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Ferdinand Wagner
ANMERKUNGEN ZU DR. JANOVS ABHANDLUNG ÜBER PSYCHOTHERAPIE (GRAND DELUSIONS) Ich erinnere mich noch gut an jene Zeit Mitte der
siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als ich mich ernsthaft für
Psychotherapie zu interessieren begann. Ich hatte mein Abitur gemacht und
eine schmerzvolle Begegnung mit einer jungen Frau hinter mir, während
Arthur Janov einige Jahre zuvor irgendwo in Kalifornien eine Entdeckung
gemacht hatte, über die er zu diesem Zeitpunkt seine ersten Bücher
geschrieben hatte. The Primal Scream – Der Urschrei verbreitete
sich rasch auf der ganzen Welt, und selbst in den kleinen Buchläden der
Provinz stand Janovs Erstwerk im Regal. Eine vielversprechende Botschaft
ging um die Welt: Ein neuer Weg der Psychotherapie war gefunden,
vielleicht ein Weg, der viele Hilfesuchende aus ihrem Dilemma befreien
konnte. Janov hatte ihm den Namen Primal Therapy
- Primärtherapie gegeben. Damals,
unmittelbar nach dem Abitur, wusste ich nicht viel über das
Theoriefundament der Primärtherapie, aber meine Dienstzeit bei der
Bundeswehr bot genügend Freiraum, um diese Wissenslücke aufzufüllen.
Als Soldat war ich keine positive Offenbarung, denn mit meiner Passivität
und Apathie, mit meinem Befehlsstruktur und Hierarchie missachtenden
Individualismus und nicht zuletzt mit meinen stümperhaften Militäraktionen
brachte ich manche Vorgesetzte an den Rand der Weißglut und Verzweiflung.
Als „Forscher“ auf dem Feld der Psychotherapie war ich erfolgreicher,
denn mir wurde schnell klar, dass Janovs Primärtherapie viel mehr war als
eine neue Form der Psychotherapie. Die Begegnung mit der jungen
Frau in meinem Heimatort kurz vor dem Abitur hatte in mir anhaltenden
Schmerz ausgelöst, der zeitweise mit solchem Druck auf meinen Eingeweiden
lastete, dass ich befürchtete, an Krebs zu erkranken, falls dieser Druck
nicht nachlassen würde. Er ließ nach, doch ich wusste fortan, dass
irgendwas mit mir nicht stimmte. Ich wollte herausfinden, was es mit
diesem Schmerz auf sich hatte, dessen Wucht in keinem Verhältnis zu dem
realen Ereignis stand, ja, im Grunde überhaupt keinen Sinn ergab: Warum
sollte eine hübsche Frau, die offen und freundlich war und auf eine
warmherzige Art ihr Interesse an mir bekundete, Chaos und Schmerz in mir
hervorrufen? Die
Antwort hielt ich in den Händen, als ich in der Buchhandlung der
Kreisstadt ein Fischer-Taschenbuch mit folgendem Titel erstand: Arthur
Janov – Anatomie der Neurose – Die wissenschaftliche
Grundlegung der Urschrei-Therapie. Bereits die Einleitung war eine
Offenbarung; sie berührte mich auf eine seltsame Weise. Es war, als würde
nicht nur mein Verstand sondern mein ganzer Körper begreifen, dass hier
eine zentrale Wahrheit menschlichen Seins beschrieben wurde – die
Wahrheit der frühen Schmerzen, welche aus den unzähligen körperlichen
und seelischen Misshandlungen entstehen, die Eltern ihren Kindern zufügen,
aus nicht oder unzulänglich befriedigten Bedürfnissen, aus fehlender
Liebe, aus frühen medizinisch-operativen Eingriffen, aus einer
schwierigen – vielleicht anästhesierten – Geburt, aus weit
„suboptimalen“ Umständen im Mutterleib und so fort. Die Liste möglicher
Schmerzquellen ist lang. Wichtig ist, dass diese Schmerzen im System
gespeichert werden: Überlastung führt zu Abwehr oder Verdrängung, und
Verdrängung bedingt die Speicherung des frühen Traumas in Form eines
sich selbst erhaltenden Kreisprozesses in den Tiefen des Gehirns. Ein
Schmerzgedächtnis entsteht, eine traumatische Erinnerung von oftmals
ungeheurer Kraft. Das
also war das Geheimnis meines „Liebesschmerzes:“ Das
Gegenwartsereignis, die Offenheit und Freundlichkeit der jungen Frau,
hatte den frühen Schmerz fehlender Liebe, nicht erfüllter Bedürfnisse
und vermutlich auch den Schmerz aus anderen frühen Quellen in mir aufgewühlt.
Es war diese allgemeine Urschmerz-Aktivierung, die letztlich zu dem
starken Druck führte, der auf jeder Zelle meines Körpers zu lasten
schien. Mir
waren zwei Dinge klar: Zum einen musste ich unbedingt an diese eingeprägten
Traumen herankommen und ihre Auflösung in die Wege leiten. Zum anderen
konnte ich meine Forschung auf dem Fachgebiet der Psychotherapie nach so
kurzer Zeit bereits wieder beenden. Und das ruhigen Gewissens. Janovs Buch
beschrieb einen eindeutig neurobiologischen Ansatz, der in die
Zukunft wies. Ersteres
– die Rückreise zu den eingeprägten Schmerzen meiner persönliche
Geschichte – gelang mir tatsächlich, trotz meines Hangs zur Stümperei.
Es war ein langer Abstieg in die scheinbar düsteren Katakomben des
Unbewussten, zu jenen Orten, welche „die Wahrheit“ bargen, meine
Wahrheit, die Wahrheit meiner frühen Erfahrungen. Im Lichte des Rückblicks
war das Unbewusste an sich kein mysteriöser oder furchterregender Ort.
Vielmehr war es ein freundlicher Platz, der alle seine Geheimnisse
bereitwillig preisgab. Dennoch – das Wiedererleben dieser
„Geheimnisse,“ dieser frühen schmerzvollen Erfahrungen ist eine
anspruchsvolle Aufgabe. Menschen, die ein grauenvolles Ereignis ihrer
Vergangenheit wiedererleben, werden, genau wie es mir passierte, völlig
in dieses Grauen versinken. Ja, vielleicht ist es mehr als ein
Wiedererleben, vielleicht erleben sie das Trauma jetzt erstmals voll
und ganz, mit dem vollen Bewusstsein eines Erwachsenen, ohne
Einschreiten der Verdrängung, die ihnen als Kindern und Babys das Leben
gerettet hat. Sie sind jetzt stark genug, diese Schmerzen zu verarbeiten,
aber sie brauchen in dieser Situation die Hilfe anderer, die ihr oder ihm
immer wieder versichern, dass der Alptraum, der sie ergriffen hat, der
Vergangenheit angehört, nicht der Gegenwart, und dass er ein Ende haben
wird. Alles
in allem habe ich die Reise in die Vergangenheit als natürlichen,
selbstregulierenden Prozess erlebt. Primärtherapie ist für mich in
gewissem Sinn die Kunst, „es geschehen zu lassen.“ Das ist bestimmt
keine erschöpfende Definition; vor allem der Einstieg in den
Wiedererlebensprozess – vielleicht die wichtigste Phase der Therapie -
erweist sich oft als bockige und knifflige Angelegenheit. Hier fällt die
Entscheidung zwischen Wiedererleben und Abreaktion. Wer hier sich hier
allein auf die Kunst verlässt, „es geschehen zu lassen,“ landet
garantiert auf dem Irrweg der Abreaktion. Ist die Abwehr mit Hilfe eines
erfahrenen „echten“ Primärtherapeuten überwunden, der Zugang zum
Unbewussten geschaffen, darf man sich für den weiteren Verlauf der
systemischen Intelligenz des eigenen Organismus anvertrauen. Wenn
ich auf die vergangenen 30 Jahre meines Lebens zurückblicke, was würde
ich anders machen? Nichts. Ich würde mein Leben genau so
individualistisch leben. Mein Individualismus ist die Kombination aus
genetischen Faktoren und einer ultrafrühen Prägung, die sich nicht löschen
lässt. Vielleicht werde ich in Zukunft, als Ergebnis der Therapie, etwas
„bindungsfreudiger“ sein ( es deutet sich an); aber bestimmt nicht
gesellig. Würde ich noch einmal Primärtherapie machen? Unbedingt. Für
mich war es nicht einfach eine Frage des Fühlens oder Nichtfühlens
sondern eine Frage des Seins oder Nichtseins. Ich empfinde das Leben als
Geschenk, das ich möglichst lange genießen möchte. Es war ein kluger
und vorausschauender Entschluss, all die Qualen des Primärprozesses in
Kauf zu nehmen, denn ein Trauma, dass gefühlt und aufgelöst ist, kann
keinen Schaden mehr anrichten. Das leuchtet ein, nicht wahr? Würde
ich mich im Nachhinein intensiver mit Psychotherapien befassen?
Niemals. Psychotherapie in all ihren Erscheinungsformen ist ein Relikt der
Vergangenheit. Nachdem ich Arthur Janovs Abhandlung über Psychotherapie (Grand
Delusions) gelesen habe, fühle ich mich in meiner 30 Jahre währenden
Ignoranz gegenüber der Psychotherapie bestätigt. Wie Janov in seinem
Werk ausführt, geht es in der Regel um Ansätze und Methoden, die den
Patienten oder Klienten dahingehend zu manipulieren suchen, dass er oder
sie mehr Kontrolle über sein oder ihr Verhalten, Symptom, Gefühl
gewinnt. Es geht um Stärkung der Abwehr, der Verdrängung, während die
Gegenkraft, die diese Abwehr bedingt, einfach übersehen wird. Doch
selbst wenn eine Psychotherapie die Existenz eines frühen Traumas
anerkennt, versteht sie seine neurophysiologische Natur nicht. Sie
versteht nicht, dass dieses Trauma quicklebendig ist, eine
neuroelektrische, sich ständig reproduzierende Kraft, die sich auf den
gesamten Organismus auswirken kann. Wie sonst ließe sich erklären, dass
in der Psychoanalyse und Gesprächstherapie Therapeut und Patient
jahrelang über die Vergangenheit reden, eine intellektuelle
Einsicht nach der anderen produzieren? Es geschieht offenbar in dem
Glauben, man könne die Erfahrungen der Vergangenheit aus dem Organismus herausreden,
man könne durch Einsicht einen Heilprozess in Gang setzen. Unglücklicherweise
funktioniert es nicht, denn das Trauma in der Tiefe des Gehirns ist ein
kleines Kraftwerk, das sich von den schlauen neokortikalen Einsichten des
Therapeuten oder Patienten nicht beeindrucken lässt. Es zieht unbeirrt
seine endlosen Kreise. Psychoanalyse wirkt vielleicht insofern, als sie
dem Patienten bessere Kontrolle über den eingeprägten Schmerz ermöglicht,
so dass dieser vorübergehend weniger Störwirkung entfaltet. Gleiches
gilt zum Beispiel für EMDR, ein Schnellverfahren, das die traumatische
Erinnerung tiefer ins Unbewusste abdrängt, die Abwehr stärkt und die
innere Spaltung vergrößert. Der Patient funktioniert besser, verändert
sich aber nicht wirklich. Langfristig werden Geist, Psyche und Körper der
Einprägung Tribut zollen müssen. Man
kann es drehen und wenden, wie man will, - letztendlich bleibt eine
zentrale Wahrheit: Es gibt außer der Janovschen Primärtherapie
kein Verfahren, das in der Lage ist, eingeprägte traumatische
Erinnerungen im System eines Menschen zu entschärfen. Die Wut, die Angst,
die Qual, die pure physische Kraft früher Erfahrungen bleibt von
Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, EMDR, Hypnosetherapie und allen anderen
psychotherapeutischen Methoden unberührt, auch wenn es bei der einen oder
anderen Methode vielleicht zu gelegentlichen Gefühlsausbrüchen kommen
mag. Die Auflösung unserer frühen Schmerzen erfordert mehr als
sporadische Gefühlsentladung, nämlich eine systematische und präzise
Methode, die uns ermöglicht, langsam, gefahrlos und doch zielstrebig auf
den Grund des Unbewussten vorzudringen, bis schließlich der Anfang der
Einprägung erreicht ist. Menschen, die sich in Janovs Primal Center auf
seine Primärtherapie eingelassen haben, wissen, dass es oft Jahre dauern
kann, bis die größte Primärarbeit getan ist. Das bedeutet nicht, dass
diese Leute die meiste Zeit auf dem Boden liegen und sich in Qualen
winden. Es bedeutet einfach, dem Fühlen der Vergangenheit dann den
Vorrang einzuräumen vor dem Funktionieren in der Gegenwart, wenn
Gehirn und Körper das Signal geben, dass eine Schmerzerinnerung im
Aufsteigen begriffen ist. Nach meiner Erfahrung ist der Zeitaufwand,
den die „Verarbeitung“, die Integration des Urschmerzes erfordert,
alles in allem gering. Es bleibt mehr als genug Zeit, um im Hier-und-Jetzt
zu „funktionieren.“ Die Janovsche Primärtherapie ist keine Methode,
die Menschen „zerstückelt“ oder ins Chaos stürzt; das kann sie gar
nicht sein, denn in ihrem Wesen ist sie ein natürlicher Prozess,
in dessen Verlauf sich der menschliche Organismus nach und nach von seinem
„Eingemachten“ befreit. Die Schlüsselfunktion des Primärtherapeuten
besteht demnach darin, diesen Prozess einzuleiten und zu stabilisieren.
Die Hauptaufgabe des Patienten ist, diesen natürlichen
Wiedererlebens-Prozess zuzulassen. Wenn
also die traumatische Erinnerung wirklich existiert und wenn die Primärtherapie
tatsächlich, wie Janov sagt, ein präzises, neurobiologisch fundiertes
System ist, das diese eingravierten Traumen auflöst (und somit auch der
Notwendigkeit der Verdrängung ein Ende setzt), dann müsste sie auf lange
Sicht als solches in der Welt der Wissenschaft Anerkennung finden. Ich
beobachte die Einstellung der Wissenschaft zur Primärtheorie seit den
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Am Anfang war die totale
Ablehnung. „Völlig unmöglich,“ hieß es, „dass der menschliche
Organismus am Lebensanfang Erfahrungen aufzeichnen und speichern kann.“
Eine Geburtserinnerung entspringe der Phantasie des Patienten oder den
Einredungskünsten des Therapeuten, könne also real als
neurophysiolgische Struktur oder Vorgang nicht existieren, zumal das junge
menschliche System zu primitiv und plump sei, um überhaupt nennenswert
auf eine Erfahrung zu reagieren. Ganz
allmählich hat sich hier ein deutlicher Wandel vollzogen. Inzwischen gibt
es unzählige Studien, die einen Zusammenhang nachweisen zwischen frühen
Erfahrungen einerseits und Erscheinungen, Verhaltensweisen, Symptomen im
späteren Erwachsenenleben andererseits. Es gibt viele Untersuchungen und
Experimente, die darauf hindeuten, dass frühe Erfahrungen das
Nervensystem verändern, formen, positiv oder negativ beeinflussen können.
Diese „Primärforschung“ ist noch ziemlich jung, aber die Wissenschaft
macht auf diesem Gebiet gute Fortschritte. Auch die Kernthese der
Primärtheorie, dass ein schmerzvolles, überlastendes Ereignis des
Lebensanfangs oder der Kindheit als lebendige, kraftvolle Erinnerung
fortbesteht und sich auf den gesamten Organismus auswirken kann, scheint
allmählich auf breitere Akzeptanz zu stoßen. Nochmals:
Wenn die Entdeckung des Arthur Janov – der Urschmerz – eine Realität
ist, wird man die Primärtheorie eines Tages in das gesicherte Basiswissen
der Humanwissenschaften aufnehmen, also das frühe, sich ständig
reproduzierende Trauma als Ursache vieler menschlicher Leiden im
Erwachsenenalter begreifen und die Primärtherapie als einzige
systematische Methode zur „Extraktion“ dieser frühen Schmerzen
anerkennen. Bis dahin ist noch ein weiter Weg. Wichtig in der gegenwärtigen
Situation ist meiner Ansicht nach, dass Janov sein Therapieangebot
stabilisieren kann. Das ist nicht einfach. Der Beruf des Primärtherapeuten
setzt den Ausübenden einer enorm großen Belastung aus. Janov hat in früheren
Büchern gesagt, er habe ständig zu wenig Therapeuten, da es „einfach
nicht menschenmöglich“ sei, sich ein ganzes Arbeitsleben mit Schmerz zu
befassen. Seiner Aussage nach brennen viele Primärtherapeuten nach
einigen Jahren in diesem Beruf aus. Nichts geht mehr – und nichts
scheint mir verständlicher. Gehen
wir davon aus, dass Janov sein Primal Center und sein Therapeutenteam
konsolidieren kann. Wie könnte dann die Entwicklung der Primärtherapie
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verlaufen? Ich glaube, was wir zum
einen erleben werden, ist ein deutlicher Rückgang der wild wuchernden
Pseudo-Primärszene. Der Höhepunkt dieses „Wildwuchses“ ( wie es der
Verfasser einer Kurzbeschreibung der Primärtherapie für Wikipedia
ausgedrückt hat) dürfte überschritten sein, und die Zahl der weltweit
praktizierenden Zentren und Einzelpersonen, die qualifizierte Primärtherapie
nachzuahmen versuchen, sie zum Teil mit verschwommenen Konzeptionen wie
Transzendenz, Spiritualität, Esoterik, Religion verquicken oder ihren
Patienten eine „Weiterentwicklung“ der Primärtherapie anbieten,
sollte bereits rückläufig sein. Janov
sinngemäß: „Man sagt, Nachahmung sei eine Form der Schmeichelei. Aber
wir brauchen keine Nachahmer. Ein so präzises Instrument wie Primärtherapie,
das jahrelange Ausbildung erfordert, können Dilettanten nicht
anwenden!“ Laut Janov muss sein Institut in Venice den Schaden
„ausbaden,“ den viele dieser Schein-Primärtherapeuten an ihren
„Kunden“ anrichten: Diese Leute wenden sich nach Monaten oder Jahren
abreaktiver Pseudo-Primärtherapie hilfesuchend an Janovs Primal Center,
kommen mit eingeschliffenen Abreaktionsmustern daher und sind
deshalb viel schwerer zu behandeln als Personen, die vorher nicht
„geprimalt“ hatten. Janov und sein Institut warnen immer wieder, dass
diese Therapie in den Händen ungenügend qualifizierter Personen gefährlich
sei, wobei es keine Rolle spiele, ob die Person eine
medizinisch-psychologische Ausbildung, einen akademischen Grad habe oder
nicht. Mir leuchtet das ein, zumal ich der Überzeugung bin, dass man
unter Akademikern die abgewehrtesten Menschen findet, die am wenigsten
bereit und fähig sind, ihre „Verdrängungswelt“ zu verlassen und sich
auf die Rückreise zu den schmerzvollen Ereignissen ihrer eigenen
Vergangenheit zu begeben. Den Primärprozess am eigenen Leib erfahren zu
haben, ist jedoch eine Grundvoraussetzung für den Beruf des Primärtherapeuten. Ich
bin zuversichtlich, dass sich das Problem der Pseudo-Primärtherapie von
selbst lösen wird. Ihre morschen Grundpfeiler zerbröckeln bereits, und
früher oder später wird das ganze Lügengebäude in sich zusammensacken.
Was bleibt, ist „die Wahrheit“: die qualifizierten Primärtherapeuten
und die qualifizierten Primärpatienten. Pseudo-Primärtherapie
(Abreaktion) ist vielleicht auch deshalb verlockend, weil sie die Leute
davor bewahrt, ein Trauma wirklich wiedererleben zu müssen. Während
die Anzahl der Pseudo-Primärtherapeuten zurückgehen wird, werden sich
gleichzeitig immer mehr Wissenschaftler für die Arbeit in Janovs
Therapiezentrum interessieren. Sie werden erkennen, dass die Einprägung
und Speicherung früher Schmerzerfahrungen eine Realität ist und
anerkennen, dass die korrekt angewandte Primärtherapie eine geeignete
Methode ist, um den Schmerz aus dem System herauszulösen, ein Verfahren,
das tatsächlich viele Krankheiten heilen, die Lebensqualität verbessern
und die Lebenserwartung verlängern kann. Die
Erfahrungen und Erkenntnisse aus mehr als 30 Jahren primärtherapeutischer
Praxis einerseits und die Fortschritte in den Humanwissenschaften
andererseits (Michel Odent leistet hier als Geburtsforscher wichtige Beiträge)
werden wesentlich zu besserer Prävention beitragen. Die moderne
Geburt des Industriezeitalters, bei der die Gebärende als passive
Patientin oft mittels künstlicher Weheneinleitung, lokaler Anästhesie
oder zunehmend auch durch geplanten Kaiserschnitt von ihrem Kind
„entbunden“ wird, stellte sich in der Primärtherapie als eine der
Hauptquellen heraus, aus der früher Schmerz stammt. Eine Reform und
Revolution der Geburtshilfe, wie Michel Odent sie fordert, könnte dafür
sorgen, dass die Geburt in Zukunft weniger Schmerz im menschlichen System
hinterlässt und dass eine bessere Mutter-Kind-Bindung zustande kommt.
Arthur Janov hatte schon vor Jahrzehnten eine Änderung der
Geburtsmethoden gefordert. Vielleicht ist es das größte Verdienst des
Arthur Janov und seiner Primärtherapie, in aller Deutlichkeit aufgezeigt
zu haben, dass es in jeder Lebensphase – im Mutterleib, bei der Geburt,
in der Säuglingszeit und auf späteren Entwicklungsstufen - bestimmte Bedürfnisse
gibt und dass die Frustration dieser Bedürfnisse anhaltenden Schmerz (und
Wut) verursacht, die verdrängt und lebenslang gespeichert werden, und zum
Beispiel im Zusammenwirken mit späteren frustrierenden Umständen bei
Jugendlichen und Erwachsenen zu Radikalisierung, Gewalt und Kriminalität
führen kann. Zusammengefasst
noch einmal die Entwicklungen, die ich in den nächsten Jahtzehnten
erwarte: §
Im
Allgemeinen zunehmende Anerkennung der Tatsache, dass frühe Erfahrungen,
die im Mutterleib beginnen, große Prägekraft haben, das Gehirn formen
und zusammen mit den Erbfaktoren die psychophysischen Persönlichkeitsmerkmale
des Jugendlichen und Erwachsenen gestalten. §
Im
Besonderen zunehmende Anerkennung der Realität des frühen Traumas
(„Urschmerz“), seiner Permanenz, seiner negativen Langzeitfolgen
und zunehmende Anerkennung der Primärtherapie als
effektive, neurobiologisch fundierte Methode zur Auflösung dieser
Traumen. §
Deutlicher Rückgang
des „Wildwuchses“ an sogenannten Pseudo-Primärtherapien (als
Sammelbegriff für die therapeutischen Aktivitäten ungenügend
qualifizierter Personen, die nicht in der Lage sind, bei sich selbst und
anderen einen wirklichen Wiedererlebensprozess einzuleiten und zu
stabilisieren). Typisches Merkmal der Pseudo-Primärtherapie ist
Abreaktion. §
Wachsende
Zahl qualifizierter, von Janov zertifizierter Primärtherapeuten und
wachsende Zahl aufgeklärter hilfesuchender Personen, die an einem echten
Wiedererlebensprozess interessiert sind.
Und
wie sieht die Zukunft der Psychotherapie
im Allgemeinen aus? Ich glaube, auch wenn sie im Grund ein Relikt
der Vergangenheit ist, wird
sie sich auch in Zukunft reger Nachfrage erfreuen. Janov selbst sagt, die
meisten Leute wollen eine magische, schmerzlose oder schnelle Lösung
ihrer Probleme, eine Veränderung, bei der sie sich nicht
wirklich verändern müssen,
ihre Gewohnheiten, Werte und Bezugspunkte in der ihnen vertrauten
neurotischen Welt der Verdrängung nicht aufgeben müssen. Im Grund wollen
sie als Neurotiker
funktionieren, ohne zu leiden,
aber sie wollen sich nicht wirklich ändern, sie sind nicht bereit, den,
wie Janov sagt, „turmoil of change,“ den „Aufruhr der Veränderung“
in Kauf zu nehmen. Diese
Mehrheit wird sich auch in Zukunft den Psychotherapien zuwenden. Janov
beziffert die Zahl der Amerikaner, die regelmäßig eine Gesprächstherapie
aufsuchen, auf etwa 10 Millionen. Psychotherapie
hilft diesen Leuten vielleicht, besser zurecht zu kommen, sie unterstützt
Verdrängung und Abwehr, schiebt das Trauma weiter ins Unbewusste zurück.
Und Psychotherapie hält die Hoffnung aufrecht – die Hoffnung auf
„Heilung.“ Diese Hoffnung muss allerdings illusorisch bleiben, denn
alle „nicht-dialektischen Methoden“ (Janov) verewigen das Wirken des
Traumas im System, verhindern somit die Heilung und erhöhen die
Wahrscheinlichkeit, dass diese frühen traumatischen Erfahrungen langfristig
Krankheit und Tod verursachen. Aber es ist wohl so, wie der
Geburtsforscher Odent sagt: Menschen sind es nicht gewohnt, in langen
Zeiträumen zu denken. Das gilt für Laien genau so wie für
Wissenschaftler. Es ist eine überaus schwierige Übung, welche die
Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und die Gegenwart mit der
Zukunft. Jedoch
nicht nur die unzähligen Menschen, die eine Psychotherapie aufsuchen und auf Heilung hoffen, geben
sich einer grand delusion, einer großen Täuschung oder
Illusion hin. Auch Janov selbst ist ihr erlegen, als
er glaubte, seine Therapie könne sich sehr schnell im Volk verbreiten und
zu einer massenhaften Umwandlung von Neurotikern in „Primärmenschen“
führen. Ich glaube, die Zeichen deuten inzwischen eher auf das Gegenteil
hin: Primärtherapie ist ein Ansatz, der einer Minderheit vorbehalten
bleibt. Sie ist einfach zu anspruchsvoll, als dass sie sich zu einer
Massentherapie entwickeln könnte. Das gilt sowohl für den Patienten, dem
ein hohes Maß an Selbstständigkeit im Umgang mit der Methode abverlangt
wird, als auch für den Therapeuten, der zum Beispiel vor der
Herausforderung steht, die gewohnte 50-Minuten-Therapiestunde in der
Rumpelkammer der Relikte zu verstauen und sich auf Sitzungen mit offenem
Ende einzulassen, die sich über mehrere Stunden erstrecken können. Allerdings
– die aus der Primärtherapie abgeleitete Primärtheorie als
Lehre von den prägenden Erfahrungen und den Bedürfnissen des Menschen
ist auf dem besten Weg, Wissenschaft und Gesellschaft nachhaltig zu
beeinflussen, und ich denke, es ist überhaupt keine Illusion, darauf zu
hoffen, dass es in zukünftigen Generationen wesentlich mehr Menschen
geben wird, die ihr Leben als voll bewusste, entspannte, fühlende,
empathische, sozial und umweltlich verantwortungsbewusste Individuen genießen
können, und das aufgrund der simplen Tatsache, dass sie sich weniger
Schmerz und mehr Liebe „eingefangen“ haben. Richtig edle Kreaturen,
sozusagen, innerlich und äußerlich in jeder Hinsicht wohlgeraten, die
wahre Krone der Schöpfung. Beneidenswerte Geschöpfe, die eines fernen
aber nicht allzu fernen Tages die Vision des Meisters Wahrheit werden
lassen könnten: eine echte Primärgesellschaft. ___________________
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