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ODENTS
REVOLUTION UND SEINE REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE GEGENWART UND UNMITTELBARE
ZUKUNFT
A) Die Reformvorschläge
Vorauszuschicken ist, dass die aktuelle deutsche
Geburtskultur eine nahezu reine Klinik-Kultur ist. 98 Prozent
aller Geburten finden in Kliniken statt. Vermutlich variieren die
Bedingungen, die Schwangere für die Geburt vorfinden. Es lohnt sich für
werdende Eltern, hier eine kritische Haltung einzunehmen.
Odent warnt Geburtmediziner und Kliniken davor, die Anzahl
der Sectios "mit Gewalt" reduzieren zu wollen. Es gebe viele
Berichte, die besagen, dass Geburtshelfer "alles" versuchten,
einen Kaiserschnitt zu verhindern, künstliches Oxytozin,
Epiduralanästhesie, und letztlich endete die Geburt mit einem
Zangeneingriff inklusive Dammschnitt oder doch mit einem
Not-Kaiserschnitt, wenn auch der Versuch mit der Zange vergeblich war. Die
Zange, so sagt er, gehört ins Museum. Nach einer britischen Studie ist
der Einsatz der Zange nach langen schweren Wehen das gefährlichste
Szenario für schwere Verletzungen des weiblichen Dammes einschließlich
Läsionen des analen Schließmuskels. Das Risiko perinealer Verletzungen
einschließlich dem Risiko urinaler oder analer Inkontinenz bei Geburten
ist ein Thema, das man nicht verschweigen darf. Odent bezieht sich unter
anderem auf eine norwegischen
Studie, die auf einer Umfrage unter 15.000 Frauen basiert. Nach dieser
Studie beträgt das
Risiko urinaler Inkontinenz unter Stress nach Vaginalgeburten
12,2%, nach einem Kaiserschnitt 6,9%, bei kinderlosen Frauen 4,7%. Nach
Odents Ansicht ließen sich solche Risiken minimieren, wenn auf die
physiologischen Bedürfnisse gebärender Frauen mehr Rücksicht genommen
würde und eine Atmosphäre geschaffen würde, die den
"Fötus-Auswurf-Reflex" begünstigt.
Er schlägt den Kliniken für die Gegenwart und
unmittelbare Zukunft eine zweigeteilte Strategie vor:
Der Geburts-Pool-Test
Die Gebärende soll in ein Geburts-Wasserbecken gehen, dessen
Temperatur exakt 37° beträgt, keinesfalls darüber, aber nicht bevor
sich die Cervix der Gebärmutter auf 5cm erweitert hat. Odent sieht
es sogar als neuen Aspekt der Hebammenkunst an, die Frau in den Wehen
davon abzuhalten, schon eher ins Wasserbecken zu gehen. Laut Odent tritt
im Wasser unverzüglich Schmerzerleichterung ein, und die
Stresshormon-Spiegel sinken, während gleichzeitig die Oxytozinwerte
kurzfristig ansteigen, was kurzfristig zu effektiveren Kontraktionen
und zu einem deutlichen Fortschreiten der Cervix-Dilatation führt. Kommt
es innerhalb von ein oder zwei Stunden nach dem Eintritt ins Wasserbecken
zu einer solchen deutlich erkennbaren Erweiterung, kann die Frau vaginal
gebären. Sie soll sich aber nicht von vorneherein auf eine
Wassergeburt festlegen oder festgelegt werden, denn das könnte laut Odent
zu übermäßig langen zweiten und dritten Wehenphasen führen, da
nach ein oder zwei Stunden im warmen Wasser ein Feedback-Mechanismus in
Kraft tritt, der die Kontraktionen abschwächt.
Schreitet jedoch die Erweiterung der Cervix trotz des
Eintauchens ins warme Wasser und trotz einer ruhigen, den Neokortex nicht
stimulierenden Atmosphäre (kein helles Licht, keine Kamera!) nicht erkennbar fort, dann kann die Frau nach Odents Erfahrung
NICHT vaginal gebären.
In diesen Fällen ist laut Odent ein Kaiserschnitt
innerhalb der Wehen die beste Lösung. Wird das negative Resultat des
Geburtspool-Tests ignoriert, dann droht nach seinen Angaben ein äußerst ungünstiges
Szenario: Lange und schwere Wehen, Medikation, Zange oder Vakuum und
letztlich oft doch der Not-Kaiserschnitt. Odent erzählt die
Geschichte einer Laien-Hebamme (Doula), die den Pool-Test kannte, und die,
nachdem sie sah, dass bei der von ihr betreuten Gebärenden mehr als eine
Stunde nach dem Eintauchen ins Wasser kein Fortschreiten der
Dilatation feststellbar war, darauf beharrte, dass die Frau nicht vaginal
gebären könne. Tatsächlich diagnostizierte der herbeigerufene Oberarzt
eine Stirn-Präsentation ('brow presentation') des kindlichen Kopfes, die eine Vaginalgeburt
unmöglich macht.
Odent ist der Überzeugung, dass der Geburtspool mit
seinen positiven Wirkungen auf Hormonausschüttung und Kontraktionsstärke
und mit seinem schmerzerleichternden Effekt durchaus mit der
Epiduralanästhesie und mit synthetischem Oxytozin konkurrieren kann. Er
sieht es als neuen Aspekt der Hebammenkunst, den Frauen zu helfen,
geduldig zu sein und das Wasserbecken zum richtigen Zeitpunkt zu betreten.
Für ihn ist es eine Methode, die Anzahl der Frauen zu erhöhen, die
während des Geburtsprozesses Hormone der Liebe freisetzen.
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B) Die Revolution
Ich muss vorausschicken, dass ich das ungute Gefühl nicht
loswerde, mich "zwischen alle Stühle" zu setzen und mir den
geballten Unmut von Hebammen und Geburtsmedizinern zuzuziehen, wenn ich
hier Michel Odents revolutionäre Thesen an meine Webseite nagle. Aber
seine Forderungen ergeben für mich einen kompletten Sinn. Ich glaube
nicht, dass er sich "wichtig machen" will. Er gehört nach
meiner Überzeugung zu den wenigen Persönlichkeiten der Gegenwart, denen
man "abkaufen" kann, dass das langfristige Wohlergehen der
Gesellschaft ihr Anliegen ist.
Für Odent ist die langfristige Strategie klar: Möglichst
viele Frauen sollen vaginal gebären. Bei einer ungestörten
Vaginalgeburt in einem Umfeld, das auf die physiologischen Bedürfnisse
gebärender Frauen Rücksicht nimmt, sind die Chancen am besten, dass es
zu einem "ungestörten Fließen von Liebeshormonen" kommt.
Aber dazu müssten sich viel mehr Geburtshelfer im Klaren sein, dass die
Geburt ein physiologischer Vorgang ist, der auf einer tieferen
Bewusstseinsebene abläuft, dass jede Stimulierung des Neokortex störend
wirkt, und dass der Prozess am besten in Zurückgezogenheit funktioniert
unter der Sicherheit gewährenden Gegenwart einer mütterlichen Hebamme,
die sich im Hintergrund zu halten weiß. Die Kernpunkte der Odentschen
Revolution sind folgende:
Punkt 1: Die Anzahl der Geburtsmediziner muss drastisch
reduziert werden: "Echte Geburtsmediziner sollten nicht die
Zeit haben, jede Geburt zu kontrollieren. Sie sollten nur auf Anforderung
in Erscheinung treten." (Odent, 2004)
Punkt 2: Die Anzahl der Hebammen muss sich entsprechend
erhöhen.
Punkt 3: Die Zulassungskriterien für die
Hebammenschulen müssen neu festgelegt werden: "Die
Voraussetzung zur Zulassung an einer Hebammenschule sollte sein, dass eine
Frau Mutter ist mit der persönlichen Erfahrung einer ungestörten Geburt
ohne Medikation." Hier ist der nächste heftige
Widerstand vorprogrammiert. Odent sagt: Wir alle "kennen
wundervolle Hebammen, die keine Mütter sind." Aber: Er
will eine Garantie anbieten, für die diese Selektion unverzichtbar
ist. Er sagt: "Ich garantiere euch persönlich, dass an
dem Tag, an dem alle Hebammen Mütter mit der Erfahrung einer aktiven
Geburt ohne Intervention oder Medikation sind, die gegenwärtigen
Kaiserschnitt- Raten der Geschichte angehören werden." (Odent,
2004)
Punkt 4: In einer unvermeidlichen Übergangsphase ist
die Unterstützung durch Laienhebammen (Doulas), für die genannten
Kriterien gelten, unverzichtbar. In vielen Ländern ist es im
Zeitalter des industrialisierten Gebärens unglaublich schwierig geworden,
überhaupt noch Frauen mit der Erfahrung einer ungestörten, autonomen
Geburt zu finden. Alle diese Frauen müssen systematisch gesucht und
ermutigt werden, eine Zeit lang als Laienhebamme zu arbeiten. Nicht alle
werden dazu bereit sein oder charakterlich-psychisch für diese Aufgabe
geeignet sein, aber es wird reichen, um positive Effekte zu
erzielen: "Wenn die Doula die Mutterfigur ist, auf die sich eine
junge Frau in der gesamten Phase um die Geburt verlassen kann, wird das
Doula-Phänomen zu einer effektiven Möglichkeit werden, die
Wiederentdeckung echter Hebammen-Geburtshilfe zu beschleunigen." (Odent
2004)
Punkt 5: Die Zulassung von Ärzten, die sich in
Geburtsmedizin spezialisieren wollen, muss durch enge Kriterien
eingeschränkt werden. Zulassungsvoraussetzung sollte sein, dass ein
Mediziner/eine Medizinerin "Mutter mit der persönlichen
Erfahrung einer ungestörten Vaginalgeburt ist." "Gute
Statistiken, die mit Kaiserschnitt-Raten von unter 10 Prozent einhergehen,
sind nicht utopisch, wenn wir klar genug im Kopf sind, die 'political correctness'
zu zerschmettern." Hier ist der heftigste aller
Widerstände vorprogrammiert.
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Wir sehen an den Ländern, in denen
die Hebammen nahezu völlig verschwunden sind, wohin es führt, wenn sich
männliche Technologie ungehindert entfalten kann: In die Höhe
schnellende (Plan-)Sectio-Raten oder, abstrakter ausgedrückt, eine neue, nie
dagewesene Dimension der Deprivation, deren Folgen langfristig gesehen
verheerend sein können; ein "breakdown
scenario", wie Odent es nennt. Er hält eine Wende zum Positiven
durchaus für möglich, ......"wenn die lebenswichtige
Dringlichkeit, die Geburt zu ändern, auch außerhalb spezialisierter
Kreise erkannt wird." (Odent, 2004)
Wenn das bestehende System der männlich dominierten
Geburtshilfe weiterhin unangetastet bleibt, dann werden wir uns alle die
bange Frage stellen müssen, mit der Odent sein Buch abschließt:
"KANN DIE MENSCHHEIT DEN SICHEREN KAISERSCHNITT
ÜBERLEBEN?"
Quelle: Odent, The Caesarean, Free
Association Books, London, 2004 |