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GEBURTSSYSTEME,
FRÜHER SCHMERZ UND SYMPTOME
Die interessante Frage lautet allgemein:
Können
neurotische Gesellschaften die Bedingungen am
Lebensanfang so gestalten, dass die Kinder der Zukunft mit weniger
frühem Schmerz bzw. Deprivation (pränatal, perinatal, postnatal) belastet werden, als es in der Vergangenheit der Fall war und
gegenwärtig zum Teil in zunehmendem Maß der Fall ist? Können neurotische
Gesellschaften auf breiter Ebene die Voraussetzungen schaffen, die zu gesünderen Erwachsenen
führen, und somit langfristig ihr Überleben sichern?
"If
we want to produce new human beings with a solid brain we need to change
the birth practices in accordance with Drs. Leboyer and Odent. We need to
take great care in prebirth and, of course, in the first months after
birth. That is when the brain is forming new synapses and dendrites; its
communication system is developing that will allow the child to be more
than competent in many spheres, physical, artistic, and intellectual. I
have seen children born to mothers who are very careful and loving in
prebirth, birth, and afterward. These children are different. They are
alert, smart physically advanced, not sick, not whiny, creative, warm, and
cuddly. Who would want more than that? They have every chance in life,
which is the reason for writing this book - to give society a chance to
create a new kind of human being. It is not so difficult at all. It is the
way to avoid later alcoholism and addiction, criminality and psychosis. It
is a way to produce humans who care about their brothers and sisters in
society." [Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York,
p. 323]
"Wenn wir neue menschliche
Geschöpfe mit einem soliden Gehirn erzeugen wollen, müssen wir die
Geburtspraktiken in Übereinstimmung mit den Drs. Leboyer und Odent ändern. Wir
müssen in der vorgeburtlichen Phase und natürlich in den ersten Monaten nach
der Geburt große Sorgfalt walten lassen. Das heißt, in einer Zeit, in der das
Gehirn neue Synapsen und Dendriten bildet; sein Kommunikationssystem entwickelt
sich, das dem Kind erlaubt, in vielen Bereichen - körperlich, künstlerisch und
intellektuell - mehr als kompetent zu sein. Ich habe Kinder gesehen, die von
Müttern geboren wurden, die vor, während und nach der Geburt sehr sorgfältig
und liebevoll waren. Diese Kinder sind anders. Sie sind rege, klug, körperlich
fortgeschritten, nicht krank, nicht weinerlich, sie sind kreativ, warmherzig und
kuschelig. Wer wollte noch mehr? Sie haben alle Chancen im Leben, und aus diesem
Grund wurde dieses Buch geschrieben - um der Gesellschaft die Chance zu geben,
eine neue Art Mensch zu schaffen. Es ist gar nicht so schwierig. Es ist eine
Methode, wie wir späteren Alkoholismus und spätere Sucht, Kriminalität und
Psychose vermeiden. Es ist eine Methode, Menschen zu schaffen, die sich um ihre
Brüder und Schwestern in der Gesellschaft kümmern."
[Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, s. 323]
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Könnte es sein, dass das, was im Allgemeinen als "Gesundheitswesen" bezeichnet wird,
in Wirklichkeit in weiten Bereichen ein gigantisches Symptomverwaltungssystem
ist, das mit
einem ständig größer werdenden Einsatz von Mensch
("Gesundheitsberufe"), Material (pharmazeutische Produkte) und Technik
(alle Arten medizinischer und biotechnischer Apparate) versucht, die
schädlichen psychischen und körperlichen Auswirkungen früher Prägungen und
früher Schmerzen unter Kontrolle zu halten? Wird dies auch in Zukunft gelingen?
Sind Schmerzverdrängung und Symptomkontrolle als Fundamente stark genug, um die
Gesellschaft der Zukunft zu tragen, oder wird es zu drastischen Einbrüchen
kommen?
In einem Interview in der "Psychologie
Heute" (Januar 2005) 16
sagt der Psychiater und Sozialhistoriker Klaus
Dörner, dass die chronisch Kranken zusammen mit den Alterskranken und
Altersverwirrten allmählich "die Mehrheit der Bevölkerung" zu
stellen drohen. Auf der anderen Seite arbeiten "4,2 Millionen
Bundesbürger direkt oder indirekt im Gesundheitswesen, der einzigen
Wirtschaftsbranche, die boomt. 4,2 Millionen, die ein ungeheures Interesse daran
haben, ihren Arbeitsplatz zu behalten." (Dörner). Ironisch überspitzt
ausgedrückt könnte die Gesellschaft der Zukunft so aussehen, dass 60 Prozent
chronisch krank sind, und die restlichen 40 Prozent auf die eine oder andere
Weise ihr Geld mit diesen Kranken verdienen. Je höher die Umsätze und Gewinne
sind, die in dieser Branche gemacht werden, je mehr Leute von der Verwaltung von
Krankheiten profitieren, umso geringer ist das Interesse an robusten, stabilen
und widerstandsfähigen Menschen. Wie Dörner in dem Interview ausführt, kann es nicht das
Anliegen der Gesundheitsindustrie sein, gesunde Individuen hervorzubringen. Kein
Wirtschaftszweig kann daran interessiert sein, sich selbst den Boden unter den
Füßen wegzuziehen. Es gehört zu den faszinierenden Eigenschaften des homo
neuroticus, aus ausnahmslos jeder Situation Profit schlagen zu wollen.
Nichts ist ihm heilig. Und so lautet die Frage oberster Priorität in einer
neurotischen Gesellschaft nicht etwa "Wie können wir gesündere
Menschen schaffen?" sondern: "Wie lassen sich Menschen, die ein
ausgedehntes Spektrum der unterschiedlichsten Symptome aufweisen, optimal vermarkten?"
Das System, das moderne Gesellschaften sich
selbst geschaffen haben, hält ihre Individuen gefangen, es kontrolliert
das Leben von Anfang an und versucht, seine hochentwickelten Techniken
routinemäßig überall einzusetzen:
"Die Konzentration von
Entbindungen in großen Kliniken ist nicht das einzige
Kennzeichen des industrialisierten Gebärens. Auffallend ist auch eine Tendenz
zur Standardisierung. 'Routineablauf' und 'Standardverfahren' sind deshalb
Schlüsselbegriffe der modernen Geburtshilfe. Viele Ärzte gehen von der
Vorstellung aus, dass neben der Kaiserschnittentbindung, für die man sich
während der Wehen entscheiden kann, das folgende Standardverfahren der
Entbindung die 'normale' Version darstellt: Die Frau erhält eine
Epiduralanästhesie und eine Oxytozin-Infusion, während die Herzfrequenz des
Babys elektronisch überwacht wird. Zu dieser Methode gehört üblicherweise
auch, dass in die Harnröhre ein Katheder gesetzt wird, um die Blase zu
entleeren. Während der letzten Kontraktionen wird eine Saugglocke (oder
Geburtszange) verwendet und ein Dammschnitt gesetzt. Sobald das Baby entbunden
ist, bekommt die Mutter routinemäßig ein Medikament, das Kontraktionen der
Gebärmutter auslöst, damit es zu einer sicheren Entbindung der Plazenta kommt.
Im Zeitalter des industrialisierten Gebärens bleibt der Mutter nichts zu tun.
Sie ist eine 'Patientin'."
[Odent,
Im Einklang mit der Natur, Patmos/Walter,
2004, s. 43/44].
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"Besamungstechnologie
und die Perinataltechnologie heißen die geburtmedizinischen Trugbilder
der Westlichen Welt am Beginn des dritten Jahrtausends. Es ging
primär um ein Geschäft mit Proband(inn)en, die spontan einer
Fortpflanzung nicht fähig sind. Jetzt gehen manche dieser Technologen
bereits dazu über, alle Frauen als gebährunfähig zu betrachten, und
schlagen vor, die Geburt generell durch die Kaiserschnittentbindung zu
ersetzen."
[Rockenschaub, Gebären ohne Aberglauben, Facultas,
Wien, 2001, s. 465]
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Es stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß die
hier geschilderten hochtechnisierten 'Standardverfahren' und Technologien in den Kliniken
tatsächlich angewandt werden. Ich gehe davon aus, dass in vielen Kliniken
seit längerem dem wachsenden allgemeinen Unbehagen über die
geburtsmedizinischen Technologien Rechnung getragen wird und ein gewisser
Bewusstseins- und Methodikwandel in Richtung einer
Geburtsatmosphäre, die die physiologischen Bedürfnisse gebärender Frauen
besser berücksichtigt, im Gange ist. Sobald es Kliniken gibt oder Geburtszentren, die vom
'Standardverfahren' abweichen, haben Eltern, die sich der Bedeutung der frühen
Lebensphasen bewusst sind, eine Alternative.
Bei Lise Eliot
6 liest man
folgendes:
"Wenn Jessica mit ihrer
Mutter spricht, wird ihr klar, wie sehr sich die Geburtspraktiken in den Jahren,
seit sie selbst geboren wurde, verändert haben. Statt sich beim ersten
Anzeichen einer Kontraktion schleunigst ins Krankenhaus zu begeben, um sich für
die gesamte Dauer der Wehen unter Narkose setzen zu lassen, plant sie mit Dave
als moralischer und physischer Unterstützung an ihrer Seite, eine aktive Rolle
bei der Geburt ihres Kindes zu spielen, in der Hoffnung auf eine Erfahrung von
der Art, wie sie dem spirituellen Staunen über ein neues Leben entspricht.
Dank einiger lang fälliger
Veränderungen sind Eltern heute in der Tat aktiver an der Geburt ihrer Kinder
beteiligt. Geburtshelfer und Entbindungspfleger nehmen Rücksicht auf die
Präferenzen der Eltern und besprechen mit ihnen die verschiedenen
Möglichkeiten.........."
[Lise Eliot, Was geht da drinnen vor?,
Berlin-Verlag, 2001, s. 160/161]
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Wer
Odent liest, weiß allerdings, dass er der Anwesenheit von vielen
"Geburtshelfern und Entbindungspflegern" und Vätern bei der Geburt
äußerst kritisch gegenübersteht. Seine
Erfahrung: Je intimer und ruhiger die Sphäre bei der Geburt, umso leichter
fällt es den Frauen, ihr Baby auf die Welt zu setzen. Er lässt durchblicken, dass er es für ideal
hält, "wenn niemand dabei ist als eine erfahrene, mütterliche und sich
im Hintergrund haltende Hebamme." Odent erzählt von dem Fall, in dem die Geburt in Anwesenheit
des Vaters überhaupt nicht vorangehen wollte. Als der Vater kurz den Raum verließ,
ging alles wie von selbst: "Sobald er aus der Tür war, begann die in den Wehen liegende
Frau laut zu schreien, erleichterte sich, und nach einer kurzen Serie starker
und unaufhaltsamer Kontraktionen der Gebärmutter (ich nenne das den
Fötus-Ejektionsreflex) war das Baby dann
da." [Odent, Im Einklang mit der Natur, Walter, 2004, s. 111]
Die Erfahrung
ist, dass die Anwesenheit vieler "vernunftorientiert agierender"
oder aufgeregter Menschen die Gebärende daran
hindert, sich auf eine tiefere Bewusstseinsebene zu begeben. Odent meint auch,
viele Männer könnten das sexuelle Interesse an
ihren Frauen verlieren, wenn sie bei der Geburt anwesend seien und zusähen, wie
der weibliche Schoß gleichsam alle seine Geheimnisse preisgibt.
Odent erklärt das Phänomen der bei der
Geburt anwesenden Väter damit, dass die Väter im Zeitalter des
industrialisierten Gebärens oft die einzigen Vertrauenspersonen der
Schwangeren waren oder noch immer sind. Man stelle sich diese Entfremdung
vor: In der gesamten Schwangerschaft hat die Frau kam eine Chance, einer
anderen Frau mit der Erfahrung einer ungestörten Geburt zu begegnen, sie
hat lediglich kurze Arzttermine und eine Reihe von Tests, und dann soll
sie in die Klinik zu Fach-Leuten, die, und in ein Umfeld, das sie kaum
kennt!
Arthur Janov setzte sich bereits vor Jahrzehnten
vehement für eine Änderung der Geburtspraktiken ein:
"Ich praktiziere nun seit
mehr als dreißig Jahren und habe jede mögliche Kombination von
geistig-seelischen Erkrankungen gesehen. Ich habe gesehen, was schlechte
Familienverhältnisse, was Waisenhäuser und Ablehnung, was Vergewaltigung und
Inzest anrichten können. Und ich bin immer noch der Überzeugung, dass Geburts-
und Vorgeburtstraumata stärker sind als beinahe jede Art von späterem Trauma.
Denn beim Geburtsvorgang wird festgelegt, was wir später aus unserem Leben
machen werden. Persönlichkeitmerkmale werden eingraviert, die Art, die Welt zu
sehen, wird eingeprägt, Einstellungen werden geformt. Was wir werden, ist in
der Geburtsmatrix schon zu sehen.......... Es ist eines der großen Paradoxa der
menschlichen Gesellschaft, dass unsere angeblich fortschrittlichsten Methoden
die primitivsten Ergebnisse hervorgebracht haben und dass wir bei den
primitivsten Völkern die fortschrittlichste (das heißt, natürlichste und
vorteilhafteste] Entbindungspraktik finden: die einfache Methode des
Niederhockens und Gebärens. Die moderne Technologie sollte nicht
natürliche Prozesse verhindern, sondern dazu verwendet werden, diese Prozesse
zu unterstützen. Die Eltern sollten bei ihrer Suche nach einem Arzt und einer
Klinik, die ihrem Kind den besten Eintritt in diese Welt gewährleisten können,
nicht eingeschüchtert werden. Sie müssen auf den bestmöglichen
Entbindungspraktiken bestehen. Sie dürfen sich angesichts herkömmlicher
Verfahren in den Kliniken, autoritärer Ärzte oder der Starrheit lang
überlieferter Praktiken nicht geschlagen geben. Sie kämpfen für das Leben
eines Menschen und haben jedes Recht, es beharrlich zu tun. Denn gleichzeitig
kämpfen sie gegen die körperlichen Krankheiten ihres Kindes, gegen die
späteren Lern- und Verhaltensprobleme, gegen die spätere Neurose und
Geisteskrankheit ihres Kindes als Erwachsener. Gegen ungeeignete
Entbindungspraktiken kämpfen, heißt für das Leben kämpfen - auf die
konstruktivste und dauerhafteste Weise."
[Janov, Frühe Prägungen, Fischer,
Frankfurt, 1984, s.400/401/402]
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Er macht hier den Fehler, dass er den Frauen
vorschreibt, was die "fortschrittlichste" und
"vorteilhafteste" Geburtspraktik sei (Niederhocken). Wenn die
Geburt jedoch ein physiologischer Vorgang ist, der auf einer tieferen
Gehirnebene abläuft, wird die beste Praktik oder Haltung immer die sein,
die eine gebärende Frau jeweils instinktiv für sich wählt. Es geht im
Grunde nicht um Geburtsmethoden oder "Entbindungspraktiken", nicht um
"Hockgeburt" oder "Wassergeburt" oder
"Liegegeburt", sondern um ein Umfeld, das Privacy (Odent,
2004), Reduzierung neokortikaler Dominanz und hemmungslosen Ausdruck
begünstigt. Janov schreibt in seinen Büchern immer wieder, dass
seine Patienten auf tieferen Bewusstseinsebenen operieren, wenn sie ihre
Wiedererlebnisse (Primals) haben.
"Wir
können sehen, wie unsere Patienten aus dem tiefen Unbewussten (dem
Primal-Koma) zurück ins volle Bewusstsein [conscious awareness] kommen.
Sie öffnen langsam ihre Augen, blinzeln ein paar Mal und sehen so aus,
als kämen sie gerade aus einer fernen Zeit. Und das tun sie tatsächlich;
sie kommen aus einer Zeit, die Jahre in ihrer eigenen und Jahrmillionen in
der phylogenetischen Geschichte zurückliegt. Sie haben sich während der
Sitzung auf tieferen Bewusstseinsebenen befunden."
[Übersetzt aus:
Janov, Why you get sick-How you get well, Dove Books, West
Hollywood, CA., 1996, s. 218]
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Odent sagt, eine Gebärende begebe sich
(im Idealfall einer von innen und außen ungestörten Geburt) auf einen
anderen Planeten. Eine Gebärende, die ihr Kind auf die Welt setzt,
und Primärpatienten, die ein eingeprägtes frühes Trauma (z. B. ihr
Geburtstrauma) "gebären", scheinen einiges miteinander gemein zu
haben. Sie alle reduzieren die neokortikale Kontrolle und vertrauen
sich physiologischen Vorgängen an, die überwiegend durch die
stammesgeschichtlich älteren Strukturen des limbischen Systems und des
Hirnstamms vermittelt werden. Bei der Gebärenden kommen die Wehen in
Gang, bei den Primärpatienten die in reverbierenden Kreisprozessen
gespeicherte Erinnerungssequenz. In beiden Fällen funktioniert es am
besten in Gegenwart einer Vertrauensperson, die sich im Hintergrund
hält, und in einem Umfeld, das Fühlen und Ausdruck begünstigt. Sowohl
der Primärtherapeut als auch die Hebamme/der Geburtshelfer können den
Prozess erheblich stören oder sogar vereiteln,
etwa, indem sie ständig Anweisungen erteilen, denn der Neokortex ist zwar
zeitweise unteraktiv, kann aber mit etwas "Nachhilfe" von außen
jederzeit wieder zur dominierenden Kontrollinstanz werden.
Die Amerikanerin Jean Liedloff
9 (Foto), die im Dschungel Venezuelas zweieinhalb Jahre bei den Yequana-Indianern lebte,
schreibt in ihrem Buch "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" [Originaltitel:
The Continuum Concept] zum Thema Geburt:
"Was das Phänomen des
Geburtstraumas bei zivilisierten Menschen betrifft, so legt das
Kontinuum-Prinzip nahe, dass die Gründe dafür in der Benutzung von
Stahlinstrumenten, hellem Licht, Gummihandschuhen, dem Geruch von Antiseptika
und Narkosemitteln, lauten Stimmen oder den Geräuschen von Geräten liegen
könnten. Bei einer Geburt ohne Trauma müssen die Erfahrungen des Babies genau
die und nur die sein, die seinen und der Mutter uralten Erwartungen entsprechen.
Viele gute, gesunde Kulturen überlassen es der Mutter, ihr Baby ohne jegliche
Hilfe zu bekommen, während andere, nicht minder gesunde, darauf bestehen, dass
ihr Hilfe zuteil wird. In jedem Fall bleibt das Baby vom Augenblick seines
Austritts aus dem Mutterleib in engem Kontakt mit dem Körper der Mutter. Wenn
es selbständig zu atmen begonnen hat und friedlich auf seiner Mutter ausruht,
nachdem es von ihr gestreichelt wurde bis es ganz ruhig ist, und wenn die
Nableschnur gänzlich aufgehört hat zu pulsieren und danach durchgeschnitten
wurde, wird das kleine Wesen an die Brust gelegt, ohne Verzögerungen
irgendwelcher Art - sei es zum Waschen, Wiegen, Untersuchen oder was auch sonst.
Genau zu diesem Zeitpunkt, sobald die Geburt vollendet ist, wenn Mutter und Baby
einander zum erstenmal als getrennte Einzelwesen begegnen, muss das folgenreiche
Ereignis der Prägung stattfinden."
[J. Liedloff, Auf der Suche nach dem
verlorenen Glück, Beck -Verlag, München, 1980, s. 80/81].
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Frederick Leboyer
(Foto) beschreibt
in seinem Buch "Geburt ohne Gewalt" die Geburt und ihre möglichen Folgen in poetischen Sätzen:
"Geburt ist
Leiden. / Nicht nur das Gebären, / auch geboren zu werden, / ist schmerzhaft. /
...........................Man sagt, man glaubt, dass das Neugeborene nichts
spürt. / Es spürt alles ! / Alles, total, ohne Filter, ohne
Unterschied, wahllos, / schutzlos. / Die Geburt ist ein Sturm, ein Orkan.
/ Das Kind kommt an wie ein Schiffbrüchiger, / erschöpft und abgekämpft, /
und wird überschwemmt / von einer Springflut der Empfindungen, / die es nicht
einordnen kann. /........................Das also ist die Geburt. / Die
Hinrichtung eines Unschuldigen. / Welch ein Elend. / Sind wir wirklich so naiv
zu meinen, / dass eine solche Katastrophe keine Spuren hinterlässt? / Dabei
findet man sie überall. / Auf der Haut, am Rücken, in den Knochen, / in den
Alpträumen, / im Wahnsinn, /, in unseren Wahnsinnstaten; Folter und Gefängnis.
/ Die Mythen, die heiligen Schriften / erzählen von nichts anderem / als von
dieser tragischen Odyssee."
[Leboyer, Geburt ohne Gewalt, Mosaik/Goldmann,
München, 1999, s. 33-47]
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Arthur Janov geht in seinem Buch "Frühe
Prägungen" (Fischer, 1984) ausführlich auf Geburten nach der
Methode Frederick Leboyers ein:
"Es gab
keine Zange und keine Drehungen, keine Narkosemittel, keinen Lärm, keine
künstlichen Eingriffe, keine Trennung von der Mutter. Dem Kind wird ein
kontinuierlicher Übergang vom Schoß zum Leib der Mutter ermöglicht.
Alles ist Liebe, Wärme, Zärtlichkeit und Berührung. [.........]
Ich habe viele
Leboyer-Kinder gesehen. Sie unterscheiden sich offensichtlich von anderen
Kindern. Sie sind klug und aufgeweckt von einem Alter von nur wenigen
Monaten an. Sie sind neugierig und lebhaft. Sie lachen laut. Sie weinen
nur selten. Sie wimmern nicht. Ihre Augen glänzen, und sie haben keine
Angst. Sie strecken ihre Arme nach Fremden aus. Ihre Gesichter drücken
Intelligenz aus, und sie haben eine große Ruhe an sich. Sie sehen gesund
aus. Sie schlafen weniger als andere Kinder, und ich glaube, sie schlafen
besser.
Tatsächlich
beweisen Untersuchungen, dass Leboyer-Kinder in vielerlei Hinsicht
gesünder sind. Bei einer Studie, die Daniele Rapaport vom Französischen
Nationalen Zentrum für Wissenschaftliche Forschung durchführte, wurde
festgestellt, dass sich Leboyer-Kinder körperlich rascher und besser
entwickelten. Sie begannen früher zu gehen, hatten weniger
Schwierigkeiten bei der Erziehung zur Reinlichkeit und begannen früher,
selbst zu essen. Sie litten nicht an Koliken wie andere Kinder. Und eine
seltsame Entdeckung: die meisten waren beidhändig. [................]
Mütter, die
ein Kind nach der herkömmlichen und eines nach der Leboyer-Methode
bekamen, berichteten von einem großen Unterschied zwischen den beiden
Kindern. Meine eigenen Beobachtungen an Kindern, die eine Leboyer-Geburt,
und solchen, die eine konventionelle Geburt hatten, zwingen mich, dem voll
und ganz zuzustimmen. Es scheint, dass Kinder spätere Traumata zweimal
so gut verkraften können, wenn sie eine gute Geburt hatten."
[Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 124/125)
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Janovs Beschreibung von Leboyer-Kindern
lässt vermuten, dass die Argumente und Methoden der Befürworter einer
"sanften Geburt" im Kern richtig sind und sich nicht so einfach
mit einem kräftigen Handstreich vom Tisch fegen lassen, wie das der
Münchner Frauenarzt Dr. Prinz in seinem in der Medical Tribune 23/92
veröffentlichten Artikel "Ein Sumpf von falschen
Vorstellungen" versucht.
Senthil Kumar: "Fetus"
Wenn ich
in die ländliche Gegend meiner Kindheit zurückkehre, über meine eigenen Eltern
und viele Zeitgenossen aus ihrer Generation nachdenke, dann staune ich, wie
"unverwüstlich" diese Menschen auch im höheren Alter zu sein
scheinen. Gewiss war ihnen
in ihrer Kindheit ein hohes Maß an Deprivation widerfahren - gerade in rauhen
Zeiten und in rauhen ländlichen Gegenden galten die Bedürfnisse von Babys und
Kindern äußerst wenig; man war im Gegenteil sehr darauf aus, sie nicht zu verwöhnen, um
sie somit an das harte Leben "anzupassen" - gewiss weisen sie psychische und physische Symptome des eingeprägten frühen Schmerzes auf,
gewiss haben sie ihre Deprivation und ihre Neurose an ihre eigenen Kinder weitergegeben.
Nichtsdestotrotz scheinen sie in jenen Zeiten des allgemeinen Mangels eine
ordentliche Zeit im Mutterleib gehabt zu haben, und sie sind bestimmt auf "primitivere", natürlichere Weise geboren worden,
in einem Geburtsvorgang, in dessen Mittelpunkt die aktiv gebärende Frau stand,
assistiert von der Hebamme, vielleicht manchmal vom Landarzt, ohne Medikamente oder
Techniken, die die moderne Medizin offensichtlich heute verbreitet routinemäßig
auf den Geburtsvorgang anwendet, und es ist vermutlich diese
"primitive" Geburt, die ihnen diese erstaunliche seelische und
körperliche Stabilität beschert hat. Paradoxerweise haben in früheren Zeiten
gerade jene ländlichen Gegenden, in denen die "Ärzte- und
Krankenhaus-Dichte" extrem niedrig war, eine Vielzahl robuster und
resistenter Individuen hervorgebracht, welche - ich übertreibe - "ihr Leben lang keinen Arzt
oder Apotheker gebraucht haben."
In der Gesellschaft der heutigen Zeit
dagegen mit ihrer Vielzahl an Fachkliniken, an Allgemeinmedizinern und
Spezialisten, mit ihrem Übermaß an pharmazeutischen Produkten, mit den
Milliardensummen, die in die medizinisch-pharmazeutische Forschung investiert
werden, mit einer nie dagewesenen Dichte an Heilpraktikern, Psychologen und Psychotherapeuten,
an Physio-, Logo-, Ergotherapeuten nebst vielen weiteren Gesundheitsberuflern sehen wir uns mit der rätselhaften Tatsache konfrontiert, dass die
Anzahl chronisch kranker Individuen von Jahr zu Jahr unaufhaltsam steigt. Immer
mehr Diabetiker, immer mehr Krebskranke, Depressive, Allergiker,
Alzheimer-Kranke, immer mehr chronisch von Schmerztötern und Psychopharmaka
Abhängige, immer mehr chronisch kranke, lernbehinderte oder stark übergewichtige Kinder und Jugendliche.
Das ist genau das, was Janov als
"Vorangaloppieren der Neurose" bezeichnet:
"Die
Neurose ist auf dem Vormarsch. Sie galoppiert in vollem Tempo voran, und
keiner scheint zu wissen, was sich abspielt oder warum. Vor allem scheint
niemand zu wissen, wie man diesen unerbittlichen Marsch in die Zerstörung
aufhalten kann. Jahr um Jahr gibt es mehr Krankheiten, Selbstmorde, mehr
Gewalt, mehr Alkoholismus und Drogensucht. Die Welt fällt an den Rändern
auseinander. Valium ist der Leim, der sie zusammenhält."
[Janov, Der
neue Urschrei, Fischer, 1993, s. 23]
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Die Gesellschaft kann und wird natürlich
versuchen, ihre Symptome unter Kontrolle zu halten. Das kann zeit- und
teilweise ganz gut gelingen. Soweit ich weiß, ist zum Beispiel die Zahl
der Suizide in Deutschland leicht rückläufig, was auf ein verbessertes
Hilfsangebot zurückzuführen ist. Bei Krebs, um ein anderes Beispiel zu
nennen, steigt die Zahl der Neuerkrankungen seit vielen Jahren
kontinuierlich an; die Zahl der durch Krebs verursachten Todesfälle pro
Jahr bleibt jedoch konstant, weil die Medizin ihre Methoden und Techniken
verfeinern kann, mittels derer sie die Krankheit besser in den Griff
bekommt. Letzten Endes bleibt der Gesellschaft nichts anderes übrig, als
zu versuchen, alle Probleme "in den Griff" zu bekommen, zumal
sich über deren Ursachen der schwere Deckmantel des kollektiven
Unbewussten ausgebreitet hat. Es herrscht in der Population ein
allgemeiner Konsens, dass es keinen Urschmerz, keine frühen Prägungen
mit Langzeitwirkungen gibt. Diesem Konsens entsprechend werden die
Erscheinungen der Erwachsenengesellschaft interpretiert: Rauchen und
Trinken, zum Beispiel, sind "schlechte Angewohnheiten",
die man sich auch wieder "abgewöhnen" kann. Krebs und andere
Leiden sind "heimtückische Krankheiten", die jeden "aus heiterem
Himmel" treffen können.
Das Tragische an neurotischen
Gesellschaften ist die Unbewusstheit ihrer Mitglieder, diese Blindheit
für Zusammenhänge zwischen prä-, peri- und postnatalen Umständen
und Phänomenen der Erwachsenenpopulation, diese Blindheit gegenüber
den sich aufschaukelndenWechselwirkungen zwischen neurotischen Individuen
und den von ihnen geschaffenen Systemen, die auch politische,
wissenschaftliche und medizinische Kreise noch immer nahezu vollständig durchdringt. Und
letztlich ist es diese allumfassende Unbewusstheit, die die Gefahr birgt,
dass dem
"Marsch in die Zerstörung" der weitere Weg bereitet
wird.
Um zur
Geburt zurückzukehren: Es sollte in Zukunft
nicht darum gehen, auf die Errungenschaften der modernen Medizin und Technik
zu
verzichten, sondern darum, diese zum Einsatz zu bringen, wenn die Situation es
erfordert. Vermutlich ist in bestimmten Fällen eine Medikation der bessere
Weg für Mutter und Kind, sicher ist in einer Reihe von Fällen der
Kaiserschnitt die einzige Möglichkeit, aber grundsätzlich sind Schwangerschaft
und Geburt natürliche, "primitive" Vorgänge, in die "man"
nur situationsbedingt, nicht aber routinemäßig eingreifen sollte. Wir
behandeln die Natur als eine "Idiotin", die "man" zum einen
ständig und in allen Lebenslagen korrigieren muss, und zum anderen nach
Herzenslust aussaugen darf, und brauchen uns deshalb nicht zu wundern, wenn wir
eines Tages die bittere Wahrheit präsentiert bekommen: dass nämlich wir die
"Idioten" sind, die sich den Boden unter den Füßen weggezogen
haben und nicht mehr in der Lage sind, ein funktionierendes Gemeinwesen zu
betreiben. Die modernen Gesellschaften mit ihren
hochentwickelten Techniken, mittels derer sie der Natur von Anfang an "auf
den Leib rücken", sind bereits auf dem besten Weg, sich selbst größten
Schaden zuzufügen. Unsere "Gesundheitssysteme" produzieren
keine psychisch und körperlich stabilen Individuen, sondern eine ständig
wachsende Zahl von Personen, die chronisch von
medizinisch-pharmazeutischen und psychotherapeutischen Dienstleistungen
abhängig sind.
Eine andere Variante menschlicher "Eingriffe" oder
"Korrekturen" ist die rasante lokale und globale Veränderung der
Erdoberfläche und Atmosphäre einschließlich der Ausbeutung aller auffindbaren
Ressourcen, eine Erscheinung, die allzu bekannt ist, als dass sie hier weiter
ausgeführt werden müsste. Hier haben wir es mit dem hochriskanten Einsatz von Lokalstrategen und 'Global Playern" zu tun.
Es scheint, dass es in diesem Spiel nur Verlierer geben kann.
Odent glaubt, es werde viele Jahrzehnte
dauern, bis sich in der Fachwelt als auch unter Laien ein besseres
Verständnis der Physiologie des Gebärens
entwickelt. Dementsprechend ist eine schnelle Änderung der
gegenwärtigen männlich dominierten Geburtshilfe in Richtung
Etablierung eines neuen geburtshilflichen Systems, das auf einer besseren Schwangerenbetreuung
durch professionelle Hebammen und Laienhebammen fundiert und
dessen Ziel ist, es mehr Frauen zu ermöglichen, unter der ('low
profile'-) Assistenz
eben dieser Vertrauenspersonen in Privacy zu gebären, natürlich eine Illusion. Es geht hier
auch um Profit, um Macht, um
gesellschaftlichen Einfluss. Das medizinische Establishment wird alles
in seiner Macht Stehende tun, um die Hebammen nicht hochkommen zu lassen,
und die einzige Chance , hier etwas zu ändern, liegt darin, dass sich
(werdende) Eltern gegenseitig helfen. Durch Informations- und Erfahrungsaustausch
bietet sich die Möglichkeit, bestimmte Orte und Geburtshelfer(innen) zu
bevorzugen und andere zu meiden, und das wird manche Ärzte und Kliniken
zu Veränderungen veranlassen.
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6 Lise Eliot, Was geht da drinnen
vor?, Berlin-Verlag, 2001
7 Frederick Leboyer, Geburt
ohne Gewalt, Taschenbuchausgabe Mosaik/Goldmann, 1999
9 Jean Liedloff, Auf der Suche
nach dem verlorenen Glück, Beck, München, 1980
16 Psychologie Heute, Januar
2005, s. 32 - 36
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