Trotz
ihres populären Erfolges ist die Primärtheorie als geistige Schule in
den Randbereichen des psychologischen Establishments verblieben. Sie
wird allgemein missachtet von den psychologischen Fakultäten der
meisten Universitäten, wo die Humanisten und Behavioristen starke
Kontrolle ausüben. Und wenn sie von der akademischen Welt nicht
ignoriert wird, so wird die Theorie doch als unwissenschaftliche
Spekulation in Verruf gebracht und oft als Populärpsychologie mit "est
of Africa training" oder Formen der Meditation in eine
Kategorie gestellt. Im Zuge dieser Bemühungen, die Theorie zurückzuweisen,
ist Dr. Janov persönlichen Angriffen ausgesetzt, die oft einer
Verleumdung nahe kommen.
Ein
Professor der psychologischen Fakultät der California State
University, Los Angeles, erzählte einmal einer Gruppe seiner
Studenten, es gäbe keinen wissenschaftlichen Beweis, der die Primärtheorie
unterstützen würde, und Dr. Janov sei als Student durch seine
Methodik-Kurse gefallen. Natürlich ist keine der Behauptungen richtig.
Aber es ist schwierig, dem Eindruck entgegenzuwirken, den dieser
Professor hat und den er geltend macht, weil die psychologischen
Fachjournale Primärthemen selten Raum widmen , wenn sie es überhaupt
tun, und
weder Dr. Janov noch Dr. Holden jemals einen Artikel über die Theorie
der Primärtherapie in einem dieser Journale veröffentlicht haben. Kurz
gesagt, umschreiben die Anhänger der Primärtheorie eine wahrhaftige
'Untergrundbe- wegung, die der psychologischen Welt zum Trotze existiert.
Dennoch: Dies ist keine Klage — es ist die Feststellung einer
Tatsache.
Ziel
dieses Essays ist, zu zeigen, dass, wenn Primärtheorie wirklich
revolutionär ist, ihr Status in der Entwicklung der Psychologie als
Wissenschaft kein anderer sein könnte als der, welcher er ist. Und es wird klar
werden, dass die Leidenschaft, mit der die Theorie von anderen
Wissenschaftlern attackiert worden ist, tatsächlich Bestandteil eines
normalen Prozesses ist, der die historische Entwicklung in jeder
Wissenschaft regiert.
Das
Modell dieses Prozesses, das ich gebrauche, ist jenes, welches Thomas
S. Kuhn in seinem Buch "Die Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen" entwickelt hatte, veröffentlicht 1962 als Teil
der Studienreihe, die als "Internationale Enzyklopädie der
Vereinigten Wissenschaften" bekannt ist.
Kuhns
ursprüngliches Interesse an der Natur der Wissenschaft und deren
historischem Prozess kam am Ende seiner akademischen Studien in
theoretischer Physik, als er in einen experimentellen College-Kurs
wechselte, der die physikalische Wissenschaft für Nicht-Wissenschaftler
behandelte. "Zu meiner vollständigen Überraschung", schreibt
er im Vorwort seines Werks, "untergrub die Tatsache, veralteter
wissenschaftlicher Theorie und Praxis ausgesetzt zu sein, radikal einige
meiner grundlegenden Konzeptionen über die Natur der Wissenschaft und die
Gründe für ihren besonderen Erfolg."
Kuhn
gab dann sein Physikstudium auf und wendete als Junior Fellow der
Gesellschaft der Fellows der Havard Universität seine
Aufmerksamkeit der Geschichte und Wissenschaft zu. Seine Gedanken über
das Thema entwickelten sich über ein Jahrzehnt und wurden schließlich
formalisiert, nachdem er ein Jahr am Zentrum für fortgeschrittene
Studien in den Verhaltenswissenschaften verbracht hatte. In der
Auseinandersetzung mit dieser entscheidenden Erfahrung schreibt Kuhn:
"Ein
Jahr in einer Gemeinschaft zu verbringen, die sich vorwiegend aus
Sozialwissenschaftlern zusammensetzte, konfrontierte mich mit
unvorhergesehenen Problemen hinsichtlich der Unterschiede zwischen
solchen Gemeinschaften und jenen von Naturwissenschaftlern, unter
denen ich ausgebildet worden war. Besonders betroffen war ich von
Anzahl und Ausmaß der offenen Meinungsverschiedenheiten unter den
Sozialwissenschaftlern über die Natur legitimer wissenschaftlicher
Probleme und Methoden."
Eine
offensichtliche Kritik, die an dem von mir unternommenen Projekt erhoben
werden kann, ist mein totales Vertrauen in Kuhns Modell. Wenn man
die Argumente akzeptieren soll, die ich vorbringe, muss man Kuhns Modell
als akkurate Beschreibung wissenschaftlicher Veränderung akzeptieren,
obwohl es eine ziemlich revolutionäre Ansicht von Wissenschaft im
Wettstreit mit anderen widersprechenden Ansichten darstellt, und obgleich
es seine eigene Kontroversität unter Wissenschaftshistorikern
geschaffen hat. Nichtsdestotrotz, es ist eine Ansicht, die wachsende
Akzeptanz erlangt hat, und die nun schon beinahe Standard-Vorlesung in
sozialwissenschaftlichen Seminaren auf Universitätsniveau ist.
Für
eine Person, die die primärtheoretische Formulierung akzeptiert, ist
Kuhns Analyse besonders ansprechend, weil sie wissenschaftliche Veränderung
als dialektischen Prozess beschreibt. Die Natur dieses Prozesses wird
nachfolgend klar werden, und wir werden in der Lage sein zu verstehen,
wie zum Beispiel Primärtheorie von Freudscher Theorie hinsichtlich
ihrer Existenz abhängig sein kann, während sie gleichzeitig die Zurückweisung
Freudscher Theorie für ihre Anerkennung erfordert.
Kuhn
führte zwei Fundamentalkonzepte ein, die zu Beginn definiert werden müssen.
Zum Ersten wird "normale Wissenschaft" als Stufe
wissenschaftlicher Entwicklung definiert, auf der die ganze Forschung
solide auf einer oder mehreren frühen Errungenschaften basiert. Diese
Errungenschaften müssen von der wissenschaftlichen Gemeinde universell
als Eckpfeiler für die weitere Handlungsweise im Fachgebiet anerkannt
sein.
Beispiele
für dieses Arten von Errungenschaften sind die von Aristoteles in Physika
beschriebenen, von Ptolemäus in Almagest, von Newton in Principa
und Optics, von Franklin in Elektrizität und von Lavoisier
in Chemie. Diese Werke, und andere wie sie, haben eine Zeit lang
dazu gedient, die legitimen Probleme und Methoden eines Forschungsfeldes
für nachfolgende Generationen zu definieren. Sie waren dazu aus zwei Gründen
in der Lage, sagt Kuhn: "Ihre Errungenschaft war beispiellos genug,
um eine bleibende Gruppe von Anhängern aus konkurrierenden Formen
wissenschaftlicher Aktivität ab- und anzuziehen. Gleichzeitig war sie
aussichtsreich genug, um alle Arten von Problemen der neu definierten
Gruppe von Praktikern zur Lösung zu überlassen." (Kuhn, S.10).
Kuhn bezieht sich auf all diese Errungenschaften als
"Paradigmen", das zweite grundlegende Konzept in seinem Werk.
Normale Wissenschaft kann nur von Wissenschaftlern ausgeführt werden,
die unter gemeinsamen Paradigmen arbeiten und so an die gleichen Regeln
und Standards für wissenschaftliche Praxis gebunden sind.
Nachdem
wir diese zwei Begriffe eingeführt haben, können wir fragen, wie
wissenschaftliche Aktivität in einem Fachgebiet vor dem Erscheinen
ihres ersten Paradigmas aussieht, das heißt, bevor der Zustand normaler
Wissenschaft möglich ist. Mit Beispielen aus den Naturwissenschaften
zeigt Kuhn, dass die Präparadigma-Phase jeder Wissenschaft von
fundamentalen Unstimmigkeiten unter ihren Praktikern gekennzeichnet ist.
Im Studium der Optik vor Newton existierten zum Beispiel unversöhnliche
Differenzen unter Gruppen von Wissenschaftlern, von denen jede ihre
eigene Ansicht über die Natur des Lichts hatte. Eine Gruppe dachte,
Licht setze sich zusammen aus Partikeln, die von materiellen Körpern
ausströmen. Eine andere verstand es als Modifizierung des Mediums, das
zwischen dem Körper und dem Auge lag, und eine weitere fasste Licht als
eine Interaktion des Mediums mit einer Ausstrahlung aus dem Auge auf.
"Zu verschiedenen Zeiten", schreibt Kuhn, "lieferten all
diese Schulen bedeutsame Beiträge zur Gesamtheit der Konzepte, Phänomene
und Techniken, aus denen Newton das erste beinahe einheitlich
akzeptierte Paradigma für physikalische Optik bezog." (ibid.,
S.13)
Kuhn
behauptet, dass sich diese Situation in jeder Wissenschaft wiederholt,
indem er bemerkt, dass "fundamentale Meinungsverschiedenheiten
das Studium der Bewegung vor Aristoteles und der Statik vor Archimedes,
das Studium der Wärme vor Black, der Chemie vor Boyle und Boerhaave und
der historischen Geologie vor Hutton charakterisierten." (ibid.,
S.15)
Es
sollte als völlig unbestritten gelten, wenn ich Kuhns Analyse
erweitere, um das Studium der Psychologie vor Freud mit einzubeziehen.
Zu keiner Zeit vor der Artikulierung von Freuds Theorien gab es jemals
eine einzige universell akzeptierte Ansicht psychischer Krankheit.
Stattdessen stritten sich mehrere Schulen, einige wissenschaftlicher als
andere, über Grundlagen. Eine fasste psychische Krankheit als
"Ungleichgewicht der Körperflüssigkeiten " auf, sodass
Depression als Zustand übermäßiger Galle verstanden wurde. Eine
andere fasste sie als das Ergebnis verschobener Organe auf, indem sie
Hysterie als wandernden Uterus erklärte. Und es gab die theologischen
Erklärungen (ziemlich attraktiv in der Präparadigma-Phase jeder
Wissenschaft), dass irrationales Verhalten das Ergebnis dämonischer
Besessenheit sei. Sogar noch zum Ende des letzten Jahrhunderts erklärte
Benjamin Rush, der als Begründer der amerikanischen Psychiatrie bekannt
ist, Wahnsinn als Krankheit von Blutgefäßen im Gehirn und plazierte
demzufolge seine Patienten in einen schnell drehenden Stuhl als
Therapie, die dazu bestimmt war, der Stauung jener Gefäße entgegen zu
wirken.2
2
Alle Beispiele aus der Geschichte der Psychatrie sind entnommen aus
E. Fuller Torrey, M.D., Der Tod der Psychiatrie,
Penguin Books, New York, 1975
Obwohl
Freud sicherlich seine Vorgänger hatte (erwähnenswert sind Breuer,
Pierre Janet und Jean Martin Charcot), war es seine Theorie, die als
allgemein akzeptiertes Paradigma im Fachgebiet triumphierte. Man könnte
in der Tat sagen, dass Freuds Leistung die Etablierung der Psychologie
als Wissenschaft war. Freuds Werk hatte dieselben starken Auswirkungen
auf seinen Fachbereich, die alle Werke von gleichem Format auf andere
Wissenschaften hatten. Zuerst verschwanden nach und nach die alten
Schulen, und die wissenschaftliche Gemeinde war unter dem Freudschen
Paradigma vereint. Bald veröffentlichte man Fachjournale und gründete
Fachgesellschaften, während in den Universitäten spezielle Lehrpläne
eingeführt wurden. Schließlich bedeutete die vom Freudschen Paradigma
vorgeschriebene strengere Definition der wissenschaftlichen Gruppe, dass
jeder Wissenschaftler das Fachgebiet nicht mehr von neuem aus seinen
Fundamenten aufbauen musste, wie es in der Prä-Paradigmaphase der
Fall gewesen war. Bald wurden erste Prinzipien für selbstverständlich
genommen, und die wissenschaftliche Gemeinde begann, auf der Basis
eines gemeinsam vertretenen Kerns von Überzeugungen zu funktionieren.
Somit war das Chaos der Präparadigma-Phase (in der alle Fakten gleich
relevant schienen und das Sammeln von Tatsachen eine eher zufällige Tätigkeit
war) mehr oder weniger aufgehoben. Wie Newton, Aristoteles und Black
vereinigte Freud gegnerische Wissenschaftler unter seinen
Errungenschaften und führte die erste Periode normaler Wissenschaft in
seinem Fachfeld ein.
Zweifellos
sind revolutionäre Paradigmen seltene Ereignisse in der Geschichte der
Wissenschaft. Die große Masse wissenschaftlicher Aktivität umfasst,
was Kuhn als "Aufräumtätigkeiten" bezeichnet, mit denen
Wissenschaftler bestrebt sind, die Fragen zu beantworten, die durch ein
Paradigma erhoben werden, die Übereinstimmung zwischen Tatsache und
Theorie zu vergrößern und allgemein der Artikulierung des Paradigmas
mehr Präzision zu verleihen. Kurz gesagt ist der größte Teil der
Wissenschaft normale Wissenschaft, in der man den Versuch unternimmt,
die Natur in die vorgeformte Schachtel zu zwängen, die das Paradigma
zur Verfügung stellt.
Wie
Kuhn es ausdrückt, ist "der Erfolg eines Paradigmas am Anfang
weitgehend ein Versprechen auf Erfolg, der in ausgewählten und noch
unvollständigen Beispielen aufgedeckt werden soll ... (und) normale
Wissenschaft besteht aus der Aktualisierung dieses Versprechens."
(ibid., S.23)
Der
Großteil empirischer und theoretischer Aufgaben normaler Wissenschaft
wird vorgegeben durch die eingebauten Grenzen eines Paradigmas in seiner
Fähigkeit, die Theorie mit der Natur in Einklang zu bringen;
Begrenzungen, die für die faszinierendsten und zeitraubendsten Probleme
jener Phase wissenschaftlicher Forschung sorgen.
Nach
der Etablierung des Freudschen Paradigmas machten sich die
Wissenschaftler an die Aufgabe, die Theorie neu zu definieren, ihre
Voraussagen zu festigen, ihre Anpassung an die Natur zu verbessern, und
ihre Prinzipien in der therapeutischen Praxis anzuwenden. Wenn, wie
Freud behauptete, die Psyche tatsächlich in das Ich, Überich und das
Es aufgeteilt ist, dann würde die neurologische Forschung hoffentlich
einige Beweise liefern, um diese psychische Struktur mit der Struktur
des Gehirns in Vereinbarung zu bringen. Und ebenso, wenn eine psychische
Störung theoretisch auf ein sich aufbauschendes Überich oder ein ungebärdiges
Es zurückzuführen ist, dann sollte sich das Problem in der
therapeutischen Praxis zufriedenstellend aufklären, indem man jene zwei
Komponenten in die Schranken verweist. Und wenn der Ödipuskomplex
wahrhaftig ein zentraler Konflikt ist, der der Natur des Menschen
zugrunde liegt, dann sollten die anthropologischen Untersuchungen von Bronislaw
Malinowsky unter den Trobriand-Insulanern den Beweis für diese
Tatsache liefern.
Es
ist überflüssig zu sagen, dass die Freudsche Theorie (genauer die
normale Wissenschaft auf Basis des Freudschen Paradigmas) in all diesen
Punkten versagt hat. So viele der Rätsel, die durch das Freudsche
Paradigma bestimmt sind, haben sich einer Lösung so hartnäckig
widersetzt, dass viele seiner eigenen Praktiker sein Versagen offen
zugegeben haben. Dieses Versagen veranlasste den Psychoanalytiker E.
Fuller Torrey zu der Ankündigung, dass "die Psychiatrie im Sterben
liege", und indem er auf Kuhns Analyse verweist, erkennt Torrey,
dass der Tod ein natürlicher Prozess ist, der für den
wissenschaftlichen Fortschritt erforderlich ist. Was genau ist die Natur
dieses Prozesses ? Es könnte einigen Lesern bereits die Frage in den
Sinn gekommen sein, wie es denn, wenn die Mehrheit der Wissenschaftler
ihr Leben damit verbringt, sich in den Aktivitäten normaler
Wissenschaft zu engagieren und wenn diese Aktivitäten nicht darauf
abzielen, Neuheiten an Fakten und Theorie aufzudecken, jemals dazu
kommt, dass diese Neuheiten enthüllt werden ? Hier sehen wir uns einem
scheinbaren Paradoxon gegenüber, weil Forschung unter normaler
Wissenschaft, die grundsätzlich traditionell ist und darauf abgestimmt,
eine etablierte Theorie zu fördern und zu festigen, in der Tat regelmäßig
zu revolutionären Entdeckungen führt. Wissenschaftler entdecken
systematisch neue und revolutionäre Fakten, ohne jemals bewusst danach
zu suchen. Tatsächlich sind diese Entdeckungen nur möglich, wenn
Wissenschaftler auf der Suche nach und in Erwartung von etwas anderem
sind.
Die
Auflösung dieses Paradoxons kommt mit der Einführung von Kuhns Konzept
der Anomalie als Basis wissenschaftlicher Entdeckung. Das anomale Faktum
- das Faktum, das von einem etablierten Paradigma nicht erwartet wird,
und das, einmal entdeckt, von den Begriffswerkzeugen, die das Paradigma
liefert, nicht erklärt werden kann - kann erst zum Vorschein kommen,
wenn Normalität wohl definiert und wohl verstanden ist. Kuhn erklärt
es auf diese Art : "Entdeckung beginnt mit dem Erkennen von
Anomalie, d.h., mit dem Erkennen, dass die Natur irgendwie den vom
Paradigma induzierten Erwartungen, die normale Wissenschaft bestimmen,
zuwider gehandelt hat. Dann setzt sie sich mit einer mehr oder weniger
ausführlichen Erforschung des Bereiches der Anomalie fort. Und sie
endet erst, wenn die Paradigmatheorie angepasst worden ist, sodass das
Abnormale zum Erwarteten wird." (ibid., S.52). Ein treffendes
Beispiel ist Kuhns Beschreibung der Entdeckung der Röntgenstrahlung.
Sie ist es wert, ausführlich zitiert zu werden:
"Ihre
Geschichte beginnt an dem Tag, als der Physiker Röntgen eine normale
Untersuchung von Kathodenstrahlung unterbrach, weil er bemerkt hatte,
dass eine Barium-Platinum-Zyanid-Schutzwand in einiger Entfernung von
seinem abgeschirmten Apparat glühte, wenn die Entladung im Gange war.
Weitere Nachforschungen – sie erforderten sieben hektische Wochen, in
denen Röntgen selten das Labor verließ –, zeigten an, dass die
Ursache des Glühens in geraden Linien von der Kathodenstrahlröhre kam,
dass die Strahlung Schatten warf, von einem Magneten nicht abgelenkt
werden konnte, und viel anderes nebenbei. Bevor er seine Entdeckung ankündigte,
hatte Röntgen sich selbst davon überzeugt, dass sein Effekt nicht auf
Kathodenstrahlen zurückzuführen war, sondern auf ein Agens mit
wenigstens einer gewissen Ähnlichkeit mit Licht ....
Röntgens
Entdeckung begann mit der Erkenntnis, dass seine Schirmwand glühte, als
sie nicht sollte. Die Wahrnehmung der Anomalie - das heißt, eines Phänomens,
auf das sein Paradigma den Nachforscher nicht gefasst gemacht hatte -,
spielte eine essentielle Rolle dabei, den Weg für die Wahrnehmung des
Neuen vorzubereiten ...
X-Strahlen
wurden nicht nur mit Überraschung aufgenommen, sondern mit Schrecken.
Zuerst bezeichnete sie Lord Kelvin als wohldurchdachten Schabernack.
Andere waren davon deutlich erschüttert, wenn sie auch die Beweise
nicht anzweifeln konnten. Obwohl X-Strahlen von der etablierten Theorie
nicht verboten waren, verletzten sie tief verwurzelte Erwartungen. Jene
Erwartungen, behaupte ich, waren in Gestaltung und Interpretation
etablierter Laborprozeduren mit inbegriffen. Im Jahre 1890 fand
Kathodenstrahlausrüstung weitverbreitete Verwendung in zahlreichen
europäischen Labors. Wenn Röntgens Apparat X-Strahlen produziert
hatte, dann müsste eine Anzahl anderer Experimentatoren eine Zeit lang
jene Strahlen erzeugt haben, ohne es zu wissen. Vielleicht waren diese
Strahlen, die wohl auch andere nicht erkannte Quellen haben könnten, in
Verhalten mit einbezogen, dass früher ohne Bezug auf sie erklärt
worden war. Allermindestens müssten in der Zukunft mehrere Arten lang
vertrauter Geräte mit Blei abgeschirmt werden. Früher komplettierte
Arbeit an normalen Projekten müsste nun erneut gemacht werden, weil frühere
Wissenschaftler darin versagt hatten, eine relevante Variable zu
erkennen und zu kontrollieren. X-Strahlen eröffneten sicher ein neues
Feld und trugen somit zur Domäne normaler Wissenschaft bei ...
Die
Entscheidung, einen besonderen Apparat zu gebrauchen und ihn in
besonderer Weise zu verwenden, bringt die Annahme mit sich, dass sich
nur bestimmte Arten von Umständen ergeben werden. Es gibt
instrumentelle als auch theoretische Erwartungen, und sie haben oft eine
entscheidende Rolle in der Entwicklung der Wissenschaft gespielt.
Paradigmaprozeduren und -anwendungen sind für die Wissenschaft so
wichtig wie Paradigmagesetze und -theorien, und sie haben dieselben
Wirkungen. Unvermeidlich beschränken sie das phänomenologische Feld,
das der wissenschaftlichen Forschung zugänglich ist, zu jeder gegebenen
Zeit. Indem wir all das erkennen, können wir gleichzeitig einen
essentiellen Sinn sehen, in dem eine Entdeckung wie X-Strahlen zwingend
eine Veränderung des Paradigmas - und deshalb eine Änderung sowohl in
Prozeduren und Erwartungen - für einen speziellen Teilbereich der
wissenschaftlichen Gemeinde erfordert. Als Ergebnis können wir auch
verstehen, wie die Entdeckung der X-Strahlen anscheinend für viele
Wissenschaftler eine fremde neue Welt eröffnen und so wirkungsvoll zu
der Krise beitragen konnte, die zur Physik des zwanzigsten Jahrhunderts
führte." (ibid., S.57).
Dieses
Beispiel erlaubt uns, die Charakteristika des Prozesses zu isolieren,
durch den neue Entdeckungen zur Paradigma - Änderung führen. Es ist
jetzt klar, dass der Prozess mit der anfänglichen Akzeptanz einer
Paradigmatheorie beginnt, die eine Forschungstradition begründet. Das
Paradigma liefert das Kriterium für die Auswahl der zu lösenden
Probleme, es sorgt für die Zusicherung, dass diese Probleme eine Lösung
haben, es stellt die Regeln auf, nach denen diese Lösungen gesucht
werden, und oft sorgt es für eine Voraussage, welcher Art diese Lösungen
sein werden. Normale Wissenschaft schreitet in ihrem rätsellösenden
Bestreben ziemlich reibungslos fort, bis das anomale Faktum erscheint.
Aber die Anomalie kann nur vor dem Hintergrund identifiziert werden, den
das Paradigma liefert. Je präziser und weitreichender das Paradigma,
umso empfindlicher wird der Indikator für Anomalie sein, den es zur
Verfügung stellt. Wenn wissenschaftliche Erwartungen durch das
Erscheinen der Anomalie vereitelt werden, richtet sich intensive
Aufmerksamkeit auf das anomale Faktum. Schließlich taucht das neue
Paradigma auf, wenn sich das alte als unfähig erweist, das neu
entdeckte Phänomen zu erklären, gleichgültig, wie weit es ausgedehnt
wird.
Kuhn
schließt: "Lassen Sie mich nun darlegen, dass wir, indem wir den
Prozess erkennen, endlich anfangen können zu sehen, warum normale
Wissenschaft, ein Streben, das nicht auf Neues ausgerichtet ist und
zuerst dazu tendiert es zu unterdrücken, nichtsdestotrotz wirkungsvoll
darin sein sollte, sein Erscheinen zu verursachen." (ibid., s.64).
Diese
Aussage enthält die essentielle Eigenschaft des dialektischen
Prozesses. In der gesellschaftlichen Entwicklung "enthält jedes
Stadium der Gesellschaft die Saat für ihre eigene Zerstörung."
– In der persönlichen Entwicklung involviert das Rückgängigmachen
der Neurose das Erfahren des Schmerzes, der sie überhaupt erst
hervorgebracht hat. Ebenso bereitet offensichtlich in der Wissenschaft
das traditionelle Streben der normalen Wissenschaft den Weg vor für die
Entdeckung, die diese Tradition zerstören und eine neue gründen wird.
Betrachten
Sie schließlich die Entdeckung des Urschmerzes und die Formulierung der
Primärtheorie mit dem Vorteil, den Prozess wissenschaftlicher
Entdeckung zu verstehen. Auf den Einleitungsseiten zu "Der
Urschrei" beschreibt Dr. Janov seine Reaktion auf das erste
Urerlebnis, dessen Zeuge er in einer seiner konventionellen
Therapiegruppen war. Es ist die Reaktion eines Mannes, der völlig verblüfft
war von einem Phänomen, das von keiner Theorie in seinem Fachgebiet
erklärt werden konnte, mit der er vertraut gewesen wäre. Die
Entdeckung war so erschütternd, behaupte ich, weil sie die
Identifizierung des anomalen Faktums war, das den Sturz aller
psychologischen Theorie verlangen würde, wie sie zu dieser Zeit bekannt
war. Dr. Janov mag das nicht im Voraus gewusst haben, aber es war ihm zu
der Zeit bestimmt klar, dass etwas schrecklich unpassend war. Genau wie
"Röntgens Entdeckung mit der Erkenntnis begann, dass seine
Schutzwand glühte, als sie nicht sollte", begann Janovs Entdeckung
mit der Erkenntnis, dass der Patient eine schmerzvolle Erinnerung aufgelöst
hatte, indem er in Agonie schrie, als er nicht sollte.
Freudsche
Theorie schafft die Erwartung, dass, wenn die Abwehr zertrümmert wird,
die bösartigen Kräfte des Es mit horrenden Folgen freigesetzt werden.
Dr. Janovs Beobachtung, dass eine erschütterte Abwehr tatsächlich
Urschmerz und dessen Auflösung hervorruft, ist eine direkte Verletzung
der theoretischen Erwartungen des Freudschen Paradigmas. Es ist die
Wahrnehmung der Anomalie, für die das alte Paradigma keine Erklärung
hat. In dieser Hinsicht ist es mehr als nur ein Zufall, dass Dr. Janov während
seiner Karriere jedes Wort gelesen hatte, das Sigmund Freud jemals
geschrieben hatte. Wie Kuhn schreibt : "Das Neue zeigt sich gewöhnlich
nur dem Manne, der, weil er mit Genauigkeit weiß, was er erwarten
sollte, in der Lage ist zu erkennen, dass etwas schief gelaufen
ist." (ibid.,s.65).
Wir
sind nun in der Lage zu verstehen, wie die Entdeckung des Urschmerzes
die Ausarbeitung einer neuen Theorie erfordern musste, die, falls
akzeptiert, die Zurückweisung aller Theorien verlangt, die ihr
vorausgingen. Der dialektische Prozess verlangt, dass dies so sei.
Stellen Sie sich vor, wissenschaftlicher Fortschritt wäre nicht
dialektisch und schritte stattdessen in kumulativer Weise fort unter
Addition von Faktum zu Faktum und Entdeckung zu Entdeckung. (Kuhn
beobachtet, dass dies die all - gemein vertretene Ansicht von
Wissenschaft ist, die von Wissenschaftslehrbüchern verewigt wird.) Wenn
dem so wäre, dann würden all die entlang des Weges entwickelten
wissenschaftlichen Entdeckungen und Theorien als Baustein - Fundamente für
spätere Arbeit verbleiben. Zweifelsohne jedoch erforderte die
Anerkennung des Kopernikus'schen Paradigmas die absolute Zurückweisung
aller vorausgegangenen geozentrischen Theorien des Universums. In ähnlicher
Weise konnte es, als Newtons Theorien der Optik einmal allgemein
akzeptiert wurden, keine Koexistenz mit früheren Theorien geben, die
Licht als etwas anderes auffassten als das, was Newton sagte. Es ist
sodann keine Überraschung, dass die Anerkennung der Primärtheorie als
Paradigma in der Psychologie die Zurückweisung jeglicher anderen
Theorie verlangen würde, die Urschmerz nicht als die fundamentale
Ursache psychischer Krankheit ansieht und dessen Wiedererleben nicht als
die Heilung. Das ist es, was Dr. Janov (,der sich zu der Zeit der
Dynamik des Kuhnschen Modells nicht bewusst war,) zu schreiben
motivierte: "Wenn die Gesetze, die die Entwicklung der Neurose und
Psychose bestimmen, spezifisch sind, dann kann es keinen Spielraum
geben, keine falsche Bescheidenheit oder falsche demokratische Ideale,
die alle Raum lassen würden für viele Annäherungen an das Problem. Es
kann aber nur einen Ansatz geben."³
3
Arthur Janov, The Primal Revolution, Simon & Schuster, 1972,
S.
29
Behauptungen
dieser Art haben Dr. Janov bei vielen seiner Kollegen nicht gerade
beliebt gemacht. Die meisten Psychologen fanden es äußerst arrogant
von Dr. Janov, davon zu sprechen, die Heilung für Neurose gefunden zu
haben, als beinahe jeder andere im Fachgebiet es bereits aufgegeben
hatte, nach einer zu suchen.
Die
Verzweiflung in der Psychologie ist so tief geworden, dass sich die
meisten Psychologen mit der Behandlung von Symptomen abfinden
(Behavioristen sind das am deutlichsten sichtbare Beispiel). Einige
umgehen das Problem sogar gänzlich, indem sie behaupten, dass es kein
Bedürfnis nach Heilung gebe, weil es in Wirklichkeit gar keine
Krankheit gebe. Praktiker mit dieser letzteren Neigung nehmen es sich
als ihr Ziel vor, ihren Patienten dabei zu helfen, mit ihrem
Transvestitismus, ihrer Homosexualität oder ihrem zwanghaften Händewaschen
glücklich leben zu lernen. Aber Kuhns Analyse zeigt, dass wissenschaftliche
Verzweiflung — die sich in der Psychologie als Verzicht auf die Suche
nach Heilung äußert — von den Praktikern in jedem Fachgebiet Besitz
ergreift, wenn sie sich dem Versagen des Paradigmas gegenüber sehen,
das ihre Arbeit geleitet hat. Der Zustand von Chaos und
Desillusionierung, der wissenschaftlichen Revolutionen immer vorausgeht,
wächst in direktem Verhältnis zur Unfähigkeit des alten Paradigmas,
die Probleme zu lösen, die es für sich selbst definiert hat.
Kuhn
liefert ein gutes Beispiel für den Krisenzustand in seiner Diskussion
des Zustandes der Astronomie zur Zeit von Kopernikus:
"Im
16. Jahrhundert behauptete Kopernikus`s Mitarbeiter Domenico da
Novara, dass kein System, das so schwerfällig und ungenau geworden
war wie das Ptolemäische, möglicherweise von wahrer Natur sein könnte.
Und Kopernikus selbst schrieb im Vorwort zu De Revolutionibus, dass
die astronomische Tradition, die er erbte, letztlich nur ein Monster
geschaffen hatte. Im frühen sechzehnten Jahrhundert erkannte eine
wachsende Anzahl von Europas besten Astronomen, dass das astronomische
Paradigma in der Anwendung auf seine eigenen traditionellen Probleme
versagte. Diese Erkenntnis war eine Vorbedingung für Kopernikus`s Zurückweisung
des Ptolemäus`schen Paradigmas und seine Suche nach einem neuen. Sein
berühmtes Vorwort liefert noch immer eine der klassischen
Beschreibungen eines Krisenzustandes" (Kuhn, s.69) .
Die
professionelle Unsicherheit, die die Praktiker einer Wissenschaft in der
Krise ergreift (wie geschehen im Feld der Psychologie heutzutage), geht
dem Erscheinen neuer Theorien immer voraus. Eine Vorbedingung für das
Erscheinen dieser Theorien (wie im Falle des Auftauchens neuer Fakten)
ist die gründliche Bewusstheit des Abnormen. Das Resultat ihres
Erscheinens sind weiträumige Paradigma-Zerstörung und größere
Verschiebungen in den Problemen und Techniken normaler Wissenschaft. In
der Zeit zwischen dem Gewahren des Abnormen und der Vollendung des
Paradigma-Wechsels existiert die Wissenschaft in einem Zustand extremer
Krise, der eine Lösung erfordert. Wir werden kurz einige
Charakteristika dieses Krisenzustandes untersuchen, um zu sehen, wie
genau sie auf die gegenwärtige Verfassung der Psychologie zutreffen.
Zuerst
einmal ist die starke Vermehrung verschiedener Versionen einer Theorie
ein äußerst häufiges Symptom der Krise. Zum Beispiel schreibt Kuhn:
"Zu der Zeit, als Lavoisier in den frühen 1770ern mit seinen
Experimenten über die Atmosphäre begann, gab es beinahe soviele
Versionen der Phlogiston- Theorie, wie es pneumatische Chemiker
gab." (ibid., s.70) .Heute gibt es in der Psychologie Dutzende von
Schulen und Unterschulen, von denen sich einige eng an die traditionelle
Freudsche Theorie halten und einige so weit in andere Richtungen
umschwenken, dass ihre Vorgänger schwerlich zu erkennen sind. In dieser
Hinsicht ist die Psychologie in einem Stadium angekommen, das jenem
ihrer präparadigmatischen (präfreudianischen) Ära ähnelt. Wiederum
gibt es wenig Übereinstimmung hinsichtlich der Grundprinzipien, und
jeder Theoretiker ist gezwungen, das Feld aus seinen Anfängen
aufzubauen. Und in wachsendem Maße hat sich die vom Freudschen
Paradigma geleitete Forschung so entwickelt, dass sie derjenigen ähnlich
ist, die unter den wetteifernden Schulen der präparadigmatischen
Periode durchgeführt wurde, d.h., sie ist mehr und mehr ein
Zufallsunternehmen, in dem alle beobachtbaren Fakten gleiche Bedeutung
zu haben scheinen. Der Grund ist klar. Solange das Freudsche Paradigma
zufriedenstellend funktionierte, war es in der Lage, seine Aufgabe zu
erfüllen, nämlich die Kriterien für die Forschung zu liefern und
ansonsten die Aktivitäten normaler Wissenschaft zu überwachen. Der
Statusverlust des Freudschen Paradigmas und die resultierende starke
Verbreitung neuer Theorien sind mit Kuhns Worten "typische Effekte
der Krise" (ibid., S.72)
Es
ist ein höchst interessantes Merkmal von Krisenzuständen und der
starken Theorievermehrung, die sie signalisiert, dass sie nicht früher
als ein oder zwei Jahrzehnte vor der Verkündung der neuen Theorie
eintreten, die schließlich die alte ersetzen wird. Kuhn schließt
daraus, dass "die neuartige Theorie eine direkte Antwort auf die
Krise zu sein scheint" (ibid., S.75) .Wiederum folgt die
Entwicklung der Psychologie genau dem Modell, obwohl nur die Zeit zeigen
wird, ob das Primär-Paradigma dazu bestimmt ist, als das revolutionäre
Paradigma akzeptiert zu werden.
Schließlich
macht Kuhn eine bemerkenswerte Aussage, die uns erlaubt, die Anwendung
seines Modells auf das letzte Detail auszudehnen: "Diese Beispiele
(aus Physik, Chemie und Astronomie) teilen ein weiteres Kennzeichen, das
dabei helfen kann, das Argument für die Rolle der Krise eindrucksvoll
zu gestalten: Die Lösung für jedes von ihnen war während einer
Periode, als es keine Krise in der entsprechenden Wissenschaft gab,
zumindestens teilweise vorweggenommen worden. Und in der Abwesenheit der
Krise war dieses Vorgreifen ignoriert worden" (ibid., S.75).
Ich
behaupte, dass in der Psychologie die Primärtheorie teilweise von den
Theorien Wilhelm Reichs vorweggenommen wurde. Aber Reich schrieb zu
einer Zeit, als es noch großes Vertrauen in das Freudsche Paradigma
gab, und andere Wissenschaftler waren zu sehr mit der Aktualisierung
seines Versprechens beschäftigt, als dass sie seine Ersetzung in
Betracht gezogen hätten. Die Zeit der Krise war noch nicht gekommen.
Die Psychologie bewegte sich schnell, weil die Werkzeuge, die das
Freudsche Paradigma zur Verfügung stellte, noch immer nützlich
schienen und dessen Praktiker jene Werkzeuge benutzten - mit dem
Vertrauen, die Probleme zu lösen, die das Paradigma umrissen hatte.
Kuhn schreibt in Schlussfolgerungen:
"Wie
in der Fertigung, so in der Wissenschaft - Neuausrüstung ist eine
Extravaganz, die man für den besonderen Anlass aufheben sollte, der
sie erfordert. Der tiefere Sinn von Krisen ist die von ihnen
bereitgestellte Indikation, dass ein Anlass für Neuausrüstung
gekommen ist." (ibid., S.76)
Wenn,
wie viele behauptet haben, Psychologie den Anlass erreicht hat, der
Neuausrüstung erfordert (wenn sie in einem Krisenzustand ist), wird es
lehrreich sein, Kuhns Beschreibung zu zitieren, wie sich Wissenschaftler
verhalten, wenn sie sich der Krise gegenübersehen:
"Konfrontiert
mit einer zugegeben fundamentalen Anomalie in der Theorie, wird es oft
die erste Anstrengung des Wissenschaftlers sein, sie klarer zu
isolieren und ihr Struktur zu verleihen. Obwohl er sich nun bewusst
ist, dass sie nicht ganz richtig sein können, wird er die Regeln
normaler Wissenschaft angestrengter denn je betreiben, um zu sehen, wo
genau und wie weit sie zum Funktionieren gebracht werden können.
Gleichzeitig wird er auch nach Wegen suchen, das Scheitern
aufzubauschen, es auffallender und vielleicht auch suggestiver zu
gestalten als es zu der Zeit gewesen war. da es in Experimenten an den
Tag gelegt worden war, deren Ergebnis man im Voraus zu kennen glaubte.
Und in letzterem Bemühen wird er mehr als in jedem anderen
Teilbereich der postparadigmatischen Entwicklung der Wissenschaft
beinahe wie unser stark vorherrschendes Charakterbild eines
Wissenschaftlers sein. Zuerst wird er oft wie ein Mann scheinen, der
aufs Gerate- wohl sucht, Experimente ausprobiert, einfach um zu sehen,
was geschieht, auf der Suche nach einem Effekt, über dessen Natur er
sich nicht ganz im Klaren ist. Gleichzeitig wird der Wissenschaftler,
da man kein Experiment ohne eine gewisse Art von Theorie ersinnen
kann, in der Krise ständig versuchen, spekulative Theorien zu
schaffen, die, falls erfolgreich, den Weg zu einem neuen Paradigma eröffnen
können und die, falls erfolglos, mit relativer Leichtigkeit
aufgegeben werden können."
(ibid., S.86) .
Wenn
man das Behandlungszimmer des zeitgenössischen Psychologen dem Labor
des Naturwissenschaftlers in Krisenperioden gleichsetzt, kann man
schwerlich daran zweifeln, dass sich beide in gleicher Weise verhalten,
das heißt, beide engagieren sich in ziemlich wildem Experimentieren.
Tatsächlich sind die Regeln normaler Wissenschaft in der Psychologie so
verwischt worden, dass der operative Ausdruck im Fachgebiet "alles
geht" lautet. Nackttherapie, Sextherapie, Megavitamintherapie,
Therapie mittels Deprivation, Therapie durch Nachgiebigkeit, Mäßigung
und durch Zwang. Wer könnte sagen, dass die eine weniger wirksam sei
als die andere?
Dr.
Janov legte die Technik des Im-Dunkeln-Stocherns an den Tag, als
er jenen Patienten in seinem Sprechzimmer bat, nach seinen Eltern zu
rufen, wobei er selber nicht wirklich wusste, warum er diese Bitte äußerte.
Angesichts des massiven Versagens der traditionellen Psychologie war er,
wie viele seiner Kollegen, geneigt, alles Mögliche zu versuchen.
Aber
diese Art ziellosen Herumtastens führt, wie Kuhn behauptet, zur
Erzeugung spekulativer Theorien, um die Ergebnisse zu erklären. Es
erhebt sich hier die Frage: wie ist es möglich, eine Theorie höher als
die andere zu bewerten? Wie, mit anderen Worten, trifft man die Wahl,
die eine Theorie als besser als der Rest erweist und sie der Loyalität
der ganzen wissenschaftlichen Gemeinde würdig macht, und nicht nur
eines Teils derer? Im Konflikt, der heute unter psychologischen Schulen
existiert, beansprucht jede den Erfolg für ihre Theorie, und jede
konzentriert ein Sperrfeuer an Beweismaterial, das sie ihrer Konkurrenz
entgegenschleudert. Aber am bedrückendsten ist, dass die Debatte
zwischen Befürwortern opponierender Schulen oft fruchtlos ist. Selten führt
sie zu irgendeiner Lösung, niemals erzeugt sie eine eindeutige
Perspektive, und überaus häufig dient sie dazu, die unvereinbaren
Differenzen unter ihnen weiter zu vertiefen. Sie führt zum Zweifel, ob
logische Beweisführung jemals dazu dienen könnte, Konvertiten aus
einem Lager für das andere zu gewinnen und das Thema endgültig zu klären.
Aber wenn der Prozess nicht auf logischer Bewertung basiert, wie kommt
er dann wirklich zustande?
Da
wir bereits gesehen haben, dass die Wahl eines Paradigmas die
gleichzeitige Zurückweisung sowohl seines Vorgängers als auch seiner
Konkurrenten bedeutet, ist es klar, dass in der Lösung der
wissenschaftlichen Krise sehr viel auf dem Spiel steht. Stellen Sie sich
vor, Primärtherapie würde über Nacht vom gesamten psychologischen
Establishment akzeptiert. Es würde bedeuten, dass Tausende von
Analytikern ihre Fünfzig-Dollar-pro-Stunde-Praxen aufgeben müssten, um
sich ihrer eigenen Primärtherapie zu unterziehen, und dass viele
Praktiker in der Human-Potential-Bewegung anfangen müssten, ihre
Kleider wieder anzuziehen. Zusätzlich müssten die Behavioristen
ihre Konditionierungsschockgeräte zusammenpacken, und alle
Biofeedback-Maschinen müssten als Relikte ins Museum geschickt werden.
Mit
anderen Worten, würde es nicht nur die Demontage eines Berufsstandes
bedeuten, sondern auch die Zerstörung des Privatlebens seiner
Praktiker, die eine plötzliche Veränderung ihrer gesamten
Weltanschauung durchmachen müssten. Es würde eine grundlegende
Neudefinition des Fachbereichs erfordern, weil sich die wettstreitenden
Paradigmen nicht nur in der Substanz unterscheiden, sondern auch in den
Methoden, Problemen und Lösungsmustern, die sie definieren. Es ist kein
Wunder, dass die theoretischen Gefechte so intensiv sind und die Befürworter
der alten Schule ihr Paradigma niemals ohne erbitterten Widerstand
aufgeben. Tatsächlich triumphiert das revolutionäre Paradigma oft erst
nach dem Tod der Wissenschaftler vorausgehender Generationen.
Die
Anerkennung der Primärtheorie hätte jedoch revolutionäre Auswirkungen
über das Feld der Psychologie und sogar über die Wissenschaft
insgesamt hinaus. Die soziologischen und politischen Implikationen
der Theorie sind so gewaltig und tiefgreifend, dass auch das soziale und
politische System durch ihren Erfolg gefährdet wäre. Würde die
Theorie umfassend akzeptiert, müsste die Gesellschaft fundamentale
Grundsätze ihrer Methoden überdenken, mit denen sie soziale Probleme löst.
Gefängnisse, Gerichte, Schulen und die ausführenden Organe des Krieges
würden zum Gegenstand radikaler Veränderungen werden.
Frühere
psychologische Theorien hatten keine revolutionären Auswirkungen auf
diese Institutionen, weil die Theorien wie die Institutionen unterdrückend
sind. Eine repressive Gesellschaft erfordert eine repressive
Psychotherapie (wie den Behaviorismus), um mit ihren Kriminellen,
Drogenabhängigen und Aussteigern fertigzuwerden. Nur die Primärtherapie
als wirklich befreiender Prozess schafft die Möglichkeit einer wirklich
befreiten Gesellschaft. Die repressiven Kräfte in der Gesellschaft
vereinigen sich dann mit denen des psychologischen Establishments und
machen die Anerkennung der Primärtheorie zu einem schwierigen Kampf.
Die
Tatsache jedoch, dass es einen solchen Kampf gibt, illustriert eine
andere Eigenschaft des dialektischen Prozesses – die Interaktion
zwischen opponierenden Kräften, die neue Synthesen schafft. Dies sorgt
für einen gewissen Anhaltspunkt, wie die Natur des Konflikts beschaffen
ist, und in dieser Hinsicht möchte ich erneut Kuhn ausführlich
zitieren:
"In
dem Ausmaße – so bezeichnend wie es unvollständig ist –, wie
zwei wissenschaftliche Schulen darüber uneins sind, was das Problem
ist und was die Lösung, werden sie unvermeidlich aneinander
vorbeireden, wenn sie die relativen Verdienste ihres jeweiligen
Paradigmas diskutieren. In der teilweise zirkulären Beweisführung,
die sich normalerweise daraus ergibt, wird sich zeigen, dass jedes
Paradigma mehr oder weniger die Kriterien erfüllt, die es sich selber
auferlegt, und dass es zu kurz greift für einige derjeniger, die von
seinem Widersacher bestimmt werden. Es gibt auch noch andere Gründe für
die Unvollständigkeit logischen Kontakts, die Paradigma-Debatten
stets charakterisiert. Da zum Beispiel kein Paradigma jemals alle
Probleme löst, die es definiert, und da keine zwei Paradigmen all
dieselben Probleme ungelöst lassen, involvieren Paradigma-Debatten
immer die eine Frage: welches Problem zu lösen ist am wichtigsten?
Wie das Streitthema wetteifernder Normen kann diese Wertfrage nur in
Form von Kriterien beantwortet werden, die gänzlich außerhalb
normaler Wissenschaft liegen, und es ist dieser Rückgriff auf externe
Kriterien, der Debatten über Paradigmen am offensichtlichsten
revolutionären Charakter verleiht."
(ibid., s.109-110) .
Was
dieser Absatz in der Praxis bedeutet, ist, dass eine Debatte zwischen
einem Primärtheoretiker und einem Behavioristen logischerweise unmöglich
ist, solange der letztere das Innenleben des Patienten nicht als
legitimen Bereich wissenschaftlichen Interesses anerkennt. Gleichermaßen
endet das Bestreben zweier Therapeuten, einer Primär(therapeut) und
einer Gestalt(therapeut), den Wert ihrer jeweiligen therapeutischen
Techniken abzuwägen, in einer Sackgasse, solange letzterer die überragende
Bedeutung der Vergangenheit des Patienten nicht anerkennt und
stattdessen seine Therapie auf das Ziel abstimmt, den Patienten ins Hier
und Jetzt zu bringen. Und was vielleicht könnte das Ergebnis einer
Debatte zwischen einem Primärtheoretiker und einem Anhänger Abraham
Maslows sein, solange letzterer standhaft an die Existenz des
menschlichen Bedürfnisses nach Symmetrie glaubt ein Konzept, das für
ersteren eine glatte Absurdität ist, die in seinem theoretischen
Konstrukt keinen Platz hat?
Indessen
unterstreicht dies nur die gewaltigen Schwierigkeiten, wissenschaftliche
Krisen zu lösen. Es hilft nicht, die Frage zu beantworten: wie werden
Paradigma-Debatten gelöst?
"Teil
der Antwort", schreibt Kuhn, "ist, dass sie sehr oft nicht gelöst
werden. Kopernikanismus hatte noch beinahe ein Jahrhundert nach
Kopernikus`s Tod wenig Überläufer. Newtons Werk wurde vor allem auf
dem Kontinent mehr als ein halbes Jahrhundert lang nach dem Erscheinen
von Principia nicht allgemein akzeptiert. Priestley erkannte die
Sauerstofftheorie niemals an, Lord Kelvin niemals die elektromagnetische
Theorie, und so weiter." (ibid., S.150)
Wenn
der aktuelle Streit in der Psychologie den Punkt größter Leidenschaft
erreicht hat, betrachten die Anhänger der einen Schule die Anhänger
aller anderen Schulen oft als Narren. Zum Beispiel scheint es von einem
primärtheoretischen Standpunkt aus für einen Therapeuten unbegreiflich
und lächerlich zu versuchen, einem Patienten mehr Aggressivität und
Selbstvertrauen (wie man nein sagt und sich nicht schuldig fühlt)
beizubringen. Für den Konditionierungstherapeuten ist die Technik überhaupt
nicht lächerlich, weil seine Lerntheorie ihm sagt, dass das unerwünschte
Verhalten (Ängstlichkeit, Schüchternheit, etc.) erlernt ist, sodass es
entfernt werden kann, während neues erwünschtes Verhalten gelernt
wird. Der Primärtherapeut sieht neurotisches Verhalten als totale
psychophysiologische Antwort des Organismus, die einfach auf den
zugrundeliegenden Schmerz hindeutet, der es verursacht hat und durch die
Ermahnung eines Lehrers nicht verschwinden wird. Es ist kein großes
Wunder, dass sie einander ihre Arbeit so spöttisch betrachten wie sie
beide ein Individuum betrachten würden, das noch glaubte, die Erde sei
flach. Mit dem Vorteil der späteren Einsicht sind wir alle versucht,
alle ausrangierten Theorien mit einigem Amusement zu betrachten und uns
zu fragen, wie es für einen intelligenten Menschen möglich sein könne,
daran zu glauben, dass Hysterie das Resultat eines wandernden Uterus
sei. Und wenn wir zum Beispiel an Kopernikus denken, fragen wir uns, wie
sich seine Zeitgenossen seinen Ideen so lange hartnäckig widersetzen
konnten. Ebenso könnten wir die widerstrebenden Wissenschaftler
menschlicher Torheit beschuldigen, der Weigerung zu akzeptieren, was uns
nun offensichtlich erscheint, der Unfähigkeit , ihre Fehler
einzugestehen, selbst wenn sie mit zwingenden Beweisen konfrontiert
sind.
Aber
Kuhn sieht die Sache anders : "Ich würde argumentieren, dass in
diesen Angelegenheiten weder Beweis noch Irrtum zur Debatte stehen. Der
Transfer der Treue von Paradigma zu Paradigma ist eine Erfahrung
geistiger Wandlung, die nicht erzwungen werden kann. Lebenslanger
Widerstand besonders von denen, deren schöpferischer Werdegang sie an
eine ältere Tradition normaler Wissenschaft gebunden hat, ist keine
Verletzung wissenschaftlicher Normen, sondern ein Hinweis auf die Natur
wissenschaftlicher Forschung selbst. Die Quelle des Widerstands ist die
Zusicherung, dass das ältere Paradigma letzten Endes alle seine
Probleme lösen wird, dass die Natur in die Schachtel gesteckt werden
kann, die das Paradigma bereitstellt.
Unvermeidlicherweise
scheint diese Zusicherung zu Zeiten der Revolution halsstarrig und dickköpfig,
was sie manchmal in der Tat wird. Aber sie ist noch etwas mehr. Diese
selbe Zusicherung ist das, was normale oder Rätsel lösende
Wissenschaft möglich macht. Und es geschieht nur durch normale
Wissenschaft, dass es der professionellen Gemeinde der Wissenschaftler
zum einen gelingt, die potentielle Reichweite und Genauigkeit des älteren
Paradigmas auszunutzen, und zum anderen, die Schwierigkeit zu isolieren,
durch deren Studium ein neues Paradigma entstehen kann "
(ibid.,s.151) .
Obwohl
"Widerstand unvermeidlich und legitim ist " finden dennoch Übertritte
der wissenschaftlichen Gemeinde zu revolutionären Paradigmen tatsächlich
früher oder später statt, und wir können uns nun nun kurz die Natur
dieser geistigen Wandlungen ansehen. Dafür werde ich einfach in
Umrissen Kuhns Kernpunkte aus dem Kapitel "Die Lösungen von
Revolutionen" präsentieren.
-
"Wahrscheinlich
ist der einzige absolut vorherrschende Anspruch, der von den Anhängern
eines neuen Paradigmas geltend gemacht wird, dass sie die Probleme lösen
können, die das alte in eine Krise geführt haben. Wenn er zurecht
erhoben werden kann, ist dieser Anspruch oft der denkbar
wirkungsvollste" (s.153).
-
"Ansprüche
dieser Art sind mit besonderer Wahrscheinlichkeit erfolgreich, wenn
das neue Paradigma eine quantitative Präzision entfaltet, die
auffallend besser ist als ihr älterer Konkurrent." (s.153).
-
"Der
Anspruch, das krisenauslösende Problem gelöst zu haben, ist jedoch
selten durch sich selbst genug. Und er kann nicht immer zu Recht
erhoben werden. Manchmal erzeugt die lockere Praxis, die außerordentliche
Forschung charakterisiert, einen Kandidaten für ein Paradigma,
hilft aber anfänglich überhaupt nicht bei den Problemen, die die
Krise hervorgerufen haben. Wenn das geschieht, müssen Beweise aus
anderen Teilen des Fachgebiets bezogen werden, was sowieso oft der
Fall ist.In diesen Bereichen können sich besonders überzeugende
Argumente entwickeln, wenn das neue Paradigma die Vorhersage von Phänomenen
gestattet, die während der Vorherrschaft des alten völlig
unvermutet gewesen waren." (s.154).
-
"Alle
bisher diskutierten Argumente für ein neues Paradigma basierten auf
der relativen Fähigkeit des Bewerbers, Probleme zu lösen.Für
Wissenschaftler sind diese Argumente gewöhnlich die bedeutendsten
und überzeugendsten. Aber sie sind weder individuell noch kollektiv
zwingend. Glücklicherweise gibt es auch noch eine andere
Betrachtungsweise, die Wissenschaftler dazu führen kann, ein altes
Paradigma zu Gunsten eines neuen zurückzuweisen. Es sind dies die
Argumente - selten ganz explizit vorgebracht - , die an den Sinn des
Individuums für das Angemessene oder Ästhetische appelieren, - man
sagt, die neue Theorie sei "ordentlicher",
"passender", oder "einfacher" als die alte.
Wahrscheinlich sind solche Argumente in den Wissenschaften weniger
wirkungsvoll als in der Mathematik." (s.155) .
Kuhns
letzter Punkt ist entscheidend und sollte sorgfältig beachtet werden.
Die Gründe dafür werden unten erklärt:
"Wenn
ein neuer Paradigma-Kandidat zum ersten Mal vorgeschlagen wird, hat er
selten mehr als ein paar der Probleme gelöst, denen er gegenübersteht,
und die meisten dieser Lösungen sind weit von Perfektion entfernt
.... Gewöhnlich geschieht es erst viel später, nachdem das neue
Paradigma entwickelt, akzeptiert und ausgewertet worden ist, dass
anscheinend entscheidende Argumente .... ausgearbeitet werden.
Sie hervorzubringen ist Bestandteil normaler Wissenschaft, und sie
spielen ihre Rolle nicht im Paradigmastreit, sondern in postrevolutionären
Texten.
Bevor
diese Texte geschrieben werden, während der Streit im Gang ist, ist
die Situation ganz anders. In der Regel können die Gegner eines neuen
Paradigmas mit Recht behaupten, dass es auch im Bereich der Krise
seinem traditionellen Rivalen wenig überlegen ist. Natürlich hat es
einige neue Gesetzmäßigkeiten enthüllt und erledigt einige Probleme
besser. Aber wahrscheinlich kann man das ältere Paradigma
artikulieren, um diesen Herausforderungen zu begegnen, wie es anderen
zuvor begegnet ist.... Kurz gesagt, wenn ein neuer Kandidat für ein
Paradigma von Anfang an von realistischen Leuten beurteilt werden müsste,
die nur die relativen Problemlösungsfähigkeiten prüften, erführen
die Wissenschaften sehr wenige bedeutende Revolutionen. Addieren Sie
die Gegenargumente, die dadurch geschaffen werden, was wir früher als
Unvergleichbarkeit der Paradigmen bezeichnet haben, und die
Wissenschaften könnten überhaupt keine Revolutionen erfahren.
Aber
Paradigma-Debatten handeln nicht wirklich von relativen Problemlösungs-Aktivitäten.....Stattdessen
ist das Streitthema, welches Paradigma in Zukunft die Erforschung von
Problemen führen soll, von denen noch keiner der Widersacher
behaupten kann, sie vollständig lösen zu können. Eine Entscheidung
zwischen alternierenden Methoden , Wissenschaft zu praktizieren, ist
gefordert, und unter den gegebenen Umständen muss diese Entscheidung
weniger auf vergangener Leistung als auf Zukunftshoffnung gründen.
Der Mann, der ein neues Paradigma auf einer frühen Stufe annimmt,
muss dies oft ungeachtet der (spärlichen) Beweise tun, die durch
Problemlösung geliefert werden. Das heißt, er muss Vertrauen haben,
dass das neue Paradigma in den vielen großen Problemen, denen es
gegenübersteht, erfolgreich sein wird, wobei er nur weiß, dass das
alte Paradigma an einigen gescheitert ist. Eine Entscheidung dieser
Art kann nur auf Vertrauensbasis getroffen werden....
Dies
soll keine Anspielung sein, dass neue Paradigmen letztendlich durch
eine gewisse mystische Ästhetik triumphieren. Im Gegenteil, sehr
wenige Männer verlassen eine Tradition allein aus diesen Gründen....
Aber wenn ein Paradigma jemals triumphieren soll, muss es einige Befürworter
der ersten Stunde für sich gewinnen, Männer, die es bis zu dem Punkt
entwickeln, wo nüchterne Argumente geschaffen und vermehrt werden können.
Und auch diese Argumente sind, wenn sie kommen, nicht individuell
entscheidend. Weil Wissenschaftler vernünftige Menschen sind, wird
das eine oder andere Argument schließlich viele von ihnen überzeugen.
Aber es gibt kein einziges Argument, das sie alle überzeugen könnte
oder sollte. Was eher geschehen wird als die Wandlung einer ganzen
Gruppe, ist eine zunehmende Verschiebung in der Verteilung
professioneller Loyalität."
(ibid., S.156).
Nun
sind wir endlich bereit, Fragen an das Primär-Paradigma zu
stellen, die uns die angemessenen Hinweise auf seine Stärke und Validität
als Kandidat geben, der das Freudsche Paradigma ersetzen und die
wissenschaftliche psychologische Gemeinde wiederum vereinen soll.
Was
waren die Probleme, die das Freudsche Paradigma in die Krise führten,
und kann das Primärparadigma zurecht behaupten, jene Probleme zu lösen?
Welche Probleme wurden andererseits unter dem Freudschen Paradigma gelöst,
bleiben aber vom Primärparadigma ungelöst? Welche Aussagen können vom
Primärparadigma abgeleitet werden, die nicht identisch sind mit den vom
Freudschen abgeleiteten? Und welche Experimente sollte man planen, um
diese Voraussagen zu prüfen? Welche Forschungsbereiche - welcher Teil
der beobachtbaren Daten - scheint unter dem Primärparadigma wichtig,
aber irrelevant unter dem Freudschen und umgekehrt? Welche neuen
Schwierigkeitsbereiche öffnen sich unter der Primärtheorie, die unter
der anderen Theorie nicht existierten? Können Experimente angesetzt
werden, die empirischen Beweis liefern würden, der dem Primärparadigma
eine quantitative Präzision verleiht, die seinem Widersacher überlegen
ist? Welche Nützlichkeit können wir für das Primärparadigma in
Anspruch nehmen hinsichtlich der Bereitstellung von Kriterien, um
normale Forschung im Fachgebiet zu führen? Welche Art von
Forschungsfragen regt es an, und was sind die Methoden, durch die das
Experiment die Primärtheorie in engere Übereinstimmung mit der Natur
bringen könnte? Und sind schließlich die Fragen, für deren Lösung
das Primärparadigma einzigartig ausgestattet ist, diejenigen, die zu lösen
am bedeutungsvollsten ist?
Einige
Antworten auf einige dieser Fragen haben Dr. Janov und Dr. Holden
bereits in ihren früheren Werken geliefert. Der Rest muss für zukünftige
Essays verbleiben. Ich möchte nur gerne eine persönliche Bemerkung
machen, die uns auf einen Punkt bringt, den Kuhn nicht diskutiert. Sie
besteht einfach darin, dass ich persönlich keine Argumente brauche, die
mich von der Richtigkeit und Gültigkeit der Primärtheorie überzeugen
sollen. Meine eigene Erfahrung in der Therapie war mehr als überzeugend.
Diese Erfahrung verleiht mir gleichzeitig eine Intuition für die
Grenzen anderer Therapien. Dutzende von Primals während der vergangenen
eineinhalb Jahre haben stetig und dauerhaft eine qualvolle Angst
reduziert, die etwa vier Jahre lang akut und konstant bestanden hatte,
bevor ich mit der Therapie begann. Diese Angst hatte sich als ungeheuer
resistent gegen alle Angriffe von Nicht-Primärtherapien erwiesen. Und
nun, da ich die Gefühle kenne, die die Basis dieser Angst waren, kann
ich klar die offenkundige Absurdität erkennen, die dem Versuch
innewohnt, durch Massage oder Meditation oder Belehrung jene Angst zum
Verschwinden zu bringen. Mit anderen Worten vertreibt das Bewusstsein,
das ich durch die Therapie gewonnen habe, jedes mögliche Verlangen
meinerseits nach einem Beweis für Dr. Janovs theoretische Aussage, dass
"Spannung vom Bewusstsein abgetrenntes Feeling ist".
Der
hier entscheidende Punkt wird jedoch gerade durch die Art hervorgehoben,
wie ich den vorangegangenen Satz formuliert habe. Ich schrieb, dass
Erfahrung " das Verlangen nach einem Beweis vertreibt " , als
ob wissenschaftlicher Beweis und persönliche Erfahrung sich gegenseitig
ausschließende Konzepte seien. Ich bin mir bewusst, dass ich den
vorherigen Absatz in der Annahme schrieb, dass ein hartgesottener
wissenschaftlicher Typ in vielleicht interessant findet, aber meine
unbedeutende Bezeugung sicher nicht als irgendeine Art von Beweis für
die Theorie akzeptieren würde. Meine Aussagen sind viel zu subjektiv,
und meine persönliche Erfahrung müsste zuerst objektiviert werden (zum
Beispiel durch Vergleich meines prä - und postprimären Spannungspegels
mittels Messung der Vitalfunktionen), bevor sie als Wert mit einbezogen
werden könnte, der für wissenschaftliche Beweisführung gültig ist.
Dr.
Janov hat bereits dargelegt, dass seine Entdeckung des Urschmerzes nur möglich
war, weil er sich die Mühe machte, dem zuzuhören, was seine Patienten
ihm zu sagen hatten. Vor allen Dingen nutzte er Hunderte von
Erfahrungsberichten seiner Patienten als rohe Daten, aus denen er seine
theoretischen Konstrukte ableitete. Und nun, da die Theorie und das
Forschungsprogramm sich in fortgeschritteneren Entwicklungsstadien
befinden, stützt er sich weiterhin auf die persönliche Erfahrung
seiner Patienten, sowohl als Validation der aufgestellten Hypothesen als
auch als Anhaltspunkt für weitere theoretische Verfeinerung. In dieser
Hinsicht schreibt er:
"Wir
müssen verstehen, dass Statistik nicht gleichbedeutend mit
Wissenschaft ist. Zu oft verlassen wir uns auf Statistiken, um zu
beweisen, was wir nicht fühlen können. Wir verstehen einfach nicht,
dass Gefühle Gültigkeit haben, - dass Gefühle nicht etwas sind, das
man als irrational und unvernünftig beiseite schiebt; wenn eine fühlende
Person etwas als richtig empfindet, dann ist es wahrscheinlich
richtig, besonders wenn wir von menschlichen Bestrebungen sprechen.
Statistiken messen Quantitäten, keine Qualitäten; und Gefühle sind
Qualitäten des Seins."4
4
Arthur Janov, The Primal Revolution (Simon & Schuster 1972) , s.37
Diese
Diskussion erfordert eine wichtige Unterscheidung, die sich um den
entscheidenden Ausdruck des vorangegangenen Zitats dreht: "eine fühlende
Person". – Patienten in anderen Therapieformen haben oft
behauptet, dass ihre "Erfahrung" in der Therapie ihr Leben
radikal verändert und verbessert hat. Desweiteren bieten religiöse
Leute oft ihre persönliche "Erfahrung" Gottes als Beweis für
seine Existenz. Und sie behaupten weiterhin, dass Menschen, die keine
"spirituelle Erfahrung" gehabt haben, niemals von religiösen
Wahrheiten überzeugt sein würden. Ist diese Art von Erfahrung nicht
genauso gültig wie jene von Primärpatienten, und bietet sie keinen
Beweis für für die besondere Form von Therapie oder Religion, die sie
rechtfertigen soll? Die Antwort findet man schon in der Definition der
Neurose als Abkoppelung vom Fühlen. Neurotiker sind Menschen, die ihre
Vergangenheit nicht voll erfahren haben und deshalb ihre Gegenwart nicht
voll erfahren. Wie können wir die Erfahrung einer nichtfühlenden
Person als Beweis für irgendetwas akzeptieren, wenn diese Person gerade
vom Kern ihrer Erfahrung abgetrennt ist - ihren Gefühlen? Die Primärerfahrung
ist die einzig gültige, weil sie vollständig ist
Es
ist ganz offenkundig: wenn Zugang zu Gefühlen als Gültigkeitsbeweis
der Primärtheorie dienen kann, dann dient Mangel an Zugang de facto als
Ungültigkeitsbeweis. Ein Wissenschaftler, der nicht einmal minimalen
Zugang zu seinen Gefühlen hat, besitzt nicht die notwendigen
Voraussetzungen für den Beweis einer psychologischen Theorie, die
behauptet, dass "Neurose eine Krankheit des Gefühls ist"
(Janov) . Es sollte durch das Obenerwähnte klar sein, dass einen nichtfühlenden
Wissenschaftler von der Gültigkeit der Primärtherapie zu überzeugen
ein Problem darstellt, das Argument und Beweis in einer Weise überschreitet,
die viel tiefer ist als Kuhn erklärt. Denn wenn ein Psychologe die Gültigkeit
der Primärtheorie akzeptieren soll, muss er die Tatsache akzeptieren,
dass er selbst neurotisch ist. Überdies können intellektuelle
Argumente, die von einem Wissenschaftler vorgebracht werden, um die Primärtheorie
in Misskredit zu bringen, oft Teil seiner persönlichen Abwehrstruktur
sein und somit immun gegen Logik. Wir wissen, dass Schmerz, wenn er
unterdrückt wird, hochgradig gewundene Ideengespinste hervorbringen
kann, die nur durch die Erfahrung des Schmerzes beseitigt werden können,
der sie erzeugt hat. Wenn diese Ideenbildung die Form eines paranoiden
Gedankens annimmt, ist es nicht schwierig zu erkennen, dass es sich um
ein neurotisches Symptom handelt. Wenn es die Form einer psychologischen
Theorie annimmt, wird das Problem sehr komplex.
Dies
deutet darauf hin, dass die Primärtheorie schließlich viel zur
Soziologie des Wissens beizutragen haben wird. Auch fügt sie dem
Problem des Paradigmastreits eine neue Dimension hinzu, die man niemals
zuvor in der Geschichte der Wissenschaft hätte in Betracht ziehen können.
Kuhn erklärt, wie profund die Erfahrung der Hinwendung zu einer neuen
Theorie sein kann. Er beschreibt sie als einen vollständigen Wechsel in
der Weltanschauung eines Individuums, als tatsächlich erschütternden
Prozess. "Es ist", schreibt er, "fast so, als wäre die
wissenschaftliche Gemeinde auf einen anderen Planeten transportiert
worden, wo vertraute Objekte in einem anderen Licht gesehen werden und
sich außerdem mit unvertrauten vereinigen." (ibid., S.111) . Und
an anderer Stelle fügt Kuhn hinzu :
"Um
zum Beispiel den Übergang zu Einsteins Universum zu vollziehen, müsste
das ganze Begriffsnetz, dessen Fäden Raum, Zeit, Materie, Kraft und
so weiter sind, verschoben und wieder als Ganzes auf die Natur
abgelegt werden. Nur Menschen, die sich miteinander dieser
Transformation unterzogen oder es unterlassen hätten, wären in der
Lage genau zu entdecken, worin sie übereinstimmten oder uneins wären.
Betrachten Sie als ein weiteres Beispiel die Menschen, die Kopernikus
verrückt nannten, weil er verkündete, dass die Erde sich bewege. Sie
lagen weder einfach falsch oder völlig falsch. Ein Teil dessen, was
sie mit "Erde" meinten, war "fixierte Position".
Ihre Erde konnte wenigstens nicht bewegt werden. Entsprechend bestand
Kopernikus`s Innovation nicht einfach darin, die Erde zu bewegen.
Vielmehr war es eine ganz neue Art, die Probleme der Physik und
Astronomie zu betrachten, eine, die notwendigerweise die Bedeutung von
"Erde" als auch von "Bewegung" veränderte. Ohne
diese Veränderungen war das Konzept einer sich bewegenden Erde verrückt."
(ibid., S.149-150)
Zweifelsohne
lassen diese Verschiebungen in der Weltanschauung den Verstand
erschaudern, auch wenn eine Veränderung in der Sicht eines gewissen
Teils des äußeren Universums - des Himmels oder eines fallenden Körpers
oder von Chemikalien in einer Lösung - betroffen ist. In der
Psychologie jedoch ist das Objekt der Beobachtung das Individuum, sein
Verhalten ebenso wie sein Innenleben. Wenn es eine aufschreckende
Erfahrung sein kann, seine Anschauung zu ändern, wie der Himmel
funktioniert, um wieviel aufschreckender muss es dann sein, seine
Anschauung zu ändern, wie der Mensch funktioniert. Abgesehen von dem
Widerstand, der, wie wir wissen, ein essentielles Element
wissenschaftlicher Veränderung ist, war die Tatsache, dass der Mensch
das Objekt der Untersuchung war, ein bedeutender Grund, dass Freuds
Theorien so eine intensive Reaktion verursachten. Aber gleichgültig wie
schwierig es gewesen sein mag, - die Anerkennung des Freudschen
Unterbewusstseins konnte vollbracht werden ohne zu verlangen, dass das
Individuum sich selbst substanziell ändere. Welche möglichen
Konsequenzen könnten schließlich im Eingeständnis einer Person
enthalten sein, dass sie (oder er) neidisch auf einen Penis sei? Wie könnte
dies das Leben der Person verändern? Offensichtlich wären die Veränderungen
auf das Reich der Ideen beschränkt. Der Penisneid ist eine geistige
Vorstellung. Sie zu akzeptieren erfordert eine begriffliche Anpassung,
die so ausgeführt werden könnte, dass der Persönlichkeitskern des
Individuums an Ort und Stelle belassen würde. Um an Freud zu glauben,
muss man glauben, dass irgendwo im Inneren des Selbst ein Es lauert, das
der Sitz mörderischer und perverser Impulse ist. Das ist kein
angenehmer Gedanke, aber andererseits scheint er auch keine drohende
persönliche Gefahr zu erheben. Beachten Sie , mit welcher Leichtigkeit
und Häufigkeit vollkommen gesunde Charaktere im Fernsehen eine
tiefgreifende Einsicht bekunden: "Wissen Sie, ein kleiner Mörder
steckt in uns allen." Ein bißchen erschreckend vielleicht. Aber
was weiter? Das Freudsche Unterbewusstsein nimmt kurz gesagt so groteske
Märchenqualitäten an, dass es leicht von jedermann akzeptiert werden
und doch eine ausgestreckte Armlänge weit von der persönlichen Realität
entfernt bleiben kann.
Andererseits
muss jemand, um an die Primärtheorie zu glauben, offen der Tatsache ins
Auge sehen, dass im Inneren seiner selbst die Verletzungen und die Bedürfnisse
und die Verzweiflung der Kindheit liegen. Die Analyse erfordert
lediglich, über Gefühle zu reden. In der Primärtherapie wird
verlangt, sie zu fühlen. Sich der Therapie zu unterziehen, verlangt
eine gründliche Transformation der Art und Weise, wie jemand sein Leben
betrachtet und ebenso, wie er es führt. Ein Hinweis auf die Tiefe
dieser Erfahrung wird durch den Beweis erbracht, dass Primärtherapie
physiologische Veränderungen im Gehirn erzeugt, etwas, das
psychoanalytische Einsicht niemals leisten könnte. Die Primärtheorie
zu akzeptieren ist also gleichbedeutend damit, eine persönliche
Wahrheit zu akzeptieren, die verheerender ist als irgendeine, die jemals
in der Geschichte des Menschen und der Wissenschaft entdeckt worden ist.
Die
Revolution im Paradigmakonflikt in der heutigen Psychologie wird deshalb
doppelt schwierig, wenn das Primär-Paradigma als das alternative
Paradigma präsentiert wird. Die endgültige Revolution würde eine Veränderung
in der Selbstbetrachtung eines Menschen erfordern; eine Veränderung,
die sowohl die Sicherheit untergräbt, die früher durch sein Vertrauen
in seine eigene Gesundheit gegeben war, als auch die Behaglichkeit, die
seinen Auffassungen von Geisteskrankheit innewohnte.
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Übersetzung.
Ferdinand Wagner
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