Artikel und Buchauszüge

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Ferdinand Wagner

 

GEDANKEN ÜBER DIE EVOLUTION DER MENSCHHEIT AUF BASIS DER PRIMÄRTHEORIE ARTHUR JANOVS

EIN VERSUCH DIE HISTORISCHE ROLLE DER EINPRÄGUNG ZU BELEUCHTEN

 

„Die Evolution des Menschen ist wenig mehr als die verschlüsselte Erinnerung an Primärschmerz. Unser Körperbau, die Sprache, die wir sprechen, und unsere hochentwickelten Fähigkeiten, Werkzeuge herzustellen, entwickelten sich rund um einen zentralen Kern von Primärschmerz. Der menschliche Organismus ist aus der Ungunst der Verhältnisse heraus aufgebaut worden. Unsere Anfänge teilen wir mit den großen Affen. Irgendwo auf der phylogenetischen Linie der Affen zweigten wir ab. Wir entwickelten den größeren Kortex und das höher entwickelte Gehirn. Warum? Eine Antwort darauf ist, dass wir der neurotische Zweig in der Evolution wurden. Die ungünstigen Umstände ermöglichten es uns, einen größeren Kortex zu haben, um mit eben diesen ungünstigen Umständen umgehen zu können, dem folgend, was wie ein biologisches Gesetz aussieht, wonach jede Intrusion oder fremde Kraft in lebenden Organismen eine biologische Struktur hervorbringt, die mit ihr fertig wird. Notwendigkeit ist nicht nur die Mutter der Erfindung von Dingen, sondern könnte als solche die Mutter der Menschheit sein, indem sie neue menschliche Strukturen schafft, die dieser Notwendigkeit begegnen. Und natürlich schaffen diese neu erfundenen Strukturen neue Notwendigkeiten, infolgedessen ist Erfindung die Mutter der Notwendigkeit. Die Zivilisation könnte sich als der Lebenszweig herausstellen, der die besten Abwehrformen hat, welche am besten mit Urschmerz fertig werden.“

Arthur Janov, Gefangen im Schmerz (Prisoners of Pain), 1981 (1980)

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Einleitung

Seit jenem Tag, als ich zum ersten Mal mit der Primärtheorie in Berührung gekommen war, war ich gefangen vom Rätsel der Wurzeln der Neurose in der Evolution. Indem ich den Faden von Dr. Janovs Ausführungen über dieses Thema aufgreife, möchte ich einige eigene Gedanken hinzufügen. Ich hoffe, ich kann ein paar nützliche Ideen zu diesem Gegenstand beisteuern.  Es ist ein philosophischer Ansatz, dessen Zweck es ist, ein Prinzip zu formulieren, das auf den langen Weg der menschlichen Entwicklung angewandt werden könnte, beginnend  von einem primitiven Organismus „X“ bis hin zum modernen Homo sapiens. Dieses Prinzip geht mir -ansatzweise- seit vielen Jahren durch den Kopf, und ich möchte versuchen, es schriftlich festhalten. In den Begriffen der Evolutionstheorie ist dieser Ansatz unvereinbar mit dem Darwinschen Konzept der Selektion, das eine ganze Population als Startpunkt für die Schaffung einer neuen Spezies versteht. Nach Darwin wären punktuelle genetische Veränderungen Gegenstand der Selektion und würden von der ganzen Spezies übernommen werden (phyletischer Gradualismus).1 Der hier vorgestellte Ansatz entspricht einem evolutionären Modell, das den individuellen Organismus als Basis für (sprunghafte) Veränderungen sieht:

„Organismen beeinflussen ihr eigenes Schicksal in einer interessanten, komplizierten und verständlichen Weise. Wir müssen dieses Konzept des Organismus wieder in die Evolutionsbiologie einführen.“ (Gould, 1982)1

Der Ansatz ist natürlich spekulativ. Ich gestehe mir selbst die philosophische Freiheit zu, Dinge zu sagen, die ich nicht beweisen kann.

Ich kenne  nicht viele Publikationen über die Beziehung zwischen Schmerz und Evolution. Im Folgenden beziehe ich mich hauptsächlich auf Janov, Gefangen im Schmerz, (Fischer, 1981), Kapitel VI, „Die Gegenwart der Vergangenheit“ und auf einige Passagen aus Janov, Frühe Prägungen ( 1984). Über lange Strecken folgte ich einfach meiner Eingebung. Ich hoffe, das Ergebnis ist einigermaßen nützlich.

Letztlich ist dieser Aufsatz ein Versuch, die Spur des Urschmerzes in der Evolution zurückzuverfolgen, und zwar weit über jenen Punkt hinaus, als die ersten Hominiden auftauchten. Erst in jüngerer Zeit wird deutlich, wie  tief der eingeprägte Schmerz im menschlichen System verankert ist und das könnte nahelegen, dass diese Tiefe analog dazu auch im Prozess der Evolution besteht. Anders gesagt, die Einprägung (die Prägung, das "Imprint", der Urschmerz) könnte wirklich ein "uralter Hut" der Evolution sein, und es könnte eine Dialektik in Gang gesetzt haben, die ständig neue Synthesen geschaffen hat. Der moderne Mensch repräsentiert diese Synthese auf höchstem Niveau.

  1 Die Informationen und das Zitat sind entnommen aus John C. Eccles, Die Evolution des Gehirns – Die Erschaffung des Selbst, Piper, 1993.

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Die Primärtheorie sagt, dass Schmerz der Kern und die treibende Kraft der menschlichen Entwicklung gewesen sei. Dr. Janov erwähnt ein elementares Prinzip, gemäß dem "jede Intrusion oder fremde Kraft in lebenden Organismen eine biologische Struktur hervorbringt, die mit ihr fertig wird" (Janov, 1981) Die Fähigkeit von Fischen und Würmern, Endorphine zu produzieren, scheint auf  eine solche biologische Struktur hinzudeuten, und diese Fähigkeit legt nahe, dass man möglicherweise nach den Anfängen der menschlichen Evolution in einer Phase suchen muss, die unzählige Jahrmillionen vor der Zeit liegt, als die ersten Vorgänger des homo sapiens aufgetaucht waren. Jede wundersame Geschichte hat eine unscheinbare Anfangsphase, und vielleicht hätten sich die phantastischen Kapitel dieser Geschichte niemals aufgetan, wenn es nicht mindestens ein einschneidendes Ereignis gegeben hätte.

Viele Wissenschaftler denken, dass sich eine geologische Katastrophe ereignet hatte, die dafür verantwortlich war, dass eine Gruppe von Primaten ihre ursprüngliche schützende Heimat verlor2. Ohne den Schutz, den ihnen der Urwald gewährt hatte, mussten jene Primaten viel mehr Bedrohungen, schmerzhaften und erschreckenden Erfahrungen ins Auge sehen als die Angehörigen der Spezies, die von diesem geologischen Ereignis nicht berührt worden waren. Aber abgesehen von der Hypothese einer geologischen Katastrophe, wie beschaffen könnten die Veränderungen in einem Organismus infolge einer eindringenden schmerzhaften Erfahrung gewesen sein?  

Siehe auch Janov, Gefangen im Schmerz (Prisoner of Pain), p. 317-332 , Fischer, 1981

Wenn man einen Blick auf ein modernes Mitglied der menschlichen Spezies wirft, sieht man eine Kreatur, die exzellent in der Lage ist, mit schmerzhaften Erfahrungen fertig zu werden, aber andererseits sensibler und verletzlicher ist als nahezu alle anderen Geschöpfe. Ich beziehe mich auf das weit offene sensorische Fenster menschlicher Babies, auf die lange Abhängigkeitsphase menschlicher Kinder und nicht zuletzt auf die hochentwickelte sensorische, psychische und emotionale Kapazität eines Menschen, der das Glück hatte, in entscheidenden frühen Phasen des Lebens Liebe erfahren zu haben und mit nur wenig  frühem Schmerz belastet worden zu sein. Es sollte außer Frage stehen, dass für ein aufwachsendes menschliches Wesen sehr viel mehr elterliche Fürsorge notwendig ist, um eine schmerzvolle Überlastung zu vermeiden, als für irgendein anderes Säugetier. Aber auch ein erwachsener Mensch hat  eine größere Wahrscheinlichkeit Schmerz wahrzunehmen als ein Tier. Man betrachte zum Beispiel die Haut. Sie ist ein exklusiv menschliches Sinnesorgan, das in der Lage ist, ekstatische Zustände zu vermitteln, und gleichzeitig bedingt, dass ein Mensch in bestimmten klimatischen Situationen unerträglichen Schmerz fühlt, die kein Problem sind für eine Kreatur, die durch Ihr Fell geschützt ist. (Vorausgesetzt, man nimmt dem Menschen die Kleidung weg. Es ist zu beachten, dass "Kleidung" nicht die Ausstattung ist, die die Natur oder die Evolution ihm/ihr mitgegeben hat).

Andererseits wissen viele Fachleute und Leidtragende - vor allem Primärtherapeuten und Primärpatienten -, dass der heranwachsende menschliche Organismus von Beginn an in der Lage ist, unglaubliche Mengen an Schmerz zu verarbeiten. Somit scheint die exzellente Fähigkeit des Systems, sich gegen Schmerz zu verteidigen ( ihn aufzunehmen und in einer Weise handzuhaben, die das Überleben sichert) irgendwie mit seiner hochentwickelter Sensibilität und mit erhöhter Verletzlichkeit verknüpft zu sein. Man sieht eine Beziehung zweier gegensätzlicher und antagonistischer Elemente in einem biologischen System. (Das mit Abwehr befasste Element ist bestimmt kein Befürworter von "hochentwickelter Sensibilität").

Was könnte die Natur dieser Beziehung sein? Da wir wissen, dass dieses System eine sehr lange Entwicklung hinter sich hat, könnten wir annehmen, dass die beständige Interaktion beider Elemente jedem von ihnen auf eine höhere Qualitätsstufe verholfen hat. Die Verteidigungsfähigkeit könnte wachsende Sensibilität induziert haben, und umgekehrt könnte die ansteigende Sensibilität eine sich verbessernde Abwehrfähigkeit bestimmt haben. Offensichtlich liegt ein Paradox in dieser Überlegung. Wie könnte der Akt der Verteidigung zu einer höheren Sensibilitätsstufe führen? Es scheint keinen Sinn zu machen. Man sollte klar erwarten, dass eine schmerzhafte Erfahrung, die in das  sensorische System eines Organismus eindringt, in niedrigerer Sensibilität resultiert, so dass die Wahrscheinlichkeit, die gleiche Erfahrung als schmerzhaft wahrzunehmen, beim nächsten Mal geringer ist. In der Ontogenese ist das eine essentielle Eigenschaft dessen, was in der Neurose geschieht. In der Phylogenese könnte das eine mögliche Anpassung an widrige Umstände in der Umwelt sein. Und vielleicht war dieser erwartete Effekt genau das Ergebnis des Endorphinsystems in Würmern und Fischen und anderen niederen Lebewesen gewesen.

Das Rätsel bleibt. Es ist nicht unbedingt logisch, dass die Notwendigkeit, sich gegen Schmerz zu verteidigen, zu erhöhter Sensibilität führen sollte. Nun könnte man einen weiteren Hinweis in Dr. Janovs Büchern benutzen, nämlich dass Schmerz bei Ratten nachweislich einen größeren Kortex erzeugt. Man könnte sich einen niederen Organismus vorstellen mit einem primitiven Nervensystem, der gerade eine schmerzhafte Erfahrung macht: eine fremde Kraft (in Form sensorischer Signale) dringt von außen in das primitive sensorische und nervale System dieses Organismus ein. Jetzt fordert man zwei mögliche Konsequenzen:

 (1) Erste Möglichkeit:  Das Endorphinsystem tritt in Kraft und reduziert das "sensorische Fenster". Die Sensibilität des Organismus (des Nervensystems) sinkt. Das Ergebnis: der Angriff ist erfolgreich abgewehrt. Das könnte die mögliche Reaktion auf einen Reiz sein, der schmerzhaft ist aber nicht lebensbedrohlich. In der deutschen Ausgabe des Scientific American vom November 1979 berichtet Eric R. Kandel von Anpassungsprozessen im primitiven Nervensystem der Seeschnecke Aplysia californica. (Früher veröffentlicht in Scientific American vom September 1979). Aplysia bewältigt diese Anpassung (Desensibilisierung/Sensibilisierung) durch Regulierung der Überträgersubstanz, die in den synaptischen Spalt ausgeschüttet wird. Es könnte sein, dass Endorphine eine erweiterte und komplexere Form der Gewöhnung (Desensibilisierung) sind. Ein häufiger Reiz, der unangenehm aber nicht lebensbedrohlich ist, wird im Nervensystem wirkungslos. Möglicherweise war das die ursprüngliche Funktion der Endorphine gewesen.

(2) Zweite Möglichkeit: Ein Korrelat der eindringenden Kraft verbleibt als aktive Erinnerung (Rückkoppelungsschleife, reverbierender Kreislauf) in dem primitiven Nervensystem und erzeugt eine permanente Stimulierung. Es ist denkbar, dass die Rückkoppelungsschleife ("reverberating circuit") eine erweiterte und komplexere Form der Sensibilisierung ist. Ein häufiger Reiz, der unangenehm und gefährlich ist und somit eine schnelle Reaktion erfordert, wird zwischen mehreren Nervenzellen als reverbierender Reaktionszyklus abgespeichert. Die Reaktion, die Aplysia erlernt hat, und die durch biochemische Veränderungen zustande kommt, könnte in einem Kreisprozess als Dauerzustand gespeichert werden. Der Vorteil: das Verlernen ist unmöglich und die schnelle Reaktion auf den gefährlichen Reiz bleibt erhalten. Wie gesagt, das ist reine Spekulation. Bei Aplysia geht die erlernte Reaktion (der verstärkte Kiemenrückziehreflex) nach einer gewissen Zeit verloren. Die Erinnerung ist zeitlich begrenzt. 

Könnte das die Urfunktion einer Rückkoppelungsschleife gewesen sein? Ein irreversibles Langzeitgedächtnis, das eine mühevoll erlernte überlebensnotwendige Reaktion blitzschnell zur Verfügung stellt?

In der Primärtheorie ist der reverbierende Kreisprozess ein unverzichtbarer Bestandteil des Paradigmas. (Siehe Janov, Anatomie der Neurose, s. 54, "Die Permanenz des Urschmerzes" und Janov, The Biology of Love, 2000, Teil II, "The Trigger Effect’", s. 189 :

  „Der frühe Schmerz, den dieses Individuum erfuhr, wird zu einem reverbierenden Kreislauf; das eingefangene Feeling kreist in unendlichem Widerhall durch das Gehirnsystem“).  

Es ist eine Struktur, auf die Dr. Janovs Aussage voll zutrifft, wonach  

"jede Intrusion oder fremde Kraft in lebenden Organismen eine biologische Struktur hervorbringt, die mit ihr fertig wird".

Was ist ein reverbierender Kreisprozess in meiner persönlichen Erfahrung? Ein Subsystem meines Gehirns, in dem eine gigantische Energie zirkulierte. Ich werde es nie begreifen, wie das Gehirn es schaffte, so gewaltige Kräfte auf engstem Raum, unter so beengten Verhältnissen wirken zu lassen, ohne dass ich davon wusste. Allerdings waren Symptome vorhanden: z.B. ein starker körperlicher Bewegungsdrang und Unkonzentriertheit bei geistigen Tätigkeiten. Über mögliche katastrophale Langzeitfolgen jener Kräfte (z. B. Psychose oder Krebs) brauche ich nicht zu spekulieren. Der Schmerz, der mein System verlassen hat, wird nie mehr zurückkehren.

Die Energie, die in einer Rückkoppelungsschleife zirkuliert, ist meiner Überzeugung nach ein Schlüssel zur Evolution. Eine RK-Schleife ist ein offenes energetisches System. Für ihre Existenz muss Energie investiert werden, und umgekehrt kann Energie aus ihr bezogen werden. Ihre Anwesenheit in einem Nervensystem wird nicht ohne Folgen bleiben. Sie übt eine stimulierende Kraft aus, die dazu tendiert, das Nervensystem auf eine höhere funktionale Ebene zu heben.

Nochmals:  Wenn die Amöbe, die Dr. Janov erwähnt (Der Neue Urschrei, 1993, s. 25), in der Lage ist, Fremdkörper in sich aufzunehmen und später wieder auszustoßen, dann könnten vielleicht auch kleine Nervenverbände niederer Organismen fähig sein, einen eindringenden gefährlichen Reiz (das Korrelat einer in der Umwelt existierenden realen Bedrohung ) in Form eines Reaktionszykluses in sich aufzunehmen und eine Zeit lang zu speichern, um Veränderungen im Nervensystem zu ermöglichen, die darauf abzielen, bei der nächsten Begegnung mit dieser externen Gefahr erfolgreich reagieren zu können. Vermutlich ist eine Rückkoppelungsschleife, die dauerhaft im System verbleibt, die Art von Erinnerung, die im Falle einer erneuten Bedrohung aus der Umwelt die schnellste und erfolgreichste Reaktion eines Organismus ermöglicht. Ich denke, das entspricht  Janovs Beobachtung und Interpretation bezüglich Trauma und frühem Schmerz. In Frühe Prägungen (1984) schreibt er:

„Die auf jeder Bewusstseinsebene eintretenden Traumata bleiben als reverbierende Kreisläufe von Urschmerz zurück. Diese Schmerzkreisläufe alarmieren den Körper gegen Gefahr – gegen die Gefahr des Bewusstseins.“ (s. 133) Und: „Wann immer ein Schmerz in das Nervensystem eingraviert wird, wird auch die Reaktion auf diesen Schmerz eingeprägt.(....) Schmerz und Reaktion sind eine Einheit, die prototypisch wird, so dass unter jedem späteren Stress das urprüngliche Reaktionsmuster wieder automatisch ausgelöst wird.“ (s. 134 ibid.). [Hervorhebungen nachträglich]

Wie das Rattenexperiment nahelegt, tendiert ein dauerhafter Stimulus, der einem Nervensystem eingeprägt ist, dazu, dieses Nervensystem wachsen zu lassen. Bezogen auf ein primitives Nervensystem, das auf der Ebene einfacher Reflexe operiert, könnte das bedeuten, dass dieses Nervensystem allmählich eine höhere funktionale Ebene anstrebt. Es entstehen neue Funktionen, neue Optionen, neue Fähigkeiten, neue Reaktionen auf Umweltreize. Die Tendenz eines wachsenden Nervensystems wird es immer sein, eine zunehmende intensivere und umfassendere Erfahrung seiner Umwelt zu ermöglichen. Dr. Janov schreibt:

„Die Einprägung von Urschmerz fixiert ein permanentes Ungleichgewicht in der Biochemie des Gehirns – ein Ungleichgewicht, das entsteht, um frühen Stress zu bewältigen (....). So baut eine Umwelt ein neues Gehirnsystem auf, das sich wiederum eine neue Umwelt schafft.“ (s.138 ibid.) [Hervorhebungen nachträglich]

Der wichtige Punkt ist, dass der Umgang des primitiven Systems mit gefährlichen schmerzhaften Reizen nicht zur Abstumpfung führt, sondern zur Sensibilisierung. In Aplysia reagieren Komponenten des Nervensystems auf den Reiz mit Sensibilisierung und einem zeitweise höheren energetischen Niveau. Hier entlarvt sich bereits das Paradoxon, das maßgeblichen Einfluss auf die Evolution gehabt haben könnte: Schmerz führt zur Schärfung des sensorischen Apparats (eine Gruppe von Neuronen wird ‚verletzlicher’ d.h. reaktiver), wenn auch bei Aplysia nur kurzzeitig.

Meine Spekulation geht dahin, dass sich aus dem ersten Reaktionszyklus – eine Gruppe von Neuronen, die beständig auf leicht erhöhtem energetischen Niveau operiert – allmählich ein Schmerzverarbeitungsapparat entwickelte, ein System, das externe Reize "einfangen" und speichern konnte; genau die Strukturen, die auch im Gehirn des modernen Menschen vorzufinden ist.

Die sensorische Kompetenz (die Fähigkeit, mit Stimuli umzugehen) des Organismus könnte sich allmählich erhöht haben. Ein "Team von Spezialisten" könnte im Nervensystem entstanden sein, das überlastende externe Reize "einfing" und sie in einem Kreisprozess einschloss. Die Kapazität für Input aus der Außenwelt könnte sich erhöht haben, und die Aktivität der Neuronen des reverbierenden Kreises könnte sensibilisierende und wachstumsfördernde Effekte auf das gesamte Nervensystem gehabt haben, so dass sich der sensorische (und motorische) Apparat erweitert haben könnte. Das würde implizieren, dass das System einerseits nun fähig war, mit jenen Reizen fertig zu werden, die möglicherweise vorher zu seinem Tod geführt hätten, und dass andererseits ein Teil jener Reize, die zuerst nur schwach registriert wurden, jetzt als stressend und überlastend wahrgenommen wurde. Das System könnte sich wirklich eine neue Umwelt geschaffen haben. Die Art, wie es seine Umwelt erfuhr, hätte sich gändert, und umgekehrt würde die veränderte Beziehung zur Außenwelt wieder das System beeinflussen.

Mit zunehmender sensorischer Kapazität und Kompetenz sollte auch die allgemeine Fähigkeit des Nervensystems wachsen, Reize biochemisch zu schleußen, zu dosieren und zu blockieren. Wäre das nicht der Fall, könnten die auf Schmerzspeicherung spezialisierten  Strukturen mit der Bewältigung schädlicher von außen eindringender Reize leicht überfordert werden.

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  Das dialektische Prinzip. These und Antithese erzeugen eine neue Synthese auf höherer Ebene.

Nach Ansicht des Philosophen Georg W. F. Hegel (1770-1831) ist alle Logik und Realität in ihrer Natur dialektisch. Zwei gegensätzliche Gedanken, Eigenschaften, oder allgemein gesagt "Elemente" vereinigen sich zu einer neuen Synthese. Jede Synthese kommt dem Spross einer Leiter gleich, die zu höheren Ebenen des Bewusstseins führt. Es könnte sein, dass Hegels Erkenntnis bis zu den Wurzeln der menschlichen Evolution zurückführt.

Ich schlage das folgende Evolutionsprinzip vor:

Hypothese: 

Die Notwendigkeit, mit einer Bedrohung aus der Umwelt fertig zu werden, führte in einem primitiven Organismus zu strukturellen Veränderungen. In der Langzeitfolge wuchs  die sensorische Kompetenz des Systems: Einerseits war die Abwehrfähigkeit (die Fähigkeit mit widrigen externen Reizen fertig zu werden) leicht erhöht. Andererseits nahm die Verletzlichkeit (die Wahrscheinlichkeit, von außen eindringende Reize als überlastend oder gefährlich wahrzunehmen) zu. Beide Effekte traten miteinander in Wechselwirkung. Die leicht erhöhte Sensibilität steigerte die Wahrscheinlichkeit des Organismus, Phänomene in der Umwelt als schmerzhaft oder gefährlich wahrzunehmen und zwang das Abwehrsystem, sich auszuweiten (mehr Zellen für die Speicherfunktion,  für die Schleusung und Abpufferung der wahrgenommenen schädlichen Umweltreize) und häufiger in Aktion zu treten. Und umgekehrt führte die häufigere Aktivierung des Abwehrsystems und die erhöhte Wahrscheinlichkeit interner Stimulierung (durch die permanent in Rückkoppelungsschleifen zirkulierende Energie) zu weiterer Sensibilisierung (Erweiterung und Verfeinerung des sensorischen Apparats).

Kurz gesagt erzeugte ein erwünschter Effekt (Abwehr) einen unerwünschten konträren Nebeneffekt (gesteigerte Sensibilität und Verletzlichkeit) in einem System, vermutlich wegen der Tatsache, dass Sensibilisierung die einzig effektive Abwehr gegen einen gefährlichen externen Angriff war. Beide konträren Effekte verstärkten einander in einem antagonistischen Wechselspiel unter Einbeziehung der Umwelt und führten in der Langzeitfolge zu dem Ergebnis, dass der Organismus höhere Stufen auf der Leiter der Evolution erreichte. Die systemischen Veränderungen, die die individuellen Organismen im Laufe ihrer Ontogenese erfuhren, wurden in den Genen verschlüsselt und resultierten in dem Auftauchen neuer Synthesen (Spezies) mit gesteigerter organismischer, systemischer Intelligenz.

Abstrakter:

In einem offenen System treten zwei wesentliche Elemente in eine interne Wechselbeziehung, die von einem eindringenden externen Element ausgelöst wird. Die interne Interaktion und die weitere Interaktion mit der äußeren Welt führt zu erhöhter Kompetenz und Kapazität beider Elemente und zum Entstehen eines intelligenteren und kompetenteren Systems.

 

Dieser Prozess würde jenem theoretischen Modell in der Evolutionsbiologie entsprechen, gemäß dem individuelle Organismen eine eher sprunghafte Entwicklung durchlaufen (Elredge und Gould, 1972). Es ist eine andere Frage, ob für diesen Prozess immer die Isolierung einer Gruppe von Individuen notwendig ist. Wie dem auch sei, gemäß diesem Entwurf der Evolution würde das Leben der Umwelt eine neue Form (Spezies) als gegebene Tatsache präsentieren und erst dann würde Selektion stattfinden. Jedoch wäre es niemals und in keiner Weise die Selektion, die eine neue Spezies erzeugt.1  Arthur Janov nimmt ebenso den Standpunkt ein, dass das Darwinsche Konzept von Anpassung und Selektion vielleicht nicht korrekt ist. Er schreibt:

 „Es könnte sein, dass Darwins Anpassungstheorie, wie wir sie kennen, überhaupt nicht stimmt. Die Grundlage der Evolution beruht auf der Art, wie der Organismus seine eigenen inneren Hilfsmittel zum Überleben und zu inneren Veränderungen als Reaktion auf eine äußere Umwelt nutzbar macht.

Aber es ist weniger so, dass die Umwelt die Arten, die zum Überleben am tauglichsten sind, "selektiert", sondern so, dass vielmehr die Umwelt verschiedene Überlebensstrukturen produziert. Aus diesem Grund hat der Schizophrene eine veränderte Gehirnstruktur (.....) . Und aus dem gleichen Grund wird der Kortex von Tieren bei extremen Reizen schwerer und fülliger.“ (Gefangen im Schmerz, 1981, s.323) [Hervorhebungen nachträglich]

Es ist offensichtlich, dass ein so geniales Konstrukt des Lebens wie das Nervensystem alle Prüfungen vor dem "Selektionskomitee" besteht. Das System ist anpassungsfähig, flexibel, kommunikativ, selektiv, exzellent lern-und entwicklungsfähig. Es ist so und war es von Anfang an. Es macht das Beste aus seinem Anwachsen. Mehr Zellen in seiner Formation führen zum Auftauchen neuer Qualitäten. Und schon ganz früh in der Evolution begann das System, Reflexionen der äußeren Welt einzufangen und sie als systemimmanente Zustände zu integrieren.

Durch die Einführung des reverbierenden Kreisprozesses (neuronale Rückkoppelungsschleife) als Folge des Abwehrvorgangs entsteht ein hypothetisches Modell, das für die Evolution des Menschen relevant sein könnte. Jedoch würde es vielleicht heute keine Menschen geben, wenn es  (nach Ansicht vieler Wissenschaftler) nicht zu einem dramatischen Ereignis gekommen wäre. Eine Theorie besagt, dass  ein einschneidendes Geschehnis in der Umwelt notwendig war, um den evolutionären Prozess zu beschleunigen und schließlich ein unglaubliches Geschöpf zu erzeugen: homo sapiens (neuroticus). Jenes Ereignis war zweifelsohne ein harter Test für das Bewusstsein, das das Leben bis zu diesem Zeitpunkt geschaffen hatte.

Wenn ich mir einen modernen Menschen ohne seine/ihre Kleidung vorstelle, scheint mir, dass seine Entwicklung  in  hohem Maße durch die Interaktion innerer Strukturen bestimmt ist. Es macht keinen Sinn, den Verlust des Felles und die Entwicklung der menschlichen Haut als Anpassung an die Umwelt zu interpretieren. Es ist im Gegenteil eine paradoxe Fehlanpassung, die für das Überleben nachteilig war und somit die wahre Natur der menschlichen Evolution als ein Spiel entlarvt, das in hohem Maße von inneren Strukturen dominiert wurde. Ich glaube, die Haut des Menschen ist ein Diktat des wachsenden Nervensystems, das immer vorherrschender wurde. Es scheint, als hätte das Nervensystem dem Fell erklärt:

„Mit dir können wir nicht mehr gut kooperieren. Wir brauchen ein Organ, das unserem eigenen hohen Niveau entspricht, ein Organ, auf dem wir uns besser ausbreiten können und das uns mehr Stimulierung garantiert als du es kannst. Es ist an der Zeit, dass du gehst.“

Der Nachteil, der durch den Verlust des schützenden Fells verursacht wurde, bedeutete eine neue Herausforderung für den wachsenden Neokortex. Neue Techniken mussten herausgefunden werden, um diesen Nachteil auszugleichen und das Überleben abzusichern. Das anregende Spiel zwischen den beiden Antagonisten hörte niemals auf.

Nochmals: Es findet ein Wechselspiel zweier antagonistischer Phänomene statt. In einem Organismus erzeugen Strukturen, die erhöhte Abwehrfähigkeit garantieren, Strukturen, die erhöhte Sensibilität, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit verursachen. Durch die Interaktion beider Elemente entstehen neue Synthesen, die im genetischen Code verankert werden und zur Entstehung einer neuen Spezies führen.

Es scheint, dass in einem fortgeschrittenen Stadium der menschlichen Evolution jenseits des dramatischen Ereignisses, das zur Isolierung einer Gruppe von Primaten führte, die Bedeutung der inneren Strukturen für den Fortgang der Evolution immer größer wurde und dass der Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung der Spezies geringer wurde. Ein zentrales Merkmal von Neurose ist, dass neurotische Eltern nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und zu erfüllen. Sie neurotisieren ihre Kinder ungeachtet des Milieus, in dem sie leben. Wenn wir Janovs >Biologie der Liebe< gelesen haben, erkennen wir, dass die nervalen Strukturen des menschlichen Organismus weitgehend vom Zustand, Verhalten und Einfluss der Eltern geformt werden. Die Prägung des Gehirns der Spezies durch die Spezies beginnt im Mutterleib.3 Die Biologie der Liebe zeigt, genauso wie Dr. Janov`s frühere Bücher, dass das Konzept des "Imprints" verschiedene und teils überaus subtile Implikationen beinhaltet (auch in utero), die auf die innere Selbstdynamik und Unabhängigkeit der menschlichen Evolution hindeutet. Der ursprüngliche Konflikt zwischen Organismus und Umwelt ist auf die Spezies übertragen worden. Die Elterngeneration gewährt der nachfolgenden Generation eine Garantie für "jede Menge Schmerz" und formt ihr Bewusstsein.

Was ich jetzt sage, geht sicher viel zu weit, aber ich kann einfach nicht widerstehen: mir scheint es, als hätten jene inneren Strukturen den Schmerz schließlich internalisiert, ihn für alle Zeiten und vollends in ihr System eingeschlossen, gleichsam wie ein Drogensüchtiger, der auf sein liebgewonnenes Stimulus nicht mehr verzichten will. Urschmerz ist mit Sicherheit nicht im genetischen Code verankert, aber die scheinbare Unausweichlichkeit, mit der er von Generation zu Generation weitergegeben und im Nervensystem verankert wird, ist in jedem Fall verblüffend.

Warum war Schmerz zu einem permanenten Zustand geworden, zu einer aktiven energetischen, dem Nervennetzwerk eingeprägten Dauerbedingung?  Warum die Transformation von Schmerz zu Urschmerz, der Erbsünde4 der Menschheit?

 3 In der Philosophie beschreibt der Terminus tabula rasa den reinen, unberührten Zustand der menschlichen Seele bei der Geburt. Welch kapitaler Irrtum! (Wie leicht sich das sagt im Nachhinein)

4 Die religiöse Vorstellung von der Erbsünde  –  eine symbolische Verschlüsselung der Unausweichlichkeit, die der Einprägung  zugrunde liegt? Die Enzyklopädie sagt: "Aufgrund von Adams und Evas Ursünde von allen Menschen ererbter Zustand der Ungnade vor Gott, der zu Sterblichkeit ( die verkürzte Lebensspanne von Neurotikern), Unwissenheit ( Unbewusstheit) und Gierigkeit ( verursacht durch unbefriedigte basale Bedürfnisse) führt". Meiner Meinung nach ist die Übereinstimmung mit den Gesetzen der Neurose erstaunlich.

Janov behauptet, man müsse die Strukturen und Prozesse in der Ontogenese eines Menschen untersuchen, um Einsichten in phylogenetische Prozesse zu gewinnen.

In der Entwicklung eines Individuums kommt es zur Neurose, wenn ein hochgradig verletzlicher Organismus (der Embryo, der Fetus, der Säugling, das Kind) auf einen abgewehrten Organismus (der Vater, die Mutter) trifft, der unter Spannung steht, weil er den Schmerz bereits in sich trägt. Wenn dieser Schmerz (das Imprint, das Trauma) stark genug ist, wenn der Spannungspegel hoch ist, dann beginnt der neurotische Prozess bereits im Mutterleib. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Eine Mutter, die unter starker Spannung steht, wird diese Spannung unvermeidlich dem Fetus in utero vermitteln, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst ist. Das System des Fetus muss einen Teil der Schmerzenergie, der im Gehirn der Mutter zirkuliert und in ihren gesamten Organismus ausstrahlt, aufnehmen und verarbeiten. Die Strukturen, die das leisten können, sind im fetalen Nervensystem vorhanden und angemessen funktionsfähig. 

Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Übertragung definitiv stattgefunden hat. Der Fetus ist jetzt "stolzer Besitzer" von Urschmerz. Natürlich hat dieser fetale Urschmerz nicht die volle Dimension des mütterlichen Schmerzes, er ist sozusagen nur eine Kostprobe dessen, was noch kommen wird. Nichtsdestotrotz können die Auswirkungen pränataler Einflüsse auf die spätere Lebensqualität verheerend sein. Es geht hier nicht nur um "Schmerzenergie", die übertragen wird, sondern um eine Vielzahl biochemischer oder struktureller Veränderungen im fetalen Organismus, die möglicherweise durch den neurotischen Mutterorganismus verursacht wird.   In jedem Fall hat das Imprint (die Einprägung, der Urschmerz)  es geschafft: Es hat sich "fortgepflanzt" .

Janov schreibt: (......). Unglücklicherweise gibt es keinen Willensakt, keine Motivation, keinen Grad von Aufrichtigkeit, der für sich allein die unvermeidlichen Wirkungen der Neurose der Mutter aufheben kann.Daher sind die Alternativen sehr begrenzt: eine Frau muss sich entweder voll und ganz mit ihrem eigenen Urschmerz auseinandersetzten, bevor sie ein Kind empfängt, oder ein sehr hohes Risiko eingehen, ihre Neurose an das Kind weiterzugeben.(.....).“ [Hervorhebung nachträglich]

(Janov, Frühe Prägungen, I., 2., Gedeihen oder Alptraum-Die neun Monate im Schoß, p. 100, Fischer 1984)

Es könnte sein, dass der Prozess, dessen Anfänge und Dynamik ich zu beschreiben versucht habe (die Interaktion zweier antagonistischer Elemente in einem Organismus), eines Tages einen kritischen Punkt erreicht hatte. Eines Tages hatte die Kraft der reverbierenden Erinnerungen und die Schmerzverarbeitungskapazität des gesamten Gehirns ein kritisches Ausmaß erreicht, das potentiell zu erheblichen Beeinträchtigungen normaler Funktionen des Organismus führen konnte. Von nun an war der in neuronalen Rückkoppelungsschleifen ( Bestandteil der Abwehr des Systems) gespeicherte noxische Input nicht nur Motor für Wachstum und Evolution, sondern auch ein gefährlicher Faktor innerhalb des Systems, der in der Lage war, immer mehr Zellen und Funktionen des Organismus zu beeinträchtigen. Und wenn dieser Organismus schwanger war (sagen wir, ein Primatenweibchen aus jener Gruppe von Affen, die in Isolation geraten waren), dann konnte die Kraft des eingeprägten Schmerzes auch auf den Fetus ausstrahlen und dessen schmerzverarbeitende Strukturen zwingen, einen Teil dieser Kraft als neuen reverbierenden Kreisprozess in sich aufzunehmen. Es ist logisch, dass eine zunehmende Kraft ihren Einfluss ausweitet und sich auf immer mehr Komponenten des Systems auswirkt, in dem sie aktiv ist. Wenn der reverbierende neuronale Kreisprozess im Nervensystem des Fetus geschaffen war oder wenn es zu biochemischen oder strukturellen Veränderungen im fetalen Organismus gekommen war, hatte die Übertragung des Imprints innerhalb der Spezies definitiv stattgefunden, und in dem jungen Organismus konnte das alte Wechselspiel von Neuem beginnen.

Möglicherweise führt die Eigendynamik dieses alten Wechselspiels der antagonistischen Elemente zwangsweise zu kritischen Situationen. Das kann theoretisch der Fall sein, wenn die Strukturen, die Sensibilität und Verletzlichkeit vermitteln, sich zu sehr ausweiten (zum Beispiel die menschliche Haut), so dass die Abwehrstrukturen kaum mehr mit der anwachsenden Schmerzmenge fertig werden, und umgekehrt kann es der Fall sein, wenn die Strukturen des Verteidigungssystems zu mächtig werden. Wenn sich die Anzahl der Zellen, die Schmerz speichern oder sonstwie mit der Kontrolle von noxischem Input befasst sind, erhöht, wenn also die schmerzverarbeitende Kapazität wächst, dann kann theoretisch auch der Einfluss und die Kraft des Imprints (der Einprägung) wachsen, und mehr oder weniger schwere Störungen normaler Funktionen des Organismus, direkt oder indirekt verursacht durch die Energie des Schmerzes, könnten die Folge sein.

Eine extrem kritische Situation könnte entstehen, wenn einerseits die hochentwickelte Sensibilität und andererseits die hochentwickelte Fähigkeit, Schmerz zu verarbeiten, mit einer Umwelt zusammentreffen, die andauernd extrem abweisend, feindselig und gefährlich ist. Das könnte der kritische Punkt sein, an dem die Dinge wirklich neurotisch zu werden drohen in der Evolution. Die Kraft der Einprägung  könnte enorme Ausmaße erreichen. Zum einen hat der eingeprägte Schmerz die Macht, normale psychische und körperliche Funktionen des Organismus  schwer zu beeinträchtigen und überträgt sich wahrscheinlich auf den Fetus, zum anderen resultieren auch die weiteren Verteidigungsmaßnahmen des Gehirns (Spaltung, Schleusung, Abstumpfung des Gefühlsapparats)*  allmählich in Beeinträchtigungen, die so schwerwiegend sein können, dass Eltern nicht mehr  in der Lage sind, ihren Gefühlen und Instinkten folgend die Bedürfnisse ihrer Kinder in ausreichendem Umfang zu erfüllen. Von diesem Punkt an droht die Permanenz des Schmerzes, unabhängig von den umweltlichen Bedingungen. Das Imprint oder die Einprägung droht sich zu verewigen, und es kommt zu beschleunigtem Gehirnwachstum. In der Phylogenese würde Neurose also von jenem Punkt an beginnen, an dem die Einprägung mit normalen Funktionen des erwachsenen Organismus und mit verletzlichen sensorischen Strukturen des jungen Organismus der folgenden Generation in Konflikt gerät, entweder direkt (in utero) oder indirekt (durch das Verhalten der Eltern).

  * Siehe Dr. Janovs Bücher

In der Gruppe der Primaten, die in Isolation geraten war, könnte dieser kritische Punkt relativ schnell erreicht worden sein. Es war abzusehen, wann diese Primaten, die von Generation zu Generation in einer feindlichen Umwelt lebten, die das Imprint in sich trugen und dessen zunehmender Störkraft ausgeliefert waren, und die die Konsequenzen der antagonistischen Interaktion zu tragen hatten (Schaffung neuer sensibler Strukturen, z. B.  der menschlichen Haut), so beeinträchtigt sein würden, dass sie die Bedürfnisse ihrer Kinder, die vermutlich schon in utero mit der ausstrahlenden Kraft des eingeprägten Schmerzes in Berührung gekommen waren, nicht mehr in vollem Umfang erfüllen konnten. 

Die Permanenz des Schmerzes, die unausweichliche, dauerhafte Verankerung der  Einprägung (Imprint) im Nervensystem über die Hürde der wechselnden Generationen hinweg war nicht mehr aufzuhalten. Der Schmerz war zum Urschmerz geworden, und das alte Wechselspiel der Gegensätze verlief in stark beschleunigtem Tempo und schuf schließlich den modernen Menschen. Mit dem Organismus des Menschen entstand ein Produkt (eine Synthese), das einerseits  Fühlen potentiell in einer Intensität und Dimension vermitteln kann, die anderen Arten nicht zugänglich ist, und das andererseits in der Lage ist, mit nahezu allen Problemen und Herausforderungen fertig zu werden. Der frontale Kortex ermöglicht Abwehr auf höchstem Niveau, und mittels seiner detektivischen und analytischen Kraft, die zu neuen Entdeckungen und neuen Techniken führt (zu der auch Primärtherapie gehört), und mittels Anwendung des neu erworbenen Wissens auf den (im Mutterleib beginnenden) Umgang mit den nachfolgenden Generationen ermöglicht er dem menschlichen System langfristig, die Fähigkeit zum Fühlen, zur Empathie, zur Empfindsamkeit, zu verantwortungsbewusstem Verhalten voll zu entfalten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das wahre menschliche Produkt, der wahre Homo sapiens in größerer Zahl präsentiert. Es ist eine ganz andere Frage, ob sein Erscheinen noch rechtzeitig kommt, oder ob er zu spät auf den Plan der Evolution tritt.

 

  Wenn ein Eindringling zu einem Teil der Physiologie wird – Die energetischen Konsequenzen der Transformation

Am Anfang der Evolution hatten primitive Organismen wahrscheinlich wenig Möglichkeiten, das Eindringen eines fremden (organischen) Körpers oder einer fremden Kraft zu verhindern (tatsächlich eine äußerst überflüssige Bemerkung, zumal das Leben schon immer auf dem Austausch von Substanzen beruhte); andererseits bot sich dadurch die Chance, von dem "Eindringling" zu profitieren. Einer Theorie zufolge ist die Zelle (als Grundbaustein aller äroben Organismen) die Kombination zweier verschiedener organischer Lebensformen, die sich irgendwann und irgendwo in den Äonen der Vergangenheit begegnet waren. 

Die Devise „Behalte den Eindringling für eine Weile oder für immer und nutze seine Energie und Fähigkeiten“ hatte sich möglicherweise schon früh als Erfolgsrezept in evolutionären Fragen erwiesen. Die Amöbe, die die Tinten-Körnchen absorbierte und sie zu einem "Teil Ihrer Physiologie" (Janov) machte, hätte andere (organische) Partikel vielleicht für immer behalten, wenn sie sie als nützlich statt schädlich identifiziert hätte. Und vielleicht gehört auch ein Reiz, der in einem Nervensystem eingefangen wird und zu einem Dauerzustand wird, zu diesem Erfolgsrezept, wenn auch die Energie, die in einem endlosen Kreisprozess fließt, nicht mehr die ursprüngliche Energie des eindringenden Reizes ist. Die reverbierende Erinnerung ist zu einem integralen Bestandteil des Energiehaushalts jenes Organismus geworden, der die schmerzhafte Erfahrung mit der Umwelt gemacht hatte. Von nun an operiert das System auf einem leicht erhöhten energetischen Niveau. Dies wirft eine wichtige Frage in Zusammenhang mit dem hypermetabolen Status eines neurotischen Organismus auf:

Janov/Holden hatten den hypermetabolen Zustand dahingehend interpretiert, dass das System Energie aufwenden muss, um Urschmerz unter Kontrolle zu halten.5 Zuerst bestreite ich diese Interpretation. Später dann werde ich mich Janovs/Holdens Argument wieder annähern. Jetzt behaupte ich das Gegenteil: Das System muss sehr viel Energie aufwenden, um den Urschmerz am Leben zu erhalten. Die letztere Interpretation ergibt sich zwingend aus physikalischen oder chemischen Gesetzen. Eine neuronale Rückkoppelungsschleife ist mit Sicherheit kein geschlossenes System. Herr von Bertalanffy (vermutlich ein Chemiker) kommentiert das geschlossene System folgendermaßen: 

Ein geschlossenes System im Gleichgewicht braucht weder Energie für seine Erhaltung, noch kann aus ihm Energie bezogen werden. Deshalb ist das chemische Gleichgewicht arbeitsunfähig.  

Mit anderen Worten, wenn solche  reverbierenden Schaltkreise  geschlossene Systeme wären, dann hätte der Urschmerz keine Kraft, keine Wirkung. Er wäre eine Leiche, die in einem finsteren Loch in den Tiefen des Gehirns herumliegt. Man könnte ihn getrost vergessen.

Herr von Bertalanffy fährt fort: Damit ein System Arbeit leisten kann, darf es nicht im Gleichgewicht sein, sondern muss auf ein solches hinstreben. Damit es das dauernd tun kann, muss das System im Zustand des Fließgleichgewichts erhalten werden. So verhält es sich mit dem lebenden Organismus, bei dem die Tatsache, dass er ein offenes System ist (das mit der Umgebung ständig Stoffe und Energie austauscht), die notwendige Bedingung für seine dauernde Arbeitsfähigkeit ist.“

(Zitat gefunden in Dr. med. C. Narziß/Dr. phil. G.A. Narziß, Unser Hausarzt, 1970, Lexikographisches Institut München)

6 Janov/Holden,  Das Neue Bewusstsein (Primal Man)  Kapitel XI, Die Verlängerung der Lebenserwartung;

Was für den lebenden Organismus als Ganzes gilt, trifft auch auf die neuronale Rückkoppelungsschleife zu. Um arbeitsfähig zu sein, um Wirkung zu erzielen, müssen die Neurone der RKS Stoffe und Energie mit ihrer Umgebung austauschen. Der menschliche Organismus als Ganzes liefert die Energie, die den Urschmerz am Leben erhält. Die reverbierende Erinnerung ist zu einem integralen Bestandteil des Energiehaushalts des Organismus geworden. Nur wenn Urschmerz ein perpetuum mobile wäre, ein System, das arbeitet und Kraft ausübt, ohne dass Energie investiert werden muss, dann wäre die Interpretation Janovs/Holdens uneingeschränkt zutreffend.

Jetzt stellt sich folgende Frage: Wie groß ist die Menge an Energie, die der Organismus aufwendet, um Urschmerz am Leben zu erhalten, im Verhältnis zur Menge an Energie, die der Organismus aufwendet, um Urschmerz unter Kontrolle zu halten? Dazu folgende Überlegung:

Unter phylogenetischen Gesichtspunkten muss man meiner Ansicht nach die Urschmerz speichernden Strukturen ( neuronale Rückkoppelungsschleife) als Abwehrsystem in sich selbst sehen. Ich stelle mir die Neuronen eines reverbierenden Schaltkreises wie ein eingespieltes Team vor, das den Ball nicht aus den eigenen Reihen gibt. Durch die eingeschliffenen Bahnen, die zwischen einer Gruppe von Neuronen entstehen, wird es für die zirkulierenden Energiequanten nicht leicht sein auszubrechen. Ich glaube, es wäre für den Energiehaushalt des Organismus eine Katastrophe, wenn er der gewaltigen Energie, die in einer RK-Schleife zirkulieren kann (abhängig vom Ausmaß des Traumas) und die er zwangsweise liefern muss, eine gleich große Abwehrenergie entgegenstellen müsste. Vielmehr wird das System versuchen, die Urschmerzenergie durch technische Raffinessen unter Kontrolle zu halten, an deren oberster Stelle eben der sich selbst erhaltende neuronale Kreisprozess selbst steht. Aber das System kann auf Dauer nicht verhindern, dass die Kraft des Urschmerzes  Auswirkungen auf andere Zellen des Organismus hat. Ansonsten würden schwere Krankheiten nicht in solcher Vielzahl in der Population auftreten.

In akuten Situationen jedoch, wenn der Schmerz aus seinem Käfig auszubrechen droht, versammelt der Organismus alle verfügbaren Kräfte, um den Ausbruch zu verhindern. In diesen Situationen ist der Aufwand an Abwehrenergie sicher gewaltig (siehe dazu Janov/Holden, Das neue Bewusstsein, 1977, s. 272-294 ). Aber der chronische Zustand eines menschlichen Organismuses, der frühe traumatische Erfahrungen speichert, lässt sich meiner Meinung nach wie folgt charakterisieren: der Aufwand an Energie, um Urschmerz am Leben zu erhalten, ist wesentlich größer als der Aufwand an Energie, um Urschmerz unter Kontrolle zu halten.

Daraus ergibt sich ein tragischer Gesichtspunkt: Der menschliche Organismus investiert sehr viel Energie, um eine Kraft (traumatische Erinnerung, früher Schmerz) aufrecht zu erhalten, die zu mäßigen oder auch zu katastrophalen Störungen im System führen kann. Um diese Aufgabe leisten zu können, opfert der Organismus viele Jahre  seiner Lebenserwartung, weil die maximale Lebensenergie* , die ihm zur Verfügung steht, aufgrund des chronischen Hypermetabolismus frühzeitig verbraucht wird. (siehe Janov, Das neue Bewusstsein - Primal Man) 

* Roland Prinzinger, Professor für Vegetative Physiologie an der Universität Frankfurt, wies nach, dass die maximale Lebenserwartung verschiedener Arten ziemlich präzise durch eine mathematische Formel bestimmt werden kann (Prinzinger, Das Geheimnis des Alterns, Frankfurt/Main, Campus Verlag 1996, Kapitel 16, s. 453, "Die Theorie der maximalen Stoffwechselrate – Keine Theorie, sondern ein Glaube?!")

Was macht das für einen Sinn? Ist der menschliche Organismus eine wahnsinnige Fehlkonstruktion? Nein. Gewiss nicht. Er ist von Kopf bis Fuß ein hochintelligentes System und alles, was in diesem System geschieht, ergibt einen vollständigen Sinn. Dieser Organismus trägt die Erfahrungen aus den unzähligen Millionen Jahren seiner Entwicklung in sich. Und wenn man diesen langen geschichtlichen Hintergrund durchleuchtet, erscheint die Beziehung zwischen Organismus und Schmerz vielleicht in einem klareren Licht.

Trotz der vielfältigen Symptome und Störungen, die er verursacht, kann man den Schmerz nicht unausgewogen und ausschließlich als Eindringling und Feind betrachten, gegen den sich der Organismus zur Wehr setzen muss und den er möglichst bald wieder loswerden will. In den Äonen der Evolution war die Einprägung zu einem erfolgreichen Konzept geworden, das aus der Notwendigkeit, sich gegen einen schmerzhaften und gefährlichen Angriff aus der Umwelt zu verteidigen, geboren worden war. Der reverbierende neuronale Schaltkreis war und ist eine sehr erfolgreiche Abwehrstruktur (Abwehr dadurch, dass die geeignete Reaktion auf einen gefährlichen Stimulus am Leben erhalten wurde und später in der Evolution dadurch, dass überlastender sensorischer Input in einem Kreisprozess eingeschlossen wurde). Die Einprägung (Imprint) wurde zum Motor und Bestandteil eines dynamischen Wechselspiels zwischen antagonistischen Elementen/Strukturen im Organismus. Dieses Wechselspiel wurde zum entscheidenden Faktor in der Evolution der Menschen. Das Imprint war nicht nur ein Eindringling, sondern über lange evolutionäre Phasen auch ein "Freund", der stimulierende, das Wachstum des Gehirns fördernde Wirkung hatte, und es war schon immer ein integraler Bestandteil des Organismus, „Teil seiner Physiologie“ (Janov) gewesen. Die Strukturen des Nervensystems hatten sich an die Anwesenheit des Imprints  und  an seine wachsende Kraft angepasst. Irgendwann in der Evolution hatte der dem Nervensystem eingeprägte Schmerz ein kritisches Ausmaß erreicht. Dieser Zeitpunkt könnte der Beginn der Neurose gewesen sein, der Anfang eines Prozesses, der zur Permanenz der Einprägung führte. Irgendwann in der Vergangenheit hatte der Schmerz die Hürde zwischen den Generationen überwunden und sich zum Urschmerz gewandelt.

Wenn man die Geschichte der Einprägung im Nachhinein betrachtet, ist Janovs/Holdens Interpretation des hypermetabolen Zustands  in gewissem Sinn korrekt. Der reverbierende Kreis ist ein Paradoxon. Beständig reproduziert er den Schmerz und hält ihn gleichzeitig unter Kontrolle. In seiner historischen Funktion ist er ein erfolgreiches Abwehrsystem. Zu Beginn hatte er Verteidigung vielleicht dadurch organisiert, dass er die Erinnerung an eine externe Gefahr  bzw. eine Reaktion darauf aufrecht erhielt. Später dann hat er sich möglicherweise zu einer erfolgreichen Methode entwickelt, mit überlastendem Input fertig zu werden. Diesen Input in einem endlosen Kreisprozess zu reproduzieren, war der Preis für diese Methode gewesen.

Somit dient die Energie, die in dieses Speichersystem investiert wird, einerseits dem Zweck der Abwehr und andererseits dem Zweck der Reproduktion. Als Janov/Holden Das neue Bewusstsein - Primal Man (Fischer, 1977) schrieben, müssen sie gewusst haben, dass das gespeicherte Trauma kein perpetuum mobile sein kann, kein geschlossenes System, das keiner Energiezufuhr bedürfte. Nichtsdestotrotz haben sie vergessen, die Frage zu beantworten, woher die Energie kommt, die das gespeicherte Trauma am Leben erhält. Letztendlich besteht das Problem vielleicht in den gewaltigen Dimensionen, die das Imprint im Laufe der Evolution angenommen hat. Angesichts der manchmal enormen Menge an Schmerz, die im Lauf des Wiedererlebensprozesses (Primärtherapie) in einem schwer traumatisierten Menschen zum Vorschein kommen kann, scheint es völlig unglaublich, dass die Einprägung einst vielleicht ein relativ harmloser Bestandteil der Physiologie eines Organismus gewesen war. Die subkortikale Strukturen, die die ursprüngliche Kraft eines frühen Traumas speichern und unter Kontrolle halten, scheinen wie ein Geniestreich des Lebens, wie ein schwarzes Loch des Gehirns, das unglaubliche Mengen an Schmerz schlucken kann und somit in der Lage ist, das Überleben des Organismus auch unter widrigsten Umständen zu gewährleisten. Aber letztlich geht es hier um eine Abwehr- , Speicher- und Integrationsleistung, die das gesamte Gehirn erbringt. Die Aufgabe, Trauma und Schmerz zu verarbeiten, obliegt dem Gehirn als Ganzes. Subkortikale Nervennetzwerke würden sich vermutlich sehr schnell als hoffnungslos überfordert erweisen, wenn es darum geht, Trauma-Energie für sich allein ohne Mithilfe des "neokortikalen Deckels" unter Kontrolle zu halten. Letztendlich also kann man aus einem bestimmten Blickwinkel das ganze Gehirn und noch weiter gehend den gesamten Organismus als schmerzverarbeitendes "schwarzes Loch" von beeindruckender Kapazität interpretieren.

Wenn man die Amöbe mit dem modernen menschlichen Organismus vergleicht, dann muss man zugeben, dass die Amöbe ein relativ leichtes Spiel hatte, die eingedrungenen Fremdkörper wieder loszuwerden. Ein Geburtstrauma jedoch, das in den dichten Gespinsten menschlicher Nervennetzwerke gefangen ist, kann nicht einfach von einem Tag zum anderen freigesetzt werden. Es ist buchstäblich mit unzähligen Millionen von Nervenzellen zugeschüttet. Wie bei einem Lawinenopfer muss die Befreiung systematisch von außen erfolgen. Es geht zuerst einmal darum, mehrere Schichten von Schmerz abzutragen, die das frühe Geburtstrauma überlagern. Eines Tages gibt das System seinen Gefangenen tatsächlich frei, und das offenbart  den dualen, paradoxen Charakter der Einprägung. In den Jahrmillionen der Evolution war sie gleichsam zu einem Teil der Physiologie geworden, eine beständige Komponente  menschlicher Organismen, aber ihre ursprüngliche und wahre Eigenschaft eines gefährlichen Eindringlings - das Korrelat einer bedrohlichen externen Kraft - hat sie nie verloren.

Von einem evolutionshistorischen Gesichtspunkt aus gesehen ergibt sowohl die Verdrängung, die die Unversehrtheit von Körper und Psyche zu bewahren versucht, als auch die Auflösung der traumatischen Erinnerung via Primärtherapie, die den eingeprägten Schmerz weitgehend aus dem System verbannt, einen kompletten Sinn. Für einen leidenden Menschen ist die Primärtherapie die einzige Wahl. Es gibt keine Alternative.  

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Quellen:

1. A. Janov, Gefangen im Schmerz, Fischer, Frankfurt, 1981

2. A. Janov, Frühe Prägungen, Fischer, 1984

3. A. Janov, Das neue Bewusstsein-Primal Man, Fischer, 1977

4. A. Janov, Der neue Urschrei, Fischer, 1993

5. A. Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000

6. J. Eccles, Die Evolution des Gehirns, Piper, München. 1989

7. R. Prinzinger, Das Geheimnis des Alterns, Campus, Frankfurt/New York, 1996

8. C. und G. Narziß, Unser Hausarzt, Lexikographisches Institut, München, 1970, 1977

9. Spektrum der Wissenschaft, 11/1979, s. 58

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Artikel und Buchauszüge