Artikel u. Buchausz.

Buchauszug

Artikel u. Buchausz.
 

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Sieglinde Waltraud Alexander

 

Vom Feuer in die Hölle

 

Veröffentlichung auf dieser Webseite mit freundlicher Genehmigung der Autorin

 

Meine Jugendjahre im Mädchenheim Weiher

Im Herbst 1991 fragte ich mich ängstlich, ob ich wohl die Einzige bin, die ein Kindheitstrauma erlebte. Aus Angst, dass mich niemand versteht und ich wieder beschämt, verurteilt und erniedrigt werde, habe ich 42 Jahre geschwiegen. Überwältigt von unfreiwilligen Regressionen in die Vergangenheit sah ich nur die eine Möglichkeit, meine Kindheitsgeschichte zu Papier zu bringen. Schon nach den ersten Szenen erkannte ich, dass Scham, Schande und Angst der Grund meines jahrelangen Schweigens war, was sich nun aber nicht länger maskieren lies und zu massiven Depressionen führte. Ich erkannte, dass vor allem Kindheitstrauma sich nur für eine bestimmte Zeit unterdrücken lässt. So entstand das Manuskript "Sonntagskind oder Schicksal," das die Grundlage für das anno 2000 publizierte Buch „Haunting Shadows from the Past“ war.

Die 14 Jahre meiner Kindheit waren mein privater Holocaust, durchwoben von fast täglichen Prügeln, sexuellen Misshandlungen und Vergewaltigungen, Unterdrückung, Kinderarbeit und vielen anderen Misshandlungen. Die Folgeschäden waren, dass mein Leben für 42 Jahre von einer allzeit gegenwärtigen Angst dominiert war.

Als 14-Jährige entschied ich mich, den täglichen Torturen in meinem Elternhaus ein Ende zu machen, und rannte weg. Ich kam nicht sehr weit, und die Polizei brachte mich zurück in die Hölle meines Elternhauses.

Endlich, nach 6-mal Ausreißen, wurde ich als auffällig bezeichnet und dem Jugendamt vorgeführt. Genau das war es, was ich erreichen wollte. Das Schlimmste für mich wäre, sagte ich den Beamten, dass ich wieder nach Hause muss. Um das zu verhindern gestand ich, dass ich stehlen oder sogar einen Mord begehen würde, wenn sie mich wieder nach Hause schickten. Naiv und auf der Suche nach Ruhe und Frieden stellte ich mir vor, dass es in einem Gefängnis menschlicher zugeht als in meinem Elternhaus. Endlich wurde ich erhört und ich kam in das Mädchenheim " Elisabeth" in Augsburg. Ich habe es geschafft, sagte ich mir, ich bin der Hölle von Zuhause entkommen. Doch ohne mir ein Wort zu sagen, oder meine Bedürfnisse zu beachten, veranlasste das Jugendamt ein paar Monate später eine Verlegung, und ich wurde wie ein willenloses Stück Vieh in ein katholisches Heim nach Neumarkt Wirsberg transportiert. Die kalte, unpersönliche und weltfremde katholische Atmosphäre konnte ich nicht ertragen und riss kurze Zeit später aus. Eine Weile in Deutschland als Anhalter unterwegs, von drei Lastwagenfahrer vergewaltigt und auf 40 kg abgemagert, stellte ich mich der Polizei. Das Jugendamt brachte mich dann in ein Durchgangsheim in Fürth/Bayern. Acht Tage später wurde ich dann ins Mädchenheim Weiher in Hersbruck verfrachtet. Es war mir gleichgültig, wohin ich hinkomme, - nur nicht nach Hause. Was ich aber nicht wusste, war, dass ich in eine neue Abteilung der Hölle kam, in das "heilige Feuer der Hölle".

Und nun sollte ich den Rest einer unglaublich unmenschlichen und entwürdigenden Grausamkeit kennen lernen.

Das Mädchenheim Weiher wurde von den Rummelberger Anstalten betrieben, unter der Leitung von Bruder Buchta. Unterdrückung und Beschämung war die schwarze Pädagogik im Haus der immer Betenden, derer, die sich die "Sündenlosen", die "Guten" nannten. Ich lernte schnell den Unterschied, dass hier die Gewalt unter dem Deckmantel Jesu Christi ausgeübt wurde und ich Sünderin noch wertloser war als zu Hause. Züchtigungen, wie mir erklärt wurde, waren notwendig für die Bildung eines besseren Charakters, damit man „Gottes würdig wird“.

Sobald ich die Türschwelle des alten Fachwerkhaus überschritten hatte, lernte ich, was christliche Schwarze Pädagogik ist. Allen „missratenen“ Neuzugängen wurde als erstes der Schmuck abgenommen. Lange Haare mussten zusammen nach hinten gebunden werden, damit wir nicht „wie Nutten aussahen“. Makeup war das Laster der sittlich Verwahrlosten und wurde gleich in den Müll geworfen. Die eigene Kleidung wurde in eine große Kleiderkammer gesperrt, zu der nur die Erzieherinnen Zugang hatten. Am nächsten Tag wurde ich von einem Arzt in Hersbruck nach Geschlechtskrankheiten untersucht.
Für die ersten Wochen bekam ich erst mal altmodisch verwaschene Heimkleidung zu tragen. Einmal pro Woche wurde Unterwäsche ausgehändigt. Eine Bluse wurde 14 Tage getragen, ein Rock vier Wochen, –Hosen waren nicht erlaubt. Und somit war ich in die Kette der Wertlosen eingegliedert.

Das ständige Rasseln von Schlüsseln - Türen wurden auf- und zugesperrt - erklärte ohne Worte, dass ich in einem zuchthausähnlichen Heim war.

Alles war strengstens überwacht. Selbst beim morgendlichen Waschen mit kaltem Wasser waren Erzieherinnen anwesend. Acht Mädchen standen nackt in einem kalten Waschraum und mussten alle Teile des Körpers waschen. Jede Bewegung mit dem Waschlappen wurde von lüsternen Blicken der Erzieherinnen verfolgt. Manchmal fuhr die Hand einer Erzieherin über den Rücken, die dann mit süßlicher Stimme sagte: "Du hast was vergessen."

Duschen war nur alle 14 Tage erlaubt. Nach 3 Minuten Duschen mit warmem Wasser drehte eine Erzieherin am Haupthahn das warme Wasser ab und wir mussten eine Minute lang unter dem kalten Wasser stehen. Haare durften nur alle 4 Wochen gewaschen werden. Diese Prozedur war für mich eine besondere Qual, da ich Psoriasis hatte. Schon nach kurzer Zeit war meine Kopfhaut dick verkrustet. Meine Haare klebten hinter dem Ohr an der immer nässenden Schuppenflechte. Nach einigen Wochen hatte sich die Psoriasis großflächig mit einer dicken Schicht von Schuppen über meinem ganzen Körper verteilt. An allen beweglichen Stellen, vor allem am Hintern, riss die Flechte immer auf. Das Blut trocknete an den Rissstellen und klebte die Unterwäsche an meinen Körper. Beim Ausziehen meiner Unterhose riss ich immer wieder die verkrusteten Stellen auf, die dann erneut bluteten. Ich war keine Ausnahme und musste die gleiche blutverkrustete Unterwäsche eine Woche lang tragen.

Vor dem Frühstück wurden die Schlafzimmer zuerst gekehrt, und dann auf den Knien mit einer Bürste gebohnert. Danach kam das Toiletten-Putzen. Erst nach einer strengen Kontrolle durften wir dann in den Esssaal zum Frühstück.

Von Montag bis einschließlich Samstag arbeiteten wir, entweder in der Landwirtschaft, der Wäscherei, Weberei, der Näherei oder in der Schneiderei von 8:00 bis 18:00 Uhr. Alle, einschließlich der Lehrlinge, arbeiteten ohne Bezahlung.

Nach einem Jahr durfte ich eine dreijährige Schneiderlehre beginnen. Die Lehrstelle war im zweiten Haus auf demselben Gelände, das als Neubau bezeichnet wurde. Als Schneiderinnen erhielten wir ein Taschengeld von 11 DM pro Monat, das ebenfalls von der Heimleitung verwaltet wurde. Davon mussten wir unsere Seife, Zahnpasta und Briefmarken kaufen, der Rest musste für Stoff für das Prüfungskleid am Ende der Lehre gespart werden.
Montags war immer ein langer Tag für Schneiderinnen, da alle Anproben für den Dienstagmorgen fertig sein mussten. An manchen Montagen arbeiteten wir bis 3 Uhr morgens. Jeden Dienstag fuhr die Erstmeisterin Frau Rösner zusammen zwei Lehrlingen und den in Koffern verpackten Anproben nach Nürnberg. In einem Laden in der Rosenaustrasse probierten die Kunden die geschneiderten Sachen an oder holten die fertige Kleidung ab und bezahlten.
Fräulein Heidingsfelder, die Zweitmeisterin, überwachte unter anderem auch die Freizeit der aus 14 Mädchen bestehenden Schneidergruppe. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Kontrolle der morgendlichen Körperwäsche. Bei einer morgendlichen Wäsche sah ich im Spiegel, wie sie angeekelt über meinen nackten Körper schaute. Mit einem selbstgerechten Ausdruck im Gesicht erklärte sie den 8 anwesenden Nackten, dass Gott mich für meine Missetaten und mein sündvolles Leben mit Psoriasis bestrafte. So erhielt ich ein Brandzeichen, das mich mein ganzes Leben verfolgte.

Der Heimarzt, der in Hersbruck seine Praxis hatte, verschrieb versuchsweise mehrere Behandlungen. Zu seinen Methoden gehörte u. a. Beruhigungstabletten und salzloses Essen für ein Jahr. Jeden Morgen vor der Bürotüre musste ich unter Bewachung die Tablette schlucken. Monate später, bei einem der üblichen sonntäglichen Kirchgänge, deutete Gerda, meine Freundin, auf ein totes Reh am Straßenrand. Als ich völlig gleichgültig reagierte, sagte Gerda schockiert: „Seit du die Tabletten nimmst, bist du völlig gefühlskalt.“ Ich selbst merkte die schleichende Veränderung nicht. In dem Moment wurde mir endlich klar, warum ich mich immer umnebelt fühlte, und schluckte die Tablette nicht mehr, sondern versteckte sie im Mund und spuckte sie entweder ins Klo oder ins Gras. Als dies von einer Erzieherin entdeckt wurde, erhielt ich eine Lektion, dass man mit mir undankbarem Geschöpf viel zu viel Zeit verschwende. Für meine Undankbarkeit wurde ich zu Strafarbeiten während der Freizeitbeschäftigung abkommandiert - Zimmer der Erzieher putzen oder Kartoffel schälen -, während die anderen Mädchen einen Film schauten. Die vom Arzt verschriebenen Teerbäder wurden als zusätzlicher Zeitaufwand für die Erzieher bezeichnet und somit unterlassen. Als Ersatz für die Bäder musste ich, wenn es die Zeit erlaubte, meine Psoriasis mit einer hochprozentigen Zignolin-Salbenmischung behandeln, die, wenn nicht korrekt aufgetragen, die gesunden Hautstellen verbrannte und blau-lila Flecken hinterließ. Neben der Psoriasis hatte ich nun auch noch schmerzhafte Brandblasen von der hochdosierten Zignolinmischung. Zusätzlich bekam ich Volon 80 (Kortison) vom Arzt gespritzt. Als nichts mehr half und die Psoriasis meinen ganzen Körper mit einer halben Zentimeter dicken Schuppenschicht bedeckte, wurde ich im Sommer 1967 in die Hautklinik des Nürnberger Klinikum eingewiesen.

Die Ärzte in der Hautklinik waren entsetzt über den vernachlässigten Zustand meiner Psoriasis. Noch am selben Tag wurde mir gesagt, dass das Heim den neuen Behandlungsmethoden Prof. Webers zugestimmt hat. Als Erstes wurden grundlos meine Mandeln herausgenommen mit der Erklärung, dass dies ein Teil der Weber-Theorie sei und die Mandeln die Hauptursache für die Psoriasis seien. Danach folgten die damals noch neue Bestrahlungsmethode (UV Strahlen), die an mir in Zusammenhang mit einer neuen russischen Salbe ausprobiert wurde. Nach der ersten Bestrahlung hatte ich Brandblasen vom Gesicht bis zu den Zehen und musste für eine Woche mit einem Tunnel über meinem Körper hohe Fieber aushalten. Nach acht Wochen wurde ich aus der Klinik entlassen, obwohl die Psoriasis nur zu 50 % abgeheilt war.

Zurück im Haus Weiher wurden die Anweisungen der Hautklinik zur Weiterbehandlung – 3-mal wöchentlich baden – nicht erlaubt. Frau Klose, die Leiterin erklärte, dies sei nur Wasserverschwendung.

Aber es wurde immer gebetet, morgens, mittags und abends. Jeden Sonntag durften die "Braven„ bei Hitze, Regen, Schnee und Frost 2 Kilometer nach Herbruck in die Kirche wandern. Die, die sich nicht schuldig machten, sich bedingungslos der Unterdrückung beugten und alle Hausgesetze befolgten, wurden in 4 kleine Gruppen für den Kirchgang aufgeteilt. Eine Erzieherin vorne führte die Gruppe an und eine andere bewachte das Ende, damit keiner der Zöglinge ausriss. Der Kirchgang sollte eine Belohnung sein, aber es war uns strengstens verboten, auf dem Weg oder in der Kirche mit anderen Menschen zu sprechen.

Briefe durften wir nur an Eltern und enge Verwandte schreiben und auch diese wurden von den Erziehern gelesen. Wenn der Inhalt nicht der Hausregel entsprach oder wenn wir uns über die Zustände hier beklagten, verschwand der Brief, ohne es dem Schreiber zu sagen. In diesen Jahren fragte ich mich, warum mir niemand schrieb. Als 50- Jährige erfuhr ich zum ersten Mal, dass meine Cousine Elfi mir viele Briefe geschrieben hatte, die ich aber nie erhielt.

Das Essen war miserabel, roch immer alt, abgestanden und schimmlig. Dampfkost, Mehlspeisen, viel Kartoffeln und ganz selten Fleisch. Das Frühstück war jeden Tag das gleiche: eine Scheibe altes Brot mit einer Messerspitze Marmelade und manchmal Müsli, das einen undefinierbaren Beigeschmack hatte. Der Schimmel wurde vom Brot weggeschnitten und uns serviert. Der Frühstückstisch der Erzieherinnen und Hauseltern war immer mit Wurst, Käse und Marmelade gedeckt. Auch ihr Mittag- und Abendessen war anders, viel besser und vielseitiger. Als an einem Sonntag Maden aus den Eiswaffeln krabbelten, war das Ende meiner Geduld erreicht und ich riss zusammen mit drei anderen Zöglingen aus, um mich beim Jugendamt zu beklagen. Das Jugendamt versprach sich um die Missstände zu kümmern, und ich wurde wieder nach Weiher zurück geschickt. Dort bekam ich als erstes eine Tracht Prügel von der Heimleiterin Frau Klose; meine langen Haare wurden abgeschnitten und ich musste nun die Strafkleidung tragen: blaukarierter Rock mit blaukarierter Bluse. Aber das war nicht alles.

Als von den Erziehern erkannt wurde, dass ich die Anstifterin war, die den Ausriss inszenierte, wurde mir eine besondere Lehre erteilt. Meine eigene Vorstellung zu haben, was menschlich ist, oder dass die Hausordnung gegen jede Menschlichkeit spricht, wurde mit vier Wochen Isolation bestraft. Eingesperrt in einem Dachzimmer mit einem kleinen vergitterten Fenster, mit nur einer Matratze, keine Bettwäsche, keine Zudecke, kein Kopfkissen verbrachte ich Tage, die nicht nur eine lebenslange Klaustrophobie verursachten, sondern die mir zeigten, wie nahe und dünn die Grenzlinie zur Schizophrenie ist. Tagsüber war es dampfend heiß und nachts sehr kalt. Ich bekam zwei Mal am Tag Essen und durfte morgens und abends auf die Toilette. Eine Erzieherin brachte das Essen. Wortlos sperrte sie die Türe auf, öffnete sie einen Spalt und schob mit dem Fuß das Essen und ein Glas Wasser am Boden entlang ins Zimmer und versperrte die Türe sofort wieder. Niemand durfte mit mir sprechen, niemand durfte mit mir Kontakt aufnehmen. Ich durfte weder lesen noch schreiben. In der zweiten Woche begannen Depressionen und Selbstmordgedanken. Ich merkte, wie die Isolation eine Spaltung meines Bewusstseins verursachte. Das logische Denken trat in den Hintergrund und ich flüchtete mit meinen Emotionen in eine als Ersatz dienende Fantasiewelt. Um mich vor dieser zunehmenden Spaltung und ansteigenden Depressionen zu schützen begann ich das Zimmer abzumessen. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und zählte die Schritte. Als dieses Spiel dann eine Automatisierung wurde, zählte ich die Leisten am Holzboden. In der dritten Woche war auch diese Beschäftigung nicht mehr erfüllend, und ich begann die Flecken an der Zimmerwand mit meinen Fingern und Spucke zu reinigen. Später weichte ich mit Spucke die Wand an manchen Stellen auf, um die Haarrisse in der Wand zu reparieren.
Zum Schluss konnte ich nicht mehr schlafen. Entweder schreckte ich mitten in der Nacht auf, weil ich glaubte, dass jemand im Zimmer ist, der mit mir reden wollte, oder ich konnte nicht einschlafen, ohne meinen Kopf und Oberkörper zu wiegen.
In diesen vier Wochen entwickelte ich eine überwältigende Angst vor allen Menschen. Später in der Gruppe konnte ich mich nur schwer wieder eingliedern. Es entsprach der Hausordnung, dass ich die blaukarierte Strafkleidung für weitere 8 Wochen tragen musste. Der verhöhnende Spott anderer Mitzöglinge und die Erniedrigungen, die die Strafkleidung mit sich brachte, haben mich mein ganzes Leben verfolgt.
In den fast 4 Jahren im Haus Weiher erduldete ich nicht nur die mentale und psychische Grausamkeit der Erzieherinnen und die Indoktrinierung eines religiösen Systems, ich war auch der sexuellen Gewalt anderer Zöglinge hilflos ausgesetzt. Meine Kindheit, wie auch meine Jugend, waren ein unmenschliches Trauma, das nur Hass und Wut zur Folge haben kann.

Trotz allem bestand ich meine Gesellenprüfung als Schneiderin und verließ das Mädchenheim Weiher 1968. Als psychisch verstümmeltes 19 jähriges Mädchen wurde ich ins Leben geschickt und sollte beweisen, dass ich mich als wertvolles und funktionierendes Mitglied in die Gesellschaft eingliedern konnte.

Aus Scham und Schuldgefühl hielt ich diesen endlosen und zerstörenden Schmerz der Wertlosigkeit für 42 Jahre lang geheim. Ich hätte es nicht ertragen, wenn Menschen wieder mit dem Finger auf mich gezeigt hätten. Ich wollte so gerne ‚normal“ sein, wusste aber nicht, was normal ist. Der ständige Spott, die Vorhaltungen meiner Schwiegereltern, dass ich aus einem Erziehungsheim käme und dankbar sein sollte, bewies erneut, dass ich kein Verständnis von der Gesellschaft, in der ich lebte, erwarten konnte. Die ständige Angst etwas falsch zu machen und dadurch erneuten Erniedrigungen ausgesetzt zu werden, erlaubte mir nicht eine Identität zu entwickeln. Der Schatten – „die war im Erziehungsheim“ – lauerte überall. Jede neue Stelle, die ich antrat, führte zu einer erniedrigende Bemerkung über meine Heimzeit. Einmal wurde ich von einem Chef gefragt ob sie mich dort wenigstens kuriert haben und ich heute auch wirklich ein ehrlicher Mensch sei. Ein anderer belästigte mich täglich mit sexuellen Bemerkungen. Als ich endlich den Mut fand mich zu wehren sagte er, ich solle mich nicht so anstellen, schließlich sei ich ja im Erziehungsheim gewesen, - und aus einem Erziehungsheim kämen ja nur Huren.

Im 4. April 1991 wanderte ich allein in die USA aus. Ich kannte niemanden in den USA, doch war es ein neues Land, die Fremde und das Ungewisse waren weniger bedrohend für mich als das Land, das sich meine Heimat nannte. Deutschland war für mich das Land, das Kinder zu psychischen Krüppeln macht, diese später verachtet, wenn sie Hilfe brauchen, und wieder entwürdigt, wenn sie sich nicht als lukrative Steuerzahler in die gute Gesellschaft eingliederten.

Erst als 45- Jährige verstand ich, dass es NICHT die Schuld des Kindes ist, wenn sich diese zu Außenseitern der Gesellschaft entwickeln,– sondern derer, die die Kinder dazu erziehen.

Zur psychologischen Aufarbeitung meiner Vergangenheit waren die Akten aus dem Haus Weiher notwendig. Doch alle Bemühungen waren erfolglos, - meine Akten existieren nicht mehr, weder bei den Rummelsberger Anstalten noch beim Jugendamt. Weiterhin musste ich erfahren, dass ich während der Heimzeit nicht in Hersbruck sondern im Wohnort meiner Eltern polizeilich gemeldet war.
Gleichgültig, wohin ich mich wendete, es gibt für diese vier Jahre keine Existenzbestätigung zu meiner Person. Erst im Februar 2006 fand ich die ersten zwei Zeugen und Bilder, die bestätigen, dass ich im Haus Weiher war. Meine Suche geht weiter nach weiteren 58 Mitzöglingen aus dem Haus Weiher, von denen ich Bilder habe.

Aufgrund psychiatrischer Diagnose von PTSD und anhaltender schwerer Depressionen war ich unfähig, eine Arbeitsstelle anzunehmen. So stellte ich im Jahr 2000 einen Antrag auf Frührente. Dabei entpuppten sich weitere Folgeschäden aus der Zeit im Haus Weiher. Ich musste erfahren, dass die Jahre meiner Lehrzeit nicht in der Rente eingetragen sind, da die Rummelsberger Anstalten keine Rentenbeiträge für die Lehrlinge bezahlten. Weiterhin erfuhr ich, dass in Deutschland die internationalen Trauma-Forschungsergebnisse, die die langfristigen Folgeschäden von körperlicher, seelischer und psychologischer Gewalt belegen, noch immer nicht vom Sozialgesetz anerkannt werden. Psychische Schäden sind kein Grund für Frührente oder Invalidenrente, wurde mir mitgeteilt.

Meine Frage ist heute: Wie ist es in einem demokratischen Staat möglich, dass es religiösen Dachorganisationen ermöglicht wurde, Kinder und Jugendliche zu seelischen Krüppeln zu machen, und dass sie sich mit Kinderversklavung zu einem großen Unternehmen entwickeln konnten und nicht einmal Rentenbeiträge abführen mussten.

Die „Würde des Menschen ist unantastbar,“ dieser Grundsatz hat sich aufgrund meiner Erfahrung als leere Phrase erwiesen, denn die, die die Würde schützen sollten, waren in Wirklichkeit die Handlanger der Misshandelnden.

Als ob mehr als 40 Jahre mit einer zerstörten Autonomie zu leben nicht genug ist, -nein, wir müssen jetzt als psychisch zerstörte Menschen auch noch für die Anerkennung fehlender Rentenjahre kämpfen. Es scheint das Schicksal der Kindheitsmisshandelten zu sein, dem lebendigen Trauma ihrer Kindheit und fortgesetztem Unrecht bis zu ihrem Tod zu begegnen.

Und das alles geschieht in einem sozialdemokratischen Staat, der Menschenrechte weltweit proklamiert aber keinen Aufschrei für Gerechtigkeit und keinen Aufschrei gegen die entsetzlichen Vergehen der jüngsten Vergangenheit im eigenen Land wagt.

Die deutschen Kindheitsmisshandelten sind Menschen ohne Chancen, ohne Menschenrechte.

Kommentar:
"Ich habe deine Geschichte von dem Mädchenheim Weiher gelesen". "Absolut schockierend..."
Paddy Doyle, Autor von "The God Squad"
Deutsch "Dein Wille Geschehe"
Website: http://www.paddydoyle.com/

Das Deutsche Gesetz sagt,
"Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Diese Gesetze scheinen nicht für Kinder zu gelten.
Warum?
Sind Kinder keine Menschen?

 

© 2004 Sieglinde W. Alexander

Siehe hierzu auch:

Peter Wensierski:

Schläge im Namen des Herrn
Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. 

Ein Spiegel - Buch.

Deutsche Verlags-Anstalt
Februar 2006 - gebunden
- 300 Seiten

Schläge im Namen des Herrn

ISBN: 342105892X

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