Sieglinde Waltraud Alexander
Vom
Feuer in die Hölle
Veröffentlichung auf dieser Webseite mit
freundlicher Genehmigung der Autorin
Meine
Jugendjahre im Mädchenheim Weiher
Im Herbst 1991 fragte ich mich ängstlich, ob ich wohl
die Einzige bin, die ein Kindheitstrauma erlebte. Aus Angst, dass mich
niemand versteht und ich wieder beschämt, verurteilt und erniedrigt
werde, habe ich 42 Jahre geschwiegen. Überwältigt von unfreiwilligen
Regressionen in die Vergangenheit sah ich nur die eine Möglichkeit, meine
Kindheitsgeschichte zu Papier zu bringen. Schon nach den ersten Szenen
erkannte ich, dass Scham, Schande und Angst der Grund meines jahrelangen
Schweigens war, was sich nun aber nicht länger maskieren lies und zu
massiven Depressionen führte. Ich erkannte, dass vor allem
Kindheitstrauma sich nur für eine bestimmte Zeit unterdrücken lässt. So
entstand das Manuskript "Sonntagskind oder Schicksal," das die
Grundlage für das anno 2000 publizierte Buch „Haunting Shadows from the
Past“ war.
Die 14 Jahre meiner Kindheit waren mein privater Holocaust, durchwoben von
fast täglichen Prügeln, sexuellen Misshandlungen und Vergewaltigungen,
Unterdrückung, Kinderarbeit und vielen anderen Misshandlungen. Die
Folgeschäden waren, dass mein Leben für 42 Jahre von einer allzeit
gegenwärtigen Angst dominiert war.
Als 14-Jährige entschied ich mich, den täglichen Torturen in meinem
Elternhaus ein Ende zu machen, und rannte weg. Ich kam nicht sehr weit,
und die Polizei brachte mich zurück in die Hölle meines Elternhauses.
Endlich, nach 6-mal Ausreißen, wurde ich als auffällig bezeichnet und
dem Jugendamt vorgeführt. Genau das war es, was ich erreichen wollte. Das
Schlimmste für mich wäre, sagte ich den Beamten, dass ich wieder nach
Hause muss. Um das zu verhindern gestand ich, dass ich stehlen oder sogar
einen Mord begehen würde, wenn sie mich wieder nach Hause schickten. Naiv
und auf der Suche nach Ruhe und Frieden stellte ich mir vor, dass es in
einem Gefängnis menschlicher zugeht als in meinem Elternhaus. Endlich
wurde ich erhört und ich kam in das Mädchenheim " Elisabeth"
in Augsburg. Ich habe es geschafft, sagte ich mir, ich bin der Hölle von
Zuhause entkommen. Doch ohne mir ein Wort zu sagen, oder meine Bedürfnisse
zu beachten, veranlasste das Jugendamt ein paar Monate später eine
Verlegung, und ich wurde wie ein willenloses Stück Vieh in ein
katholisches Heim nach Neumarkt Wirsberg transportiert. Die kalte, unpersönliche
und weltfremde katholische Atmosphäre konnte ich nicht ertragen und riss
kurze Zeit später aus. Eine Weile in Deutschland als Anhalter unterwegs,
von drei Lastwagenfahrer vergewaltigt und auf 40 kg abgemagert, stellte
ich mich der Polizei. Das Jugendamt brachte mich dann in ein
Durchgangsheim in Fürth/Bayern. Acht Tage später wurde ich dann ins Mädchenheim
Weiher in Hersbruck verfrachtet. Es war mir gleichgültig, wohin ich
hinkomme, - nur nicht nach Hause. Was ich aber nicht wusste, war, dass ich
in eine neue Abteilung der Hölle kam, in das "heilige Feuer der Hölle".
Und nun sollte ich den Rest einer unglaublich unmenschlichen und entwürdigenden
Grausamkeit kennen lernen.
Das Mädchenheim Weiher wurde von den Rummelberger Anstalten betrieben,
unter der Leitung von Bruder Buchta. Unterdrückung und Beschämung war
die schwarze Pädagogik im Haus der immer Betenden, derer, die sich die
"Sündenlosen", die "Guten" nannten. Ich lernte
schnell den Unterschied, dass hier die Gewalt unter dem Deckmantel Jesu
Christi ausgeübt wurde und ich Sünderin noch wertloser war als zu Hause.
Züchtigungen, wie mir erklärt wurde, waren notwendig für die Bildung
eines besseren Charakters, damit man „Gottes würdig wird“.
Sobald ich die Türschwelle des alten Fachwerkhaus überschritten hatte,
lernte ich, was christliche Schwarze Pädagogik ist. Allen
„missratenen“ Neuzugängen wurde als erstes der Schmuck abgenommen.
Lange Haare mussten zusammen nach hinten gebunden werden, damit wir nicht
„wie Nutten aussahen“. Makeup war das Laster der sittlich
Verwahrlosten und wurde gleich in den Müll geworfen. Die eigene Kleidung
wurde in eine große Kleiderkammer gesperrt, zu der nur die Erzieherinnen
Zugang hatten. Am nächsten Tag wurde ich von einem Arzt in Hersbruck nach
Geschlechtskrankheiten untersucht.
Für die ersten Wochen bekam ich erst mal altmodisch verwaschene
Heimkleidung zu tragen. Einmal pro Woche wurde Unterwäsche ausgehändigt.
Eine Bluse wurde 14 Tage getragen, ein Rock vier Wochen, –Hosen waren
nicht erlaubt. Und somit war ich in die Kette der Wertlosen eingegliedert.
Das ständige Rasseln von Schlüsseln - Türen wurden auf- und zugesperrt
- erklärte ohne Worte, dass ich in einem zuchthausähnlichen Heim war.
Alles war strengstens überwacht. Selbst beim morgendlichen Waschen mit
kaltem Wasser waren Erzieherinnen anwesend. Acht Mädchen standen nackt in
einem kalten Waschraum und mussten alle Teile des Körpers waschen. Jede
Bewegung mit dem Waschlappen wurde von lüsternen Blicken der
Erzieherinnen verfolgt. Manchmal fuhr die Hand einer Erzieherin über den
Rücken, die dann mit süßlicher Stimme sagte: "Du hast was
vergessen."
Duschen war nur alle 14 Tage erlaubt. Nach 3 Minuten Duschen mit warmem
Wasser drehte eine Erzieherin am Haupthahn das warme Wasser ab und wir
mussten eine Minute lang unter dem kalten Wasser stehen. Haare durften nur
alle 4 Wochen gewaschen werden. Diese Prozedur war für mich eine
besondere Qual, da ich Psoriasis
hatte. Schon nach kurzer Zeit war meine Kopfhaut dick verkrustet. Meine
Haare klebten hinter dem Ohr an der immer nässenden Schuppenflechte. Nach
einigen Wochen hatte sich die Psoriasis
großflächig mit einer dicken Schicht von Schuppen über meinem ganzen Körper
verteilt. An allen beweglichen Stellen, vor allem am Hintern, riss die
Flechte immer auf. Das Blut trocknete an den Rissstellen und klebte die
Unterwäsche an meinen Körper. Beim Ausziehen meiner Unterhose riss ich
immer wieder die verkrusteten Stellen auf, die dann erneut bluteten. Ich
war keine Ausnahme und musste die gleiche blutverkrustete Unterwäsche
eine Woche lang tragen.
Vor dem Frühstück wurden die Schlafzimmer zuerst gekehrt, und dann auf
den Knien mit einer Bürste gebohnert. Danach kam das Toiletten-Putzen.
Erst nach einer strengen Kontrolle durften wir dann in den Esssaal zum Frühstück.
Von Montag bis einschließlich Samstag arbeiteten wir, entweder in der
Landwirtschaft, der Wäscherei, Weberei, der Näherei oder in der
Schneiderei von 8:00 bis 18:00 Uhr. Alle, einschließlich der Lehrlinge,
arbeiteten ohne Bezahlung.
Nach einem Jahr durfte ich eine dreijährige Schneiderlehre
beginnen. Die Lehrstelle war im zweiten Haus auf demselben Gelände, das
als Neubau bezeichnet wurde. Als Schneiderinnen erhielten wir ein
Taschengeld von 11 DM pro Monat, das ebenfalls von der Heimleitung
verwaltet wurde. Davon mussten wir unsere Seife, Zahnpasta und Briefmarken
kaufen, der Rest musste für Stoff für das Prüfungskleid am Ende der
Lehre gespart werden.
Montags war immer ein langer Tag für Schneiderinnen, da alle Anproben für
den Dienstagmorgen fertig sein mussten. An manchen Montagen arbeiteten wir
bis 3 Uhr morgens. Jeden Dienstag fuhr die Erstmeisterin Frau Rösner
zusammen zwei Lehrlingen und den in Koffern verpackten Anproben nach Nürnberg.
In einem Laden in der Rosenaustrasse probierten die Kunden die
geschneiderten Sachen an oder holten die fertige Kleidung ab und
bezahlten.
Fräulein Heidingsfelder, die Zweitmeisterin, überwachte unter anderem
auch die Freizeit der aus 14 Mädchen bestehenden Schneidergruppe. Zu
ihren Aufgaben gehörte auch die Kontrolle der morgendlichen Körperwäsche.
Bei einer morgendlichen Wäsche sah ich im Spiegel, wie sie angeekelt über
meinen nackten Körper schaute. Mit einem selbstgerechten Ausdruck im
Gesicht erklärte sie den 8 anwesenden Nackten, dass Gott mich für meine
Missetaten und mein sündvolles Leben mit Psoriasis
bestrafte. So erhielt ich ein Brandzeichen, das mich mein ganzes Leben
verfolgte.
Der Heimarzt, der in Hersbruck seine Praxis hatte, verschrieb
versuchsweise mehrere Behandlungen. Zu seinen Methoden gehörte u. a.
Beruhigungstabletten und salzloses Essen für ein Jahr. Jeden Morgen vor
der Bürotüre musste ich unter Bewachung die Tablette schlucken. Monate
später, bei einem der üblichen sonntäglichen Kirchgänge, deutete
Gerda, meine Freundin, auf ein totes Reh am Straßenrand. Als ich völlig
gleichgültig reagierte, sagte Gerda schockiert: „Seit du die Tabletten
nimmst, bist du völlig gefühlskalt.“ Ich selbst merkte die
schleichende Veränderung nicht. In dem Moment wurde mir endlich klar,
warum ich mich immer umnebelt fühlte, und schluckte die Tablette nicht
mehr, sondern versteckte sie im Mund und spuckte sie entweder ins Klo oder
ins Gras. Als dies von einer Erzieherin entdeckt wurde, erhielt ich eine
Lektion, dass man mit mir undankbarem Geschöpf viel zu viel Zeit
verschwende. Für meine Undankbarkeit wurde ich zu Strafarbeiten während
der Freizeitbeschäftigung abkommandiert - Zimmer der Erzieher putzen oder
Kartoffel schälen -, während die anderen Mädchen einen Film schauten.
Die vom Arzt verschriebenen Teerbäder wurden als zusätzlicher
Zeitaufwand für die Erzieher bezeichnet und somit unterlassen. Als Ersatz
für die Bäder musste ich, wenn es die Zeit erlaubte, meine Psoriasis
mit einer hochprozentigen Zignolin-Salbenmischung behandeln, die, wenn
nicht korrekt aufgetragen, die gesunden Hautstellen verbrannte und
blau-lila Flecken hinterließ. Neben der Psoriasis
hatte ich nun auch noch schmerzhafte Brandblasen von der hochdosierten
Zignolinmischung. Zusätzlich bekam ich Volon 80 (Kortison) vom Arzt
gespritzt. Als nichts mehr half und die Psoriasis
meinen ganzen Körper mit einer halben Zentimeter dicken Schuppenschicht
bedeckte, wurde ich im Sommer 1967 in die Hautklinik des Nürnberger
Klinikum eingewiesen.
Die Ärzte in der Hautklinik waren entsetzt über den vernachlässigten
Zustand meiner Psoriasis.
Noch am selben Tag wurde mir gesagt, dass das Heim den neuen
Behandlungsmethoden Prof. Webers zugestimmt hat. Als Erstes wurden
grundlos meine Mandeln herausgenommen mit der Erklärung, dass dies ein
Teil der Weber-Theorie sei und die Mandeln die Hauptursache für die Psoriasis
seien. Danach folgten die damals noch neue Bestrahlungsmethode (UV
Strahlen), die an mir in Zusammenhang mit einer neuen russischen Salbe
ausprobiert wurde. Nach der ersten Bestrahlung hatte ich Brandblasen vom
Gesicht bis zu den Zehen und musste für eine Woche mit einem Tunnel über
meinem Körper hohe Fieber aushalten. Nach acht Wochen wurde ich aus der
Klinik entlassen, obwohl die Psoriasis
nur zu 50 % abgeheilt war.
Zurück im Haus Weiher wurden die Anweisungen der Hautklinik zur
Weiterbehandlung – 3-mal wöchentlich baden – nicht erlaubt. Frau
Klose, die Leiterin erklärte, dies sei nur Wasserverschwendung.
Aber es wurde immer gebetet, morgens, mittags und abends. Jeden Sonntag
durften die "Braven„ bei Hitze, Regen, Schnee und Frost 2 Kilometer
nach Herbruck in die Kirche wandern. Die, die sich nicht schuldig machten,
sich bedingungslos der Unterdrückung beugten und alle Hausgesetze
befolgten, wurden in 4 kleine Gruppen für den Kirchgang aufgeteilt. Eine
Erzieherin vorne führte die Gruppe an und eine andere bewachte das Ende,
damit keiner der Zöglinge ausriss. Der Kirchgang sollte eine Belohnung
sein, aber es war uns strengstens verboten, auf dem Weg oder in der Kirche
mit anderen Menschen zu sprechen.
Briefe durften wir nur an Eltern und enge Verwandte schreiben und auch
diese wurden von den Erziehern gelesen. Wenn der Inhalt nicht der
Hausregel entsprach oder wenn wir uns über die Zustände hier beklagten,
verschwand der Brief, ohne es dem Schreiber zu sagen. In diesen Jahren
fragte ich mich, warum mir niemand schrieb. Als 50- Jährige erfuhr ich
zum ersten Mal, dass meine Cousine Elfi mir viele Briefe geschrieben
hatte, die ich aber nie erhielt.
Das Essen war miserabel, roch immer alt, abgestanden und schimmlig.
Dampfkost, Mehlspeisen, viel Kartoffeln und ganz selten Fleisch. Das Frühstück
war jeden Tag das gleiche: eine Scheibe altes Brot mit einer Messerspitze
Marmelade und manchmal Müsli, das einen undefinierbaren Beigeschmack
hatte. Der Schimmel wurde vom Brot weggeschnitten und uns serviert. Der Frühstückstisch
der Erzieherinnen und Hauseltern war immer mit Wurst, Käse und Marmelade
gedeckt. Auch ihr Mittag- und Abendessen war anders, viel besser und
vielseitiger. Als an einem Sonntag Maden aus den Eiswaffeln krabbelten,
war das Ende meiner Geduld erreicht und ich riss zusammen mit drei anderen
Zöglingen aus, um mich beim Jugendamt zu beklagen. Das Jugendamt
versprach sich um die Missstände zu kümmern, und ich wurde wieder nach
Weiher zurück geschickt. Dort bekam ich als erstes eine Tracht Prügel
von der Heimleiterin Frau Klose; meine langen Haare wurden abgeschnitten
und ich musste nun die Strafkleidung tragen: blaukarierter Rock mit
blaukarierter Bluse. Aber das war nicht alles.
Als von den Erziehern erkannt wurde, dass ich die Anstifterin war, die den
Ausriss inszenierte, wurde mir eine besondere Lehre erteilt. Meine eigene
Vorstellung zu haben, was menschlich ist, oder dass die Hausordnung gegen
jede Menschlichkeit spricht, wurde mit vier Wochen Isolation bestraft.
Eingesperrt in einem Dachzimmer mit einem kleinen vergitterten Fenster,
mit nur einer Matratze, keine Bettwäsche, keine Zudecke, kein Kopfkissen
verbrachte ich Tage, die nicht nur eine lebenslange Klaustrophobie
verursachten, sondern die mir zeigten, wie nahe und dünn die Grenzlinie
zur Schizophrenie ist. Tagsüber war es dampfend heiß und nachts sehr
kalt. Ich bekam zwei Mal am Tag Essen und durfte morgens und abends auf
die Toilette. Eine Erzieherin brachte das Essen. Wortlos sperrte sie die Türe
auf, öffnete sie einen Spalt und schob mit dem Fuß das Essen und ein
Glas Wasser am Boden entlang ins Zimmer und versperrte die Türe sofort
wieder. Niemand durfte mit mir sprechen, niemand durfte mit mir Kontakt
aufnehmen. Ich durfte weder lesen noch schreiben. In der zweiten Woche
begannen Depressionen und Selbstmordgedanken. Ich merkte, wie die
Isolation eine Spaltung meines Bewusstseins verursachte. Das logische
Denken trat in den Hintergrund und ich flüchtete mit meinen Emotionen in
eine als Ersatz dienende Fantasiewelt. Um mich vor dieser zunehmenden
Spaltung und ansteigenden Depressionen zu schützen begann ich das Zimmer
abzumessen. Ich setzte einen Fuß vor den anderen und zählte die
Schritte. Als dieses Spiel dann eine Automatisierung wurde, zählte ich
die Leisten am Holzboden. In der dritten Woche war auch diese Beschäftigung
nicht mehr erfüllend, und ich begann die Flecken an der Zimmerwand mit
meinen Fingern und Spucke zu reinigen. Später weichte ich mit Spucke die
Wand an manchen Stellen auf, um die Haarrisse in der Wand zu reparieren.
Zum Schluss konnte ich nicht mehr schlafen. Entweder schreckte ich mitten
in der Nacht auf, weil ich glaubte, dass jemand im Zimmer ist, der mit mir
reden wollte, oder ich konnte nicht einschlafen, ohne meinen Kopf und
Oberkörper zu wiegen.
In diesen vier Wochen entwickelte ich eine überwältigende Angst vor
allen Menschen. Später in der Gruppe konnte ich mich nur schwer wieder
eingliedern. Es entsprach der Hausordnung, dass ich die blaukarierte
Strafkleidung für weitere 8 Wochen tragen musste. Der verhöhnende Spott
anderer Mitzöglinge und die Erniedrigungen, die die Strafkleidung mit
sich brachte, haben mich mein ganzes Leben verfolgt.
In den fast 4 Jahren im Haus Weiher erduldete ich nicht nur die mentale
und psychische Grausamkeit der Erzieherinnen und die Indoktrinierung eines
religiösen Systems, ich war auch der sexuellen Gewalt anderer Zöglinge
hilflos ausgesetzt. Meine Kindheit, wie auch meine Jugend, waren ein
unmenschliches Trauma, das nur Hass und Wut zur Folge haben kann.
Trotz allem bestand ich meine Gesellenprüfung als
Schneiderin und verließ das Mädchenheim Weiher 1968. Als psychisch verstümmeltes
19 jähriges Mädchen wurde ich ins Leben geschickt und sollte beweisen,
dass ich mich als wertvolles und funktionierendes Mitglied in die
Gesellschaft eingliedern konnte.
Aus Scham und Schuldgefühl hielt ich diesen endlosen und zerstörenden
Schmerz der Wertlosigkeit für 42 Jahre lang geheim. Ich hätte es nicht
ertragen, wenn Menschen wieder mit dem Finger auf mich gezeigt hätten.
Ich wollte so gerne ‚normal“ sein, wusste aber nicht, was normal ist.
Der ständige Spott, die Vorhaltungen meiner Schwiegereltern, dass ich aus
einem Erziehungsheim käme und dankbar sein sollte, bewies erneut, dass
ich kein Verständnis von der Gesellschaft, in der ich lebte, erwarten
konnte. Die ständige Angst etwas falsch zu machen und dadurch erneuten
Erniedrigungen ausgesetzt zu werden, erlaubte mir nicht eine Identität zu
entwickeln. Der Schatten – „die war im Erziehungsheim“ – lauerte
überall. Jede neue Stelle, die ich antrat, führte zu einer erniedrigende
Bemerkung über meine Heimzeit. Einmal wurde ich von einem Chef gefragt ob
sie mich dort wenigstens kuriert haben und ich heute auch wirklich ein
ehrlicher Mensch sei. Ein anderer belästigte mich täglich mit sexuellen
Bemerkungen. Als ich endlich den Mut fand mich zu wehren sagte er, ich
solle mich nicht so anstellen, schließlich sei ich ja im Erziehungsheim
gewesen, - und aus einem Erziehungsheim kämen ja nur Huren.
Im 4. April 1991 wanderte ich allein in die USA aus. Ich kannte niemanden
in den USA, doch war es ein neues Land, die Fremde und das Ungewisse waren
weniger bedrohend für mich als das Land, das sich meine Heimat nannte.
Deutschland war für mich das Land, das Kinder zu psychischen Krüppeln
macht, diese später verachtet, wenn sie Hilfe brauchen, und wieder entwürdigt,
wenn sie sich nicht als lukrative Steuerzahler in die gute Gesellschaft
eingliederten.
Erst als 45- Jährige verstand ich, dass es NICHT die Schuld des Kindes
ist, wenn sich diese zu Außenseitern der Gesellschaft entwickeln,–
sondern derer, die die Kinder dazu erziehen.
Zur psychologischen Aufarbeitung meiner Vergangenheit waren die Akten aus
dem Haus Weiher notwendig. Doch alle Bemühungen waren erfolglos, - meine
Akten existieren nicht mehr, weder bei den Rummelsberger Anstalten noch
beim Jugendamt. Weiterhin musste ich erfahren, dass ich während der
Heimzeit nicht in Hersbruck sondern im Wohnort meiner Eltern polizeilich
gemeldet war.
Gleichgültig, wohin ich mich wendete, es gibt für diese vier Jahre keine
Existenzbestätigung zu meiner Person. Erst im Februar 2006 fand ich die
ersten zwei Zeugen und Bilder, die bestätigen, dass ich im Haus Weiher
war. Meine Suche geht weiter nach weiteren 58 Mitzöglingen aus dem Haus
Weiher, von denen ich Bilder habe.
Aufgrund psychiatrischer Diagnose von PTSD und anhaltender schwerer
Depressionen war ich unfähig, eine Arbeitsstelle anzunehmen. So stellte
ich im Jahr 2000 einen Antrag auf Frührente. Dabei entpuppten sich
weitere Folgeschäden aus der Zeit im Haus Weiher. Ich musste erfahren,
dass die Jahre meiner Lehrzeit nicht in der Rente eingetragen sind, da die
Rummelsberger Anstalten keine Rentenbeiträge für die Lehrlinge
bezahlten. Weiterhin erfuhr ich, dass in Deutschland die internationalen
Trauma-Forschungsergebnisse, die die langfristigen Folgeschäden von körperlicher,
seelischer und psychologischer Gewalt belegen, noch immer nicht vom
Sozialgesetz anerkannt werden. Psychische Schäden sind kein Grund für Frührente
oder Invalidenrente, wurde mir mitgeteilt.
Meine Frage ist heute: Wie ist es in einem demokratischen Staat möglich,
dass es religiösen Dachorganisationen ermöglicht wurde, Kinder und
Jugendliche zu seelischen Krüppeln zu machen, und dass sie sich mit
Kinderversklavung zu einem großen Unternehmen entwickeln konnten und
nicht einmal Rentenbeiträge abführen mussten.
Die „Würde des Menschen ist unantastbar,“ dieser Grundsatz hat sich
aufgrund meiner Erfahrung als leere Phrase erwiesen, denn die, die die Würde
schützen sollten, waren in Wirklichkeit die Handlanger der
Misshandelnden.
Als ob mehr als 40 Jahre mit einer zerstörten Autonomie zu leben nicht
genug ist, -nein, wir müssen jetzt als psychisch zerstörte Menschen auch
noch für die Anerkennung fehlender Rentenjahre kämpfen. Es scheint das
Schicksal der Kindheitsmisshandelten zu sein, dem lebendigen Trauma ihrer
Kindheit und fortgesetztem Unrecht bis zu ihrem Tod zu begegnen.
Und das alles geschieht in einem sozialdemokratischen Staat, der
Menschenrechte weltweit proklamiert aber keinen Aufschrei für
Gerechtigkeit und keinen Aufschrei gegen die entsetzlichen Vergehen der jüngsten
Vergangenheit im eigenen Land wagt.
Die deutschen Kindheitsmisshandelten sind Menschen ohne Chancen, ohne
Menschenrechte.
Kommentar:
"Ich habe deine Geschichte von dem Mädchenheim Weiher gelesen".
"Absolut schockierend..."
Paddy Doyle, Autor von "The God Squad"
Deutsch "Dein Wille Geschehe"
Website:
http://www.paddydoyle.com/
Das Deutsche Gesetz sagt,
"Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Diese Gesetze scheinen nicht für Kinder zu gelten.
Warum?
Sind Kinder keine Menschen?
© 2004 Sieglinde W. Alexander
Siehe hierzu auch:
Peter Wensierski:
Schläge im Namen des Herrn
Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik.
Ein Spiegel - Buch.
Deutsche Verlags-Anstalt
Februar 2006 - gebunden
- 300 Seiten