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DAS PHÄNOMEN DER VBAC - MÜTTER

Lange Zeit galt in der Geburtsmedizin der Lehrsatz, dass eine Vaginalgeburt nach einer Kaiserschnitt-Geburt (VBAC: Vaginal birth after caesarean) zu gefährlich sei. Tatsächlich lag laut Odent zu Zeiten der klassischen Operationstechnik (langer Vertikalschnitt) das Risiko für einen lebensgefährlichen Uterus-Riss durch eine nachfolgende Vaginalgeburt bei 12 Prozent. Ab 1950 setzte sich die neue Operationstechnik durch (kleiner waagrechter Schnitt durch eine dünne Zone des Uterushalses, die als 'low segment' [niederes, schwaches Segment] bezeichnet wird), die das Risiko wesentlich verringerte. Dennoch blieben die Ärzte vorsichtig und rieten weiterhin grundsätzlich von einer Vaginalgeburt nach einer Sectio ab. So lag in den USA die VBAC-Quote 1980 bei 3,4%.

Als in den USA die Sectio-Raten anstiegen, gab es immer mehr Mütter, die während der nächsten Schwangerschaft den dringenden Wunsch äußerten, vaginal gebären zu wollen. (Bei vielen Frauen scheint der Kaiserschnitt ein traumatisches Defizit zu hinterlassen. Äußerungen von Frauen, die nach einem Kaiserschnitt erfolgreich vaginal gebaren, deuten in diese Richtung. Sie sagen, dass sie sich nach der Vaginalgeburt  wieder 'ganz', 'gestärkt', 'geheilt', 'normal', oder 'wieder als Frau' fühlen.) Das große Problem bestand nun darin, dass diese Frauen so gut wie keinen ärztlichen Geburtshelfer finden konnten, der sich auf eine VBAC-Geburt einlassen wollte, wodurch VBAC nahezu ausschließlich als "von einer Laienhebamme assistierte Hausgeburt" (Odent, 2004) ablief. (Woraus ich schließe, dass sich auch Profi-Hebammen in dieser Hinsicht wenig kooperativ zeigten.) In diesem Zusammenhang organisierte das US National Institute of Health eine Konferenz, in der man zu dem Ergebnis kam, dass VBAC eine geeignete Möglichkeit sei, die  Sectio-Raten in Grenzen zu halten. Eine Reihe von Studien belegte die relative Sicherheit von VBAC, und so kam es, dass die Quote  erfolgreicher VBAC-Geburten in den USA von 3,4% in 1980 auf 28,3% in 1996 kletterte. Sie fiel dann wieder bis auf 12,7% in 2002, nachdem das American College of Obstetricians and Gynecologists empfohlen hatte, bei BVAC-Versuchen solle grundsätzlich ein Arzt mit Überwachungsgeräten zugegen sein.

Es gibt laut Odent Studien, die belegen, dass der Versuch einer VBAC in 70-80 Prozent aller Fälle erfolgreich endet. Das Risiko eines Uterus-Risses während einer VBAC liege bei 0,5% (1 Fall bei 200 Versuchen) unter der Voraussetzung, dass keine künstliche Weheneinleitung vorgenommen wird. Nach der jüngsten Studie vervielfacht sich das Risiko um das 15,6fache, wenn die Wehen künstlich durch Prostaglandine induziert werden und um das 4,9fache, wenn die Einleitung ohne Prostaglandine vorgenommen wird. Als weitere risikoerhöhende Umstände gelten: (1) die Frau ist älter als 35; (2) dem Kaiserschnitt folgte eine fiebrige Erkrankung; (3) das Intervall zwischen den zwei Geburten beträgt weniger als 18 Monate. Das Risiko der perinatalen Säuglingssterblichkeit bei VBAC belaufe sich nach einer schottischen Studie an 15.500 Frauen auf 12,9 je 10.000 Fälle, laut Odent ein akzeptables Risiko, auch wenn es fast 11 Mal höher sei als bei einem zweiten geplanten Kaiserschnitt.

Eine dieser VBAC-Mütter ist Pam England. Nach ihrer Kaiserschnittgeburt war sie zu Odent nach Pithiviers in Frankreich gekommen, um ihn um Rat zu fragen, wie sie es anstellen müsse, um beim nächsten Mal vaginal gebären zu können. Er überlegte nur kurz und riet ihr, sich bei der nächsten Geburt ins Badezimmer einzuschließen und niemanden hineinzulassen, nicht einmal die Hebamme. Pam England war zuerst konsterniert. Mit dieser 'erschöpfenden' und 'vereinsamenden' fachmännischen Auskunft hatte sie nicht gerechnet. Aber sie vertraute ihm und befolgte seinen Rat. Und es ging gut. Wie sie in einem Brief an Odent (auszugsweise veröffentlicht in The Caesarean) schreibt, hüllte sie sich in das 'Dunkle Feminine' ein und fühlte in dieser ungestörten Atmosphäre ihren Weg durch den Prozess, anstatt sich hindurchzudenken. Ihre Erfahrung hat sie in einem Gemälde ausgedrückt, das sie bei der Geburt ihre zweiten Kindes auf allen Vieren unter der Maske eines brüllenden Löwen zeigt:

"Ich betrat mein Lucy-Gehirn, ich betrat das Göttlich-Weibliche und ließ alle Hoffnung und alle Kontrolle fahren (in dem Gemälde repräsentiert die weiße Zickzack-Linie die Ur-Lebenskraft, die  mich durchbrandete). Als ich Luc [ihr zweites Kind] hinausschob, krümmte ich meinen Rücken und 'brüllte'; ich fühlte damals, dass ich die Wildheit eines brüllenden Löwen verkörperte. Luc war Minuten später geboren. Zu Hause normal zu gebären war die Vervollständigung der 'Geburtslektion', als die ich die Geburt ansah; und ich war nie wieder dieselbe." 

[Pam England, zitiert in Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, s. 109]

"Lucy" gehört zu Australopithecus afarensis, Vorfahren des homo sapiens, und lebte vor etwa 3 Millionen Jahren in Ostafrika.

 

Quelle: Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004

 

 
     
 

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