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VORGEBURTLICHE PRÄGUNG - EIN GEWÖHNUNGSBEDÜRFTIGER ASPEKT

 

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Wissenschaft vom Menschen entscheidende Fortschritte gemacht. Fachleute auf dem Feld der Psychologie, Neurobiologie, Medizin und anderer Disziplinen zeigen in ihren Publikationen auf, dass die Erfahrungen früher Lebensphasen einen gewichtigen Einfluss auf unser erwachsenes Leben, unsere psychophysische Gesundheit, unsere Liebes- und Bindungsfähigkeit, unser Gefühlsleben haben. Zahlreiche Studien laufen zu einer Erkenntnis zusammen, die vermutlich noch vor wenigen Jahrzehnten als höchst umstrittene und gewagte Hypothese gegolten hätte: Der entstehende Mensch wird bereits lange vor seiner Geburt  durch seine Umwelt beeinflusst. Die Welt im Uterus ist kein Schutzraum, der den heranwachsenden Fetus vor allen Widrigkeiten abschirmt und ihn als "unbeschriebenes Blatt", als "tabula rasa" zur Welt kommen lässt. Die emotionale Verfassung der werdenden Mutter, ihr gesamter psychophysischer Zustand, die Belastungen, denen sie ausgesetzt ist, ihre Ernährung und Lebensweise wird sich auf den Fetus auswirken, im positiven wie im negativen Sinne. Wie Peter Nathanielsz (Foto), Leiter des Laboratory of Pregnancy and Newborn Research (Labor für Schwangerschafts- und Neugeborenenforschung) an der Cornell Universität in New York in seinem Buch "Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit" [Mosaik/Goldmann, 2003] darlegt, scheint sich die Auffassung von der "vorgeburtlichen Prägung" in der Wissenschaft fest etabliert zu haben:

"Kurz gesagt beeinflusst die vorgeburtliche Prägung jeden Aspekt unserer körperlichen und geistigen Gesundheit in jedem Lebensabschnitt. Ich formuliere es gerne folgendermaßen: Wie und wann wir diese Welt verlassen, ist weitgehend dadurch geprägt, wie wir auf die Welt gekommen sind. Diese neue Denkweise verändert radikal die bisherigen Annahmen darüber, wie die Umgebung im Mutterleib das Baby in seiner Entwicklung beeinflusst.

Möglicherweise finden Sie diese Vorstellungen auf den ersten Blick unheimlich oder beängstigend; sie scheinen eine völlig neue Möglichkeit zu sein, Müttern die Schuld für die Probleme ihrer Kinder zuzuschieben. Aber Schuldzuweisungen sollten nicht die Quintessenz dieses Wissens sein. Zunächst einmal ist die gesamte Familie für den guten Verlauf einer Schwangerschaft verantwortlich. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen: Die Verantwortung für gesunde Neugeborene liegt bei der Gesellschaft insgesamt." 

[Nathanielsz, Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit, Mosaik/Goldmann, München, 2003, s. 28, 29]

 

Ein zentrales Thema im jüngsten Buch des amerikanischen Psychologen, Mediziners und Therapeuten Arthur Janov (Foto) ist "Womblife, Memory, and the Imprint" ["Leben im Mutterleib, Erinnerung und Prägung"].

"Die wichtigste Phase der Kindererziehung spielt sich in den neun Monaten der Schwangerschaft ab. Die Ereignisse in dieser Zeit scheinen dauerhafte Auswirkungen zu haben, weil sie in ein naives und verletzliches Nervensystem eingeprägt werden. Durch Autopsien an Psychotikern steht uns Forschungsmaterial zur Verfügung, aber so, wie es scheint, führt die Spur jeglicher Art Symptome und abweichenden Verhaltens in erster Instanz auf pränatale Ereignisse zurück. [.............] 

Liebe beginnt in den neun Monaten im Mutterleib. Gesundheitsbewusste Ernährung, Abstinenz von Zigaretten und Alkohol und ein ruhiges, ausgeglichenes Leben sind die ersten Schritte zu positiver fetaler Entwicklung. Es geht nicht nur um die fetale Entwicklung; hier werden die Fundamente für unser ganzes übriges Leben gelegt.

[Übersetzt aus: Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, s. 198, 199]

 

Er zitiert im Kapitel 11 seiner Biology of Love ("Womblife: Prelude to Real Life") eine Reihe von Studien, die darauf hindeuten, dass die primären Ursachen körperlicher und psychischer Leiden in den vorgeburtlichen Bedingungen liegen können. Neurose als psychophysischer Zustand, der durch Unausgewogenheit, Verschiebungen und Funktionsstörungen innerhalb des Systems gekennzeichnet ist, kann ihren Anfang in utero haben. Janov erwähnt auch eine autoptische Untersuchung an Schizophrenen, die ergab, dass bei vielen dieser Individuen - wahrscheinlich aufgrund pränataler Einflüsse - bestimmte Nervenzellen des limbischen Systems buchstäblich "auf dem Kopf standen." Hier wird die wortwörtliche Bedeutung von "verrückt" offensichtlich: Man ist verrückt, weil die Zellen verrückt worden sind, das heißt, aus ihrer normalen Lage verschoben worden sind.

Bereits in früheren Büchern hatte sich Janov ausführlicher mit vorgeburtlichen Einflüssen auf den psychophysischen Gesundheitszustand der Erwachsenenpopulation befasst. (Das befreite Kind, Fischer, 1977; Frühe Prägungen, Fischer, 1984, s. 29-102; Why you get sick - How you get well, Dove Books, 1996, s. 30-42; diese Bücher stehen zur Zeit in der Online-Bibliothek von  utopie1  zur Verfügung)

 

  Auch  der französische Arzt und Geburtsforscher Michel Odent (Foto) weist in seinen Publikationen auf  Studien hin, die solche pränatalen Einflüsse nahelegen. Er kommt zu dem Schluss, dass "die Liebesfähigkeit in hohem Maße durch frühe Erfahrungen im Mutterleib und in der Geburtsphase bestimmt ist." [Odent, Die Wurzeln der Liebe, Walter, Düsseldorf, 2001]. In der Online-Datenbank seines Primal Health Research Centre  finden sich viele Untersuchungen, die auf Zusammenhänge zwischen vorgeburtlichen Umständen und Erscheinungen in der Erwachsenengesellschaft hindeuten.

Es gibt sogar eine "Internationale Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie  und Medizin" (ISPPM), deren Vorsitzender Ludwig Janus (Dr. med.)  aus Heidelberg ist (Ein Interview mit Ludwig Janus und  Material zum Thema "Geburt und vorgeburtliche Zeit" finden Sie unter  www.weltall-erde-ich.de   im Inhaltsverzeichnis unter "Natürlichere Geburt " ). Der Fetus ist sozusagen in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Endgültig vorbei ist die Zeit, da man Feten und Neugeborene für empfindungslose Protoplasmaklümpchen hielt, die von ihrer Umwelt nichts mitbekommen und  kaum zu nennenswerten Reaktionen fähig sind. Nathanielsz zeigt in seinem Buch "Leben im Mutterleib" [List, 1995], dass Feten "für ihr Alter ganz schön schlau" sind und durchaus in der Lage, sich an Veränderungen ihrer Umgebung anzupassen. So setzt das fetale System vor allem im zweiten und letzten Drittel der  Schwangerschaft im Fall von Nährstoff- oder Sauerstoffengpässen Prioritäten und bestimmt, welche Organe und Teilsysteme  vorrangig versorgt werden. (In erster Linie Gehirn und Nervensystem).

Vor allem die umfangreichen epidemiologischen Untersuchungen des britischen Medizinwissenschaftlers David Barker, auf die Peter Nathanielsz in seinem Buch "Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit"  ausführlicher eingeht, legen Zusammenhänge nahe zwischen der Ernährung während der Schwangerschaft und der Wahrscheinlichkeit, als Erwachsener unter Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, hohem Cholesterinspiegel oder unter Diabetes zu leiden. Ein auffallend geringes Geburtsgewicht oder ein im Vergleich zur Kopfgröße auffallend kleiner Bauchumfang eines Neugeborenen lassen auf Mangelernährung im Mutterleib schließen. Mangelhafte Ernährung in utero kann laut Nathanielsz dazu führen, dass sich bestimmte Organe nicht voll entwickeln bzw. nicht optimal mit Blutgefäßen versorgt werden ("strukturelle Prägung"). Eine logische Folge davon wäre, dass das betreffende Organ seine genetisch festgelegte volle Größe und Leistungsfähigkeit niemals erreicht. 

Das Bedenkliche an den Resultaten der Barker-Studie ist, dass  solche offensichtlichen pränatalen Defizite im Mutterleib gerade bei den "unteren" Gesellschaftsschichten besonders häufig auftraten (Barkers Studie untersuchte Menschen, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren worden waren). Nachdenklich macht auch die Aussage eines anderen Wissenschaftlers, Dr. Berry Brazelton, dass "keine Generation von Kindern schlechter ernährt und schlechter auf das Leben vorbereitet gewesen [sei], als die Babys, die heute zur Welt kommen." [Leben im Mutterleib, s. 248]. Soll man aus dieser Aussage schließen, dass in diesen modernen Zeiten des Überflusses, in denen Jugendwahn, Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit auf der gesellschaftlichen Werteskala ganz weit oben rangieren, viele Frauen auf die Idee kommen, sie müssten in der Schwangerschaft eine Diät machen, um die dickmachenden Effekte des fetalen Wachstums zu mindern? 

Nathanielszs Leser erfahren auch, dass  das Gehirn des Fetus selbst  über eine Hormonkaskade, die in seinem Hypothalamus beginnt, an der Einleitung des Geburtsvorgangs beteiligt ist. Bereits 1933 hatte der Gynäkologe Percy Malpas einen Artikel veröffentlicht, in dem er beschrieb, dass es im Fall von Anenzephalie (dem Fehlen wesentlicher Gehirnteile) bei menschlichen Feten zu verlängerten Schwangerschaften kommt. Auch mehrere Tierstudien führten zu dem Schluss, dass eine Schädigung der Hypothalamus-Hypophysen-Achse im Gehirn der Feten deutlich verlängerte Tragzeiten oder das völlige Ausbleiben der Geburt bedingt. Somit scheint ein wesentliches Startsignal für die Geburt vom Hypothalamus des Fetus auszugehen. Der Hypothalamus schickt seinen "Boten", das Hormon CRH, zur Hypophyse, die sodann den Botenstoff ACTH freisetzt, welcher die Nebennierenrinde anweist, Kortisol zu produzieren. Kortisol wiederum regt die Plazenta zur Erzeugung von Enzymen an, die den Wehenhemmer Progesteron in den Wehenförderer Östrogen umwandeln. Diese bei Schafen nachgewiesene Reaktionskette ist bestimmt nicht das "ganze Geheimnis" der Geburtseinleitung, aber es scheint eine wesentliche Komponente zu sein. Experimente an Affen legen nahe, dass die Abläufe bei Primaten ähnlich sind, mit dem Unterschied, dass an Stelle von Kortisol das Nebennieren-Hormon DHEAS tritt, das in der Plazenta wiederum zu  Östrogen umgewandelt wird. [Siehe hierzu Nathanielsz, Leben im Mutterleib, List, München, 1995, Kapitel 12, s. 192-212].

Mich erinnert der hier beschriebene Vorgang ein wenig an die biblische Geschichte von der "Vertreibung aus dem Paradies". Der "Apfelbaum" entspräche dem Hypothalamus und die "verbotene Frucht" dem Hormon CRH (Corticotropin releasing hormone), das seinen "angestammten" Platz verlässt und dadurch letztlich die Wehen in Gang setzt, die zur "Vertreibung" aus dem Mutterleib führen.

 

 

 
     
 

Quellen:

Peter Nathanielsz, Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit, Mosaik/Goldmann, 2003)

Peter Nathanielsz, Leben im Mutterleib, List, München, 1995

Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000 

 

 

 

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