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  GEBURTSHILFE - LANGE ZEIT EINE WEIBLICHE DOMÄNE

Ein wesentlicher Schritt, um das von schwerer Havarie bedrohte Geburtsschiff  in freundlichere Gewässer umzuleiten - und hier stimmen Rockenschaub und Odent überein-, muss sein, dass die Hebammen nach und nach wieder mehr Einfluss in der Geburtshilfe gewinnen und letztlich dieses Metier wieder ganz in eigener Regie übernehmen.  Männer setzen nun mal keine Babys auf die Welt. Nichtsdestotrotz dominieren sie heute "natürlich" in der Geburtshilfe in nahezu der gesamten Zivilisation (Holland stellt eine der wenigen Ausnahmen dar). Ihr allumfassendes "natürliches" Dominanzbestreben hat auch letztlich vor der Geburtshilfe nicht Halt gemacht, einer Disziplin, der sie sich über lange Phasen enthielten. Wie Rockenschaub in seinem Buch Gebären ohne Aberglauben (Facultas, Wien, 2001) darlegt, glich das Eingreifen der männlichen "Geburtshelfer" in früheren Zeiten phasenweise eher einem "Massaker, dem der hygienische und soziale Fortschritt nach und nach ein Ende machte.". (Rockenschaub, 2001, s. 459). Eine Zeit lang drehten sie die Kinder im Mutterleib zuerst einmal  von der richtigen Lage in die verkehrte um (ein "Trick", den sie sich von einer berüchtigten Hebamme, der Justine Siegemundin abgeschaut hatten), um dann die Kinder an den Füßen zu packen und herauszuzerren. "Denn alles ging wie eine Schlacht vor sich. Und spießte sich etwas, zerstückelten sie das Kind." (Rockenschaub, 2001). Später, im 18. Jahrhundert, kam die Zange zum Einsatz. Ein Herr Osiander , Leiter der Göttinger Gebäranstalt, holte 40% der Kinder mit der Zange heraus. "Ohne Narkose und Asepsis!" (Rockenschaub, 2001). Die Verbrechen, die in jenen Zeiten an Müttern und Kindern begangen wurden, lassen sich mit Worten nicht beschreiben. Es ist ein Wunder, dass es nicht zum Aussterben ganzer Völker kam. 

In der heutigen Zeit ist das Kaiserschnitt-Skalpell das Instrument, das leider nicht nur dann zum Einsatz kommt, wenn es unbedingt sein muss, sondern in vielen Ländern geplant, systematisch und routinemäßig Verwendung findet, um der Natur zu zeigen, wie 'man' es richtig macht. In Brasilien dürfte es für Frauen zunehmend schwerer werden, dem Messer der Geburtsmediziner überhaupt noch zu entkommen. Rockenschaub bezeichnet die männliche Geburtsmedizin als "militärisch organisiertes Metier" und weiß, dass die Hebammen es schwer haben werden, sich gegen das männliche "Geburtshandwerk" durchzusetzen. Nichtsdestotrotz ist für ihn klar, dass "die Hebammenkunst durch geburtsmedizinische Entbindungstechnik nicht annähernd zu ersetzen [ist]".   

Odents revolutionäre Forderungen wurden bereits genannt. Für ihn ist die Hebamme der Zukunft eine Frau, die eine natürliche Geburt in einer Atmosphäre der Privacy am eigenen Leib erfahren hat. Er ist außerdem der Ansicht, man müsse zur Unterstützung der professionellen Hebammen die wenigen Frauen, die ungestört und ohne künstliche Eingriffe geboren haben, dazu ermutigen, eine Zeit lang als Laien-Hebamme zu arbeiten, "um den Teufelskreis des technisierten Gebärens zu durchbrechen." (Odent, 2002)

Ich glaube, die wahren Koryphäen der Geburtshilfe waren die früheren Landhebammen (vielleicht gibt es noch ein paar), die von einer Hausgeburt zur anderen unterwegs waren. Sie hatten keine Anästhesisten und Chirurgen zur Seite und mussten auf sich gestellt die richtigen Diagnosen stellen und mit jeder Situation fertig werden. Das Können und der Erfahrungsschatz dieser Hebammen trägt sie weit über die Fähigkeiten der heutigen High-Tech-Geburtsmediziner hinaus, und vor allem, es führte zu guten Langzeitergebnissen, zu einer Vielzahl körperlich und seelisch stabiler Individuen. In der Gegend, aus der ich komme, konnte man, wenn jemand ein respektables Alter erreicht hatte und schließlich starb, oft den folgenden Ausspruch hören: "Na, daran ist die Hebamme aber auch nicht mehr schuld!" Dieser Spruch ist bemerkenswert, zumal er einen Zusammenhang zwischen einem frühen Ereignis (Geburt) und der Lebensdauer des Individuums bzw. dem Auftreten von Krankheiten nahelegt, die zum vorzeitigen Ableben führen können. 

Wie Rockenschaub in seinem Buch erläutert, war die Hebammenkunst "im Altertum [....] ein hochangesehenes Metier." Die Hebamme (Obstetrix) im alten Rom genoss hohes soziales Ansehen ("Nobilitas obstetricum"; Nobilitas: Adel, Aristokratie). Nur freie Frauen durften diesen Beruf ausüben, wohingegen die medizinischen Berufe auch Sklavinnen offen stand. Auch bei den Griechen war die Hebamme, die Maia, eine hochgeschätzte Person. Gleiches gilt für die Heve-amma der Germanen. Den Beginn des männlichen "Entbindungshandwerks" datiert Rockenschaub etwa 300 Jahre zurück, als sich die vom Ärztestand geringeschätzten Hebammen mit den ebenfalls verachteten "Feldscheren" (Chirurgen, Wundärzte) solidarisierten. Für Rockenschaub der Anfang vom Ende: "Mit der Einmischung der Wundärzte in die Geburt vor gut 300 Jahren verkam die Hebammenkunst zum Entbindungshandwerk.. Dieses besteht bis heute in nichts anderem, als die Feten durch die Scheide oder eine Schnittöffnung des Bauches (Kaiserschnitt) mit wechselndem Geschick aus dem Mutterleib herauszuziehen." (Rockenschaub, 2001, s. 459) Rockenschaub fordert die Gesellschaft der Gegenwart auf, die 'Nobilitas obstetricum' wiederherzustellen:

"Wem der Fortschritt der Geburtshilfe ein Anliegen ist, wird sich auf die soziale Kraft der Hebamme besinnen und für diese eine Ausbildung und ein Berufsprogramm modernen Stils ins Auge fassen - um die Frau "in anderen Umständen" in erster Linie wieder in ihre Hand zu geben. Werden dafür die Hebammen zu einer entsprechenden Organisationsform finden können?" [Rockenschaub, Gebären ohne Aberglauben, Facultas, Wien, 2001, s. 66/67]

 

Wenn Frauen unter sich sind, dann sind die Chancen wahrscheinlich größer, dass sich viele Gebärende "auf einen anderen Planeten" begeben können - auf eine andere Bewusstseinsebene, die von Instinkten dominiert wird (vorausgesetzt, die Hebamme versteht etwas von Geburtsphysiologie und ist keine eifrige "Geburtsmanagerin") . Ein Geburtshaus stelle ich mir im Idealfall als eine Insel in dieser überkontrollierten Gesellschaft vor, auf der die allgegenwärtige Herrschaft des Neokortex situationsbedingt außer Kraft gesetzt ist. Kurz gesagt als einen Ort, der natürliche, instinktive Reaktionen auf ein natürliches Ereignis wie die Geburt zulässt, und der es prinzipiell gestattet, dass die Geburt von Anfang bis Ende ohne künstliche Eingriffe abläuft.

Letzten Endes wäre es Aufgabe der gesamten Gesellschaft, eine Geburtsatmosphäre zu schaffen, die der Physiologie des Gebärens entspricht. Aber einer hochneurotischen Gesellschaft, in der männliches Macht- und Profitstreben in nahezu allen Bereichen dominiert, in der neokortikale Kontrolle als höchstes Gut gilt,  in der es  keine Institutionen und Orte gibt, die Gefühle und Instinkte zulassen würden, in der die Hauptbeschäftigung so vieler Leute  darin besteht, auf irgendeine Weise den nicht erfüllten Bedürfnissen ihrer eigenen Kindheit hinterherzurennen, und in der so wenig Leute in der Lage sind, in Zusammenhängen zu denken, die Ereignisse und Umstände des Lebensanfangs mit den psychophysischen Merkmalen einer Erwachsenenpopulation zu verbinden, wird es sehr schwer fallen, den Bedürfnissen von Föten und Babys gerecht zu werden. 

Wenn man heute öffentliche Diskussionen in den Medien verfolgt, dann scheint es, sofern das Wohl der Kinder überhaupt jemals zur Debatte steht, immer nur darum zu gehen, wie sich deren intellektuelle Leistungen verbessern lassen.  Letztlich werden die Erfahrungen der  frühen Lebensphasen auch auf die spätere intellektuelle Leistungsfähigkeit erheblichen Einfluss haben. Ein Kind, das sich in diesen frühen Lebensphasen viel Schmerz und Defizite (an Wehenstimulation, an Liebeshormonen, an Nährstoffen, Sauerstoff, Körperkontakt, emotionaler Zuwendung) "eingehandelt" hat, wird vielleicht unter Aufmerksamkeitsstörungen oder Hyperaktivität leiden und größte Probleme haben, nicht unter das intellektuelle Niveau anderer, weniger belasteter Kinder zu fallen. Es ist erstaunlich, welche Schwierigkeiten  diese Gesellschaft , die so enormen Wert auf den neokortikalen Intellekt legt,  im Wirtschafts- und Arbeitsleben, im Gesundheitswesen, in der Kindererziehung hat. Diese Gesellschaft scheint in vielerlei Hinsicht so von kleinkariertem, kurzsichtigem Egoismus und jämmerlicher Gier durchdrungen, dass sie zwangsläufig von Jahr zu Jahr mehr Probleme bekommen muss. Es scheint, dass für intelligentes Verhalten wesentlich mehr erforderlich ist als nur ein hochentwickelter Intellekt.

 

 

 
     
 

Quellen: Rockenschaub, Gebären ohne Aberglauben, Facultas, Wien, 2001,

            Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004;

 

 

 

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