ein
sorgfältiger Führer. In der Primärtherapie sorgen wir zuverlässig dafür,
dass Schmerz nicht blockiert wird, weil das Gehirn Gefühle und die dazu gehörenden
frühen Szenen unangetastet aufbewahrt. Weil jede höhere Gehirnebene dieselbe
Empfindung/ dasselbe Gefühl unterschiedlich ausarbeitet, können wir auf ihm
von der obersten Ebene aus hinabgleiten, und es wird uns schließlich bis zum
Grund bringen - zu den Ursprüngen. Dort unten angelangt wird sich das System
von sich aus automatisch nach oben auf die Verknüpfung zubewegen, indem es den
Pfaden der Evolution folgt. Wir bewegen uns dann wieder nach oben auf den
rechten orbitofrontalen Kortex (OBFK) zu, der direkt hinter den Augen liegt, und
dann zum linken präfrontalen Kortex zur endgültigen Verknüpfung. Der rechte
OBFC enthält eine Karte unserer Geschichte und unseres Gefühlslebens. Wie
verifizieren wir das? Wir stellen fest, dass bei nahezu jedem Wiedererlebnis die
Vitalwerte auf ein übermäßig hohes Niveau ansteigen; dieses Niveau fällt mit
der Verknüpfung auf normale, gesunde Werte. In einem Gefühlserlebnis ohne
Kontext - eine Abreaktion - kommte es nie zu dieser Art von organisierter,
koordinierter Bewegung der Vitalfunktionen. Eine Gehirnstruktur, die sehr viel
mit Depression zu tu hat, ist der linke präfrontale Kortex, das nach außen
orientierte, gedankenbildende, rationalisierende Areal, das dabei hilft, Gefühle
auf der rechten Seite gut unter Verschluss zu halten. Es kann
Hoffnungslosigkeit/Depression mit einem Wirbel von Gedanken, Projekten und Plänen
für die Zukunft in Schach halten. Anstatt auf innere Prozesse/Gefühle zu
achten, konzentriert es sich auf das Äußere im Hier-und-Jetzt. Bei unserer
eigenen Gehirnforschung haben wir bei Patienten, die einen Zugang zu ihren Gefühlen
entwickelt haben, ein harmonischeres Gehirn festgestellt. Es gab keine Kontrolle
mehr durch eine dominante linke Hemisphäre.
Niemand
kann einem anderen befehlen, dass er oder sie fühlt. Gefühle haben ihre eigene
Intelligenz. Wenn der Brennpunkt beim Therapeuten bleibt, ist alles verloren. Es
bedeutet, dass es weniger inneren Brennpunkt gibt. Alle unseren Techniken zielen
seit jeher darauf ab, den inneren Brennpunkt zu verstärken. Wenn ein Therapeut
im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und viel reden und erklären muss, ist
das umso schlimmer für den Patienten, weil der Brennpunkt jetzt außerhalb
seiner selbst liegt und seine oder ihre Gefühle längst wieder verschwunden
sind. Was Albert Ellis betrifft, den Vater der rational-emotiven
Verhaltenstherapie, haben wir in Filmen gesehen, dass er in den Sitzungen viel
mehr als der Patient redet. Seine Gedanken sind der zentrale Mittelpunkt. Die
Gefühle des Patienten ziehen sich in einen dämmrigen Halbschatten zurück.
In
der Primärtherapie sagt der Therapeut einige wenige Worte, weil Worte dazu
benutzt werden, die Abwehr des Patienten zu blockieren. Während eines Primals
(Wiedererlebnisses) weicht der linke präfrontale Kortex zugunsten der Gefühle
zurück. Unsere Aufgabe ist, den Patienten auf die richtige Spur zu bringen;
danach ist sie oder er auf sich gestellt. Sein oder ihr System weiß es besser
als wir. Es bedarf guter wissenschaftlicher Kenntnisse und braucht ein wenig
Vertrauen in den Patienten, um seinem oder ihrem tieferen Gehirn zu gestatten,
die Regie zu übernehmen. Die Gefühlskette ist wirklich eine neuronale Spur,
die sich ihren Weg hinab zum Hirnstamm und in die ferne Vergangenheit bahnt.
Bei
einem Wiedererlebnis haben wir es mit umgekehrter Evolution zu tun, weshalb ich
unsere Therapie als "umgekehrte Neurose" bezeichne. Der Schaltkreis
verläuft vom linken frontalen Kortex zum rechten frontalen Kortex (OBFK), hinab
zum Hippocampus, der die Geschichte nach ähnlichen Gefühlen durchsucht und für
eine Anleitung sorgt, wie man auf diese Gefühle reagieren soll; er macht dies
im Verbund mit der Amygdala, die den emotionalen Sinn des Gefühls beisteuert.
Zusammen mit anderen limbischen Strukturen setzt der Schaltkreis dann
verschiedene Erinnerungs-Bestandteile zusammen und läuft weiter zu
Hirnstamm-Strukturen, wo er sich erheblich auf Atmung, Herzschlag und Blutdruck
auswirkt. Schließlich wird eine Verknüpfung zurück nach oben zum OBFK der
rechten Seite und dann zu seinem linken Gegenüber hergestellt. Jetzt ist der
Kreis verknüpft. Der linke frontale Kortex übernimmt mit seinen Einsichten die
Regie. Er denkt darüber nach, welches Verhalten von Gefühlen gesteuert wurde.
Er setzt die Stücke zusammen. Er verbindet innere Realität mit äußerem
Verhalten und erklärt, welche Gefühle hinter einem bestimmten Verhalten und
Ausagieren stecken. Und das ist der Grund, warum Verknüpfung das Ende der
Depression bedeutet. Das sollte der Dreh- und Angelpunkt für alle
Psychotherapien sein.
Wenn
das Gefühl die Grundebene der Einprägung erreicht, macht es den Menschen zu
einem historischen Wesen mit genau den Vitalwerten und physischen Attributen,
wie sie bei dem frühen traumatischen Ereignis auftraten. Es bedarf hoher
Energie und der Freisetzung aktivierender Katecholamine, um das Originaltrauma
zu versiegeln und einer gleich großen Energie, um es wiederzuerleben und aufzulösen.
Es ähnelt sehr einem Vergnügungspark, wo man einen Hammer nimmt und auf einen
Sockel schlägt, um eine Kugel nach oben zu befördern, damit sie die Glocke ertönen
lässt. Wenn diese Kraft zu schwach ist, ertönt sie nie. Das gilt auch für die
Therapie. Wir können unsere Biologie nicht betrügen. Wenn das Energieniveau in
einer Sitzung nicht ausreicht, werden auf tieferen Ebenen im Gehirn des
Patienten keine Gefühle/Empfindungen ausgelöst, und wir werden die Primärglocke
niemals treffen; es wird keine Auflösung und Integration des Gefühls geben.
Deshalb sehen wir in konventioneller oder kognitiver
Einsichtstherapie diese Schmerzen nicht, vor allem die nicht, die aus dem
Geburtstrauma entstanden, und zwar wegen des niedrigen Energieniveaus, das mit
diesen Therapien verbunden ist. Sie können keine Heilung erzielen, weil das
Energieniveau in einer Sitz-und-Rede-Methode nicht ausreicht, um tiefe
Hirnstamm-Traumen zu aktivieren. Sie bleibt deshalb unterhalb der
Heilungschwelle. ‚Feeling is healing’, Fühlen ist Heilung.
Wenn der konventionelle Therapeut einen Patienten in sexuelle Erregung
versetzen könnte, wäre er vielleicht in der Lage, diese Erregung in ein
wirkliches Gefühlserlebnis umzuwandeln, aber ich bin mir nicht sicher, ob die
Person das begrüßen würde. An dem Wiedererlebnis ist das Gesamtsystem
beteiligt, wie es der Fall war, als die Erinnerung registriert wurde. Deshalb
finden wir bei unseren Bluthochdruck-Patienten ein durchschnittliches Absinken
der systolischen Werte um 24 Punkte. Es ist auch der Grund, warum wir in einer
Sitzung ein so enormes Absinken des Blutdrucks sehen, sobald das sympathische
Nervensystem, das für die Hypertension verantwortlich ist, dem
parasympathischen System weicht, das den Blutdruck senkt. Deshalb erlebt ein
parasympathisch-dominanter Patient (ein Depressiver), der die Sitzung mit einer
radikal angesenkten Körpertemperatur beginnt, nach der Sitzung einen Anstieg um
zwei oder drei Grad (F), da Fühlen das System normalisiert. Übrigens messen
wir die Vitalwerte eines Patienten vor und nach jeder Sitzung, so dass wir, wenn
jemand sich völlig hoffnungslos fühlt und mit einer Körpertemperatur von 95,5
Grad (F) hereinkommt, nach Auflösung eines Feelings einen Anstieg auf 98 Grad
(F) sehen.
Ein
Wiedererlebnis von Vorgeburts- und Geburts-Einprägungen wird genau dieselben
Reaktionen hervorrufen wie zur Zeit des Originaltraumas. Aber auch wenn kein
Wiedererlebnis stattfindet, bestehen die Reaktionen oder Fragmente der
Erinnerung fort, wie zum Beispiel schneller Herzschlag oder hoher Blutdruck.
Wenn wir eine vollständige frühe Vorgeburts-Erinnerung wiedererleben, deren
Bestandteil hoher Blutdruck war, dann wird auch dieses Erinnerungsfragment in
das vollständige Wiedererlebnis einbezogen sein, und der Patient sollte
folglich Erleichterung von dem aufdringlichen Symptom erleben. Wenn Aspekte der
Originalreaktion fehlen, ist das Wiederlebnis nicht vollständig und deshalb
nicht heilsam. Wenn wir den Blutdruck medikamentös behandeln und die
Hochdruck-Reaktion unter Verschluss halten, ist kein vollständiges
Wiedererleben möglich.
Wer
keine Therapie macht, braucht Beruhigungsmittel aus demselben Grund, aus dem
sie vielleicht unsere Patienten brauchen, wenn sie sich Gefühlen nähern: Die
Verdrängung ist schwach, und man benötigt chemische Hilfe, um sie zu stützen.
Die Drogen helfen, unsere innere schmerztötende Pharmazie zu normalisieren. Wir
wollen nicht, dass unsere Patienten im freien Fall in fernen und
hochenergetischen Schmerzen der ersten Ebene landen. Medikamente erlauben einen
langsamen methodischen Abstieg; sie halten den Patienten in der Primal-Zone.
Wenn Patienten ihre schmerzvolle Geschichte ausreichend wiedererlebt haben,
brauchen sie Alkohol, Drogen, Zigaretten oder Schmerztöter nicht mehr. Weniger
Schmerz bedeutet geringeres Verlangen nach Schmerztötern. Der Unterschied
besteht darin, dass die Medikation bei der konventionellen Therapie zum
Endspiel, zur alleinigen Masche wird. Bei unserer Therapie benutzen wir
Medikamente, um unser Ziel zu erreichen, und nicht an ihrer statt. Wir benutzen
Medikamente, um die Therapie zu unterstützen, und nicht, um sie zu ersetzen.
Die
Einprägung ist wirklich ein Reaktions-Ensemble, das gleichzeitig in das
Gesamtsystem eingeprägt wird. Es ist eine totale Erfahrung - anders als
intellektuelles Erinnern, das weitgehend geistig ist, das heißt, eine Operation
des linken frontalen Kortexes. Wir können uns nicht an eine Einprägung
erinnern. Wir können sie nur mit unserem Gesamtsystem erinnern - mit
unseren Muskeln, Eingeweiden und unserem Blutsystem - weil alle diese
Komponenten eines jeden von uns in die ursprüngliche Erfahrung verwickelt
waren; deshalb muss man sie mit allen Systemen wiedererleben, die ursprünglich
involviert waren, als sie verankert wurde. Nicht nur das, sondern sie muss mit
derselben Intensität wiedererlebt werden, mit der sie eingeprägt wurde,
weshalb man sie kaum jemals in konventioneller oder kognitiver Therapie gesehen
hat, wo die emotionale Ebene ziemlich unterjocht wird. Aus diesem Grund findet
der Patient in unserer Therapie am Anfang selten Erinnerungen von hoher
Leben-und-Tod-Valenz wieder.
Wir
haben einen Weg gefunden, um auf die Tiefen des Unbewussten in einer geordneten,
methodischen Weise zuzugreifen, so dass der Patient nicht von Schmerz überwältigt
wird. Wir wissen, dass der Schmerz höherer Valenz tief im Nervensystem liegt,
und deshalb umgehen wir am Anfang der Therapie jeden ‚Ausflug’ zu dieser
Ebene. Wir suchen die Vergangenheit in maßvollen Schritten wieder auf:
Kindheitsereignisse werden vor der Babyphase gefühlt, die Babyzeit vor der
Geburt und die Geburt vor der Schwangerschaftsphase. Und wir korrigieren und
beseitigen die Abweichungen, die uns durch ein frühes Trauma aufgezwungen
wurden, indem wir die Ereignisse erleben, welche die entscheidenden Abweichungen
verursachten. Die Einprägung ist das Problem und die Lösung. Die Saat der Lösung
liegt im Schmerz und nur dort. Zurückzugehen und uns von unseren Eltern
ungeliebt zu fühlen ist das Mittel zum Fühlen; erst wenn das erledigt
ist, können wir Liebe hereinlassen.
Limbisch
festgehaltene Ereignisse erlauben uns, unsere Kindheit wieder aufzuspüren -
Vaters Aftershave riechen, spüren, wie sich sein Bart anfühlt, unser
Kindheits-Zuhause sehen und uns erinnern, wie wir uns zu Hause beim Essen fühlten.
Wir sehen die Szenen von Familienkämpfen, von früher Angst und frühem
Schrecken. Wenn wir auf tiefere limbische Ebenen hinabsteigen, sehen wir
deutlich die Farbe des Teppichs, wir sehen den Ausdruck in Vaters Gesicht, und
wir spüren Mutters Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit. Wir sind wieder
das verletzliche, sensible Kind. Patienten in einer primärtherapeutischen
Sitzung können sich bis ins kleinste Detail an Szenen erinnern, als sie 6 Jahre
alt oder jünger waren, Szenen, an die sie sich andernfalls nie hätten erinnern
können. Alles, was draußen war, ist drinnen; alles, was Patienten brauchen,
ist Zugang. Ich finde es erstaunlich, dass irgendwo in diesem Gehirn der Geruch
von Vaters Pfeife steckt und unser Kindbedürfnis danach, dass er sich uns
zuwendet und nur eine Minute mit uns spricht; eine gewisse Anerkennung, dass wir
existieren und für jemanden wichtig sind. Wenn es nie geschah, hören wir auf
zu erwarten, dass es geschieht. Wir machen uns wieder an unsere lieblosen Geschäfte.
Das
ist der Schlüssel: Am bemerkenswertesten in unserer Therapie ist, dass
biologisch kein Unterschied zu sein scheint, ob das Kind von Beginn an geliebt
wird oder ob man den Liebesmangel später wiedererlebt. Was in primärtherapeutischen
Sitzungen geschieht, ist eine Analogie unserer evolutionären Geschichte. Wenn
ein Patient in die Tiefen der Hoffnungslosigkeit taucht, hinab auf den Grund
seiner tiefen Depression
, kommt es zu einem Wechsel, und es
dominiert das sympathische System mit häufigem Urinieren, hohem Blutdruck,
schnellem Herzschlag, Magenkrämpfen und Muskelspannung. Das System reagiert auf
den eingeprägten Schmerz und ist hochgradig erregt. Das erwachsene System kann
jetzt mit dem Schmerz fertig werden, wozu das System des Kleinkinds nicht fähig
war. Der Schmerz kann jetzt erlebt werden, weil die kritische Periode vorbei
ist.
Es
reicht nicht, in der Therapie Schmerz zu fühlen, denn wir müssen verstehen,
dass innerhalb des Schmerzes das Bedürfnis liegt, das Bedürfnis, das sich
anfangs zu Schmerz wandelte, als es nicht erfüllt wurde. Es ist ein Bedürfnis,
das letzlich voll erlebt werden muss. Zum Beispiel existiert - unartikuliert -
das Saugbedürfnis, sobald wir geboren sind. Wenn Mutter die Brust
anbietet, gibt es Befriedigung und Entspannung. Ohne Befriedigung bleiben wir
vielleicht in einem sympathisch dominanten Zustand mit beschleunigten Funktionen
und haben immer noch das Bedürfnis zu saugen. Es gibt nichts in der Umgebung,
das dem parasympathischen Nervensystem erlauben würde, einzuschreiten und
dieses Bedürfnis zu zerstreuen. Wenn jemand im Zusammenhang so kontinuierlich
saugt wie dieses bedürftige Kleinkind, kann er oder sie schließlich das unaufhörliche
Bedürfnis zu saugen (an Zigaretten, Bierflaschen, und so fort) auflösen. Das
Ausagieren, das in diesem Fall vielleicht involviert, Frauen zu bekommen, die
uns bemuttern, erinnert uns ständig daran. Damals brauchten wir eine Mutter.
Jetzt brauchen wir keine Mutter, es sei denn, wir hatten damals keine gute. Wenn
das Bedürfnis nicht erfüllt wird, agieren wir es symbolisch aus. Weil die Erfüllung
symbolisch ist, ist sie nie befriedigend oder lösend. Der Fortschritt in der
primärtherapeutischen Behandlung eines Depressiven verläuft von vagem Leiden
zu spezifischem Schmerz /Bedürfnis, das zu einem Gefühl wird, welches dann mit
Gedanken verknüpft wird und zu einer Einsicht wird. „Im Zusammenhang“ ist
hier entscheidend, denn wir können Woche um Woche den ganzen Tag lang saugen -
wie wir es beim Zigarettenrauchen machen – ohne das Bedürfnis aufzulösen.
Das Bedürfnis liegt in der Geschichte zurück und muss in dieser Geschichte mit
dem damals funktionsfähigen Gehirn und keinem anderen gefühlt werden.
In
meinem Buch Die Biologie der Liebe erörterte ich die Experimente, die
wir am UCLA Lungenlaboratorium durchführten. Das Ergebnis war, dass Patienten,
die Anoxie (Sauerstoffmangel) bei der Geburt wiedererlebten, ohne
Hyperventilationssyndrom 20 Minuten lang tief, schnell und schwer atmen konnten.
Wenn sie nicht in dem Feeling steckten, waren sie nach zwei Minuten benommen,
schienen gleich bewusstlos zu werden und hatten klauenförmige Finger wie Leute
mit rheumatischer Arthritis. Solange sie mit dem Gehirn, das Sauerstoff
brauchte, tief in ihrer Geschichte zurück waren, hatten sie keine Probleme mit
tiefem Atmen. Diese Forschungsstudie erklärt eindeutig, was ein Wiedererlebnis
ist und was nicht. Es ist kein Nachmachen und keine Abrektion; es ist ein
wirkliches Ereignis. Es ist Auflösung, weil Wiedererleben die gesamte
psychotische Originalszenerie einschließt. Wenn man sich in seine Geschichte
vertieft und wieder zur kritischen Periode zurückgeht, dann ist das heilsam;
alles andere ist symbolisch. Sobald ein Mensch seine Vergangenheit gefühlt hat,
braucht er keinen anderen mehr, der
oder die ihm „Leben einhaucht,“ was das Kennzeichen eines Depressiven ist.
Es gibt kein Bedürfnis mehr nach anderen, die uns Schwung geben, uns
provozieren und stimulieren.
Das
Bedürfnis zu fühlen ist das Entscheidende, weil das Bedürfnis zur Warnung in
Schmerz umgewandelt wird. Das Bedürfnis zu fühlen bedeutet, das Bedürfnis
nach Sauerstoff zu fühlen, wenn er bei der Geburt wegen der Betäubungsmittel
fehlte. Der Patient keucht und würgt vielleicht und läuft rot an, wenn er das
Ereignis wiedererlebt. Er erlebt das Bedürfnis wieder, ohne dass Worte fallen,
und das reicht. Der Schmerz lässt nicht nach, bis das Grundbedürfnis gefühlt
wird. Ja, wir müssen Schmerz fühlen, aber das ist eine Station in Richtung Bedürfnis.
Wenn ich das Bedürfnis, dass ich die Hilfe meiner Mutter brauche, immer wieder
fühle, dann höre ich auf, das dadurch auszuagieren, dass ich versuche, eine
Frau zu bekommen, die mich bemuttert. Wir können es nicht nur ein einziges Mal
fühlen und dann Veränderung erwarten; wir müsssen es fast so oft fühlen, wie
unsere Mutter uns Hilfe verweigerte. Genau das meine ich mit Schichtung; das Bedürfnis
und die nachfolgende Deprivation verstärkten sich Jahr für Jahr. Es wird
beinahe zu einer gigantischen Aufgabe, den Schmerz zu fühlen. Er lässt sich
nur in kleinen Stückchen wiedererleben. Wenn jemand versucht, ihn mit Hilfe von
Drogen in seiner Gesamtheit zu fühlen, ist es nahezu gewiss, dass er oder sie
scheitert. Das System ist nicht dafür gemacht, sich mit
überwältigenden Gefühlen zu verknüpfen.
Nach
der Verknüpfung – nach dem Gefühl „Niemand will mich, sie haben mich nie
gewollt“ – wechselt das System in einen parasympathisch dominanten Zustand.
Das System kann jetzt zur Ruhe kommen, weil die Gefahr Vergangenheit ist und
sich in der Vergangenheit befindet. Wenn wir uns mit der Leidenskomponente der
Erinnerung verbinden und die fremde Kraft integriert wird, beginnt sich die
„Kaskade“ von Abweichungen in mehreren
Körpersystemen zu normalisieren.
Wenn
man Schmerz und Bedürfnis voll wiedererlebt, erzeugt man ein physiologisches
System, das so funktioniert, als sei dieses Bedürfnis immer erfüllt worden. Es
befreit die Parasympathin, so dass sich ihr Gesichtskreis erweitert und sie mehr
Chancen ergreift. Es ermöglicht dem Sympathen, mit dem unaufhörlichen Kampf
aufzuhören, der ihn nie entspannen lässt. Schließlich bringt es unser System
ins Gleichgewicht zurück, so dass wir keine Gefangenen von Medikament um
Medikament, Droge um Droge mehr sind. Ein ausgeglichenes System bedeutet, dass
der chronisch niedrige Testosteronspiegel des männlichen Parasympathen sich
normalisiert, was sich nach einem Jahr Primärtherapie herausgestellt hat. Es
bedeutet, dass er jetzt durchsetzungsfähiger und weniger depressiv ist. Ein
ausgeglichenes System bedeutet, dass man keine fünf Tassen Kaffee am Tag
trinken muss und nicht mehr süchtig nach Coca Cola ist. Es bedeutet, dass man
nicht rauchen muss – eine Gewohnheit, die letztlich unser Leben verkürzt. Es
ist die wahre Bedeutung von Freisein.
Wir
sind fast alle Gefangene unseres Prototyps. Die kognitive Therapie geht von der
Annahme aus, dass wir sehr viel Willensfreiheit haben. Ich bin mir da nicht so
sicher. Wir haben innerhalb unseres Prototyps eine gewisse Wahlfreiheit, aber es
ist ein enges Spektrum. Wir haben aber die Freiheit zurückzukehren und
herauszufinden, wie das alles angefangen hat. Das wird schließlich unsere Wahlmöglichkeiten
im Leben erweitern.
Die
Physiologie der Hoffnungslosigkeit
Schauen
wir uns einige physio-chemischen Effekte einer Einprägung an.
Nehmen wir an, bei der Geburt und während der Schwangerschaft gab es
Sauerstoffmangel, wie er zum Beispiel von einer schwangeren Frau verursacht
wird, die in der Schwangerschaft Zigaretten rauchte und zusätzlich Betäubungsmittel
erhielt, um den Schmerz während der Wehen abzutöten. Diese zwei Faktoren
etablieren eine physiologische Aufzeichnung im Sytem ihres Babys. Diese
Aufzeichnung orchestriert eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen; jede
Reaktion ist eine Anpassung an die urspüngliche Bedrohung des Überlebens. So
kommt es zu einem geringeren Sauerstoffbedarf, der sich durch Atmungsveränderungen
wie zum Beipiel seichtes und kurzes Atmen ausdrückt. Es ergibt sich auch ein
geringerer Ausstoß der Schilddrüse, niedrigerer Blutdruck und niedrigere Körpertemperatur
und Erschöpfung, wie zum Beispiel beim Sysndrom der chronischen Ermüdung. Zusätzlich
findet man viele Phänomene, die von Hirnstamm-Funktionen gesteuert werden, wie
Schmetterlinge im Bauch, Benommenheit und Orientierungslosigkeit und ein vages
Schreckensgefühl. Wenn sich früh im Leben Schrecken festsetzt, hat der Fetus
oder das Neugeborene keinerlei kortikale Fähigkeit, dessen Auswirkungen
abzuschwächen. Die Natur tiefen Terrors oder Schreckens ist so profund, dass
man ihn im Wiedererlebnis Jahrzehnte später nur für jeweils kurze Augenblicke
fühlen kann.
Hoffnungslosigkeit,
Hilflosigkeit, Verzweiflung und Resignation können durch verminderten
Sauerstoff eingeprägt werden; alle diese realen Empfindungen begleiten die
Erinnerung. Das ist Depression
, ein Zustand der sich durch ein
diktatorisches Elternhaus verschlimmerte, wo das Kind niemanden hatte, an die
oder den es sich mit seinen Gefühlen wenden hätte können. Es ist nicht
unbedingt so, dass die Eltern die Gefühle des Kindes unterdrückten, sondern
sie waren vielleicht emotional nicht präsent. Das Ergebnis ist das gleiche: Es
gibt niemanden, dem wir unsere Gefühle mitteilen können. Wieder sind wir
hilflos und hoffnungslos. Keine wesentliche Anstrengung zu unternehmen, nicht für
den Erfolg zu kämpfen, weil kämpfen bei der Geburt die Möglichkeit zu sterben
bedeutete, ist auch Teil des Anpassungsprozesses - Energie sparen fürs Überleben.
Ich
erinnere mich, dass ich in meinen psychoanalytischen Tagen Patienten sagte, sie
hätten eine "maskierte Depression
," weil sie nicht einmal wussten,
dass sie sich deprimiert und hoffnungslos fühlten. Aber sie wussten es doch.
Jetzt muss ich den Patienten gar nichts sagen. Sie finden es selbst heraus. Sie
fühlen die frühe Hoffnungslosigkeit, die sich fast immer durch eine sehr
niedrige Körpertemperatur ankündigt, und sie kommen langsam aus ihrer
Depression
heraus.
Frühes
Trauma
Vor
kurzem behandelte ich einen tief depressiven Patienten, der viele
charakteristische Symptome aufwiese, wie zum Beipiel Lethargie und ein Gefühl
der Hoffnungslosigkeit. Am Anfang der Sitzung war er entmutigt, weil er einen
Job nicht bekommen hatte, und gefangen im „Was-hat-das-für-einen-Sinn“-Syndrom.Während
seiner Sitzung glitt er in seine Kindheit hinab und fühlte, wie allein er in
seinem ganzen frühen Leben war. Von da fiel er weiter in DAS Ereignis zurück
– in sein Geburtstrauma. Das wird einigen Lesern bizarr scheinen, aber ich
versichere Ihnen, das ist es nicht. Das Geburtstrauma ist ein messbares Ereignis
mit quantifizierbaren neurochemischen Effekten, die ein Leben lang anhalten. Es
verschiebt das Nervensystem und den Rest unserer Physiologie in Richtung
Hypo-Modus, ein Ereignis, das viele der Empfindungen und Gefühle, die
Depression kennzeichnen, in unserem Nervensystem versiegelt.
Das vielleicht häufigste Trauma, das einem Baby zustößt, ereignet sich, wenn die Mutter bei der Geburt Betäubungsmittel erhält, um ihren Schmerz zu lindern. Die Dosis, die sie erhält, mag für ihr Körpergewicht von 130 Pfund und ihren Gesundheitszustand angemessen sein, aber für das Neugeborene ist sie überwältigend. Das Baby wiegt sechs Pfund und erhält durch die Mutter eine Dosis, die für sein System zu massiv ist. Viele seiner Systeme einschließlich des ganz wichtigen Atmungssystems verschließen sich dann. Dieses Ereignis hat viele andere schädliche Auswirkungen, nicht zuletzt Asthma, ein Phänomen, das ich in Kürze erörtern werde.
Kapitel 8
Wie
Depression die Macht ergreift
Damit
wir Glücklichkeit und Depression voll verstehen können, möchte ich mit einem
einfachen Lehrsatz beginnen: Erfahrung ist sowohl körperlich als auch
psychisch. Was mit uns im Leben geschieht, beeinflusst uns total und nicht nur
psychisch. Es ist keine Enthüllung, wenn man sagt, dass die Psyche Bestandteil
des Körpersystems und mit diesem verbunden ist, aber die Unfähigkeit, das zu
verstehen, hat zu einem Missverständnis darüber geführt, worum es bei Glücklichkeit
und Depression geht.
Ich
habe anderswo (Der Urschrei) darauf hingewiesen, dass frühe Ereignisse in
unseren Systemen registriert werden, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst
sind. Bei Neurose, wo zwischen Körper und Psyche eine Kluft besteht, kann die
Bewusstseins-Erfahrung ziemlich verschieden von der System-Erfahrung sein. Wenn
wir neurotisch sind, können wir uns selbst „belügen.“ Wir können glauben,
dass wir glücklich seine, während im Inneren lautlos der Schmerz tobt. Erst
wenn ein starkes Gegenwartsereignis alte Gefühle auslöst, werden wir uns des
Leidens bewusst. Wir sind uns nicht des exakten Gefühls bewusst, sondern wissen
lediglich, dass wir uns hundsmiserabel fühlen.
Vielleicht
können wir das klarer verstehen, indem wir hypnotische Zustände untersuchen.
Ein Hypnotiseur auf der Bühne kann sich einen mürrischen, erstarrten
Neurotiker aus dem Publikum suchen und in ein paar Sekunden oder Minuten eine
sprudelnde „glückliche“ Person „produzieren.“ Ist dieser Mensch
wirklich glücklich? Würde man ihn fragen, würde er sagen: „Ja, ich bin glücklich.“
Er scheint genau so glücklich,
wie jeder Neurotiker glücklich scheinen könnte. Er ist fröhlich, lächelt
und ist anscheinend sorglos. Die objektiven Kriterien sind vorhanden, aber wir
wissen, dass es ein falscher Zustand ist. Mit Hilfe der Hypnose konnte die
Person sich selbst belügen. Aus seinem hypnotischen Zustand befreit könnte er
durchaus sofort zu seiner natürlichen Depression zurückkehren. Das
unterscheidet sich nicht von Neurose, bei der Eltern pseudo-glückliche Kinder
„produzieren,“ denen nicht erleubt wird, missmutig oder traurig zu sein. Gewöhnlich
dürfen sie nicht einmal mürrisch sein, weil das die Eltern an ihr Versagen
erinnert. Man könnte dieses Kinder fragen, ob sie glücklich sind, und würde
dieselbe positive Antwort bekommen, die hynotisierte Subjekte geben würden;
deshalb ist Hypnose einfach eine vorübergehende Neurose. Obgleich sowohl das
neurotische Kind als auch das hypnotisierte Subjekt bewusst von „Glücklichkeit“
berichten würden, würden ihre Körper dennoch große Spannung zeigen. Somit wäre
ihre „Glücklichkeit“ zerebral und nicht organismisch. „Glücklichkeit“
im neurotischen Sinn wäre dann eine wirkungsvolle Flucht aus dem Körper. Die
Flucht anzuhalten – den Neurotiker aus seiner „Hypnose“ zu befreien -
bedeutet, Primärerlebnisse und Primärelend zu produzieren – ein
organismischer Zustand.
Warum
ist der Neurotiker unglücklich? Weil er durch traumatische Erfahrungen in der
Schwangerschaft, bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren seiner selbst
beraubt worden ist. Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, wenn einem nicht
erlaubt wird, sich zwanglos und ehrlich zu äußern, dann kommt es zu
Traurigkeit. Primärpatienten weinen darüber, dass sie nicht in den Arm
genommen wurden, dass man ihnen nicht zuhörte, dass ihnen in ihren
Schlafzimmern keine Privatsphäre erlaubt war, denn als Kinder ertranken sie in
Vernachlässigung und waren sich der subtilen Tragödie nicht bewusst, die sich
gerade abspielte. Aber Stück für Stück wuchs die Tragödie, nur dass es
nichts Besonderes gab, auf das man hindeuten konnte, nichts, über das man
weinen konnte, nichts, das das Kind wissen ließ, dass es am Ertrinken war. Der
Körper des Individuums häufte Traurigkeit an, die sich später in Depression
übersetzte. Später dann fällt diesem Menschen eine Menge ein, um sich vor dem
erdrückenden Gewicht seiner Entbehrungen zu schützen. Er wird trinken, hart
arbeiten oder Drogen nehmen. Sobald man ihm jedoch ein Ventil wegnimmt, wird er
anfällig für Depression. Jeder Neurotiker ist traurig, ob er es weiß oder
nicht. Oft weiß er es nicht, weil der Zweck der Neurose darin besteht, die Tragödie
am Lebensanfang zu verbergen. Neurose macht uns andauernd ahistorisch.
Die
Funktion der Neurose ist, Primärgefühle in der Schwebe zu halten, bis sie
sicher integriert und aufgelöst werden können. Unterdessen ist das gesamte
System an diesen Gefühlen beteiligt und wird zu einem Teil von ihnen, entweder
um sie zu fühlen oder um ihnen zu entkommen. Eine gute Flucht nennt man „Glücklichkeit,“
eine wirkungslose heißt „Depression.“
Der
Depressive steckt in der Zeit fest. Er steckt in seiner Vergangenheit fest, ob
er sich dessen bewusst ist oder nicht, so dass alles, was er tut, ein
symbolisches Portrait dieser Vergangenheit ist. All die Jahre, die zwischen
seiner ursprünglichen Spaltung und dem Erwachsenenalter liegen, haben nur
hinsichtlich der Primärgefühle Bedeutung. Diese Gefühle werden nie ausgelöscht
(es sei denn durch Primärtherapie), und was man am besten machen kann, ist, sie
abzuwehren. Das bedeutet, dass wir alle für Traurigkeit offen sind, wenn unsere
Abwehr nachlässt. Wenn man plötzlich arbeitslos wird oder im Stich gelassen
wird oder von den Freunden ‚geschnitten’ wird, dann bereitet das alles den
Boden für die Depression. Was der Depressive fühlt, wenn seine Abwehr
zeitweise außer Funktion ist, ist die Depression, nicht aber das Gefühl,
deprimiert zu sein. Er spürt den Druck gegen jene Gefühle, den Druck, der
diese Gefühle tief in sein System zurückdrängt. Dieser Druck erzeugt mühseliges
Sprechen, schwerfällige Bewegung und totale Erschöpfung, so dass der
Depressive wenig Energie hat und in Zeitlupe herumläuft.
Gib
einem Depressiven ein neus Ventil, einen neuen Job, eine Party oder die Chance,
einkaufen zu gehen, und der gesamte nach innen gerichtete Druck ergießt sich in
manische Aktivität. Er „schmeißt sich“ buchstäblich in seine Arbeit. Er
ist in den Augenblicken „glücklich,“ wenn seine Arbeit ihn glücklich
macht. Was wirklich geschehen ist, ist, dass er ein Ventil gefunden hat, das ihm
hilft, seine Primärtraurigkeit zu verbergen. Hier sehen wir die Basis für die
bipolare Störung oder manische Depression. Das ist keine andere Krankheit,
sondern eine andere Art von Schablone: parasympathische Tiefen (bei der Geburt),
denen manische Energie folgt. Die Prägung ist dasselbe zyklische Ereignis wie
das bei der Geburt. Wenn die Depression versagt, setzt manische Aktivität ein.
Es ist dieselbe Energiequelle aber eine andere Art, damit umzugehen. Somit können
wir sehen, dass einige von uns sich früh im Leben verschließen und aufgrund
fehlender Ventile „tot“ und depressiv werden. Andere verschließen sich und
benehmen sich lebhaft. Wenn jemand seine Eltern dadurch erfreut, dass er oder
sie den „glücklichen Clown“ spielt, dann wird das zur Daueraktion. Wenn es
keine Möglichkeit gäbe, sie zu erfreuen, wenn man jedes Mal abgelehnt, unterdrückt
und zurückgewiesen würde, dann würden sich Leblosigkeit und Depression verstärken.
Gib dem „glücklichen Clown“ keine Gelegenheit für seine Vorführung und
die lauernde Traurigkeit kommt allmählich hoch. Das war nie zutreffender als
bei den Berufskomödianten, die ich behandelt habe. Ich behandle gerade einen
Depressiven, dessen Mutter chronisch krank war; er wurde zum Spaßvogel, weil er
sie damit aufmuntern wollte. Obwohl es nie lange wirkte, wurde es zu einem
Gewohnheitsmuster.
Manchmal
funktionieren Ventile nicht, und der Depressive hält sich an Drogen, die ihm
helfen, seine Gefühle zu verdrängen. Die Wahl fällt in der Regel auf
Aufputscher einschließlich Kokain. Wenn die Schwangere „Downers“ zur
Beruhigung nahm, ist es nahezu eine mathematische Gewissheit, dass der Nachwuchs
süchtig nach Aufputschern ist, angefangen mit Coca Cola bis hin zu den
Amphetaminen. Eine normale Person ist nie deprimiert; sie hat keine Rücklage an
Gefühlen, die unaufgelöst im Inneren liegen. Sie ist Gefühlen gegenüber
offen und verdrängt Unerfreuliches nicht. Sie wird traurig sein, wenn es
angemessen ist. Aber Traurigkeit ist ein „Jetzt“-Ereignis, ein wirkliches
Gefühl, das sich auf wirkliche Situationen bezieht. Depression ist ein
„Damals“-Gefühl, das sich nicht auf das „Jetzt“ bezieht. Wenn das
kleine Kind jede ursprüngliche Einprägung fühlen könnte, würde es in seinem
Leben nicht depressiv werden.
Heutzutage
ist Depression vielleicht noch verbreiteter als Angst. So viele Leute sind
depressiv (die Gesundheitsbehörden sagen, dass zu jedem gegebenen Zeitpunkt
etwa 19 Millionen Amerikaner Depressionen haben), dass man sie als „die Erkältungswelle
der Psyche“ bezeichnet hat, eine Bezeichnung, die das damit verbundene Leiden
trivialisiert. Die große Mehrheit an Selbstmorden geschieht bei Leuten, die
chronisch depressiv sind.
Freud erklärte Depression damit, dass sie nach innen gerichtete Wut oder Feindseligkeit sei, eine unbewiesene Theorie, die noch immer viele Anhänger hat. Andere Theorien behaupten, dass sei „ungelöste Schuld“ sei oder ein oder mehrere Verluste, die man nicht richtig verarbeitet hat. Immer mehr Experten auf dem Gebiet sagen jetzt, Depression habe eine genetische Komponente, insbesonders wenn es sich um die manisch-depressive Variante handelt. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Auch wenn es eine vererbliche Anfälligkeit gibt, ist das keine Garantie für spätere Depression.
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Joliet
Mir
war immer so, als würde sich mein Leben davonstehlen, also habe ich oft
versucht, es wegzuwerfen. Mit 14 machte ich mir Sorgen, dass ich eine alte 15-jährige
Jungfrau sein werde, und so heiratete ich mit 19. Dann war ich besorgt, dass ich
eine uralte 22-jährige sein könnte, bevor wir uns ein Baby leisten könnten.
Mein erstes hatte ich mit 21. Wir konnten uns das Baby nicht leisten. Wir
konnten uns den kleinen Sarg nicht leisten, in dem es beerdigt wurde. Ich machte
mir Gedanken, wie es sein würde, 30 oder 40 zu werden. Dank der Primärtherapie
mache ich mir keine Sorgen darüber, 50 zu werden. Ich weine über die Jahre,
die mir gestohlen wurden, aber ich habe keine Panik.
Ich
habe zweimal Selbstmord versucht. Auf passive Weise bin ich noch immer ziemlich
suizidal, indem ich ein heißes Sonnenbad am Strand nehmen kann, mich sanft
streicheln lasse von der salzigen Gischt, die der Wind gelegentlich heranweht,
und dabei denke, was für ein wundervoller Tag zu sterben das wäre. Wie schön,
an einem Tag zu sterben, an dem ich mich gut fühle!
Ich
habe einen großen Kopf. Meine Mutter war kaum fünf Fuß groß, und sie gebar
ein 11 Pfund schweres Baby – nach Wehen, die so lange dauerten, dass wir beide
eigentlich hätten sterben müssen; ich weiß, dass ich beinahe gestorben wäre.
Ich wollte aufgeben, aber ich konnte es nicht. Ich wäre beinahe in der Flüssigkeit
ertrunken, die mich gepolstert hat. Ich erstickte, während mein Kopf gegen das
Becken meiner Mutter schlug. Von daher rührt ein Schmerz in meinem Nacken, Kopf
und Schultern, ein Schmerz, der meine Arme manchmal bis in die Fingerspitzen
kribbeln lässt. Sogar mein Rücken tut weh. Die Autopsie, die an meiner Mutter
nach ihrem Tod durch Abtreibung durchgeführt wurde, zeigte ein gesprungenes
Becken, das sich nach meiner Geburt nie wieder völlig geschlossen hatte. Ihre
Familie erinnert sich, dass sie „komisch“ ging, nachdem ich geboren war. Ich
weiß nicht, wie lange es nach meiner Geburt gedauert hat, bis sie überhaupt
wieder ging.
Schließlich wurde ich durch meine eigenen Antrengungen geboren. Niemand und nichts war für mich da. Alles, was ich hatte, war meine arme bewusstlose Mutter. Ich lebte, und ich hatte nichts. Ich fühle mich oft hoffnungslos. Wenn der Tunnel mit dem Tageslicht an seinem Ende nur eine Metapher ist, warum weine ich dann, wenn ich diese Zeilen schreibe?
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Randall
Vor
vielen Jahren hat mich eine Freundin schmerzlich fallen lassen, und meine
Reaktion darauf war gewaltig. Es hat mir so weh getan. Nachdem ich eine Woche
geweint hatte, erkannte ich, dass mein Schmerz damit zu tun hatte, dass ich von
meiner Mama getrennt wurde, als ich ein Baby war. Ich wäre beinahe freiwillig
in die Psychiatrie gegangen. Ich hielt mich aus der Klinik raus, indem ich in
der Lage war, alleine Primal-Wiedererlebnisse zu haben – jeden Tag sechs
Stunden lang. Ich verlor 15 Pfund. Ich weinte und hatte Primals, wenn ich mich
schlafen legte, in meinen Träumen und nach dem Aufwachen. Die Gefühle waren in
jedem Augenblick bei mir, ob ich wach war oder schlief. Ich war überlastet,
aber mir fehlte die Erkenntnis oder die Bewusstheit, dass ich Gefühle
wiedererlebte; ich war einfach IN den Gefühlen.
Eines
Morgens wachte ich um 3 Uhr morgens auf, und mir war, als würden meine
Eingeweide gleich explodieren, wie bei einer Blinddarmentzündung, aber im
gesamten Unterbauch. Ich preschte mit 50 Meilen durch Nebenstraßen, dachte, ich
würde gleich sterben. Erst als ich in der Notaufnahme ankam, war mir klar, dass
ich nicht sterben würde. Es war das $10-Benutzergebühr-Zeichen, das mich in
die Gegenwart zurückschnappen ließ. Mehrere Stunden saß ich dort schmerzgekrümmt,
bevor ich nach Hause fuhr.
Eine
oder zwei Wochen später hatte ich zwei Tage lang eine Reihe von
Wiedererlebnissen
über meine Geburt. Ich erinnerte mich an das Entsetzen, als ich grob
hochgezogen, an den Fußknöcheln gehalten und auf den Hintern geschlagen wurde;
und dann, nachdem ich das alles ausgehalten hatte (einschließlich bewusstlos
geboren worden zu sein), haben sie mich nicht einmal zu meiner Mutter gelegt.
Ich war als Baby in Schrecken aufgelöst, und ich war entsetzlich ALLEIN. Ich
kehrte einige Male zu dieser Szene zurück und erlebte das gewaltige Entsetzen
wieder, als ich von meiner Mutter getrennt wurde. Das entschärfte die Angst-Überlastung,
in der ich steckte. Auf einer gewissen Ebene wusste, das ich über den Berg war.
Die Primals dauerten einige weitere Wochen an, waren aber weniger intensiv und
hatten damit zu tun, dass ich von meiner Mutter allein gelassen wurde, in der frühen
Kindheit nicht in den Arm genommen wurde, usw. Leider habe ich diese
Primal-Sequenz nicht mit Hilfe eines Therapeuten vervollständigt. Ich konnte
nicht um therapeutische Hilfe bitten, was Teil des Ausagierens desselben Gefühls
war: ICH BIN ALLEIN. Ich hörte allmählich mit dem Fühlen auf und fing an, übermäßig
zu essen. Ich nahm die verlorenen 1 Pfund wieder zu und legte weiter 10 Pfund
zu.
Etwa
sechs Monate später kehrte ich nach Kanada zurück. Langsam und unbewusst
verschloss ich mich immer mehr. Ich glaube, meine Hauptabwehr war Isolation. Ich
hatte einfach das Gefühl, dass ich auf dieser Welt nicht funktionieren konnte.
Jahrelang kam ich finanziell nur mit Müh und Not über die Runden. Rückblickend
kann ich sehen, dass meine Gefühle sagten, dass ich nicht überleben könne,
was dann in folgendem Gefühl resultierte: „Ich kann den Konkurrenzkampf nicht
überleben.“ In den folgenden vier Jahren glitt ich langsam in eine tiefe
Depression: Ich hatte keine Freunde, traf mich mit niemanden, war suizidal und
wollte nichts versuchen. Je weiter ich mich von meinen Gefühlen entfernte, umso
depressiver wurde ich.
Mein
Arzt weigerte sich, mir Valium zu geben, also war ich ein Monat lang ständig
betrunken. Ich versuchte, am Leben zu bleiben. Die Selbstmordneigung wurde allmählich
überwältigend. Eines Nachts lag ich im Bett und klammerte mich an dieses Bett,
weil ich diesen gewaltigen Impuls hatte, aufzustehen, in die Küche zu gehen und
mir das Küchenmesser über meine Handgelenke zu ziehen. Ich klammerte mich
buchstäblich ans Bett, weil mir mein Leben lieb war. Ich habe nicht bei der
Telefonseelsorge angerufen oder mit sonst jemandem über meine Suizidalität
geredet. Ich habe noch immer ausagiert, dass ich allein war. Obwohl ich
Primal-Wiedererlebnisse übers Alleinsein nach der Geburt hatte, war da noch
mehr.
Ungefähr
zu dieser Zeit fing ich an, unter Migräne-Kopfschmerz zu leiden. Etwa einmal im
Jahr bekam ich eine Migräne, die mich völlig außer Gefecht setzte. Dieses
Muster hatte in der Kindheit begonnen, im Jugendalter aufgehört und sich dann
bis ins frühe Erwachsenenalter fortgesetzt. Ungewöhnlich war, dass ich in den
vergangenen sechs Monaten einige Attacken hintereinander hatte. Eines Nachts kam
die Migräne nach ein paar Tagen Atempause zurück. Sie begann etwa um 5 Uhr
nachmittags und dauerte bis ungefähr bis 2 Uhr früh. Ich dachte wirklich, dass
mein Kopf gleich explodieren würde. Ich ging umher, versuchte heiße
Kompressen, kalte Kompressen, übte mit meinen Händen und einem Kissen Druck
auf meinen Kof aus und rollte mich zusammen – und langsam hatte mich die
Agonie total im Griff. Ich dachte wirklich, dass ich gleich an diesen
Kopfschmerzen sterben werde, und ich suchte nicht nach Hilfe. Im Nachhinein
gesehen war das eine gute Sache, weil es mir die Möglichkeit gab, meinen Weg
durch ein Geburtsprimal spontan zu fühlen. Der Schmerz war so schlimm, dass ich
mich einfach unter meiner Bettdecke zusammenrollte und stundenlang unter Qualen
stöhnte. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf jeden Augenblick explodieren und
ich sterben würde. Stundenlang balancierte ich auf dem Grat dieses Gefühls:
Die Migräne wurde intensiver, und der Schmerz vergrößerte sich ums
Hundertfache. Mir war, als müsste ich gleich sterben (in der Gegenwart), und
dann ließ die Migräne gerade ein bisschen nach. Dieser Zyklus mit der Migräne
wiederholte sich ich weiß nicht wie oft.
An
einem bestimmten Punkt so gegen Mitternacht schaffte ich unwissentlich den Übergang
von der Gegenwart in die Vergangenheit, und während des tiefen Stöhnens unter
den Qualen öffnete sich etwas in meinem Gedächtnis, und ich erinnerte mich,
dass sich das genau so anfühlte, wie sich mein Kopf als Fetus angefühlt hatte,
als die Kontraktionen meiner Mutter gegen meinen Kopf schlugen. Ich hatte das
Gefühl, dass ich nicht herauskonnte; ich wurde gegen eine Wand gedrückt. Der
Kanal meiner Mutter öffnete sich nicht, und dennoch wurde ich dagegen gestoßen.
Mein Kopf wurde zusammen mit meinem Oberkörper eingequetscht. Mit dieser
Erinnerung ging ein Gefühl äußersten Entsetzens einher. Sie war drauf und
dran, mich umzubringen. Ich hatte das eindeutige Gefühl, dass ich am Sterben
war, und es war entsetzlich. An diesem Punkt des Gefühlserlebnisses fühlte ich
mich schrecklich allein. Die ganze Welt war gegen mich, und mein Überleben
stand auf dem Spiel.
Mit
der Verknüpfung, dass ich bei der Geburt beinahe getötet worden wäre, stand
ich in diesem Zusammenhang verängstigt und alleine da, so dass ich jemanden
anrief, den ich vor kurzem getroffen hatte und der Erfahrung mit Primärtherapie
hatte. Ich war noch immer benebelt von diesen Gefühlen. Der Kopfschmerz
verschwand allmählich, und ich musste jemandem erzählen, was ich gerade erlebt
hatte. Eine Stunde lang spuckte ich einfach aus, was geschehen war. Im
Nachhinein verstehe ich jetzt, dass ich genau das tat, was ich tun musste, um
die Einsichten an diesem Punkt rechtzeitig zu zementieren.
Die
Gleichung lautete, wie mir klar wurde, dass allein den Tod bedeutete. Ich hatte
nicht nur meine neonatale Isolation vor vielen Jahren wiedererlebt, sondern es
gab eine tiefere Komponente dieses lebensbedrohlichen Gefühlserlebnisses, und
das war bei der Geburt. Das war für mich ein Kardinalprimal. Kurz danach habe
ich angefangen, Freundschaften zu schließen. Ich hatte allmählich Interesse,
mich mit anderen zu treffen. Ich fing an, Freiwilligenarbeit zu machen. Ich
konnte für mich wieder Kameradschaft und Zuneigung zulassen. Ich konnte mit
Leuten reden und die schreckliche Isolation beenden, in der ich die meiste Zeit
meines Lebens steckte.
Zu
dem Baby-Isolationstrauma kam der Schmerz hinzu, dass mich mein Vater in der späteren
Kindheit schlug und mich nicht mit anderen Kindern spielen ließ. Ich war buchstäblich
in meinem eigenen Haus in Einzelhaft. Er saß in seinem Auto und folgte mir auf
der Kriechspur fahrend auf dem Nachhauseweg von der Schule. Wenn ich mit
jemandem redete, musste ich gewöhnlich einsteigen. Er untersagte meiner Mutter
oder meinem Bruder, zuhause mit mir zu reden: Ich musste mit 9 Jahren für die
Medizinschule lernen.
Seitdem
ich vor Jahren dieses Geburtsprimal hatte, habe ich diesen schrecklichen Drang
mich umzubringen nicht mehr gespürt. Tatsächlich habe ich jetzt den Drang, mir
Gutes zu tun. Ich habe mich suizidalen Gefühlen immer mit Vorsicht genähert.
Vor zwanzig Jahren hatte ich den Impuls, mich im Stadtzentrum zu prostituieren,
Nadeln in meine Arme zu stechen oder vor Autos zu laufen. Aber als ich diese
Impulse hatte, konnte ich mir immer ein Restbewusstsein bewahren, dass es ein
Impuls war, und ich konnte ihn dann aufhalten. Gegenwärtig erlebe ich ab und an
immer noch kurze Impulse (z.B. mich mit dem Auto von einer Klippe zu stürzen),
wenn tiefer Schmerz aufsteigt, aber ich kann kognitiv erkennen, dass ich nur den
Schmerz in seiner Ganzheit fühlen muss. Jetzt in der Gegenwart suche ich nicht
nur nach einer Therapie, wenn ich sie brauche, sondern ich bin auch wirklich
nett zu mir selbst, wenn wirklich übler Schmerz hochkommt. Ich nehme den ganzen
Stress aus meinem Leben, so gut ich kann. Ich gönne mir einen Film im Kino,
besuche Freunde, nehme ein Bad bei Kerzenlicht. Ich gehe nicht mehr so tief in
Überlastungszustände wie vorher. Ich erkenne viel früher, dass ich in einem
Feeling stecke, und ich lasse nicht zu, dass es sich aufbaut.
Um
die gleiche Zeit, als ich dieses Geburtsprimal hatte, vollzog sich
psychosomatisch eine Parallelentwicklung. Ich hatte an meinen Fingern so
schlimme Ekzeme entwickelt, dass meine Fingerspitzen ein Jahr lang ständig
aufrissen und bluteten. Irgendwas anzulangen war eine Qual. Ich probierte jede
Creme unter der Sonne aus, einschließlich Kortisoncreme, die meine Haut nur
papierdünn machte. Es wurde so schlimm, dass ich dünne Plastikhandschuhe
anziehen musste, um einzukaufen, um irgendwas anzufassen, sogar um ins Freie zu
gehen.
Inmitten
dieser extremen Isolation begann ich zu spüren, wie schlecht es sich anfühlte,
so lange so allein zu sein. Ich hatte wieder spontane Gefühle über meine erste
Lebenswoche: Vier Jahre, nachdem ich mit der Therapie aufgehört hatte, griff
ich genau dort wieder meine Gefühle auf, wo ich mit ihnen aufgehört hatte.
Eines
Nachts übermannte mich der Schmerz. Ich spürte die Agonie des kleinen Babys,
das allein war und seine Mama brauchte. Ich lag auf dem Rücken, brauchte sie
und weinte, als ich den Impuls verspürte, meine Hände auszustrecken und so
nach ihr zu flehen. Blitzartig war mir klar, dass ich das als Baby nie gemacht
hatte. Ich habe nie meine Arme gerade nach oben gestreckt, habe sie nie
angefleht, mich zu halten und zu berühren. Ich war schon als Baby zu
hoffnungslos. Also habe ich es jetzt getan.
Mitten
in dem Feeling hielt ich meine Arme hoch und flehte sie an. Es begann als
„Mama“ und endete einfach als qualvoller Schrei, der sich aus meinem
tiefsten Inneren wand. Nach einiger Zeit tiefen Weinens, entspannten sich plötzlich
meine Unterarmmuskeln. Tief in meinen Unterarmen ließ die lebenslange Einschnürung
(Abwehr gegen das Bedürfnis) nach. Ich spürte buchstäblich den Augenblick, in
dem sich meine Blutgefäße öffneten. Blut strömte in meine Hände und Finger
und füllte sie mit prickelnder Wärme. Ich wusste augenblicklich, dass meine
kalten Hände und Ekzeme mein altes Bedürfnis nach Berührung waren. Womit berührst
du deine Mutter? Mit deinen Fingerspitzen! Mit dem Primal kam eine Flut von
Erinnerungenm dass ich nie in den Arm genommen wurde. Sie hat mich nie genug
gehalten.
Innerhalb
weniger Tage heilten meine Finger vollständig ab. Bis heute, 12 Jahre später,
habe ich nur gelegentliche Ekzeme gehabt, wenn das Kindheitsbedürfnis nach Körperkontakt
hochkam, aber nichts, das mit den schweren Rissen vergleichbar ist. Meine Hände
blieben warm. Übrigens blieben auch meine chronisch kalten Füße warm.
Die
Verknüpfungen waren mir klar. Das Gefühl war immer dasselbe: ICH MUSSTE ES
ALLEIN MACHEN, ob es darum ging, geboren zu werden oder ohne die Fürsorge und
Berührung zu leben, die ich als kleines Baby brauchte. Die frühen Traumen
hatten eines gemeinsam: Sie waren lebensbedrohlich. ICH HATTE DAS GEFÜHL,
GLEICH ZU STERBEN - bei der Geburt und als ich sofort nach der Geburt von meiner
Mutter getrennt wurde. Und wann immer ich allein war, war mir nach Sterben
zumute, das heißt, dass ich sterben wollte. Ich glaube, der Stress jenes
Traumas hielt sich in meinen kalten Händen, Füßen und Fingerspitzen; Ekzeme
waren die Sprache, mit der mein Körper über das Trauma redete, das ich als
Neugeborener erlebt hatte.
Etwas
anderes ist mir klar geworden. Ich agierte durch meine Isolation genau den alten
Schmerz aus. Indem ich nicht um Hilfe bat, allein blieb, mir keine Freunde
suchte und keine Verabredungen traf oder keine Küsse und keinen Sex wollte,
erschuf ich den alten Schmerz wieder, mit nahezu nichts überleben zu müssen.
Hoffnungslosigkeit setzte sich bei mir bei der Geburt fest. Dass ich diese
Hoffnungslosigkeit nicht fühlte, führte dazu, dass ich in der Gegenwart
ausagierte, niemals das zu bekommen, was ich brauche. Solange ich diese Gefühl
mit mir herumgetragen habe, habe ich nie bekommen, was ich wollte.
Ich
neige noch immer gelegentlich dazu, die Hoffnungslosigkeit auszuagieren – das
Gefühl, dass ich allein bin. Ich werde nie Hilfe bekommen, und ich muss alles
selbst machen (wie bei der Geburt). Es fällt mir noch immer schwer, jemanden zu
bitten und mich verwundbar zu machen. Jetzt tut es zu sehr weh, es auszuagieren.
Ich bitte lieber um Hilfe, versuche vorwärts zu gehen und zu fühlen, was
hochkommt, als
mein Scheitern neu zu inszenieren und im alten Schmerz festzusitzen. Ich möchte
jetzt ein paar gute Dinge im Leben haben: Liebe, eine Karriere, Zeit zu
entspannen und das Leben zu genießen.
Das Traurige und Heimtückische an frühem Schmerz ist, dass es das alte Bedürfnis auslöst, wenn man in der Gegenwart etwas bekommt. Ich habe in meinem Leben eine Frau, die sich etwas aus mir macht, und ich habe sie verstoßen, weil Liebe zu akzeptieren bedeutet, dass man fühlen muss, nie eine Mutter gehabt zu haben. Somit funktioniert die Erholungsphase als eine Methode, mich von dem frühen Schmerz fernzuhalten, indem ich es hier in der Gegenwart schaffe. Ich muss noch immer auf meine Einzelgänger-Neigung aufpassen, mich zurückzuziehen, wenn ich verletzt bin oder etwas brauche. Aber ich weiß, ich muss mich nicht umbringen, wenn ich allein bin.
Kapitel 9
Depression
und Angst:
In evolutionärer Hinsicht ist Depression eine spätere Entwicklung als Angst.
Angst, die in Wirklichkeit der Ausdruck verdrängten unbewussten Schreckens ist,
kann sich im Gehirn des Fetus nach den dritten Schwangerschaftsmonat bilden,
wenn zwar die Schmerzbahnen im Nervensystem angelegt sind, die interne
Opiatproduktion aber noch nicht voll funktioniert. Sie kann ihr Leben beginnen,
wenn das viszerale System die höchste Ebene neuraler Organisation ist. Wenn
also jemand ein Atmungsproblem hat, Schmetterlinge im Bauch, Druck auf der Brust
und andere innere Schreckensreaktionen, müssen wir daran denken, dass der
Ursprung vielleicht in der Zeit im Mutterleib liegt.
„Ich
denke, was in der Therapie passiert, ist, dass ich ein ganz kleines Kind werde
und dass also diese Teile meines Gehirns nicht arbeiten, die funktionieren
sollten, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht entwickelt haben. Anders
gesagt kannst du nicht denken; du bist in einem Gehirn ohne Gedanken, und
deshalb hat die Angst meine Fähigkeit vernebelt, etwas zu begreifen. Diese Gefühle
kommen, bevor ich verbale Fähigkeiten hatte. Es kam mir nie zuvor in den Sinn,
dass diese Sache, die ich Depression nenne, wirklich ein Gefühl ist; je näher
ich ihm komme, umso größer wird es, und das ist der Grund, warum ich in
letzter zeit so deprimiert bin.
Kapitel 10
Vom
Selbstmord besessen
Tragischerweise
bringen sich laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2002
jedes Jahr etwa 800.000 Menschen um. Meistens geschieht es bei Männern (dreimal
häufiger als bei Frauen) und bei älteren Leuten. Die Zahl könnte sehr viel höher
sein, wenn man bedenkt, dass viele Unfälle tatsächlich Selbstmorde sind. Und
es gibt viel mehr Selbstmordversuche. Etwa 15 Prozent der Depressiven begehen
schließlich Selbstmord. Der Bericht des Zentrums für Krankheitskontrolle aus
dem Jahr 1996 listete Selbstmord auf dem neunten Platz der häufigsten
Todesursachen in den USA auf. Bei vielen, die letztendlich
Selbstmord begehen, ist es nicht das erste Mal, dass sie es versucht
haben. Einige Selbstmorde folgen auf einen größeren Verlust wie zum Beispiel
das Scheitern einer Ehe. Nichtsdestotrotz ist das Leben zu wertvoll, um es
einfach wegzuwerfen, weil man von seinem Partner verlassen wird. Wenn Sie
jemanden lieben, der Sie nicht mehr liebt und geht, ist das gewiss eine
Erfahrung, die tiefe und schreckliche Traurigkeit hervorrufen kann, aber sie
sollte nicht dazu führen, dass Sie sterben wollen. Kein Mensch tötet sich,
weil sein Partner/seine Patnerin mit einem anderen durchgebrannt ist –
das heißt, kein gesunder Mensch. Natürlich verbindet zwei Menschen, die
seit 40 Jahren oder länger zusammen sind, ein unglaublich starkes emotionales
Band. Der Verlust eines Patners ist außergewöhnlich schmerzhaft. Aber das
Leben geht weiter, weil es weitergehen muss; es ist eine Sache, wenn dieses Band
zerbricht, aber sterben zu wollen ist eine ganz andere. Menschen wollen sich nur
dann umbringen, wenn dieses Verlassenwerden mit einem gewaltigen Ereignis in der
Kindheit resoniert, mit einer Sache, bei der es damals um Leben oder Tod ging,
wenn auch nicht in jedem Fall. Jemand, der 50 Jahre mit einem anderen Menschen
zusammenlebte, hat zweifellos das Gefühl, dass das Leben für ihn vorbei ist,
wenn sein Partner/seine Partnerin geht. Es besteht kaum eine Chance, sich an
eine andere Person zu binden, ein neues Leben mit einem anderen Menschen zu
beginnen. Das einzige Gegenmittel gegen Depression ist in diesem Fall zu weinen.
Genau das beseitigt bei meinen Patienten die Depression und wird dies
auch bei jemandem tun, der einen Langzeit-Partner im Leben verloren hat.
Es
fällt vielleicht schwer zu glauben, dass Geburtsprobleme Jahre später
suizidale Tendenzen hervorbringen können, aber das ist wahr. Das kommt daher,
dass wir nicht gewohnt sind, an physiologische Erinnerungen zu denken, und dass
uns der Gedanke fremd ist, dass die mächtigsten Erinnerungen, die wir haben,
diejenigen ohne Worte sind: Ereignisse, die auftraten, bevor wir verstehen
konnten, was mit uns geschah. Wie wir in der vorangegangenen Erörterung der
Wirkung des Geburtstraumas auf Sex gesehen haben, verschwindet die Verzweiflung
während eines Geburtstraumas nie. Sie fließt in späteres Verhalten ein und
verschlimmert es. So türmt sich der spätere Verlust eines/einer Geliebten auf
und ruft eine katastrophale Sinnlosigkeit hervor.
Unseren Beobachtungen zufolge kann suizidale Hoffnungslosigkeit direkt aus der
Geburtssequenz entstehen. Die Neigung zum Selbstmord entwächst genau wie die
Natur des Sexuallebens eines Menschen dem bei der Geburt etablierten Prototyp.
Als der Fetus am Lebensanfang mit Stress konfrontiert wurde, hatte er keine
andere Wahl, als sich zu verschließen und Energie zu sparen. Dieses Muster wird
prototypisch: Das Baby müht sich ab, hat aber keinen Erfolg, versucht es dann
immer wieder und scheitert erneut. Es ist absolut hoffnungslos. Das Baby kann
nichts mehr tun und erlebt ein Gefühl von Sinnlosigkeit und dann Resignation.
Später im Leben rufen Widrigkeiten Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und den
Wunsch aufzugeben hervor, der direkte „Endlauf“ der Geburtssequenz.
„Endlauf“ ist hier ein Schlüsselbegriff, denn wenn etwas in der Gegenwart
mit einer alten Erinnerung resoniert, sind wir gezwungen, die ganze Sequenz bis
zum logischen Schluss auszuagieren. Das ist der Grund, warum es zu dem
Zwangsgedanken an Tod und Selbstmord kommt, wenn man in dem Feeling steckt. Der
Unterschied ist der, dass das Neugeborene den Tod nur vage fühlen kann, weil es
keinerlei Verhaltensoptionen hat, während der Suizidale den Tod als
Verhaltensoption benutzt, um die Agonie zu beenden.
Das
große Problem ist, dass die Person nie weiß, woher die Agonie kommt. „Es ist
halt so tröstlich zu wissen, dass ich den Schmerz jederzeit beenden kann, wenn
ich es will,“ bemerkte eine Patientin von mir, die vom Tod besessen war. Sie
konnte sich nicht vorstellen, neue Wege zu gehen, wie zum Beispiel in eine neue
Stadt zu ziehen, einen anderen Gefährten oder Job zu finden, weil das eingeprägte
Fehlen von Alternativen den Gesichtskreis und die Vorstellung eines Menschen
einschränkt.
Ein interessantes Streiflicht: Ein Artikel in der New York Times („Was kommt zuerst, Depression oder Herzkrankheit?“, von Gina Kolata, 14. Jan. 1997) deutet auf sich mehrende Beweise hin, dass Leute mit Depression mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Herzkrankheit entwickeln. Wenn man in Betracht zieht, dass tiefe Depression tiefe Verdrängung bedeutet und die wiederum tiefen Schmerz, kann dieses Schlussergebnis nicht überraschen. Was das ‚Warum’ betrifft, gibt es zwei Denkschulen. Die erste besagt, dass die biochemischen Veränderungen (die Freisetzung von Stresshormonen), die bei der Depression auftreten, das Herz beeinflussen. Die zweite Sichtweise besagt, dass Depression die Leute traurig macht und sie dann ihr Herz vernachlässigen. Ich würde für die erste votieren, nur sollten wir noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass dieselbe frühe Einprägung und Prägung, die Menschen depressiv macht, letztlich auch ihr Herz beeinflusst; Stresshormone spielen in beiden Fällen eine Rolle. Leute, die deprimiert/verdrängt sind, neigen in einigen Fällen zu erhöhtem Blutdruck, und wenn jemand seine Medikamente vernachlässigt, kann eine Herzattacke folgen. Dieser Artikel vermerkt, dass einer von sechs Erwachsenen von Zeit zu Zeit unter Depression leidet. Menschen, die Herzattacken erlitten und auch depressiv waren, hatten eine vierfach erhöhte Wahrscheinlichkeit, in den folgenden sechs Monaten an einer Herzattacke zu sterben. Forscher haben herausgefunden, dass sich viele depressive Patienten in einem Zustand der Übererregung befinden, und das bedeutet mehr Druck und Aktivierung für das Herz. Stresshormone beschleunigen den Herzschlag. Was verursacht chronisch hohe Stresshormon-Spiegel? Sie lassen sich weitgehend auf traumatische Einprägungen zurückführen. Unsere Eigenforschung in London mit Speichelkortisol ergab, dass Primärpatienten anfangs sehr hohe Werte dieses Stresshormons aufweisen und viel niedrigere später nach der Therapie. Die Schlussfolgerung: Früher Schmerz spielt bei der Produktion dieses Stresshormons eine Rolle.
Selbstmord vorbeugen, Depression vorbeugen
Ich
sehe mir an, was die in meiner Apotheke ausliegende Broschüre zum Thema
Depression sagt: Sie behauptet: „Niemand ist gegen Depression immun.“
Vielleicht stimmt das, aber wir können die Wahrscheinlichkeit ein gutes Stück
verringern, wenn wir bei der Erziehung unserer Kinder achtgeben. Wenn man
Selbstmord und Depression verhindern will, erfordert das grundsätzlich die
gleichen gesunden Erfahrungen am Lebensanfang, die mit größter
Wahrscheinlichkeit auch zu einem gesunden Sexualleben führen. Es beginnt in der
Schwangerschaft mit einer gesunden Mutter. Sie achtet sehr auf sich selbst,
raucht nicht, trinkt keinen Alkohol und nimmt keine Drogen/Medikamente, denn was
immer die Mutter während der Schwangerschaft einnimmt, findet letztlich seinen
Weg ins System des Babys. Wenn sie ängstlich oder deprimiert ist, werden darüber
hinaus die hormonellen Veränderungen das chemische Gleichgewicht des Babys verändern,
vielleicht auf Dauer. Somit haben wir es hier aufgrund des Drogenkonsums der
Mutter mit beachtlicher Verdrängung im Fetus zu tun, die für spätere
Depression anfällig macht, und allzu oft fällt die Drogenwahl später im Leben
bei dieser Art von Person auf Aufputscher. Wir brauchen eine ruhige Mutter, die
das Kind wirklich will, denn wenn das bei einer Frau nicht der Fall ist, gibt es
viel mehr Geburtsprobleme und spätere Lebensprobleme. Wenn die Schwangere die
ganze Zeit „down“ und deprimiert ist, wird ihr Baby davon beeinflusst und
sein System neigt ebenso zur Depression. Ihre beiden Systeme sind unlösbar
miteinander verbunden.
Die
ideale Geburt gründet auf der Forschung von Dr. Frederic Leboyer. Sie schafft
eine Physiologie des Optimismus und die Erwartung, dass die Anstrengung von
Erfolg gekrönt wird; diese Erfahrung wird im neurologischen System des
Individuums verschlüsselt. Diese Art von Geburt beinhaltet belebend wirkende
Anstrengung des Fetus, die zum Erfolg führt und auf die das Stillen an der
Brust folgt. Das Baby wird sofort auf den Körper der Mutter gelegt, wo es
Behaglichkeit und Wärme findet. Eine Trennung ist nicht tolerierbar,gleich, wie
kurz oder lang sie dauert. Wenn Sie zukünftige Depression voraussagen wollen,
beachten Sie bitte, dass anästhetisierte Babys oder auch solche mit Müttern,
die eine spinale (epidurale) Injektion erhielten, bei der Geburt träger sind,
nicht mit Eifer nach der Brust suchen und als Babys weitaus passiver sind. Das
ist das Fundament für spätere Depression. Meine depressiven Patienten müssen
ausnahmslos schreckliche Geburten mit Sauerstoffentzug (Anoxie) wiedererleben.
Sie hatten nie genug Energie zum Kämpfen und haben sie noch immer nicht. Ihre
Physiologie passt sich an all das an – mit
Schilddrüsen-Unterfunktion, erschöpften Vitamin-und Mineralstoff-Depots
und geringerer Ausschüttung von Schlüsselhormonen. Natürlich ist es auch möglich,
dass man nicht aufgrund eines Geburtstraumas deprimiert ist sondern aufgrund
einer sterilen, kalten, lieblosen Atmosphäre im Elternhaus. In diesem Fall wird
die Depression nicht so tief oder hartnäckig sein. Sie wird sich auch leichter
behandeln lassen.
Auf
eine gute Schwangerschaft und Geburt folgt ein Familienleben, bei dem die Eltern
sich sorgfältig um die Bedürfnisse des Kindes kümmern und ihre Liebe durch
eine Kultur zeigen, die den Ausdruck von Gefühlen erlaubt;
das wird die Selbstmordrate sicherlich einschränken. Wenn Sie Selbstmord
bei einem bestimmten Erwachsenen verhindern wollen, müssen Sie Hoffnung,
Unterstützung und Ermutigung anbieten. Es muss – kurz gesagt - das geben, was
bei der Geburt und in der Kindheit fehlte: Wärme; Fürsorge, Sicherheit, Hilfe
und am allermeisten Hoffnung.
Bei
Leuten, die suizidal sind, haben im Grunde ihre Entscheidungen und ihr Verhalten
– alles, was sie in ihrem Leben gemacht haben – frühen Schmerz verewigt und
verschlimmert. Ihre katastrophale Kindheit hat sie gezwungen, in späteren
Jahren auf selbstzerstörerische Weise auszuagieren. Sie haben sich auf Leute
eingelassen, die so bedürftig und instabil sind wie sie selbst (im Grunde wie
die Eltern), und die sie deshalb enttäuschen werden. Die frühe Deprivation führt
dazu, dass sie totale Aufmerksamkeit brauchen, die ihre Entbehrungen im Leben
ausgleichen sollen; aber das kann niemand anbieten. Oft sind sie total auf sich
selbst zentriert, weil ihr Schmerz das Einzige ist, das zählt. Sie können
nicht geben; sie wollen alles. Sie verschlingen andere, brauchen Liebesbeweis um
Liebesbeweis; und natürlich ist es nie genug. Was sie gewöhnlich finden, ist
jemand, der Dasselbe braucht. Niemand gibt dem anderen. Sie klammern sich alle
an ein sinkendes Schiff.
Oft
brauchen Depressive andere, die ihnen Leben einflößen, wortwörtlich und im
psychologischen Sinn. Ihre extreme Passivität und Lethargie zwingt sie dazu,
durch andere zu leben. Ihr Brennpunkt liegt außen, und wenn man ihnen die Krücke
wegnimmt, auf die sie sich stützen, werden sie depressiv.
Da
sie von unbewussten Gefühlen getrieben werden, sind sie so geschädigt, dass
sie keinen Partner bekommen und halten können. Man kann sich nicht auf sie
verlassen, sie sind launisch und unberechenbar und verlieren dadurch Freunde.
Sogar ihr Selbstmordakt kann auf einen plötzlichen Impuls folgen, ohne dass sie
tatsächlich irgendeinen Gedanken aufs Sterben verwenden. Sie können ihre
Handgelenke aufschlitzen, den Schmerz sichtbar und greifbar machen und doch nie
in Erwägung ziehen, dass sie buchstäblich verbluten könnten. Oft ist es ein
Hilfeschrei, weil sie sich selbst nicht helfen können.
Leute,
die einen Selbstmordversuch unternehmen, wissen einfach nicht mehr, wie sie
weiterleben sollen. Sie wollen ihr Leiden beenden, aber weil es das Selbst ist,
das leidet, entscheiden sie sich, das Leben zu beenden. Wenn man ihnen
versprechen könnte, das Leiden zu beenden, würden sie nicht sterben wollen.
Selbst ein kleiner Hoffnungsschimmer kann den Unterschied zwischen Leben und Tod
ausmachen. Schauen Sie sich Filmstars wie Marilyn Monroe an, die anscheinend
alles einschließlich Fans hatten, die sie bewunderten, und sich dennoch völlig
ungeliebt und elend fühlten. Die brauchen nicht mehr Liebe; schließlich fehlt
es nicht an der Liebe von Millionen Leuten. Nun mag Sie das überraschen, aber
das ist das Entscheidende: Diese Menschen müssen sich von den Leuten ungeliebt
fühlen, die in ihrem Leben zählten: ihre Eltern. Wenn sie dieses Gefühl
wiedererleben, löst es die Blockaden im System und wirkt befreiend.
Damit
ein Mensch wieder glaubt, dass es einen Grund gibt, um am Leben zu bleiben,
damit er sich nicht wieder suizidalen Gedanken und Plänen zuwendet, muss er
schließlich in einer geeigneten therapeutischen Umgebung die Originalgefühle
erleben, die seiner Hoffnungslosigkeit zugrunde liegen. Der Patient muss gegenwärtige
Verlustgefühle und Traurigkeit von alten Verzweiflungsgefühlen trennen.
Nur
Hoffnung zu spenden, ohne dass der Patient die Hoffnungslosigkeit fühlt, ist
nicht heilsam. Das hilft nur oberflächlich, wie zum Beispiel die guten Ratschläge
des YMCA. Aber die Fähigkeit des Menschen, Depression und Selbstmordneigung zu
beenden, liegt im Erleben der Hoffnungslosigkeit.
„Nun,“
könnte man sagen, „ich war völlig hoffnungslos, weil ich meine Freundin
verloren habe. Das sollte reichen.“ Dem ist nicht so; die Hoffnungslosigkeit
muss in ihrem Originalzusammenhang gefühlt werden, sonst heilt sie nicht. Das
abgespeicherte Originalgefühl muss zu Bewusstsein gebracht werden, so dass es
nicht mehr ausgelöst werden kann. Es liegt Hoffnung in der ursprünglichen
Hoffnungslosigkeit, wenn sie in einer sicheren, warmen Atmosphäre gefühlt
wird. Wenn jemand die völlige Hoffnungslosigkeit ganz früh im Leben gefühlt
hat, wandelt sie sich in Hoffnung, und niemand muss ihm oder ihr noch Hoffnung
anbieten. Die Person ist auf dem Weg zur Gesundheit, wenn es weniger schwer fällt
zu leben als sich umzubringen. Die Hoffnung, die sie jetzt hat, ist Wirklichkeit
und keine Fantasie.
Das
Gefühl der Niederlage besiegen
Solange
ein bisschen Hoffnung flackert, lässt sich der Tod vermeiden. Wenn aber die
Ex-Partnerin die Scheidung einreicht und einen anderen heiraten will, ist die
letzte Spur von Hoffnung dahin. Wenn ein Mann, der von seiner Frau verlassen
wurde, auch von seiner Mutter verlassen worden war, als er ein kleines Kind war
(oder wenn seine Mutter emotional abwesend war), wird der angehäufte Schmerz überwältigend
sein. Wenn die Ehefrau geht und mit einem anderen zusammenlebt und wenn die
Mutter dasselbe tat, als das Kind klein war, resoniert der gegenwärtige Schmerz
mit der Vergangenheit und macht die Agonie fatal. Es hat erschütternde Wirkung,
wenn eine Mutter das Zuhause verlässt und die Kinder in die Hände eines
tyrannischen betrunkenen Vaters gibt oder in die Hände eines gefühllosen
Steins von einem Mann, der überhaupt keine emotionalen Reaktionen zeigt. Für
das Kind ist die Sache unlogisch. Es kann sich nicht vorstellen, dass das Leben
weitergeht, weil es in seinen Gefühlen immer noch der gequälte kleine Junge
ist, völlig allein, hilflos, entfremdet – hoffnungslos. Wir als Therapeuten können
dem Erwachsenen Hoffnung geben, aber der kleine Junge im Mann ist noch immer da
und leidet.
Es
gibt Stufen der Sinnlosigkeit, die sich mit jedem Trauma aufbauen, wenn wir
klein sind. Mit 30 Jahren den Partner zu verlieren ist lediglich der Tropfen,
der das Fass zum Überlaufen bringt, wenn wir als kleines Kind ein ähnliches
Trauma erlitten, wie zum Beispiel den Verlust eines Elternteils. Die Kraft
dieses angehäuften Urschmerzes kann die wichtigste Grundtendenz des Lebens –
Überleben – umkehren und den Selbstmord logisch scheinen lassen.
Die
Essenz vieler Selbstmordversuche ist Hoffnungslosigkeit. Der Überlebensinstinkt
lässt sich nur besiegen, wenn die Psyche so geschädigt ist, dass sich der
Instinkt fürs Leben umkehrt und der Tod zum Ziel wird. Suizid ist die Option
eines Organismus, der zerstört worden ist und dem es so an Liebe und vor allem
an Hoffnung fehlt, dass es keine Erholung gibt. Selbstmord scheint eine logische
Handlung eines ruinierten Organismus zu sein, einer Kindheit ohne Wärme, Fürsorglichkeit
und Freundlichkeit. Er sagt: „Nichts, was ich jetzt tun kann, funktioniert.
Nichts holt mich aus dem Schmerz heraus. Nichts gibt mir das Gefühl, dass ich
geliebt und gewollt bin. Es lässt sich nichts mehr machen, es gibt kein
Ausagieren, keine Hoffnung mehr.“ Dann kommt es zum Selbstmord, dem äußersten
Selbstzerstörungsakt.
Wenn
der Mann, der sich umzubringen versucht, weil seine Frau mit einem anderen
weggelaufen ist, sein Urbedürfnis (nach seiner Mutter) tief hätte fühlen können,
dann hätte sich der Drang zum Selbstmord abgeschwächt. Zuerst muss er den
gegenwärtigen Verlust fühlen, in das Verlustgefühl eintauchen und dann in die
Vergangenheit reisen, wo der Prototyp liegt. Das Problem ist, dass er das nicht
ohne Hilfe machen kann, weil die Verdrängung der alten Erinnerungen das Gefühl
in der Gegenwart und den Brennpunkt außen hält.
Die
Evolution suizidaler Gefühle (Der elektrische Schaltkreis)
Wie
ich früher erklärt habe, involviert der Selbstmord typischerweise den Ablauf
der Geburtssequenz. Wenn die Schmerzvalenz in der Gegenwart hoch genug ist, kann
sie den alten gleichermaßen schmerzvollen Prototyp auslösen, der sich dann des
Lebens bemächtigt, indem er den Ablauf der Originalsequenz inszeniert. Da der
Tod die logische Auflösung des Originaltraumas war, bringt er sich in die
Gegenwart ein und zwingt die Person, jetzt den Tod in Betracht zu ziehen. Wir
haben gesehen, wie beim Parasympathen der Geburtsprototyp mit dem Erlebnis der
Todesnähe endete, wobei der Tod als einzige Möglichkeit gesehen wurde, die
Qual zu beenden. Depression betrifft Leute, deren Geburt im Wesentlichen ein
Kampf-und-Scheitern-Erlebnis war, das mit Düsternis, Verzweiflung und
Niederlage endete.
Der
Ablauf der Geburtssequenz bleibt sich selbst treu und weicht in der Regel nicht
ab; er ist wie ein elektrischer Schaltkreis. Wenn ein Gegenwartsereignis stark
genug ist, um die Geburt auszulösen, dann kann man die Handlung der Person
voraussagen. Wenn man zum Beispiel durch Unfall oder Krankheit ein Kind
verliert, setzt ein Gefühl großer Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ein,
das möglicherweise zu suizidalen Gedanken oder Handlungen führt. Einer der Gründe
dafür ist, dass es durchaus möglich und sogar wahrscheinlich ist, dass der
Elternteil sein Leben durch das Kind gelebt hat. Die Mutter lebt in ihrer
eigenen Kindheit, verhätschelt das Kind und will es aufgrund ihres eigenen Bedürfnisses
immer in ihrer Nähe haben. Der Tod des Kindes macht folglich jede Chance der
Mutter zunichte, ihre eigene Kindheit wiederzuerleben, und dann kann es zu
Depression kommen, weil alle Optionen beseitigt worden sind. Man fragt sich
vielleicht, wie das möglich ist. Der Grund ist, dass das frühe Trauma das
Verhalten des Erwachsenen infiltriert, so dass sie oder er nicht zwischen
Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden kann.
Dina
Es
war Herbst, und ich war 7 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Tag
traurig und allein war und aus irgendeinem unbekannten Grund sehr viel Angst
hatte. Ich ging in den Wald, was ich immer dann getan habe. Es gab da eine
riesige Eiche, auf die ich immer kletterte, wenn ich Platz und Ruhe für mich
selbst wollte. An jenem Tag erreichte ich die Baumkrone und hatte ein gewaltiges
Gefühl wie: „Ich hab’s geschafft. Das ist jetzt mein Platz.“ Lange Zeit
hielt ich meine Augen geschlossen. Die Sonne und der Himmel schienen mir ganz
nahe zu sein, und der Wind war sanft. Ich war ganz nahe dran, mich glücklich zu
fühlen und die Welt um mich zu vergessen.
Plötzlicher
Starkwind brachte mich in die Realität zurück. Ich hatte Angst davor, diesen
neugefundenen Platz zu verlieren und den Schmerz fühlen zu müssen, in eine
Welt zurückgezogen zu werden, in der ich nicht sein wollte. Ich wurde dann
zornig und beschloss, gegen die Natur zurückzuschlagen. Ich kletterte hinunter,
und da sah ich einen alten und morschen Ast. Ich stieg auf ihn und traf die
Entscheidung, dass ich fallen wollte. So fiel ich von einem hohen Ort; ich
prallte mit dem Kopf auf und verletzte mir meinen linken Arm. Aber sonst war
nichts passiert. Ich fing an, meinen Körper mit den Blättern um mich herum
zuzudecken, besonders meinen Kopf, Nase und Mund. Ich lag da eine ganze Weile
und wollte mich nicht bewegen. Dann wurde es dunkel, und ich fürchtete, meine
Mutter könnte wütend auf mich sein. Ich stand auf und ging nach Hause, fühlte
mich sehr hoffnungslos, traurig und desillusioniert.
Zwei
Tage später sah meine Mutter meinen jetzt geschwollenen linken Arm und fragte
mich, was passiert war, aber ich konnte ihr nicht sagen, dass ich ein „neues
Zuhause“ suchte, und so gab ich vor, es nicht zu wissen. Sie wurde wütend auf
mich und bandagierte meinen Arm. Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und
versuchte angestrengt, sie hinunterzuschlucken.
Jahre
später, als ich 12 oder 14 war, machte ich mit meiner Schulklasse einen
Landausflug. Da war ein großer See, und ich ging hinein und schwamm mitten
hinaus auf eine kleine Insel, die dort war. Ich lag am Ufer auf dem Rücken,
vergaß die Zeit und die Welt um mich und fühlte mich unglaublich getröstet
und liebkost. Dann spürte ich, wie die Kälte in meinen Körper kroch, meine
Arme und Beine lähmte und meinen Herzschlag verlangsamte; meine inneren Organe
beruhigte. Nach einer Weile ging ich wieder in den See, und mein Körper und das
umgebende Wasser fühlten sich wie eins, und ich hatte wieder dieses vertraute
Gefühl, meinen Körper total aufzugeben und ihn treiben zu lassen, wohin auch
immer die Strömung ihn tragen würde. Plötzlich eine brutale Berührung, eine
wütende Stimme, und mein Lehrer zog mich aus dem Wasser und brachte mich in
diese Welt zurück. Er war sehr wütend auf mich und brüllte mich an. Ich
zitterte ganz schön, Tränen traten mir in die Augen, und ich schämte mich,
als hätte ich etwas falsch gemacht, als wollte ich nicht, dass er weiß, was
ich draußen auf dem Wasser wirklich gefühlt habe. Ich war sehr traurig, wusste
aber nicht warum. Ich war gleichzeitig wütend, wusste aber ebenso nicht warum.
Das
dritte Mal, dass ich eine unvergessliche Erinnerung auf einem See hatte, war,
als ich 29 Jahre alt war. Wieder ging ich schwimmen und vergaß die Welt um
mich. Mit einer Gruppe von 20 Erwachsenen besuchten wir einen kalten See in den
Bergen von Italien. Wieder fühlte ich mich unwohl, als ich mit der Gruppe
zusammen war, und bekam dieses lebenslange Gefühl, zu niemandem zu gehören.
Ich schwamm hinaus, um Platz für mich selbst zu haben. Es gefiel mir, so lange
und so oft zu tauchen, wie ich konnte. Ich blieb da länger als eine Stunde in
diesem kalten Wasser, meistens ganz in seinen Tiefen abgetaucht, ohne dass mir
kalt war. Ich wollte nicht zu den anderen zurück und erlebte nur ein
aufgeregtes Gefühl, was geschehen könnte, wenn mir der Atem stockte.
Ich
war glücklich. Ich liebte es, meinen Atem anzuhalten; ich versuchte so
angestrengt, wie es nur ging, die Luft anzuhalten. Ich liebte es, eine Art
Furcht zu fühlen, dass ich nicht genug Luft habe. Jedesmal missfiel mir der
Augenblick, wenn ich auftauchen und Atem holen musste. Dann schwamm eine Frau zu
mir hinaus und zwang mich zurückzukommen, weil sie alle sehr besorgt waren. Ich
genierte mich wieder, als mich alle ansahen und Witze darüber machten, dass ich
so lange im Wasser war.
Das
letzte halbe Jahr, bevor ich in die Therapie kam, dachte ich oft, dass ich
anfangen sollte, starke Schlaftabletten zu sammeln für den Fall, dass die
Therapie mir nicht hilft. Und ich habe noch immer das Gefühl, dass ich lieber
meinen Körper Schluss machen lassen würde, wenn ich den Schmerz nicht überwinden
kann.
Ich
bin jetzt 41 Jahre alt. Ich bin seit fünf Monaten in Primärtherapie. Ich fühlte
mich unglaublich traurig und schrecklich unglücklich, als ich anfing. Einmal
war ich am Strand, als ein starker Wind aufkam. Ich schaute meinen Mann und
meine zwei Kinder an, als mir plötzlich der Bauch weh tat und mein Körper zu
zittern anfing. Ich wurde sehr nervös und hatte den Impuls: „Ich muss
gehen.“ Die Wellen waren sehr hoch, und ich beschloss, ins Meer zu gehen und
zu versuchen, mich zu entspannen. Eine Welle wuchs so hoch, dass ich den starken
Wunsch verspürte, mich in sie fallen zu lassen. Die Welle warf mich durchs
Wasser. Ich fühlte den Druck und das Vergnügen, meinen Körper loszulassen,
mich von der Kraft der Welle tragen zu lassen. Ich schlug mit dem Kopf einige
Male hart auf dem Sandgrund auf. Ich wurde immer wieder mit dem Gefühl
herumgewirbelt, dass es keine Luft gab. Ich musste atmen. Ich öffnete meinen
Mund, der sich sofort mit Wasser füllte. Ich war sehr aufgeregt. Dann warf mich
die Kraft des Wassers in Sekundenschnelle aus der Welle. Ich glitt in Richtung
Strand, und plötzlich war es vorbei. Ich kann immer noch den Moment der
Erleichterung spüren und sowas wie Resignation, dass es vorbei war. Ich ging zu
meiner Decke zurück, und mein ganzer Körper zitterte stark. Ich hatte Angst,
wusste aber nicht genau warum, und ich wollte weinen, konnte aber nicht.
Ich
kann und will nicht sagen, dass ich suizidal bin. Aber in bestimmten
Augenblicken meines Lebens habe ich ein starkes Verlangen, einen Punkt zu
erreichen, wo ich entspannen kann, einen gewissen Frieden habe, wo alles zu Ende
ist. Im Wasser komme ich dazu, das zu tun, was ich wirklich tun will, und es ist
mir gleich, dass es mir den Tod bringen könnte. Wenn mich im Inneren das Gefühl
ausfüllt, dass alles zu viel ist, möchte ich kämpfen, habe aber keine Ahnung
wogegen. Wenn mich dieses schreckliche Gefühl erfasst, dass mir nichts gelingt,
dass ich nichts bekommen kann, das mir Befriedigung verschafft, dann möchte
ich, dass äußere Umstände die Macht ergreifen, und ich mache mir nichts aus
den Folgen. Aber insgeheim warte ich darauf, dass mich jemand herauszieht und
rettet, genau wie es bei meiner Geburt geschah.
Ich
hatte diese Gefühle oft in meinem Leben; das Hauptgefühl ist: „Es gibt
keinen Ausweg, und es hat keinen Zweck, es weiter zu versuchen.“ Das habe ich
oft gefühlt, besonders als mein erster Mann bei einem Streit seine Hände um
meinen Hals legte, so dass ich keine Luft bekam.
Ich
habe immer den Gedanken gehabt, dass ich etwas tun muss, wenn ich meinen Frieden
will; dass ich ohne die Hilfe eines anderen nicht sterben kann. Wenn ich in
tiefes rauhes Wasser gehe, bekomme ich von ihm meine Hilfe. Wenn ich gewisse
Medikamente nehme, bekomme ich die realen Körperempfindungen, die ich will. Ich
will einfach, dass das alles ohne Warten aufhört. Ich habe immer noch mehr
Angst davor, auf dieser Welt und lebendig zu sein, als dass ich den Tod fürchte.
In
den Therapiesitzungen habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem Kopf sehr hart
gegen die Matratze schlagen muss. Jetzt erkenne ich das Gefühl, langsam gelähmt
zu werden, wenn ich auf meinem Rücken schwimme, und nicht mehr atmen zu können.
Wenn ich meine Geburt wiedererlebe, kann ich nicht atmen.So weit ich mich zurückerinnern
kann, hat mich Wasser schon immer fasziniert. Jeder schmutzige kleine See macht
mich traurig, weil ich darin nicht schwimmen kann. Im Winter habe ich den tiefen
Wunsch, mit meinen Kleidern an hineinzugehen. Im Wasser will ich keine
Gesellschaft. Ich muss das Gefühl haben, dass es für mich allein da ist. Seit
ich mehrere Geburtsfeelings hatte, bin ich mir mehr darüber bewusst, was sich
abspielt, wenn ich im Wasser schwimme. Es bringt mich zum Mutterleib zurück.
Das
erste Primal-Erlebnis brachte mich in Schreckens- und Einsamkeitsgefühle. Ich
begreife meinen Bewegungsdrang, den ich nie zuvor verstanden habe. Ich fühle
diesen Konflikt, bleiben zu wollen, wo ich bin (wo es sicher ist), und
gleichzeitig ein Gefühl, herausgezogen zu werden, bevor ich bereit bin. Da ist
verzweifelte Wut und Panik. Ich schreie: „Bitte verstoß’ mich nicht!!“
Nach diesem Wiedererlebnis verschwand mein lebenslanges Gefühl von „Ich gehör
nirgends dazu“. Ich wollte immer zu meiner Mutter gehören, aber es sollte
nicht geschehen. Sogar bei der Geburt wurde ich „verstoßen.“ Das steckte
hinter meinem ganzen Leben voller Ruhelosigkeit, die ich ausagierte, indem ich
um die ganze Welt reiste. Ich konnte es nirgends länger als ein paar Stunden
aushalten. Dieses Problem hat sich erledigt. Ich habe gefühlt, dass ich bei der
Geburt ertrank, an Flüssigkeit erstickte. Oft fühlt es sich an, als möchte
ich mich bewegen, aber meine Beine funktionieren nicht. Nur mein Kopf bewegt
sich mit Mühe. Manchmal, wenn ich die schreckliche Angst fühle, will mein Körper
gegen die Matratze schlagen, so hart er nur kann. Und genau dort ist der Anfang
des Gefühls: „Ich kann an meiner Zwangslage nichts ändern.“ Ich musste
schreien, ohne zu verstehen, was los war. Jetzt weiß ich Bescheid.
Je mehr ich dieses Gefühl des Ertrinkens erlebe, umso weniger denke ich daran, mich in einem See zu ertränken. Noch wichtiger ist, dass ich nicht mehr den Drang verspüre, ins Wasser zu gehen, wenn ich in der Nähe eines Sees oder am Meer bin. Aber ich mag die Vorstellung, im Wasser zu sein, nach wie vor. Und wenn ich sterben muss, dann auf diese Weise.
Kapitel 11
Du stirbst, wie du geboren wurdest
Der
Tod besteht nicht nur als Erinnerung im Nervensystem fort, sondern Selbstmörder
wählen auch oft eine Methode, die den Prototyp ihrer Geburtserfahrungen
widerspiegelt. So hängen sich Leute auf, die von der Nabelschnur stranguliert
wurden, oder jemand, der oder die bei der Geburt betäubt wurde, entscheidet
sich für eine Überdosis Tabletten. Warum? Wegen des Prototyps. Für ein
Neugeborenes, das von der Nabelschnur stranguliert wurde, hätte weitere
Strangulierung die Agonie beendet. Wer bei der Geburt in amniotischer Flüssigkeit
zu ertrinken drohte, wählt den Tod durch Ertrinken. Ein Fallbeispiel: Der Autor
und Schauspieler Spalding Gray war ein Leben lang vom Ertrinken besessen. Er
schwamm immer so weit er nur konnte aufs Meer hinaus, bis zum Punkt der Erschöpfung,
und kämpfte und mühte sich dann, es zurück zu schaffen. Er brachte sich um,
indem er mitten in der Nacht von der Staten-Island-Fähre sprang. Sein
Selbstmord spiegelte seine Geburt wider, und er starb, wie er geboren wurde. Was
tatsächlich bei jedem Fall großen Stresses ins Spiel kommt, ist der
Resonanzfaktor, der sich auf seinen Weg die Schmerzkette hinab begibt, so dass
sich das ursprüngliche Geburtstrauma in späteres Verhalten einbringt. Wir
spulen wieder die Originalsequenz ab. Im Fall von Spalding Gray stelle ich die
Hypothese auf, dass er bei der Geburt vielleicht zu ertrinken drohte und das
Ende der Originalsequenz der Ertrinkungstod wäre. Gray hatte einige Zeit vor
seinem Selbstmord eine gräßlichen Autounfall, und ich glaube, dass dieses hohe
Schmerzniveau auch die ursprüngliche Agonie auslöste, die zu seinem Tod führte.
Das soll den Schmerz in der Gegenwart nicht herunterspielen; manchmal ist er
durchaus verheerend und kann ein suizidales Niveau erreichen. Aber es ist die
Zugabe frühen Schmerzes, die einen Menschen oft zu einem Selbstmordversuch
treiben kann.
Leute,
die bei der Geburt eine massive Dosis Anästhesie abbekamen, nehmen vielleicht
eine Überdosis Barbiturate oder vergasen sich in ihrer Garage. Und so fort. Das
ist natürlich nicht immer der Fall, aber wir stoßen oft darauf, wenn wir mit
unseren Patienten reden und sie beobachten. Ich erinnere mich an einen
Patienten, der sich einen Dynamit-Vorrat zulegte; nachdem er bei der Geburt
Anoxie erlebt hatte, wollte er sich eine Stange an seinen Kopf halten und ihn
wegblasen, so dass er keine Sekunde lang Schmerz und Hoffnungslosigkeit fühlen
müsste. Er lacht jetzt darüber, aber damals erzählte es Bände über seine
Verzweiflung. Eine andere Patientin war davon besessen, von einem Gebäude zu
springen. Während ihrer Kaiserschnitt-Geburt hatte diese Frau das Gefühl, in
der Luft zu hängen und sich nirgends festhalten zu können. Ein anderer
Patient, der bei der Geburt gestoßen und gequetscht wurde, hatte den
Zwangsgedanken, sich mit dem Kopf voran von einer Brücke zu stürzen.
Der
obige Fall zeigt wieder, dass sich Patienten auf dieselbe Weise umbringen
wollen, wie sie bei der Geburt gestorben wären. Wenn Sie eine Vorstellung von
Ihrer Geburt bekommen wollen, sehen Sie sich Ihr Sexleben an. Wenn Sie
herausfinden wollen, wie das zukünftige Sexleben eines Kindes aussieht, schauen
Sie auf seine Geburt. Wenn Sie also Ihr eigenes Sexmuster voraussagen wollen,
sehen Sie sich Ihre Geburt genau an. Sie ist äußerst aufschlussreich. Wenn Sie
etwas über den Ursprung Ihrer Depression erfahren wollen, überprüfen Sie Ihre
Geburt. Wenn Sie Ihre Geburt überprüfen, finden Sie mögliche Hinweise, um spätere
Depression vorauszusagen. Und wenn wir etwas über unsere Geburt und die Zeit
davor erfahren wollen, müssen wir unsere Depression erforschen und uns in sie
vertiefen. Was schließlich herauskommt, sind die Geheimnisse unseres
Lebensanfangs.
Kürzlich
führte ich eine formlose Umfrage durch, in der ich meine Patienten über ihre
Selbstmordversuche oder ihre Fantasien bezüglich der Selbstmordart befragte.
Die Parasympathen wählten fast ausnahmslos den passiven Ausweg –
Schlaftabletten. Sie zogen es vor, auf einen langsamen, sicheren Tod zu warten.
Es waren auch ausnahmslos diejenigen, die bei der Geburt betäubt worden waren.
Übrigens würden es die am schwersten Betäubten vorziehen, sich bei laufendem
Motor auf den Rücksitz eines Autos zu legen und sich von den Abgasen in den Tod
befördern zu lassen. Eine andere Patientin, die im frostkalten Winter in Europa
zuhause geboren wurde, wo es wenig warm war, zog es vor, in den Schnee
hinauszugehen und zu erfrieren. Sie hörte, dass sei der friedvollste Weg aus
dem Leben.
Im
Gegensatz dazu wählten die Sympathen die aktivste Todesart: eine Kugel in den
Kopf. Einer sagte: „Ich kann mir nicht vorstellen, herumzusitzen und auf den
Tod zu warten wie diejenigen, die im Auto sitzen.“ Ein anderer Sympath sagte,
dass Ertrinken zu lange dauere und die Erwartung zu viel Schrecken mit sich
bringe: „Ich ziehe es vor, vor einen Zug zu springen. Es ist schnell und
sicher.“ Bei der Geburt wurde er völlig „demoliert“, erlitt körperlichen
Totalschaden, als er sich wand und drehte, um herauszukommen. Er weiß, dass es
externe Rotation gab, weil er sich in der falschen Lage „präsentierte“ und
neu ausgerichtet werden musste. Beide Sympathen wollten sich den Kopf mit einer
Schrotflinte wegblasen, so dass es kein Warten sondern eine große Sauerei geben
würde.
Das
Erstaunliche bei allen diesen Leuten ist, dass sie feste Vorstellungen von ihrem
Suizid hatten, die sich in ihren Geburten widerspiegelten, und sie zogen nie
eine andere Art zu sterben in Erwägung.
Warum
trifft das zu? Weil beim ersten und wichtigsten Mal, als das Baby dem Tod nah
kam, er oder sie dennoch überlebten, und zwar durch eine Überlebensstrategie,
die sie damals anwandten, durch Passivität oder Aggressivität. Die Formel
sieht so aus: Als es gegen Ende des Traumas Erleichterung von dem Gefühl
der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit gab, ergab sich die Erkenntnis, dass
man leben wird. Aber der Mensch wird das Trauma im Leben immer wieder neu
erschaffen, da er noch immer versucht, es zu meistern. Bei einigen Patienten
trat das Gefühl auf, dass sie wieder anästhetisiert werden müssten (indem sie
Schlaftabletten nahmen), um leben zu können. In den meisten Fällen geht der
Versuch nicht dahin zu sterben, sondern zu leben. Man muss jedoch dem Tod
nahekommen.
Eine
Patientin, deren Geburt ein gewaltiger Kampf ums Herauskommen war und die damals
in Flüssigkeit zu ertrinken drohte, hatte den Wunsch, bei schwerem Wellengang
ins Meer zu gehen, gegen alle Widrigkeiten anzukämpfen und dann in den
Ertrinkungstod zu gleiten. Sie suchte nach Betäubung, aber irgendwie war sie
gezwungen, zuerst lange Zeit zu kämpfen; das Betäubungsgefühl sollte erst
danach kommen. Es kam ihr nie in den Sinn, einfach Tabletten zu nehmen und sich
zu betäuben. Ich sollte hier hinzufügen, dass viele Patienten, die ihre Geburt
wiedererleben, tatsächlich Unmengen an Flüssigkeit hochbringen und zu
ertrinken scheinen.
Natürlich
spielen auch Gelegenheiten, Lebensumstände und kulturelle Sitten eine Rolle bei
der Frage, welchen Weg aus dem Leben jemand nimmt. In Japan ist es vielleicht
Selbstmord mit einem Dolch, den sich jemand in den Bauch stößt. Aber wir haben
herausgefunden, dass es im Allgemeinen zutrifft, dass Leute beim Selbstmord so
sterben, wie sie geboren wurden. Man stirbt auf die Art und Weise, wie man
gestorben wäre, wenn das Geburtstrauma tödlich verlaufen wäre.
Aber
bedenken Sie, dass es nicht nur das Geburtstrauma ist, dass den Selbstmord
verursacht. Wenn man in der Kindheit nicht geliebt wird, verschlimmert und verstärkt
das suizidale Tendenzen, die vielleicht bereits existieren. Eine suizidale Frau
hatte den ständigen Impuls, sich einen Revolver in den Mund zu stecken und sich
auf diese Weise zu töten. Sie hatte eine ziemlich normale Geburt, war aber in
sehr jungem Alter oral vergewaltigt worden. Das Trauma wurde eingeprägt und
verfolgte sie ihr ganzes Leben lang.
Andere
hatten ähnliche Neigungen. Einer unserer Patienten zum Beispiel behauptet, dass
ihm seine Eltern von früh auf den Mund mit Seife auswuschen, wenn er ein
„schmutziges Wort“ von sich gegeben hatte. Das Trauma betraf seinen Mund,
und der Weg aus dem Leben sollte über den Mund erfolgen. Genau auf diese Weise
wollte er sich selbst bestrafen. Er hörte schon sehr früh im Leben auf, sich
mit Worten zu äußern. Der Revolver sollte sagen, was er nie zu sagen wagte:
„Ich bin schlecht, wertlos, mein Leben ist nicht lebenswert.“ Alle, die je
eine Selbstmordfantasie hatten und sich noch erinnern, was sie war oder ist,
haben eine ziemlich gute Vorstellung davon, welche Traumen ihnen bei oder um die
Zeit der Geburt widerfuhren.
Andre
Ich
habe vielleicht 10 Mal im Monat suizidale Anwandlungen, wobei ich das Gefühl
habe, das Beste für mich sei, „jetzt“ zu sterben. Ich verbinde schwere
Depression immer mit suizidalen Gedanken. Das Leben hat keinen Sinn mehr, und
wenn der Druck intensiv wird, fühle ich nichts; es ist einfach Leiden. Ich möchte
mich einfach zu Tode schlafen (Kurzfristig ist Schlaf eine Art Tod), oder dass
mir jemand einfach die Augen schließt, so dass ich tot bin. Oft hoffe ich, dass
jemand die letzte Energie aus mir heraussaugt. Dann bin ich frei. Die letzte
Energie hält mich am Leben. Ich bin zu feige, um von einer Brücke zu springen
oder mich zu erschießen. Ich möchte so passiv sterben, wie ich nur kann;
einfach verschwinden. Ich handle so. Ich war und bin so. Die Leute behandeln
mich, als würde ich nicht existieren. Meine Eltern behandelten mich so, und
jetzt will ich nicht mehr leben, außer ich weiß, dass die Therapie allmählich
diese Gefühle wegnimmt.
Fabio
Bei
meinem ersten Selbstmordversuch war ich 17. Es geschah ganz plötzlich, als
meine Freundin mir sagte, dass unsere Beziehung vorbei sei. Ich war „verrückt“
nach ihr und befand mich in einer chancenlosen Beziehung, wo sie von einem
Jungen verwirrt war, den sie schon hatte! Auch meine Eltern steckten in einer
chancenlosen Beziehung, die immer schlechter wurde; sie verließen einander und
stritten sich die ganze Zeit.
In
meiner Familie drohte immer der Selbstmord. Es fing damit an, dass meine Mutter
eine große Menge Schlaftabletten nahm und ihrer Schwester einen Brief hinterließ,
in dem stand: „Bitte pass’ gut auf meine zwei Kinder auf. Ich kann mein
Leben so, wie es ist, nicht mehr ertragen.“ Mein Vater rannte die Tür ein und
fuhr sie im Bruchteil einer Sekunde in die Notaufnahme. Ich war 11 Jahre alt.
Von da an hatte ich sehr viel Angst, dass jemand in meinem Zimmer sein könnte.
Ich legte mein Ohr an die Tür, um auch das leiseste Geräusch zu hören.
Dann,
im Alter von 17, war ich an der Reihe, als dieses Mädchen mit mir Schluss
machte. Ich fühlte mich verlassen. Das war mehr Zurückweisung, als ich zu
dieser Zeit verkraften konnte. Später fand ich heraus, dass es mit einer frühen
Trennung von meiner Mutter in Verbindung stand. Ich nahm damals eine große
Menge Schlaftabletten. Das hatte mit meiner Geburt zu tun, weil meine Mutter während
der Wehen Beruhigungsmittel bekam. Ich schlitzte mir die Handgelenke auf, um den
extremen Schmerzzustand, in dem ich mich befand, zu zeigen und zu rechtfertigen.
Es sagte wirklich: „Was muss ich tun, damit du siehst, dass ich Hilfe
brauche?“ Ich schrieb dann die Worte „Ich liebe euch alle“ auf
meinen rechten Arm, damit meine Familie keine Schuldgefühle wegen meines
Selbstmords haben würde.
Der
Schmerz, den ich zeigen wollte, indem ich meine Handgelenke aufschlitzte, war
das größte verdrängte Ereignis meines Lebens, das Ereignis, das ich nicht
erkannte und niemandem erzählen konnte: Mein Onkel vergewaltigte mich vom Alter
von 4 bis 9. Er vergewaltigte auch meine Schwester. Ich war mir dieser
Vergewaltigung nicht bewusst, bis ich sie in der Therapie entdeckte. Ein
Ergebnis der Therapie ist, dass ich die Schmerzüberlastung von mir genommen
habe und mein Leben „normal“ leben kann. Ich denke jetzt nie an Selbstmord.
Alle Gefühle, die sich um den Selbstmord drehten, kamen plötzlich mit ihrer ganzen Intensität hoch, nachdem sie von einem schmerzvollen Ereignis ausgelöst worden waren. Ich wusste nie, was es war, aber es brachte mich schrecklich durcheinander. Hätte ich die Verlassenheits- und Zurückweisungsgefühle aus meiner Kindheit fühlen können, hätte ich leben können, obwohl mich meine Freundin verlassen hatte. Alles, was ich mit dem Selbstmord versuchen wollte, war, den Schmerz zu töten. Leider schloss mich das mit ein.
_________
Eines
der Schlüsselsymptome bei Depression ist Verwirrung. Wir haben entdeckt, dass
depressive Verwirrung von frühen Ereignissen stammen kann. Bei einem Fall kam
eine Patientin verwirrt in eine Sitzung; sie wusste nicht, was nicht stimmte,
was sie tun oder wie sie fortfahren sollte. Ihr verwirrter Zustand stammte aus
einer Geburtssequenz. Lassen Sie mich gleich klarstellen, dass ich mir das nicht
ausgedacht habe; die Patientin erlebte eine Steißgeburt wieder, bei der alles
schiefzulaufen schien. Davon wusste sie offensichtlich nichts. Es war lediglich
so, dass dieses Ereignis einen Verwirrungszustand einprägte, der die Dinge zu
klären schien, nachdem er wiedererlebt worden war. „Nach vier Monaten der
Verwirrung, in denen ich darauf wartete, dass mir mein Freund mitteilen würde,
wie er emotional zu mir steht, beschloss ich, einen Brief zu schreiben, der
unsere Beziehung beenden sollte. Ich kämpfte tagelang mit diesem Brief.
Mir war, als würde ich schrecklich kämpfen, um meine Verwirrung und mein
Leiden zu beenden. (Später fand ich heraus, dass ich um mein Leben kämpfte und
zu verstehen versuchte, was los war.) Ich schien nie zu verstehen, was los war.
Wenn ich zur Arbeit ging, überkam mich totale Verwirrung und Übelkeit. Ich
rannte ins Primal Center. Ich fing zu weinen an, wusste nicht, was ich tun oder
fühlen sollte. Es war totale Verwirrung. Ich hatte immer versucht, meinen
Freund dazu zu bringen, dass er alles ausknobelt. Ich möchte, dass er unsere
Situation analysiert und zu einem vernünftigen Schluss kommt. Dann weinte ich
wie eine 5-jährige. Ich war in der Schule und wartete darauf, dass meine Mutter
kommt. Sie vergaß, mich mitzunehmen, und ich war verwirrt. Sie war nie für
mich da, und ich habe nie verstanden warum. Dann glitt ich hinab zu einer
eigenartigen Geburt; alles war rückwärts und ein großes Durcheinander. Ich
konnte nichts verstehen. Durch die Anästhesie war ich völlig außer Gefecht
gesetzt und kam da wie besoffen raus. Mir war, als wüsste mein Körper nicht,
wohin er gehen oder was er tun sollte. Das alles verstärkte sich noch, weil
meine Eltern mir nie etwas erklärten. Ich spürte den Schrecken des Todes, als
die Geburt begann. Ich habe immer Führung gebraucht. Ich wollte sie von meinen
Eltern und dann von meinem Freund – dass er mir sagt, was wir mit
unserer Beziehung machen sollen. Zm ersten Mal in meinem Leben habe ich einen
klaren Kopf und kann beenden, was ich begonnen habe. Ich vermute, wer immer das
liest, wird denken, ich sei verrückt, aber sobald jemand das fühlt, was ich
gefühlt habe, denkt er oder sie das nicht mehr.“
Weil
die Einprägung so früh war und so tief im Gehirn weit unterhalb von
Gedankenprozessen aufgezeichnet wurde, ist klar, warum sie immer verwirrt war
und mit ihren Gedanken nichts herausfinden konnte. Sie war ständig im Griff des
präverbalen Gehirns, wo Worte und Gedanken nicht existierten. Wenn sie in
London eine Straße finden wollte und auf den Plan in der U-Bahn schaute,
war sie geistig völlig blockiert und konnte nicht herausfinden, wohin sie
fahren musste. Eine Möglichkeit, ihrer Verwirrtheit ein Ende zu setzten,
bestand darin, mit der Sinnsuche aufzuhören und etwas zu fühlen, dass keinen
Sinn hatte. Dann klärte sich ihr Verstand dialektisch. Sie hatte immer Freunde,
die ihr gegenüber ambivalent waren. Sie waren wie ihr Vater, der immer für
Chaos sorgte. Ihr Vater steckte finanziell immer in Nöten. Er trank, schrie und
handelte unvorhersehbar. Er war inkonsequent, und sie wusste nie, was von ihm zu
erwarten war. Ihr subtiles Ausagieren bestand darin, alles übertrieben ausführlich
zu erklären, so dass die Leute nicht verwirrt wären. „Vorher war ich jedes
Mal völlig verwirrt, wenn ich eine Entscheidung treffen musste, und wenn es
auch nur im Lebensmittelladen war. Ich wartete immer darauf, dass ein anderer
die Entscheidung treffen würde (sogar wenn es ums Bestellen im Restaurant
ging). Es war schrecklich, weil es immer die Entscheidung von anderen war, als
ob die mein Leben leben würden. Immer das zu tun versuchen, was andere wollen,
ist keine Lebensweise.“
Ihre
Einsicht in ihr Kontrollverhalten gegenüber Freunden lautete, dass die sie
dadurch nicht mit zu vielen Informationen füttern und sie somit nicht überwältigen
würden. Es gab tatsächlich Kindheitsprobleme, die bei ihrer Verwirrtheit eine
Rolle spielten (die Weigerung ihrer Eltern, sie zu führen), aber die Tendenz
zur Verwirrtheit bestand so lange, bis sie tiefen Zugang hatte. Was sie
entdeckte, war, dass Verwirrung keinen Sinn ergibt. Es gab das Gefühl. Was mit
ihr geschah, ergab keinen Sinn. Ihre Schlussfolgerung: „Vor dreißig Jahren
hatte mich eine Droge, die man meiner Mutter verabreichte, der Fähigkeit zu
verstehen beraubt. Jetzt ist mir alles so klar.“ Für sie lag die einzige Möglichkeit,
die Verwirrung zu beenden, darin, sie im Originalkontext zu fühlen, als alles
begann. Wir wissen, dass die stimulierenden Neurohormone, die Katecholamine,
ihre Axone aus der Tiefe des Hirnstamms (aus dem locus caeruleus) zum frontalen
Kortex senden. Auf diese Weise und auf andere können tief im Gehirn liegende
Einprägungen Denkprozesse beeinflussen. Eine andere Art, das auszudrücken,
ist, dass primitivere, ältere Hirnstrukturen sich auf die sich später
entwickelnden, komplexeren auswirken. Wenn wir sehen, wie sich Evolution
entfaltet, lässt sich leicht verstehen, wie alte tiefe Kindheitserinnerungen
unser Verhalten als Erwachsene beeinflusst. Umgekehrt blockieren bestimmte
Beruhigungsmittel, Chlorpromazin und andere Antipsychotika, die
Katecholamin-Aktivität. Sie beruhigen uns, indem sie alte Traumen und fehlende
Liebe in der frühen Kindheit zeitweise von unserem gegenwärtigen Verhalten und
Denken abtrennen. Wir können unsere Geschichte ignorieren und einfach
weitermachen, aber wir können sie nicht eliminieren. Beruhigungsmittel helfen
uns dabei, unsere Geschichte zu kontrollieren.
Reba
Wenn
ich in einer suizidalen Gemütsverfassung bin, ist der Gedanke, mich selbst
umzubringen, die Reaktion auf nahezu jeden Gedanken und jede Situation in meinem
Leben. Ich habe das Gefühl, dass es mich nicht gibt, nie gegeben hat und nie
geben wird. Das Leben ist Qual, ich kann es keinen Augenblick länger ertragen,
und es gibt keinen Grund, warum ich es sollte. Und es wird einfach alles immer
schlimmer. Weil mir das Schlimmste durch den Kopf geht, fällt es mir schwerer,
die einfachen Dinge zu tun, wie aufzustehen und zur Arbeit zu gehen (Ich reinige
Apartments). Ich liege auf den Betten der Leute und weine, möchte ihr ganzes
Geschirr auf dem Küchenboden zertrümmern, ihren Abfall ins Schwimmbecken
werfen, und ich kann nicht glauben, dass ich es nicht einfach tue und gehe,
zumal ich am nächsten Tag wahrscheinlich tot sein werde, und gewiss bevor ich
den Scheck bekomme, der mich für das bezahlt, was ich gerade mache.
Die
Abwärtsspirale bemächtigt sich meines Lebens, und ich kann keinen Ausweg
sehen, kann nicht erkennen, dass es noch etwas anderes geben könnte. Und was
ich tun muss, ist funktionieren und das Geld für die Therapie verdienen, die
entsetzlich ist. Es ist reine Qual, ohne Aussicht auf Erleichterung. Die einzige
Erleichterung ist der Tod. Ich möchte einfach verschwinden, wenn die Gefühle
stark sind. Einfach in den Sonnenuntergang fahren und aufhören zu sein,
schreiend mitten auf die Straße laufen und einfach dort bleiben, bis sie kommen
und mich wegbringen. Wo ist „weg?“ In meinen Träumen, es ist Vergessen; es
existiert nicht, und auch mich gibt es nicht.
Ich
weiß, dass alles, was ich tue, für mich das Falsche ist; es wird mir nicht
helfen, es wird mich einfach immer weiter von mir selbst wegbringen. Also muss
ich anhalten und umkehren; etwas ganz anderes machen, was ich nie zuvor gemacht
habe. Ich habe das Gefühl, dass ich mit allem, was ich tue und nicht tue,
anderen einfach beweisen will, dass ich am Leben bin, dass ich existiere. Und
wenn ich jemals leben soll, muss ich ganz damit aufhören, es für die anderen
zu tun, einschließlich zu atmen.
Als
ich dieses Paradox entdeckte, dass ich nur dann leben könnte, wenn ich aufhören
würde, für andere zu leben, und dass mir das nur gelänge, wenn ich sterben würde,
war ich mir sicher, dass ich mich umbringen würde. Ich machte mich auf, andere
davon zu überzeugen, dass es unvermeidlich sei, dass ich Selbstmord begehen
werde.
Ich
dachte, falls ich mich umbringen würde, dann wäre es mit Tabletten. Und ich würde
sicher gehen, genug davon zu nehmen, um zu sterben, weil der Gedanke, als
hirngeschädigte, unversicherte, illegale Fremde in einem amerikanischen
Krankenhaus aufzuwachen, absolut mehr war, als ich ertragen konnte.
Über
Selbstmord zu reden ist für mich wie um Hilfe bitten. Aber was ich wollte, war
jemand, dem ich vertraute – entweder einer meiner zwei Therapeuten oder mein
Ex-Freund – die sich bereit erklären würden, mich zu halten, wenn ich
sterbe. Dann hätte ich keine Angst und würde es nicht bereuen.
Ich
bin jetzt seit einiger Zeit nicht mehr suizidal, aber während ich das schreibe,
ist mir, als könnte einer von ihnen zu mir sagen: „Du hast Recht, es gibt
keine Hoffnung für dich, aber ich werde für dich da sein, wenn du stirbst, und
ich werde dich in meine Arme nehmen und dir sanft sagen, das alles in Ordnung
ist.“ Falls sie das zu mir sagen sollte, würde ich mich jetzt umbringen und
den Kampf aufgeben.
Ich
möchte einfach einschlafen und nicht jeden Morgen aufwachen und mich fragen,
warum ich noch lebe, zumal sich mein Leben wie ein grausamer Scherz anfühlt,
den jemand mit mir treibt. Ich bin mir nie sicher, warum ich aufwache, denn es
scheint, dass kein Leben, kein Lebenstrieb in mir ist. Ich bin eine leere Hülle,
und ich weiß nicht, was mich weitermachen lässt.
Meine
Selbstmordfantasien unterscheiden sich sehr von dem, was ich wirklich planen und
ausführen würde. In meinen eher verzweifelten, gewaltsamen Augenblicken möchte
ich mich mit einem sehr scharfen Messer ins Herz stechen, meine Handgelenke mit
Glas aufschlitzen, das ich selbst zerbrochen habe. Diese Methoden wären ein
befriedigenderer Ausdruck meines Schmerzes, aber sie erschrecken mich, und ich
weiß, dass ich sie nicht voll durchziehen könnte. Ich stelle mir vor, mir
meine Augen auszustechen und meinen Hals durchzuschneiden, so dass mein Kopf zu
Boden fällt.
Mir
ist nicht ganz klar, wie sich Gewaltfantasien auf meine Geburt beziehen. Ich
denke, es ist einfach ein Bedürfnis, meinen Schmerz auszudrücken. Bei meiner
Geburt wurde ich von der Nabelschnur gewürgt. Es war schmerzvoll, erschreckend,
und ich entschloss mich schließlich, den Kampf aufzugeben und auf den Tod zu
warten. Irgendwie haben sie mich lebend rausgekriegt. Aber ich hatte beschlossen
zu sterben, und das ist die Antwort, die sich mir aufdrängt, wann immer das
Leben mich überfordert. Ich entschied mich, einfach aufzugeben und erwartete
nie, aufzuwachen und noch zu leben. Ich musste mit meinen Bemühungen aufhören.
Hätte ich weitergekämpft, wäre ich bestimmt gestorben.
Etwa eine Woche lang glaubte ich wirklich, dass ich mich sehr bald umbringen würde, wenn mir das Geld ausginge. An jenem Wochenende klammerte ich mich um mein liebes Leben an einer Felswand über einem Wasserfall fest, in den ich gesprungen war. Ein paar Jungs mussten mich retten. Hinterher erkennte ich, dass ich die ganze Zeit nicht ans Sterben dachte sondern ans Überleben, dass ich leben wollte. Es war ein Wendepunkt, an dem ich begriff, dass ich mich für das Leben entscheiden würde.
_______
Vivians Geburtstraum
Eine
andere Patientin von mir hatte eine Lebensgeschichte, die veranschaulichte, wie
die Ereignisse bei der Geburt und am Lebensanfang später die Art und Weise
beeinflussen können, wie sich jemand umbringt.
Vivian
wurde mitten im Winter in Polen geboren. Ihre tief verdrängende und asxuelle
Mutter konnte sich nicht öffnen. Das Baby signalisierte durch die Freisetzung
von Hormonen seine Bereitschaft, auf die Welt zu kommen. Die Mutter war jedoch für
diese Botschaft nicht empfänglich. Etwas in ihr kämpfte gegen das
Unvermeidliche. Das Neugeborene glitt mit offensichtlicher Leichtigkeit den
Geburtkanal hinab. Anstatt die Sequenz zu beenden und geboren zu werden steckte
Baby Vivian plötzlich fest und begann zu ersticken. Sie fing an zu sterben.
(Sie erlebte diese Primärerfahrung in einer Therapiesitzung wieder). Bei einer
letzten großen Anstrengung, mit der sie versuchte, geboren zu werden und Luft
zu bekommen, kämpfte sie mit jeder Faser ihres Seins. Ihr Überlebensinstinkt
nahm die Form einer enormen Wut an, die sie mit aller Macht vorwärtsdrängen
ließ. Anfangs scheiterte sie und konnte nicht hinaus, worauf sie mit noch mehr
Wut und Anstrengung reagierte, bis sie schließlich Erfolg hatte: Sie war
geboren. Von da an entwickelte Vivian ein totales Misstrauen gegenüber ihrer
Umwelt. Das artikulierte sich erst viele Jahre später, weil es eine
neurophysiologische Einprägung war, die ihren passenden Ausdruck im Alter von
20 fand. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte sie ein übermäßiges Bedürfnis
nach Freiheit, das später auf Unterdrückung im Elternhaus stieß. Nichts
sollte ihr im Weg stehen. Das führte zu ständigem Streit mit ihren
Eltern, und ihre Wutanfälle wurden immer bestraft. Es ist keine Überraschung,
dass sie in der Schule keine Disziplin akzeptieren konnte. Das Ergebnis waren
schlechte Noten. Für Vivian symbolisierte jedes Hindernis den Tod. Das erlebte
sie nicht bewusst sondern unbewusst. Dann heiratete sie einen strengen
Vorgesetzten, der ihr untersagte, nachts auszugehen, jeden ihrer Schritte überwachte
und sie genau beobachtete. Die Einprägung und die Kraft ihrer Geburt zwangen
sie, zwischen sich und ihrem Mann eine gewisse Distanz zu schaffen. Sie hatte
keine Ahnung, welche Kraft sie trieb.
Der
andere Aspekt ihrer Geburt, der ihr Verhalten beeinflusste, war, dass sie
davonlief, wenn sie das Gefühl hatte, irgendwo festzustecken, sei es im Beruf,
in Beziehungen oder sonstwo. Immer wenn sich ein Hindernis in den Weg stellte,
bekam sie eine Migräne (die von einer eingeprägten Erinnerung reduzierten
Sauerstoffs bei der Geburt herrührte). Ein weiterer Aspekt der Geburts-Einprägung
war die Hilflosigkeit und Einsamkeit, die sie ihr ganzes Leben lang fühlte.
Jeder Kampf war etwas, das sie aus eigener Kraft bewältigen musste, und dennoch
schien alles vergebens. Die Widrigkeiten schienen gewaltig. Ihre Mutter half ihr
nicht, auf die Welt zu kommen, und aus dieser Erfahrung erhielt sie die
physiologische Lektion, dass kein Mensch für sie da sein würde, wenn sie
jemanden bräuchte; auch das alles artikulierte sich erst zwei Jahrzehnte später.
Sie
erwartete von niemandem was, als sie aufwuchs, und das verstärkte sich durch
ihre strengen, lieblosen und unnachgiebigen Eltern. Die Wahrheit war, dass ihre
Mutter sie nicht wollte. Ihre Eltern freuten sich nie über ihre Anwesenheit,
„schätzten“ sie nie und gaben ihr das Gefühl, dass der einzige Grund ihrer
Existenz darin bestand, ihre Befehle entgegenzunehmen. Das Gefühl in ihrer
Kindheit war, dass ihre Existenz ein großes Versehen war. Sie wollten sie
einfach nicht um sich haben und sagten zu ihr: „Alle wären viel besser dran,
wenn sie nicht geboren worden wäre.“ Alles, was sie in ihrem Leben wollte,
war, sich geliebt zu fühlen. Wegen dieser Erwartung heiratete sie, um bald
darauf enttäuscht zu werden.
Vivians
Gefühl war, dass sie in dem Augenblick, in dem es in einer Beziehung Kummer
gab, „hinaus musste,“ Wenn sie nicht hinaus konnte, war ihr, als müsse sie
sterben (so, wie sie sich ursprünglich während ihrer Geburt gefühlt hatte).
Sie behauptete, ihr Mann gebe ihr das Gefühl zu ersticken: „Er lässt mir
keine Luft.“ In ihrer Ehe ließ sich ihr Mann zu irrationalen Beschimpfungen
hinreißen und schlug sie. Sie musste hinausgelangen.
Um
wegzukommen ging sie zum Beispiel mit ihrer Freundin ins Kino. Aber ihr Ehemann
hielt sie auf: „Du gehst nirgendwohin!“ Sie ging zur Tür, und er packte sie
und warf sie auf die Couch. Sie war dann hilflos, fühlte sich ungeliebt und
allein, und es gab niemanden, der sie verstehen oder ihr helfen konnte. Das
waren alles die Originalgefühle und –empfindungen, die sie bei der Geburt
hatte und die später in die Emotionen des Lebens einflossen. Was also machte
sie? Den logischsten nächsten Schritt: Sie nahm Tabletten und versuchte
sich umzubringen, und dann fiel sie in ein Koma und blieb darin drei Tage lang.
Ihr
Mann löste alle frühen Einprägungen aus, und die Sequenz lief ab: „Wenn ich
nicht hinaus kann, sterbe ich.“ Das stimmte ursprünglich bei ihrer Geburt.
Dann hatte sie unbewusst das Gefühl: „Ich werde sterben wie ursprünglich bei
der Geburt.“ Also nahm sie Tabletten, welche die Empfindungen nachahmte, die
sie bei der Geburt erlebt hatte: Aussetzen der Atmung, dann Ersticken und Tod.
Der Tod sollte das Ende ihrer Qual darstellen. Diese Gleichung blieb als
physiologische Einprägung in ihrem System. Wenn sie die Sache nicht mehr im
Griff hatte und der Schmerz unerträglich wurde, wollte sie sterben. Die Lösung
war dieselbe wie beim Geburtserlebnis. Sie hatte keine Ahnung, welche
unbewussten Kräfte sie steuerten. Sie war total auf die Gegenwart konzentriert
und dachte, dass ihr Ehemann der einzige Grund von allem war. Er gab ihr wieder
das Gefühl, das dickköpfige, schwierige Kind zu sein, das keiner lieben kann.
Sie war machtlos gegenüber diesen eingeprägten Ereignissen. Also nahm sie
buchstäblich ihr Leben (und ihren Tod ) in ihre Hände.
Wann die Gefahr am größten ist
Oft
hören wir den Begriff „suizidale Depression.“ Aber tiefe Depression
involviert normalerweise systemweite Verdrängung der Geburt und anderer früher
Traumen von solcher Größe, dass sie den Menschen lähmen können. Die Person
ist lethargisch, kann kaum atmen, die Arme heben oder herumgehen – alles
parasympathische Originalreaktionen, die das Trauma begleiten. Solange tiefe
Verdrängung wirkt, ergibt sich daraus tiefe Depression ohne Selbstmord;
Erregung wird unterdrückt, und es gibt wenig Handlungsenergie. Tatsächlich ist
die Person dann in größter Gefahr, wenn sie sowohl deprimiert als auch
agitiert ist. Obgleich tiefe Depression die für den Selbstmord nötige Energie
erschöpft, kann Agitation genug Motivation und Energie liefern, um die Handlung
auszuführen. Somit wäre „suizidale Agitation“ ein zutreffenderer Begriff.
Sie beinhaltet ein Erregungsniveau, das ein gleich großes Eregungsniveau aus
dem Geburtstrauma auslöst. Dem chronisch Depressiven widerfährt etwas, das das
Trauma ins Bewusstsein aufsteigen lässt und Selbstmordgedanken mit sich bringt.
Wenn der Schmerz nur ein bisschen durchbricht und sich ins volle Bewusstsein
bewegt, durchdringt Hoffnungslosigkeit die Psyche. An diesem Punkt besteht die
Gefahr, dass der Mensch zum Äußersten fähig ist, und der Tod wird zu einer Möglichkeit.
Wir
haben in unserer Hirnwellenforschung Indikatoren für diese potentiell tödliche
Kombination gesehen. Wenn Depression und Agitation zusammenfallen, ist sowohl
die Amplitude als auch die Frequenz der Hirnwellen extrem hoch. Wenn in der Primärtherapie
die Amplitude signifikant ansteigt, verlangsamen sich die Wellen in der Regel,
was anzeigt, dass die Person sich tiefliegendem Schmerz nähert. Wenn aber der
Schmerz aufsteigt und die Verdrängung nicht richtig funktioniert, besteht die
Gefahr von Selbstmord.
Wie
ich vorher gesagt habe: Wenn wir einer guten Geburt eine liebevolle Familie
hinzufügen, in der die Eltern sich sorgfältig um die Bedürfnisse des Kindes kümmern
und ihre Liebe durch eine Kultur zeigen, die den Ausdruck von Gefühlen erlaubt,
werden wir die Selbstmordrate reduzieren.
Damit
der Mensch weiterhin einen Grund findet, um am Leben zu bleiben, und nicht zu
suizidalen Gedanken und Plänen zurückkehrt, muss er oder sie schließlich in
einer geeigneten therapeutischen Umgebung die Gefühle erleben, die seiner oder
ihrer Hoffnungslosigkeit zugrunde liegen. Der Patient muss gegenwärtige
Verlustgefühle und Traurigkeit von alten Verzweiflungsgefühlen trennen. Nur
Hoffnung zu spenden, ohne dass der Patient die Hoffnungslosigkeit fühlt, ist
nicht heilsam. Das mag für den Moment hilfreich sein, aber es ist nur eine vorübergehende
Erleichterung, denn die Fähigkeit des Menschen, der Depression und den
suizidalen Neigungen ein Ende zu bereiten, liegt im Erleben der
Hoffnungslosigkeit.
Glücklicherweise liegt ein Körnchen Hoffnung im Herzen der ursprünglichen Hoffnungslosigkeit. Nachdem jemand die völlige Hoffnungslosigkeit aus dem Geburtstrauma gefühlt hat, löst sie sich allmählich auf, sofern er oder sie sich in einem sicheren, warmherzigen Umfeld befindet. Der Mensch ist auf dem Weg zur Gesundheit, wenn es weniger schwer fällt zu leben als sich umzubringen.
Kapitel 12
Medikamente
kontra Psychotherapie
Heutzutage
betrifft die größte Meinungsverschiedenheit über Depression die Frage, wie
man dieses Monster bändigt und unter Kontrolle bringt. Die Oppositionsparteien
sind die Medikamentenbefürworter gegen die konventionelle Psychotherapie.
Letztere setzt sich zusammen aus „Gesprächstherapien“ wie Psychoanalyse,
bei welcher der Patient „frei assoziiert“ und dadurch zu verstehen versucht,
was in seiner Vergangenheit die Depression verursacht hat, und den kognitiven
Verhaltenstherapien, die sich auf die Gegenwart konzentrieren, indem sie dem
Patienten helfen wollen, seine Gedanken- und Verhaltensmuster zu ändern. Für
den Augenblick sieht es so aus, als habe die Pro-Medikamente-Gruppe gewonnen.
Heute ist die Psychiatrie unbeabsichtigt zum Arm der Arzneimittelhersteller
geworden. Millionen von Amerikanern nehmen Selektive Wiederaufnahmehemmer
(SSRI), wie zum Beispiel Prozac, Zoloft und Paxil, die gegenwärtige Goldwährung
bei der Depressionsbehandlung, oder ein trizyklisches Antidepressivum wie
Imipramin. Einige Untersuchungen zeigen, dass Medikamente alleine genauso
wirksam bei der Behandlung von Depression sind wie Gesprächstherapie. Tatsächlich
drehte sich ein berühmter Gerichtsprozess (Osheroff gegen Chestnut Lodge) um
die Weigerung einer Klinik, den Patienten Antidepressiva anzubieten.
Eine
Psychologin, die Depression und ihre Behandlung erforscht, Ellen Frank von der
Medizinschule der Pittsburgh-Universität, kommt zu folgendem Schluss:
„Die Dosis eines Antidepressivums, die Sie gesund macht, lässt Sie
auch gesund bleiben.“ Sie zitiert eine Studie, bei der von 53 Teilnehmern, die
bei Imipramin blieben, 41 über die gesamten drei Jahre frei von Depression
blieben. Diese Studie fand auch heraus, dass Psychotherapie plus Drogen keinen
Vorteil gegenüber Medikamenten alleine hatte – kein besonders gutes Zeugnis für
die Wirksamkeit der Psychotherapie. (Science
News, Jan. 26, 1991, Seite 57). Ähnliche Resultate ergaben sich beim
Gebrauch von SSRIs, Medikamente, die oft auf unbestimmte Zeit verschrieben
werden.
Paradoxerweise
kann jemand suizidal werden, wenn er oder sie Antidepressiva verabreicht
bekommt, und das nicht wegen der Medikamente sondern weil, wie ich gerade erklärt
habe, die Medikamente mehr Zugang zu unbewusstem Schmerz ermöglichen. Die
Medikamente, die eigentlich verdrängen sollen, entlasten in Wirklichkeit das
System, das bisher alles auf sich allein gestellt erledigen musste, von der
Aufgabe der totalen Verdrängung, so dass jetzt Gefühle hochkommen.
Tranquilizer können die Einprägung so weit dämpfen, dass der Schmerz nicht
durchdringen kann. Je mehr Schmerz vorhanden ist, umso größer muss die Dosis
sein. Ich habe Patienten gesehen, die Selbstmord begehen wollten, indem sie eine
Dosis einnahmen, die für nahezu jeden Menschen tödlich gewesen wäre, die aber
daraufhin lediglich 12 Stunden schliefen. Sie hatten so massive Mengen an
gehirnaktivierendem Schmerz, dass die Medikation nicht zum Tod führen konnte.
Was
den Einsatz von Psychotherapie zur Behandlung von Depression betrifft, gibt es
diese Auffassung der kognitiven Psychotherapie-Schule, dass der Depressive in
„selbstvernichtenden“ Gedanken eingeschlossen ist und dass er identifizieren
muss, welche dieser Gedankenmuster „verzerrt“ sind. Danach müssen wir uns
auf dem Weg der Vernunft und Logik eine andere Denkart einfallen lassen, welche
„rational“ und selbstbewusst ist anstatt selbstzerstörerisch. Diese Lösungsmethode
oder dieser Lösungsversuch findet sich heute neben den Antidepressiva an der
vordersten Behandlungsfront. Er kommt in der Regel von solchen Leuten, die
glauben, dass wir uns den Ausweg aus Problemen oder den Weg zur Gesundheit
erdenken können. Für solche Therapeuten existiert Schmerz nur in der Psyche.
Man könnte fragen: „Wo sonst sollte er sein?“ Versuchen wir’s mit dem Körper.
So
etwas wie selbstzerstörerische Gedanken gibt es: „Ich tauge nichts. Ich kann
nichts tun.“ Aber diese Gedanken haben eine Grundlage; es sind nicht einfach
in der Luft hängende Gedanken, die man zurücknehmen muss und durch neue
Gedanken ersetzen muss. Sie sind in physiochemischen Realitäten im Inneren
verankert, mit denen man sich befassen muss. Außerdem – was und wer ist
dieses „Selbst“,
dass man zerstört? Und welches Selbst richtet die Zerstörung an? Gibt
es folglich zwei Selbsts?
Das
reale Selbst ist dasjenige, das schreckliche Traumen durchgemacht hat und leidet
und sich aufgrund realer früher Lebenserfahrung hoffnungslos und ungeliebt fühlt.
Es sendet Nachrichten nach oben zu den Denkzentren, die auf die Idee kommen,
dass man ungeliebt sei, und das, obwohl Frau und Kinder da sind, die dem Opfer
in Liebe ergeben sind. Und ein kognitiver Therapeut lässt sich nicht lange
bitten und weist auf all das hin: „Sie werden doch geliebt, warum also fühlen
Sie sich so ungeliebt? Sie müssen Ihre negativen Gedanken ändern.“
Wir
müssen das klarstellen. Der Depressive hat keine verzerrten Gedanken, und es
ist auch keine Frage von Feindseligkeit, die gegen das Selbst gerichtet ist, wie
Freud es auffasste. Die „negativen“ und „selbstzerstörerischen“
Gedankenmuster des Depressiven stammen direkt von tiefliegenden Einprägungen
und stehen mit der inneren physiochemischen Realität des Körpers in Einklang.
Das Problem ist, dass sie nicht mit der gegenwärtigen Außenrealität in
Einklang stehen. Wie ich betont habe, kommt das daher, dass die innere
Wirklichkeit immer Vorrang vor der äußeren hat und die sogenannten
„verzerrten“ Gedanken, die nach Aussage der kognitiven Therapeuten von deren
Patienten bekämpft werden müssen, nur Symbole für den zugrunde liegenden
Schmerz sind. Diese innere Wirklichkeit kann Jahrzehnte an Erfahrung repräsentieren
und dieselben wenigen prototypischen Gefühle verstärken: „Niemand will mich.
Ich stehe im Weg. Sie hassen mich.“ Der Prototyp sagt es in seiner besonderen
physiologischen Sprache, die bis jetzt keine Worte hat (weil er bei der Geburt
oder bald danach festgelegt wird): „Ich bin erschöpft vom Kampf. Ich will
mich nur ausruhen. Ich will nicht aufstehen und losmarschieren. Ich sehe keine
Alternativen. Der Tod ist die einzige Lösung für mein Problem.“ Es stimmt,
dass man Mut machen und auf Alternativen hinweisen kann, dass man den
Depressiven aktivieren und motivieren kann, aber das alles bedeutet, dass man
noch immer gegen den Prototyp kämpft, der viel stärker und mächtiger als
Worte ist und letztlich gewinnen wird. Nach und nach fällt der Mensch wieder in
die Depression zurück. Der Versuch, den Prototyp zu besiegen, bedeutet
eigentlich, seine eigene Physiologie besiegen zu wollen – eine unlösbare
Aufgabe.
Leider
kann Gesprächstherapie bei tiefer Depression selten wirken, weil tiefe
Depression tiefe Verdrängung ist, die noch so viele Einsichten und neue
Denkweisen nicht erreichen können. Gedanken und Einsichten wirken an der oberen
Front auf der linken Gehirnseite – im kognitiven Teil des Gehirns – während
die wirklichen Gefühle tief auf der rechten Seite des Gehirns registriert und
verschlüsselt werden, so dass die traumatische Einprägung unterhalb der Verdrängungsbarrieren
unangetastet bleibt. Und deshalb erreichen Einsichts- und Gesprächstherapie
niemals die Basis einer Depression. Andererseits beruhigen Medikamente den
Schmerz biochemisch. Beide Methoden trennen Gedanke und Gefühl voneinander. Sie
unterdrücken auch die einzige Sache, die uns gesund machen kann: unsere
Geschichte.
Ob
sie es nun bevorzugen, Depression mit Medikamenten oder Psychotherapie oder
einer Kombination von beiden zu behandeln – die meisten Psychotherapeuten auf
dem Fachgebiet halten an der Auffassung fest, dass die Unterdrückung der
Depression dasselbe sei wie sie zu heilen. Gewiss ist es möglich, Symptome zu
unterdrücken, dem Patienten Erleichterung zu verschaffen und ihm zu helfen,
dass er besser funktioniert und das Leben mehr genießt. Aber das Grundproblem
bleibt, was sich in der Tatsache widerspiegelt, dass die Symptome gewöhnlich
zurückkehren, wenn die Behandlung aufhört, und viele chronisch Depressive
entscheiden sich dafür, dauerhaft auf Medikation zu bleiben, um ihre Symptome
auf unbestimmte Zeit zu unterdrücken.
Das
Dilemma bei der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie besteht darin, dass
beide auf der Ebene sich zeigender Symptome bleiben. Das macht Medikamente
notwendig und sorgt dafür, dass die Behandlung nur lindert und nicht heilt. Die
Idee, Symptome mit Medikamenten zu unterdrücken, funktioniert vielleicht, aber
letztendlich verfehlt sie das Ziel, weil Symptome einfach das sind: Symptome
eines unbewussten Schmerzes, der ihnen zugrunde liegt. Wenn man die Geschichte
nicht sondiert, kann man nur Erscheinungen (Phänotypen) anstatt Ursachen
(Genotypen) behandeln. Jedenfalls sollte man an Depression nicht herumpfuschen,
ohne dass man zuerst ihre Rolle als Abwehr gegen etwas Drastischeres verstanden
hat.
Um
Depression wirkungsvoll zu behandeln, müssen wir unser Denken neu ausrichten.
Wir müssen erkennen, dass uns das „Warum“ fehlt. Warum ist der Patient
deprimiert? Was ist Depression wirklich und woher kommt sie?
Depression
ist eine Abwehr gegen die totale Integration von Schmerz. Sie ist eine
Schutzvorrichtung, die uns unbewusst bleiben lässt oder vielmehr verhindert,
dass das Unbewusste bewusst wird. Durch ihre Dienerin, die Verdrängung, unterdrückt
sie alle katastrophalen Gefühle und Empfindungen, welche die Unversehrtheit des
Bewusstseins bedrohen würden. Sie ist die äußerste Überlebensstrategie. In
diesem Sinn befindet sich der oder die Depressive in einem chronischen
Leidenszustand, weil er oder sie diese spezifischen frühen Gefühle nicht
erleben kann. Der Organismus scheint zu sagen: „Besser ein dumpfes und taubes
Gefühl als das zu fühlen, was darunter liegt und dabei verrückt zu werden.“
Wir haben die Wahl: Entweder den Patienten mit Medikamenten behandeln oder tief
ins Unbewusste eintauchen. Die Geschichte liefert uns die Antwort; die
Geschichte ist die Ursache und die Geschichte ist die Retterin.
Wenn jemand das prototypische Trauma fühlt, ist er oder sie der Lösung für die Depression auf der Spur. Zudem muss man all die Lieblosigkeit, Härte, übermäßige Disziplin, Gleichgültigkeit und fehlende Fürsorglichkeit in der Familie fühlen und alle Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken, die in diesen Jahren zurückgehalten worden sind. Das alles mit den darin verwickelten Originalgefühlen auszudrücken ist der Grund, warum der Prozess so kraftvoll und schrecklich traurig ist. Der große Unterschied ist der, dass es nicht der Erwachsene ist, der ein paar Tränen vergießt; es ist das Baby und Kind, das seine unerfüllten Bedürfnisse mit qualvollem Schluchzen und Schreien beklagt. „Sei nett zu mir! Halte mich! Gib mir keine Befehle! Schätze mich. Ich bin dein Sohn! Lass mich mich selbst sein. Ich bin dein Fleisch und Blut. Zeige mir, dass du mich willst. Lass’ mich ausdrücken, wie ich mich fühle!“ Das sind die Bedürfnisse. Wenn man das alles in einem Primal-Wiedererlebnis physiologisch nochmals erlebt, ist Depression kein Geheimnis mehr. Und erst wenn das alles - einschließlich des Geburtstraumas, wenn die Zeit reif ist - über Monate hinweg wiedererlebt worden ist, wird sich die Depression dauerhaft auflösen. Je mehr man also von dem fühlt, was das Verschließen des Systems verursacht hat, umso sicherer wird es für das System, sich zu öffnen. Schließlich kann Liebe hinein.
Kapitel 13
Schlussfolgerung:
Die Depression besiegen
Ich
habe versucht, mir ein paar akademische Formulierungen für die
Schlussfolgerungen zu diesem Buch auszudenken, aber es gibt keine kultiviertere
Ausdrucksart dafür, was meine Patienten so gut erklärt haben. Depression ist
ein schrecklicher Zustand. Sie fühlt sich entsetzlich an, aber glücklicherweise
muss das nicht länger so sein. Es gibt einen Ausweg, und dieser Ausweg ist der
Weg hinein. Aber wir brauchen eine Wegkarte; andernfalls sind wir verloren. Wir
sorgen für den Zugang zu uns selbst, nicht mehr, nicht weniger. Aber das ist
eine ganze Menge, denn es bedeutet das Ende der Depression. Der Grund, warum so
viele Therapeuten glauben, sie sei außer mit Medikamenten nicht zu behandeln,
besteht darin, dass sie bis jetzt keine Methode haben, um die inneren Tiefen
ihrer Patienten zu erforschen. Und darin liegt das Problem. Bei Depression
scheint es, als sei sie ein Gegenwartsproblem; aber in Wirklichkeit ist es die
Vergangenheit, die den Menschen verschlingt und ihn zwingt, sie ständig zu
wiederholen. So offensichtlich das auch scheint - für Fachleute ist es dennoch
nicht so offensichtlich, wie es sein sollte. Wir helfen dem Patienten, die
Vergangenheit in die Geschichte zurück zu versetzen und ihn somit – jetzt
lastenfrei -
in die Gegenwart zu bringen. Wir können unsere Vergangenheit nicht durch
Willensanstrengung hinter uns lassen, und sei sie auch noch so groß. Tatsächlich
ist jeder Versuch, das mit Willenskraft zu machen, garantiert zum Scheitern
verurteilt. Wir müssen von diesem starken Willen loslassen und uns in unsere
Gefühle versenken.
Ich
verwende für meine Therapie die Begriffe ‚radikal’ und ‚revolutionär’
mit Vorsicht; dennoch glaube ich, dass sie das ist, und ich werde erklären
warum. Sie ist in Form und Inhalt revolutionär, eine radikale Abkehr von den
meisten Psychotherapien. Die involvieren gewöhnlich einen auf Einsicht
versessenen Plausch zwischen zwei ungleichen Partnern, der eine mit Wortwissen
und unfehlbarer Moralhaltung ausgerüstet, der andere ein williger Novize, der
psychisch auf die Knie fällt, um das zu lernen, was der Wortgewaltige
verabreicht, und sich dabei in das Äußere fügt anstatt in das Innere. Ich weiß
es. Ich war dort, habe viele Jahre lang Einsichtstherapie praktiziert. Die
Majestät all dessen ist berauschend für den Therapeuten. Die Macht, über das
Leben eines anderen zu bestimmen, ist verführerisch – und falsch!
Wir
sollten nicht über das Leben anderer bestimmen, ihnen sagen, was falsch und
richtig ist. Das ist die Aufgabe eines Priesters, nicht die eines
psychologischen Wissenschaftlers. Unsere Aufgabe nennt man Selbstbestimmung -
anderen helfen, dass sie ihren eigenen Weg finden, ihre eigenen Einsichten
finden, indem sie dem Gefährt ihrer Gefühle zu einer eingeprägten
Vergangenheit folgen, die unverfälscht und von nachfolgenden Erlebnissen
unbeeinflusst daliegt. Sie wartet auf ihre Freiheitschance: darauf, das volle
Bewusstsein zu erreichen und endgültig integriert zu werden. Genau das befreit:
Bewusstsein. Wenn wir das in der Psychotherapie übersehen, leidet der Patient,
denn dann pfuschen wir nur an der Abwehr herum, während wir den Schmerz
unangetastet lassen.
Wiedererleben
scheint einen Gefühlsansatz einzubeziehen, der anscheinend dem widerspricht, an
das viele Therapeuten glauben, nämlich an die übergeordnete Bedeutung von
Gedanken, Einsichten und Glaubensüberzeugungen bei der Bewertung von
Fortschritt in der Psychotherapie. Sie nehmen dafür den Patienten beim Wort.
Das sollte das letzte sein, was wir tun sollten, denn die intellektuelle
Linkshirnseite und der linkshirndominante Depressive können alle möglichen
Heilungen und Offenbarungen ersinnen, während der Subtext, das Unbewusste, von
Qual bebeutelt wird. Wir können Menschen nie beim Wort nehmen, wenn sie
praktisch vom Rechtshirn abgetrennt sind. Bei der konventionellen Therapie verstärken
wir diese Durchtrennung durch endlose Diskussionen und Einsichten.
Wenn
wir in der Psychotherapie nichts Besseres leisten als religiöse Offenbarungen,
haben wir nicht viel gewonnen. In religiösen Zuständen fühlen sich Menschen
oft viel besser; sie sind optimistischer und funktionsbereit. Wenigstens hat
unser Fachgebiet ein paar wichtige Fortschritte beim Verständnis der
lebenslangen Auswirkungen früher nonverbaler oder präverbaler Ereignisse auf
das Erwachsenenverhalten gemacht.
Wir
brauchen eine Theorie und Technik, die in die Tiefe geht, und vor allem brauchen
wir die dazu passende Behandlungszimmer-Struktur: einen ruhigen, schalldichten
Raum mit gedämpftem Licht und einer bequemen Matratze. Keine Ablenkung. Kein
„Geh aus und besuche Freunde.“ Ein in Depression versunkener Mensch kann das
nicht machen, weil ihm dafür keine Energie bleibt und weil es oft den Schmerz
verschärft, wenn er Leute besucht.
Wissenschaftliche
Sitzungskontrollen sind wesentlich. Jede Sitzung eines jeden Patienten wird
hinsichtlich der Vitalfunktionen kontrolliert, die uns einen Maßstab für die
Integration und Auflösung von Gefühlen zur Hand geben. Die Körpertemperatur
kann während eines Primals – ein totales Wiedererlebnis – binnen Minuten um
mehrere Grad ansteigen, und sie steigt entsprechend der Valenz des eingeprägten
Schmerzes. Je mehr Schmerz vorhanden ist, umso höher liegen die Vitalwerte.
Umgekehrt
kann der Patient mit einer Körpertemperatur von 95 bis 96 Grad (F) in eine
Sitzung kommen, die sich nach der Sitzung auf 98 Grad normalisieren kann. Hier
muss man die Therapie fein nuancieren, denn sobald der Patient in ein schweres
Feeling fällt, werden die ursprünglichen Abwehrmechanismen wieder lebendig.
Unsere Aufgabe besteht darin, die Abwehr zu blockieren, so dass ein Teil des Gefühls
erlebt werden kann. Das kann man nicht unter eigener Regie machen, und es ist
gefährlich in untrainierten Händen; jemand kann die Abwehr einreißen, und die
Person ist dann einem Übermaß an Schmerz ausgesetzt.
Was
also ist beim Wiedererleben so wichtig, was ist in der Tat die sine qua non
jeder wirkungsvollen Psychotherapie? Und was ist am Bewusstsein so überaus
wichtig? Es bedeutet, die Evolution des Gehirns anzuerkennen. Das scheint nun
klar, aber stillschweigend behandeln die meisten aktuellen Therapien den
Patienten dennoch auf ahistorische Weise – als habe er keine Geschichte. Das
ist Kreationismus als Wissenschaft verkleidet. Machen das nicht die
Kreationisten? Wenn die Geschichte nicht das Primärziel der Psychotherapie ist
sondern eher als Beigabe zum Gegenwartsleben des Patienten gesehen wird, dann
kann es ihm unmöglich besser gehen. Was heißt überhaupt besser? Ich sage, es
heißt, dass wir uns selbst zurückbekommen. Es gibt kein wirkliches
„besser.“ Es gibt nur mehr und mehr von uns selbst unter unserer Kontrolle,
mehr und mehr Bewusstsein und und immer weniger Unbewusstheit. Psychotherapeuten
verneigen sich vor der Geschichte, aber nur symbolisch. Dennoch ist die
Geschichte, die Vergangenheit des Patienten, Medizin, und sie ist die einzige
Medizin, die heilt. Die Vertiefung in die Vergangenheit ist Pflicht für den
Therapeuten; ohne sie sind wir wieder bei der alten Psychotherapie der frühen
1900er Jahre.
Wenn
ich von Evolution rede, meine ich, dass sie die sine qua non jeder
korrekten Therapie ist. Darin inbegriffen ist die Evolution des Menschen und die
Evolution der Menschheit als ein und dasselbe. Wenn wir Patienten ihr Leben seit
ihren Tagen im Mutterleib wiedererleben lassen, werden wir zugleich Zeuge der
Menschheitsevolution über die Jahrtausende. Die persönliche Evolution ist
wirklich die Rekapitulation der Menschheitsgeschichte. Wir sehen die delphinähnlichen
Bewegungen unserer uralten Vorfahren im Wiedererlebnis ganz frühen Lebens. So
etwas kann man nicht nachmachen. Wir haben versucht, diese Bewegung in
Experimenten auf Verlangen nachzuvollziehen, aber als Willensakt ist es nie
gelungen.
Eine
neue Psychotherapie bedeutet, die Evolution des Gehirns, und wie sie Depression
ausspeit, zu verstehen. Wenn wir diese Evolution nicht in Betracht ziehen,
werden wir nicht begreifen, dass es in der Persönlichkeitsentwicklung Zeiten
gibt, in denen wir ein weit offenes sensorisches Fenster mit engen kritischen
Perioden haben, während derer bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden müssen,
Bedürfnisse, für die es keine spätere Wiedergutmachung gibt. Einmal beraubt,
immer beraubt, und der Schmerz der Entbehrung wird auf verschiedenen
Gehirnebenen mit unterschiedlicher Stärke registriert. Die Einprägung kann
dann alle biologischen Funktionen und Hirnwellenmuster fehlregulieren, ganz zu
schweigen von der Persönlichkeit. Nichts kann das Bedürfnis erfüllen. Nun, es
gibt etwas, eine der stärksten Kräfte auf Erden, die Menschen unaufhörlich
antreiben kann. Diese starke Kraft ist Erinnerung, die in den emotionalen
Speicherzonen des Gehirns auf Abruf bereit steht, die Kraft, die ein Leben lang
an uns nagt, später ernste Krankheit hervorruft und Ursache von Albträumen, Überarbeitung
und vorzeitigem Tod bei denjenigen ist, die sich zu Tode arbeiten. Erinnerung
heilt auch bei Depression, Angst, Phobien, Obsessionen, Impulsivität und Wut.
Das hört sich nach Großmaul an, aber es stimmt. Fangen wir also ganz von vorne
an.
Wenn
wir, wie ich sagte, die Evolution des Gehirns nicht verstehen, sind wir wenig
mehr als Kreationisten, die glauben, dass das Unbewusste in uns von irgendeiner
Kraft eingerichtet wurde – von Gott, der Natur oder was auch immer – und
dass wir nichts dagegen tun können. Deshalb rühren wir es nicht an und trauen
uns nicht in seine Nähe aus Angst, die Dämonen wachzurütteln, die zuerst von
den Religionsführern dort hingesetzt wurden, um den Glaubensgenossen Angst zu
machen und sie somit unter Kontrolle zu halten. „Wenn du dich nicht anständig
benimmst und nicht genug betest, werden dich diese Dämonen kriegen.“ Die
Freudsche Wendung lautet: „Wenn du darauf bestehst, in die Vergangenheit zu
gehen, werden dich die Dämonen einholen und deine Psyche zerstören.“ Es ist
eine Rückkehr zur alten religiösen Auffassung der 1800er Jahre. Das ist ein
Grund, warum Therapeuten sich vom Unbewussten fernhalten. Aber sollten sie diese
Warnung je missachten und Patienten in ihre Vergangenheit schlüpfen lassen, würden
sie sehen, was im Unbewussten liegt. Was sie fänden, ist nichts anderes als
unsere Geschichte, ordentlich dargelegt von der Gegenwart bis zur frühesten
Vergangenheit, einschließlich der Geburt und des Lebens im Mutterleib. Und es wäre
keine Näherungslösung; es wäre eine präzise Angelegenheit mit Erinnerungen,
die auf Lager liegen und darauf warten, dass sie an die Reihe kommen und mit dem
vollen Bewusstsein verknüpft werden. Und da wir gerade beim Thema Bewusstsein
sind, gestatten Sie mir zu sagen, dass ein zentraler Unterschied zwischen dem
Primal-Ansatz und anderen Einsichtsmethoden die Bewusstseinsfrage ist. Sie
argumentieren, dass das Unbewusste nicht von speziellen Ereignissen in unserem
Leben herrührt sondern aus genetischen Quellen stammt, die nie allzu spezifisch
sind. Ja, es gibt genetische Kräfte, aber verwechseln wir nicht neun
entscheidende Lebensmonate im Mutterleib mit genetischen Kräften. Ohne
Fundament in der Evolution können wir nie verstehen, wie sich Neurose
entwickelt und wie eine geeignete Psychotherapie umgekehrte Neurose ist, indem
sie sich mit den schmerzvollen Einprägungen in der umgekehrten Reihenfolge
befasst, in der sie angelegt worden war. Es geht nicht nur um Schmerz aus
unserer Kindheit sondern auch aus unserer Babyzeit und, was am wichtigsten ist,
auch aus unserer Zeit im Mutterleib. Und es geht nicht einfach darum, sich mit
diesen Ereignissen vom Standpunkt eines Erwachsenen zu befassen, sondern
- weitaus wichtiger -
darum, diese Ereignisse mit dem Gehirn wiederzuerleben, das damals die höchste
Ebene neuraler Organisation war. Wir hatten im Mutterleib ein Gehirn, dass in
der Lage war, schädliche Ereignisse wie Schmerz aufzuzeichnen, zu verschlüsseln
und einzuprägen und sie ein Leben lang zu behalten. Und diese Ereignisse
bestimmen Jahrzehnte später unser Leben.
Wenn
wir einmal ein festes Verständnis von Geschichte und ihrer Evolution haben,
werden wir wissen, dass sich mit psychischer Krankheit zu befassen nicht
bedeutet, sie einfach zu verstehen sondern in sie einzutauchen, uns in unsere
Geschichte und ihre Gefühle zu versenken, ihrer Macht zu weichen, bis Worte
nicht mehr ausreichen. Worte können die Aufgabe schlichtweg nicht erledigen;
Worte sind tatsächlich die Antithese der Heilung, denn sie schaden jedem
therapeutischen Fortschritt, so seltsam das klingen mag. Da liegt der Haken.
Denn es bedeutet, sich über die Freudsche Warnung hinwegzusetzen, dass man
Patienten nicht ins tiefe Unbewusste versenken solle, ein Unbewusstes, von dem
die Freudianer sagen, dass es unwiderruflich die Psyche zerrüttet. Und es ist
diese Warnung, die zusammen mit vielen anderen gleichermaßen falschen dafür
gesorgt hat, dass die Praxis der Psychotherapie im Mittelalter verharrt, weil
man glaubt, dass es dunkle Mächte gibt, die uns hierhin und dorthin jenseits
unserer Kontrolle treiben. Dafür muss man selbst Augen haben; Ich habe viele
Jahre lang Psychotherapie Freudscher Richtung praktiziert. Ein Hauptgrund, warum
ich das gemacht habe, war, dass es so gut wie keinen anderen Weg für die Praxis
dynamischer Psychotherapie gab. Zumindest postulierte Freud ein Unbewusstes, und
würde er heute leben, wäre er kein Freudianer, da bin ich mir sicher.
Ein
neues Paradigma für die Psychotherapie
Ich
habe gesagt, dass wir nur dort gesund werden können, wo wir verletzt worden
sind. Wir wissen jetzt, dass emotionale Wunden tief im Gehirn außerhalb des
Bewusstseins liegen. Sie werden weit unten ins Gehirnsystem eingeprägt, lange
bevor wir Worte haben, um sie zu beschreiben. Wir können diese Wunden heilen,
wenn wir sie direkt angehen können und nicht durch ein Wortlabyrinth reisen müssen.
Theorien
haben eine Entwicklung. Bleiben wir nicht in der Vergangenheit und in einer
zeitlich eingefrorenen Theorie stecken, die sich nicht grundlegend verändert
hat oder vorangekommen ist. Die Freudsche Theorie hat in 100 Jahren sehr wenig
Änderung erlebt. Der Versuch, eine aktuelle Theorie zu nehmen und sie einem
vergangenen Bezugsrahmen anzufügen, bedeutet, eine neue Wissenschaft zu nehmen
und sie einer alten Theorie anzufügen, die keine Gültigkeit mehr hat. Das ist
kein Fortschritt. Wie ich vorhin gesagt habe, bezweifle ich, dass Freud ein
Freudianer wäre, würde er heute leben. Können wir uns einen anderen
Medizinzweig vorstellen, der noch immer im Griff der Wissenschaft der 1920er
Jahre ist? Freud schrieb sein Hauptwerk, Die Traumdeutung, zu Beginn des letzten
Jahrhunderts. Gewiss hat es seitdem ein wenig Fortschritt gegeben.
Primärtherapie
ist eine Rückfahrkarte zum Startpunkt unseres Lebens, während die meisten
anderen Therapien nur einfache Fahrkarten sind, die uns nur sehen lassen,
wo wir hingegangen sind, und nicht, wo wir gewesen sind. Mit der Primärtherapie
können wir „wieder nach Hause fahren“. Die Unterdrückung von Gefühlen führt
zu Depression; ihr Ausdruck, nicht unbedingt mit Worten, führt zum Leben.
Halten wir also die Depression an, bevor sie uns anhält.
Vernachlässigen
wir nicht die Vergangenheit im Bemühen, die gegenwärtige Praxis zu
modernisieren. Öffnen wir die Seiten unseres persönlichen Archivs, spüren wir
die Dämonen auf, die jetzt einen Namen haben, lassen wir sie Freiheit
schnuppern, nehmen wir die Schmerzfesseln ab und machen wir mit unserem Leben
weiter.
Ende
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