Ich
will meinen Appell an Sie von einem menschlich gefühlten
Standpunkt aus formulieren und berichte daher zuerst über
meine persönlichen Erfahrungen als Klientin.
Nachdem ich
1993 die in meiner Kindheit erlittenen Kindesmisshandlung
beschrieben hatte, litt ich unter Depressionen. Das
ging so weit, dass ich lieber sterben wollte, als dem
Schmerz und dem Entsetzen meiner Kindheitserinnerungen und
ihrem Wiedererleben ausgeliefert zu sein. Ich wusste, ich
brauche Hilfe, und so machte ich einen Termin bei
Kassen-Therapeuten. Die Warteliste für einen Gesprächstermin
war damals 12 Wochen. Ich war völlig deprimiert, und mein
Durchsetzungsvermögen war von Angstzuständen derart
lahmgelegt, dass mir keine andere Wahl blieb, als mich mit
der Situation, wie sie war, abzufinden. Und zusätzlich zu
dem, dass ich mich hilflos fühlte, beschuldigte und
schalt ich mich auch noch dafür, überhaupt Hilfe zu
brauchen. Wie schon als Kind ergab ich mich der Macht übermächtiger
Autoritäten, von Experten, von denen ich doch annehmen
konnte, dass sie wissen, was sie tun.
In
diesen 12 Wochen des Wartens vollzog sich ein
tiefgreifender heilender Wandel in meinem Gehirn. Trotz
meines depressiven Gesamtzustands empfand ich damals zum
ersten Mal so etwas wie ein heilsames Auftauen. Irgendwie
rührte das mit dem Aufschreiben verbundene Wiedererleben
der Traumatisierung an meiner Depression
und brachte einen Heilungsprozess in Gang. Ich konnte fühlen,
wie eingefrorene und weggesperrte Bilder von traumatischen
Erinnerungen begannen, aufzutauen und ins Bewusstsein zu
kommen. Die Wucht der vor dreißig Jahren
schockgefrosteten Traumata begann an Gewalt zu verlieren,
um statt dessen einen unabgeschlossenen Prozess zuende zu
bringen. Endlich fühlte ich, wie lose Enden ( Neurone )
in meinem Gehirn dabei waren, ihre Verbindungen zu suchen.
Jedes Ereignis, an das ich, versunken in meinen
Kindheitserinnerungen, rührte, führte mich in ein
Flashback. Ich begann zu verstehen, warum ich mein Leben
lang Angst gehabt hatte. Dieses blitzlichtartige
Wiedererleben machte es möglich, viele der traumatischen
Erlebnisse der Vergangenheit zu verarbeiten und hinter mir
zu lassen. Ich begann zuerst mit einem kognitiven
Einstieg, der mich in den Bereich des Ursprungs und, auf
einem Trampelpfad des Gefühls, schließlich an die
Quelle meines über vierzig Jahre alten Traumas und meiner
Angst führte. Danach war die eingeprägte Angst nicht
mehr vernichtend; sie hatte ihre Kraft verloren, weil der
entsetzliche Schmerz und die Angst, die mit der Erinnerung
verbunden waren, zuerst gefühlt - und dann verschwunden
waren. Ich hatte aufgehört, ständig weiter die kindlich
hilflosen Empfindungen zu fühlen ( eines Kindes, das
keine Worte besaß, sie aus zu drücken ). Die losen Enden
hatten endlich Verbindung zu einer funktionierenden linken
Hemisphäre aufgenommen und ich konnte das Gefühl jetzt
mit den Worten einer Erwachsenen ausdrücken, was ich als
Kind nicht konnte. Meine Hoffnung, in diesem
Heilungsprozess Unterstützung zu finden, war entsprechend
beträchtlich.
Als ich dann
endlich meinen Therapeuten das erste Mal sah, wurde dieser
Heilungsprozess gewaltsam unterbrochen. Ich wurde an eine
Psychiaterin überwiesen und was dabei raus kam, war Wellbutrin
und Verhaltenstherapie.
Ich brachte
meine Bedürfnisse zum Ausdruck, nämlich dass ich mit der
Regression und mit dem Fühlen weitermachen will, aber ich
wurde nicht gehört. Nach etwa 10 Sitzungen konnte ich
dann ihre Hilflosigkeit angesichts dessen fühlen, dass
ich nicht bereit war, ihre Theorie des Schmerz-
„Managements“, also der Unterdrückung, zu schlucken.
Ich wollte heilen, wie ich ihr sagte, nicht erneut unterdrücken,
aber sie verstand gar nichts. Nach der zwanzigsten Sitzung
streckte sie hilflos ihre Hände in die Luft und fragte
mich: “Welche Theorie passt denn nur auf Sie?“ „Ich
brauch’ gar keine Theorie,“ sagte ich ihr, „ich will
nur, dass sie mir helfen zu heilen, indem sie meine Fragen
zu all den Gefühlen, die ich habe, ohne sie zu verstehen,
beantworten“. Worauf sie meinte, ich würde, da nicht
psychologisch ausgebildet wie sie, ihre Erklärungen
sowieso nicht verstehen. Anstatt Hilfe zu bekommen wurde
ich also wiederum abgewürgt und beleidigt. Nicht lange
danach schaute ich mich nach einer anderen Therapeutin um.
In der ersten Sitzung mit ihr teilte ich ihr meinen Wunsch
mit, Antworten zu finden und in meinem Heilungsprozess
Unterstützung zu bekommen. Ich legte ihr dar, dass es für
mich wichtig ist, die Verbindungen zu meinen Panikattacken
und zu den andauernden Angstgefühlen zu finden.
Gelangweilt ließ sie mich wissen: „Sie brauchen nicht
zu wissen, wie man versteht“. Daraufhin, wieder mit dem
Gefühl völliger Hilflosigkeit, verließ ich auch sie und
machte weiter mit Wellbutrin.
Nach
und nach machten sich die Nebenwirkungen der
Antidepressiva bemerkbar und ich erwähnte meine
Gewichtszunahme und andere neue Symptome, wie Muschel- und
Schokoladen- Allergie, Schlaflosigkeit und Atemnot gegenüber
meinem Psychiater. Er fertigte mich knapp damit ab, dass
die Gewichtszunahme von der Menopause käme und ging auf
die anderen von mir erwähnten Nebenwirkungen gar nicht
erst ein. Nach 4 Jahren Wellbutrin
hatte ich 65 Pfund zugenommen obwohl ich weniger denn je
zu mir nahm.
Ich wechselte
1998 wieder den Psychiater und der Neue setzte mich dann
auf Effexor.
Zusätzlich
schöpfte ich 1999 neue Hoffnung als ich das erste Mal von
EMDR hörte und mich also auf Therapiesitzungen mit einem
EMDR- Spezialisten einließ. Nach etlichen privat
bezahlten Sitzungen gelang es mir, einen anderen,
kassenbezahlten EMDR- Therapeuten zu finden und wechselte
auf finanziellen Gründen zu diesem.
Nach
anderthalb Jahren stellte ich zu meiner Enttäuschung
fest, dass EMDR, was die Heilung meiner Angst und
Panikattacken angeht, wirkungslos war. Es half einzig zur
momentane Unterdrückung. Die Symptome kamen, kurz nachdem
ich die EMDR Therapie beendet hatte, wieder.
Im Jahr 2000
dann nahm ich alle mir noch zur Verfügung stehenden Kräfte
zusammen, beendete alle meine sogenannten „Therapien“
und hörte auf, die Antidepressiva zu nehmen. Nachdem ich
drei Monate lang unter den Effexor-
Entzugserscheinungen gelitten hatte, hoben sich daraufhin
langsam die Schleier in meinem benebelten Gehirn und ich
fing an, wieder als fühlender Mensch zu leben. Was mich
am meisten ernüchterte war die Feststellung, dass, nach
zusammen 7 Jahren Einnahme von Antidepressiva, sich rein
gar nichts geändert hatte. Alle Symptome, die ich am
Anfang hatte, plagten mich noch immer. Die Panikattacken
und die Traumata meiner Kindheit waren noch immer genau so
vorhanden wie 1993, als ich anfing, diese Antidepressiva
zu nehmen. Alles, was sie bewirkt hatten war, dass ich,
ohne die Depressionen losgeworden zu sein, sieben Jahre
lang als wandelnde Zombie herumgelaufen war.
Der einzig
wirkliche Effekt der Antidepressiva war ein Nachlassen des
Kurzzeitgedächtnisses, 65 Pfunde extra und neuerworbene
Allergien. Die Auswirkungen meiner traumatischen Kindheit
aber waren immer noch sehr spürbar vorhanden und beeinträchtigten
meine Lebensqualität dramatisch.
Warum um
alles in der Welt, fragte ich meinen Psychiater, musste
ich all diese gefährlichen Drogen schlucken? Stille war
die Antwort und einen guten Rat, wie ich meine seelischen
Qualen los werden könnte, hatte er erst recht keinen.
Wie ich nur
all zu spät herausfand, hatte Wellbutrin
alle Vorgänge in meinem Körper verlangsamt, inklusive
die Funktion der Schilddrüsen. Abgesehen von kurzen
Unterbrechungen war mein Cortisol- Spiegel bei 4,8. Eines
meiner Symptome, die Atemnot, verschwand zwar, aber
geblieben sind mir die Muschel- und die Schokoladen-
Allergie bis heute.
Die Spitze
des Eisbergs, 60 Stunden Gesprächstherapie ( mit vier
verschiedenen Therapeuten ) waren vergeudete Jahre und
hatten nichts anderes bewirkt als enttäuschte Hoffnungen
und waren nicht mehr gewesen als Schmerz-Verwaltung, mit
anderen Worten, erneutes Unterdrücken, Verdängen und
Bevormunden des Bewusstseins des seelischen Leidens. Ich
wollte aber meinen Schmerz nicht „managen“, ich wollte
nichts weniger, als die Wunden gravierenden Missbrauchs in
der Kindheit auf Dauer zu heilen. Und natürlich konnte
das weder Wellbutrin
noch Gesprächstherapie. Wie jeder Patient war ich abhängig
von den Professionellen der Zunft und musste ihnen
vertrauen. Aber meine Sorge über die Gewichtszunahme und
die immer noch verbliebenen Angstattacken wurde glatt überhört.
Was kann ein Patient, der unter ständiger Depression,
Angst und Schrecken leidet, denn auch anderes tun als
denen zu glauben, denen zu vertrauen, deren Aufgabe es
ist, zu helfen? Nach drei Monaten Effexor
hatte ich einen ganz erheblichen Anteil meines Kurzzeitgedächtnisses
eingebüßt.
Als klar war,
dass ich die Hilfe, die ich benötigte, nicht bekommen würde,
habe ich die meisten meiner Symptome selbst in Angriff
genommen. Ich entschied mich dafür, mich bewusst auf
meine Vergangenheit ein zu lassen und meine unterdrückten
Kindheitstraumata in einer Regressions- Selbst- Therapie
an zu gehen. Ich schuf [ u. a. durch Schreiben ] den Raum,
in dem unterdrückte Erinnerungen auftauchen konnten und
ich reiste zwei mal in meinen Heimatort um mich der realen
Vergangenheit zu stellen. Ich fühlte den Schmerz und drückte
ihn aus und konnte dadurch die festsitzende
Traumatisierung verarbeiten. Mittels diesem natürlichen
und schrittweisen Verfahren und unterstützt von
emphatischen Freunden, die mir keine Etiketten aufdrücken
und die mich nicht mit Theorien abfertigen und die auch
nicht ihre eigenen Beschränkungen auf mich projizierten,
fand eine natürliche Heilung statt. Nach jetzt drei
weiteren Jahren kann ich mich als eine seelisch gesundes
und starkes menschliches Wesen bezeichnen, und als frei
von den Auswirkungen der frühen Traumatisierung.
Nur womit ich
mich jetzt noch herumschlage, das sind die Spätfolgen von
Wellbutrin
und Effexor,
darunter ein erheblich verlangsamter Stoffwechsel und ein
teilweiser Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.
Zum
Schluss möchte ich berichten, dass ich inzwischen von
sehr vielen anderen Missbrauchsopfern, Besuchern der
Homepage Adults Abused as Children [ Erwachsene, die als
Kind Missbrauch erfahren hatten ] kontaktiert wurde, die
mir nicht allein von den erlittenen frühen
Traumatisierung sondern auch von ihren schmachvollen
Erfahrungen mit Psychiatern, Psychologen und Therapeuten
berichtet haben. In ihrer Hilflosigkeit hatten sie sich an
die verschiedensten Organisationen, nicht zuletzt auch an
kirchliche Stellen gewandt. Von diesen Opfern haben einige
über zehn Jahre Therapie hinter sich – ohne den
geringsten Fortschritt. Die meisten von ihnen nehmen
Antidepressiva und / oder wurden mittels verschiedener Ansätze
hauptsächlich dahingehend „umprogrammiert“, neue
Techniken zur Unterdrückung ihrer Traumata zu erlernen.
Einige von ihnen wurden religiös indoktriniert und sind
nun der festen Überzeugung, dass der blinde Gehorsam
gegenüber einem allmächtigen Gott ihr Leben ändern und
sie heilen wird.
Aber die
Auswirkungen der Kindheitstraumata, die Angstzustände und
die Depressionen, werden nicht verschwinden, wenn nicht
die Traumatisierung selbst verarbeitet wird. Weitere Störungen
und Nebenwirkungen werden das Leben all derer prägen,
denen keine Gelegenheit zu heilen geboten wird.
Ich habe aber
nur sehr wenige Therapeuten kennen gelernt, die wie ich
davon überzeugt sind, dass die verletzte Seele heilen
kann, wenn wir es nur zulassen, wenn wir nur diesen
Prozess emphatisch, und ohne zu urteilen oder zu
etikettieren, menschlich begleiten und wenn wir darauf
verzichten, demjenigen, der sich selbst sucht, unsere
Theorien über zu stülpen. Leider fehlt den meisten
therapeutisch tätigen Professionellen das Rüstzeug für
eine derartige Herausforderung. Oft ist es mein Eindruck,
dass gerade Therapeuten, aufgrund ihrer eigenen Kindheits-
Traumatisierung, zu diesem emphatischen Beistand am
wenigsten in der Lage sind. Oft genug führt das dazu,
dass sie vielmehr ihre eigenen unbewussten Kindheitsgefühle
ausagieren als tatsächlich Wegbegleiter der Heilungsreise
des Klienten zu sein.
Meine
dringende Bitte an alle Professionellen ist:
Respektieren
Sie den Menschen.
Unterstützen Sie die Klienten darin, ein Gefühl für ihr
inneres Selbst zu bekommen und beantworten Sie deren
Fragen - ohne für sich selbst Überlegenheit zu
beanspruchen.
Wenden Sie
ihre Professionalität mit großer Behutsamkeit an
und nur als Mittel zum dem Zweck, Freiheit zu ermöglichen
und nicht, um auf der Grundlage vorgefasster Theorien neue
Hilflosigkeit und Abhängigkeit zu schaffen.
Lehren Sie
dem psychologischen Nachwuchs,
neben dem übrigen Lehrplan, auch die wichtigste Lektion
von allen: dass jeder Mensch mit einer vollständig
intakten rechten Gehirnhälfte auf die Welt kommt und also
zeit seines Lebens ein unveräußerliches Recht auf seine
Gefühle besitzt.
Vor allem
aber
rufe ich alle diejenigen, die Psychologie oder Psychiatrie
aufgrund persönlicher Erfahrungen als Fach gewählt
haben, zuerst das eigene Trauma zu fühlen und zu heilen,
bevor Sie mit dem Wissen Ihrer linken Gehirnhälfte
Menschen gegenübertreten, die im Schmerz sind. Die
Heilung seelischen / emotionalen Schmerzes kann nicht
einzig und allein aus der Wissen der linken Gehirnhälfte
heraus erfolgen, wir alle wurden auch mit einer perfekt
funktionierenden rechten Hemisphäre geboren, als fühlende
Wesen. Dieser emotionale Leib ist es, der durch Missbrauch
und Trauma beschädigt und zerstört wird.
Sieglinde
W. Alexander
Adults
Abused as Children Worldwide
www.aaacworld.org