Artikel u. Buchausz.

BUCHAUSZUG

Artikel u. Buchausz.
 

ORIGINAL:    GRAND DELUSIONS                                                                     

Buchübersetzungen

     

 
 

 

Dr. Arthur Janov

 

  GRAND DELUSIONS

GROSSE ILLUSIONEN

  Psychotherapien ohne Feeling

 

Veröffentlicht im Juni 2005 auf primaltherapy.com

 

Kapitel 16

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SCHLUSSFOLGERUNGEN

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Vor Jahren sagte ich, dass das größte Leiden der Menschheit gleich nach psychischer Krankheit die Behandlung für sie sei. Ich glaube noch immer an diese Behauptung. Die Psychotherapie der Gegenwart ist ein wirres Durcheinander von Ansätzen, Philosophien, Meinungen und Persönlichkeiten, die gegeneinander Krieg führen. Es gibt Therapien, die sich mit Gedanken und psychischer Anpassung befassen, andere Therapien, die für Hier-und Jetzt-Selbstausdruck eintreten, andere, die sich um Abreaktion und Katharsis drehen – allerdings in einem historischen Vakuum, andere, die die Psyche durch Neugestaltung der Muskulatur zu manipulieren suchen und wieder andere, die danach streben, die Physiologie durch Medikamente und chemische Veränderungen umzuwandeln. Diese Therapien stehen in der Regel auf der einen oder anderen Seite der Dialektik; nie verstehen sie die dynamische Wechselwirkung innerer Kräfte, die ein normales System in ein neurotisches transformieren. Jede Therapie greift das Problem auf einer anderen Ebene an, ohne die Gesamtheit der involvierten Prozesse zu erkennen.

Ich glaube, dass es eine Heilbehandlung für Neurose gibt und dass Psychotherapie dabei eine Rolle spielt, aber keine „Psycho“-Psychotherapie; vielmehr eine, die auf Erfahrung gründet. Diese Behandlung bedeutet, sich mit dem grundlegenden Konflikt zwischen den Kräften des Leidens und ihrem Gegenspieler zu befassen. Das Ziel besteht darin, jemandem, der von Gefühlen abgeblockt ist, zu helfen, ein fühlender Mensch zu werden; Menschen zu helfen, Zugang zu sich selbst zu gewinnen, sodass sie kein Unbewusstes mehr haben, dass entscheidend gegen das Bewusstsein ins Gewicht fällt und sie dazu treibt, Dinge zu tun, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Von den Psychotherapien der Hauptströmung kann das keine leisten, weil keine Theorie die zentrale Tatsache erkennt, dass Neurose auf frühen Traumen basiert, die ein Leben lang im System bleiben, und keine Therapie den Angriff auf eingeprägten Schmerz zum Hauptziel hat. Wie wir gesehen haben, ignorieren die meisten Psychotherapien entweder die Dialektik und den Schmerz oder bewerkstelligen es, ihn wegzuschließen.

Das Problem mit der heutigen Psychotherapie ist Psychotherapie. Die Krankheit wird als psychisch definiert, also geht der Patient zu einem Therapeuten, um sich seine Psyche umgestalten zu lassen. Hypnotherapie hilft ihm zu dissoziieren, Psychoanalyse gibt ihm „Einsicht“, humanistische Psychologie umgeht Trauma und Schmerz auf der Reise zu sogenannter Selbstverwirklichung und  Spitzenerfahrung, RET hilft ihm, seine Glaubensvorstellungen und seine Philosophie zu identifizieren und zu verändern, Gestalt führt zu „Bewusstheit“ und zufälliger Gefühlsentladung, und so weiter. Die Psyche wird anvisiert, konfrontiert, gemanagt, besiegt und verändert, aber der Patient verlässt die Therapie mit genau demselben Satz verschlüsselter Schmerzen, die er in seinem Körper hatte, als er die Behandlung begann. Dennoch „fühlt er sich wohl“ – das heißt, er denkt, er fühlt sich wohl, weil all die zerebralen Einsichten, die der Therapeut anbietet, ihn mit einer Abwehr ausstatten, die ihn besser von seinem Leiden trennt. Er ist entfremdeter und deshalb fühlt er sich besser. Er fühlt sein Leiden nicht mehr, das aber da sein muss, denn andernfalls wäre er erst gar nicht zur Psychotherapie gegangen. Sein Schmerz ist jetzt lediglich ein fernes Echo. Und die Abwehr, die den Schmerz weit weg hält, kann Jahre andauern.

Kann Ihnen eine Therapie helfen, wenn Sie es glauben? Lässt der Wunsch, es möge uns besser gehen, das geschehen? Wenn Sie sich kleine Hämmer vorstellen, die Krebszellen zu Brei schlagen, wie beim gelenkten Tagträumen, sind Sie dann wirklich gesund? Es gibt Beweise, dass es einigen Leuten hilft. Sind sie gesund? Wenn der Schmerz bleibt, nein. Ihre Symptome bessern sich, was wichtig ist. Aber wenn Sie sich Gesundheit einbilden, bekommen Sie eingebildete Gesundheit.

Symptome bessern sich durch Biofeedback, Psychoanalyse und Religion. Glaubensvorstellungen setzen Verdrängungssubstanzen frei, sodass das Leiden nachlässt. Aber Glaube heilt nicht. Meiner Meinung nach können Sie denken, dass Sie sich besser fühlen – durch Wünschen, Sich-Vorstellen, Glauben und dadurch, dass Sie „Ihre Einstellung ändern.“ Aber sich wirklich gut zu fühlen, ist ein Seinszustand, der mit dem Körper einhergeht. Wenn es Anzeichen gibt, dass der Körper Schmerz verarbeitet, auch wenn jemand denkt, er oder sie fühle sich gut, dann besteht ein Spalt zwischen dem, was man wahrnimmt, und wie man sich wirklich fühlt. Dann können Sie das Gegenteil dessen denken, was in Ihrem Körper vor sich geht. Ja, so kann Ihnen Wünschen Besserung bringen, aber nur in geringem Maß und nur für gewisse Zeit.

Solange psychische Krankheit als psychisch definiert wird und solange Therapie auf dieser Ebene bleibt, wird der Patient neurotisch bleiben. Oder wenn Neurose als muskulärer Zustand definiert wird, wird die Behandlung alles außer dieser Muskulatur ignorieren. Die Gesamtperson wird aus der Gleichung ausgeschlossen. Genau das ist bei den meisten Hauptströmungen der Psychotherapie geschehen.

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Obgleich Patienten vielleicht denken mögen, sie seien gesund, ist es offensichtlich, dass sie sich ungeachtet ihrer scheinbar verbesserten Selbstbewusstheit oder der neuen kognitiven Muster, die sie gewissenhaft erlernt haben, nicht wirklich auf tiefgreifende Weise verändern. Die Psychotherapie der heutigen Zeit kann Sie befähigen, dass es Ihnen im Kopf besser geht, aber sie hilft Ihnen nicht, gesund zu werden. Mit der Zeit wird der Körper den Preis zahlen. Und die zerstörerischen, durch Verdrängung und Entfremdung bedingten Wirkungen werden schließlich das physische System zusammenbrechen lassen.

In der letzten Generation ist mit der Erkenntnis, dass Psychoanalyse und andere Psychotherapien nicht wirklich funktionieren, und mit dem Aufstieg der New-Age-Bewegung eine neue Auffassung aufgetaucht: dass es weder notwendig noch möglich sei, Neurose zu heilen. So schrieb Joel Kovel vor Jahren in A Complete Guide to Therapy : „Das Modell für Therapie ist nicht die Heilung einer Krankheit sondern das Wachstum – genauer die Bildung – einer Person.“ [1] Meine Ansicht ist, wenn Sie Bildung wollen, gehen Sie zur Schule. Dafür brauchen Sie keine Psychotherapie. Aber für Kovel, der das medizinische Modell aufgegeben hat und glaubt, Neurose sei nur in Ihrem Kopf, reduziert sich der psychische Zustand eines Menschen auf eine Lernangelegenheit. Wenn man sich nicht wohl fühlt, muss man nur einer bestimmten Formel folgen, um sich besser zu fühlen. Bedeutet das, dass Neurose etwas ist, das man erlernt? Man wird voll bewusst, spontan, voller Freude geboren und verlernt dann, wie man so ist? Was dann erfordert, dass man zurückwachsen muss in das, was man einst war?

Wenn Therapeuten über „Wachstum“ reden, wie Kovel es tut, sollten sie von wirklichem biologischen Wachstum des ganzen Menschen  reden und nicht von einem mystischen Begriff psychischen oder metaphorischen Wachstums. Und zwar deshalb, weil Neurose im Blut, den Knochen und im Gewebe steckt, was bedeutet, das ihre Beseitigung ebenso in physischen Wachstums-Veränderungen resultieren sollte. In unserer Therapie gibt es nach einem Jahr wichtige Veränderungen bei den Wachstumshormonen. Bei einigen Patienten kommt es zu Wachstum weichen Gewebes. Das ist wirkliches Wachstum.

Nahezu jede Psychotherapie-Schule gibt den Begriff und die Möglichkeit der Heilung auf. Was paradox ist. Wenn Sie wirklich glauben, dass Sie keine Krankheit behandeln, die Krankheit aber dennoch existiert, dann behandeln Sie etwas anderes, weiß Gott was, und die Krankheit bleibt bestehen, gleich, wieviel „Wachstum“ es gibt. Die Krankheit bleibt, aber weil Sie sie nicht behandeln, ist Heilung natürlich nicht möglich. Dem Fachgebiet der Psychologie bleibt nichts übrig, als ihrem begrifflichen Schwanz nachzujagen. Sodann wird „Heilung“ suspekt, und diejenigen, die das Wort gebrauchen, werden zu Parias.

Warum ist es nach einem Jahrhundert Theorie und Praxis zu dieser Sackgasse gekommen? Weil Neurose nicht als biologische Krankheit betrachtet wird. Obwohl Hunderte biologischer Veränderungen mit Neurose korreliert sind, hält das Feld der Psychologie im Großen und Ganzen noch immer an der einfachen Konzeption „psychischer Abweichung“ fest. Sie fasst Neurose als einfach eine Frage einer gedanklichen Funktionsstörung auf. Wenn aber die Lymphozyten oder Immunzellen als Ergebnis von Depression einer radikalen Änderung unterliegen oder wenn man bei Autopsien an Schizophrenen systematische Drehung von Gehirnzellen im limbischen System findet, sollte es uns etwas über die Einheit von Körper und Psyche bei psychischer Krankheit sagen.

Wenn frühe Traumen voll wiedererlebt werden und nicht nur Angst und Depression verschwinden sondern ebenso seit langer Zeit bestehende Symptome wie Allergien und Leiden und Schmerzen mysteriösen Ursprungs, sollte uns das nicht auch etwas über das Vorhandensein von Neurose überall im Organismus sagen?

Die meisten Leute würden bestimmt gerne gesund werden, aber sie wollen sich nicht wirklich verändern. Sie wollen auf möglichst bequeme Art gesund werden, ohne ihre Gepflogenheiten und ihren gewohnten Gang, die Art, wie sie sich selbst sehen und ihren Lebensstil im Allgemeinen merklich zu beeinträchtigen. Aus diesem Grund wählen sie Therapien, die zu ihrer psychologischen Geisteshaltung passen. Und es gibt da draußen ein Übermaß an solchen Therapien – Therapien, die Sie ermahnen, Ihre Vorstellungen zu ändern, die Ihnen zeigen, wie man sich kreativ vergegenwärtigt, frei von Angst zu sein und wie man Stress wegmeditiert, die Ihnen helfen, die Spannung aus Ihren Muskeln herauszumanipulieren. Therapien, die grundsätzlich an der Oberfläche des Problems bleiben und vielmehr versuchen, Wirkungen zu beheben als tiefere Ursachen anzuvisieren.

Heute haben wir in der Psychotherapie im Grunde zwei unterschiedliche Ansätze: Therapien, die eine gewisse Art emotionalen Ausdrucks unterstützen, und Therapien, die sich auf Kognition und Analyse konzentrieren. Es hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Familien-Schauplatz, wo ein Elternteil die Kinder ein bisschen fühlen und sich selbst ausdrücken lässt, während der andere Elternteil nicht einmal wissen will, was die Kinder fühlen. Wenn Therapie Fühlen umgeht und Kognition zum Ziel hat, wird der Therapeut unter bestimmten theoretisch-philosophischen Richtlinien in den Dienst gezwungen, mit dem Ziel, Patienten zu helfen, dass sie aufhören auszusehen, als seien sie krank, weil sogar das äußere Erscheinungsbild von Schmerz ein Affront gegen den Therapeuten und die Wirksamkeit seiner Therapie ist. Viele konventionelle Therapien, auch diejenigen, welche für Hier-und Jetzt-Ausdruck eintreten, verneinen zu Gunsten verbesserten sozialen Funktionierens die Notwendigkeit, die Existenz von (frühem) Schmerz anzuerkennen, geschweige denn, dass sie darüber reden.

Repressive kognitive Therapien wie Behaviorismus, Konditionierungstherapie und RET passen in ein breiteres soziales Umfeld, in dem Regulierung und Disziplin von großer Bedeutung sind. Diese Therapien werden von Bundes- und Länderregierungen großzügig mit Geldern gefördert, weil sie mit dem vorherrschenden Zeitgeist verschmelzen: Sie sind in der Lage, die Forderung der Gesellschaft an ihre Bürger auszuführen, nämlich zu verdrängen und weiterzumachen, sich anzupassen, anzugleichen und zu produzieren.

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Nahezu jede Therapie beinhaltet eine bestimmte Art von Manipulation des Patienten durch den Therapeuten. Sogar eine Einsicht, die der Therapeut liefert, ist eine Form von Manipulation, weil sie die Machtbasis unterschwellig vom Patienten zum Therapeuten verlagert. Wenn man jemandem etwas über ihn selbst sagt, bedeutet das, dass eine stärkere ‚wissensfähigere’ Seele zugegen ist. Oft haben Patienten Angst vor einer Therapie, weil sie nicht wissen, wohin sie der Therapeut bringt. Angesichts der Natur der Verdrängung macht das einen gewissen Sinn; obwohl sich Patienten besser fühlen wollen, wollen sie nicht unbedingt die tiefliegenden Ursachen ihrer Neurose fühlen. Jedenfalls erleichtern die meisten Psychotherapien diese Art heilsamen Fühlens nicht. Stattdessen müssen sich Patienten gewöhnlich in die vorgefassten (erklärten oder nicht erklärten) Ziele und Absichten der Therapie einfügen. Wenn die Ziele vom Therapeuten gesetzt werden, haben wir bereits das erste Problem.

Die neue 45-Minuten-Therapiestunde ist ständiger Bestandteil der autoritären Mechanisierung der Psychotherapie. Für nichts scheint Zeit zu sein – keine Zeit für Forschen oder Suchen, keine Zeit für langsame, mitfühlende, warmherzige, reiche menschliche Interaktion. Alles ist auf die Minute genau reguliert. Für den Patienten bleibt keine Muße, seine Gefühle zu erleben und darüber nachzudenken, was er gefühlt hat, ein Prozess, der Stunden beansprucht, nicht Minuten. Wenn Feelings diese zugebilligten Minuten überschreiten, läuft es genau so: die Sitzung muss nach Zeitplan beginnen und enden. Entweder löst der Patient seine missliche Lage in 45 Minuten, oder er wartet bis nächste Woche. Wenn er oder sie mitten in Tränen oder großer Traurigkeit stecken, ist seine oder ihre Zeit dennoch um. Natürlich lässt die bloße Struktur der Psychoanalyse kein tiefes Fühlen zu, sodass diese Eventualität minimiert wird. Würde man nur eine kleine Veränderung an ihrer Struktur vornehmen, so dass Sitzungen wie in unserer Therapie zu Ende sind, wenn der Patient es sagt, könnte man zu tiefen Gefühlen gelangen.

Wie ich sagte, sind die meisten Psychotherapien Erweiterungen des elterlichen Systems. Sie setzen fort, was neurotische Eltern mit Kindern machen, wenn sie sagen, Sie müssten sich organisieren, in Schwung kommen, beschließen, es zukünftig besser zu machen, sich mehr bemühen, sich fürs Lernen und für bessere Noten engagieren. Später im Leben drängt Sie eine andere Autoritätsfigur, mit bestimmten Denk- und Verhaltensweisen aufzuhören, erzählt Ihnen, es gebe keinen vernünftigen Grund, sich so zu fühlen, wie Sie sich gerade fühlen, es sei nur das Produkt verzerrten Denkens, und dass es an der Zeit sei, Kontrolle über ihre Gedanken auszuüben und Ihr Leben in Ordnung zu bringen. Das erhält die Überschrift ‚Therapie’, aber in Wirklichkeit ist es einfach unter einem neuen Titel verkleidete und auf einen anderen Schauplatz verlagerte elterliche Ermahnung. Man sagt Ihnen, dass Ihre Probleme das Resultat der Wahl und Entscheidung seien, die Sie getroffen haben und die Sie ändern können. Gesund zu werden erfordere einfach, sich Ziele zu setzen und sich ihrer Verfolgung zu widmen. Es sei alles in Ihrem Geist, eine Frage intellektuellen „Verstehens“ und eine Frage, zu neuen Schlüssen zu kommen. Was immer Ihnen in der Vergangenheit widerfuhr, bedeutet nichts mehr.

Das Ziel der meisten Therapien ist nicht Bewusstsein sondern gegenwärtiges Funktionieren. Und das Ergebnis ist verstärkte „Selbstkontrolle,“ auch als Verdrängung bekannt.

Entscheidungen zu treffen – wie sich zu entschließen, andere Denk- und Verhaltensmuster zu lernen – ist vielleicht eine intellektuelle Tätigkeit, aber viele Entscheidungen sind das Ergebnis unbewusster Kräfte, die nicht gefühlt worden sind. Entscheidung, Geltendmachung oder jede andere menschliche Bemühung muss man als Auswuchs historischer Prozesse sehen. Entscheidungs-Therapie hilft Menschen, Entscheidungen zu treffen und über ihre Ambivalenz hinwegzukommen, aber sie sind nach Art von: „Ich würde gerne eine Entscheidung treffen, wenn ich mich entscheiden könnte, eine Entscheidung zu treffen.“ Das soll nicht heißen, dass niemand je eine bewusste Entscheidung treffen kann. Aber die Idee, dass ein Vergewaltiger beschließen wird, nicht mehr zu vergewaltigen, oder dass jemand, der kalt und distanziert ist, beschließen wird, warmherzig zu sein und Beziehungen einzugehen, ist ungefähr so lächerlich wie zu erwarten, dass ein Mensch, der unter Migräne leidet, beschließt, nie wieder eine Migräne zu haben, oder einen Epileptiker zu ermahnen, er solle beschließen aufzuhören, epileptische Anfälle zu haben. In Gehirn und Nervensystem wirken massive Kräfte, Kräfte, die man als Ursache der Neurose und ihrer somatischen Ausflüsse begreifen muss und mit denen man sich befassen muss, wenn irgendeine Art wirklicher Heilung zustandekommen soll.

Vor einigen Jahren war ein Buch über frühe Erfahrung auf dem Markt, das für mich ein Licht auf die Art von Problemen und falschen Schlüssen wirft, die entstehen, wenn man versucht, durch ahistorisches Theoretisieren und „objektive“ statistische Analysen zu einem Verständnis emotionaler Krankheit zu gelangen. Early Experience: Myth and Evidence [etwa: Frühe Erfahrung: Mythos und Beweise], herausgegeben von Clarke und Clarke [2], präsentiert die Perspektiven vieler der größten Namen in der Kindertherapie und –forschung. Sie beinhalten Urie Bronfenbrenner, Professor für menschliche Entwicklung an der Cornell Universität; Wayne Dennie, Professor Emeritus, Brooklyn College; Michael Rutter, Professor für Kinder-Psychiatrie, Institut für Psychiatrie, London; Jerome Kagan, Professor für menschliche Entwicklung in Havard. Es scheint, dass diese prominenten Professoren alle zu dem gleichen auf seriösen und wissenschaftlich organisierten Forschungsprojekten basierenden Schluss gekommen sind: dass frühe Lebenserfahrung nicht viel mit späterer Neurose zu tun hat.

„ Das beständige Bild substantieller Erholung (von schwer früh-isolierten Babys),“ schreiben die Herausgeber, „in Verbindung mit dem Fehlen von Beweisen, die potentielle genetische Überlegenheit nahelegen, stellt die Möglichkeit einer frühen Periode ernsthaft in Frage, in der der Organismus irreversibel anfällig für Umgebungseinflüsse ist.“ [3] In ihren Schlussfolgerungen behaupten Clarke und Clarke das Folgende:

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Ohne Ausnahme sind sich die Autoren, deren Werk zitiert wird, der Wichtigkeit genetischer Variablen bewusst; sie stehen der Möglichkeit von Umwelteffekten feinfühlig gegenüber; eine Mehrheit hat – manchmal zu ihrer eigenen Überraschung – Beweise erbracht, die nahelegen, dass Ereignisse, die in den ersten paar Jahren im Leben eines Kindes geschehen, nicht unbedingt von großer Bedeutung für die spätere Entwicklung sind. [4] [Kursivschrift zusätzlich]

 

Die einzige Möglichkeit, wie jemand zu dieser Art von Schluss kommen könnte, besteht darin, dass er oder sie völlig von seiner eigenen Kindheit losgelöst ist. Ganz zu schweigen davon, dass die von den Autoren zitierten Forschungsarbeiten den Myriaden Studien ins Gesicht fahren, die das Gegenteil anzeigen. Misshandelte Kinder werden zum Beispiel mit zehnfach höherer Wahrscheinlichkeit zu misshandelnden Eltern. Kinder aus zerrüttetem Elternhaus haben eine viel größere Wahrscheinlichkeit als Kinder aus intaktem Elternhaus, unter Nervenzusammenbrüchen, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit zu leiden. Statistische Indizien können nützlich sein; sie können auch entmenschlichen. Sie können vielmehr mit „statistischen Wahrheiten“ enden als mit menschlichen Realitäten. Jedenfalls müssen Sie nicht andere Leute studieren, um die Macht zu erkennen, die frühe Ereignisse ein ganzes Leben lang ausüben. Wenn Sie sich an Ihre Kindheitserfahrungen erinnern und fühlen könnten, was Sie Ihnen im späteren Leben angetan haben, wäre es Ihnen keinesfalls möglich, diese Ereignisse bedeutungslos zu nennen.

Die Clarks sagen, dass die Freudianer und Neo-Freudianer die Wichtigkeit früher Kindheitsereignisse überbetont haben. Sie sagen auch, dass Therapeuten, wenn sie annehmen, Neurose leite sich daraus ab, was früh im Leben geschieht, damit enden, dass sie nur sehen, was sie sehen wollen: die schädlichen Wirkungen früher Erfahrung. Diese Editoren beziehen sich auf Forscher, die versichern, dass es eine bequeme Methode sei, die Diskussion gegenwärtiger Probleme zu vermeiden, wenn man sich in der Psychotherapie auf die Kindheit eines Erwachsenen konzentriert. Diejenigen, die die Auswirkungen der Kindheit betonen, sagen sie, „agieren unwissentlich als wechselseitige Verstärker bei der Entdeckung von Anomalien im frühen Leben.“ [5]

Ich würde das Gegenteil sagen: Jene, die die Auswirkungen der Kindheit nicht betonen, unterstützen unwissentlich Verdrängung. Auf diese Weise verstärken Therapeut und Patient wechselseitig die Neurose.

Einige der in Early Experience: Myth and Evidence versammelten Autoren liefern Beweise, dass Kinder aus sehr schlechten Waisenhäusern, die zu anderen Institutionen und später zu Adoptiveltern wechselten, als Erwachsene gute Anpassung zeigten und dass ihre Anpassung vielmehr von “späteren Änderungen” abhing als von frühen Traumen. Wie kommen sie zu diesem Schluss? Ein Index, den sie verwenden, ist der I.Q.  Wenn frühe Traumen nicht den Intelligenzquotienten verändern, so versichern sie, dann sind frühe Traumen bedeutungslos und spielen für die spätere Intelligenz lediglich eine minimale Rolle. Die Wahrheit ist, dass wir einige sehr intelligente Psychotiker in der Primärtherapie gesehen haben und dass die gestörtesten Patienten, die wir sehen, ausnahmslos diejenigen sind, die in Institutionen aufwuchsen.

Statistische Studien laufen letztlich auf die subjektive Beurteilung durch den Wissenschaftlers hinaus, was man als Kriterium für Messungen benutzen soll. In der Alfred Kadushin–Studie zum Beispiel, die im Buch der Clarkes enthalten ist, verwendet man zwei Kriterien, um das „Wohlergehen“ von Kindern zu beurteilen, die ein traumatisches frühes Leben hatten und nachfolgend zu Adoptiveltern kamen. Ein Kriterium ist elterliche Zufriedenheit und Unzufriedenheit mit der Adoptiverfahrung. Das andere Kriterium ist das Verhältnis unstetiger Zufriedenheit zu Unzufriedenheit, das Eltern in Interviews mit den Forschern ausdrückten. Wenn Eltern ein hohes Zufriedenheitsniveau ausdrückten, bedeutete es erfolgreiche Anpassung bei den Kindern. Aber was ist, wenn die Eltern neurotisch sind? Dann haben wir neurotische Befriedigung mit neurotischem Verhalten von Kindern, die sich vielleicht gut anpassen, indem sie gehorsam, ruhig, ausdruckslos, passiv etc. sind. Eine Untersuchung über Flüchtlingskinder verwendete den I.Q., „allgemeine Kompetenz“ und „durchschnittliche Gesundheit“ als Kriterien dafür, wie gut sie sich angepasst hatten. Eine andere Studie benutzte Schulnoten als Determinanten.

Nirgends wird Fühlen erörtert; das Wort selbst erscheint nicht einmal. Schmerz gehört nicht zu den hier diskutierten Themen. Hat irgendjemand bei all der Aufmerksamkeit, die auf Intelligenz und Noten und elterliche Befriedigung gerichtet ist, jemals die Kinder gefragt, wie sie sich mit all ihren Anpassungen fühlten? Nein. Was ist mit dem Leidens-Index?  Den physischen und verhaltensmäßigen Ablegern eines eingeprägten Traumas? Der neurotischen Gedankenbildung? Wo sind die Statistiken hierfür?

Da ein Großteil des Landes unter Beruhigungsmittel und unter Prozac steht, muss man annehmen, dass mehrere Zehnmillionen von Amerikanern unter nicht anerkanntem frühen Schmerz leiden. Sie sehen im Fernsehen eine Menge Werbung für landesübergreifende Medikation wie Tylenol und Bayer und Nyquil und Tums und die restlichen, aber erörtern diese Anzeigen je das „Warum“ von Kopfschmerzen, Magenschmerz, Schlaflosigkeit oder Angst? Es geht darum, den Schmerz wegzuwischen, und nicht darum rauszukriegen, woher er kommt. Nimm einfach die Pille und erlebe ein klein bisschen Magie!

In der vergangenen Generation ist der Gebrauch von Medikamenten für sogenannte psychische Probleme über die Wände psychiatrischer Kliniken hinausgeschwappt und hat größere Teile der Gesellschaft durchdrungen. Medikamente werden automatisch nicht nur 90% der Schizophrenen verabreicht, sondern ungefähr jedem, der als suizidal betrachtet wird, und den meisten, die in ambulante psychiatrische Behandlung aufgenommen werden; ein Drittel der amerikanischen Erwachsenen haben irgendwann einmal Tranquilizer genommen. Der weitverbreitete Gebrauch von Beruhigungsmitteln (die jedes Jahr Millionen von Amerikaner verschrieben werden), ist ein Index für das Scheitern der Psychotherapie.

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Die Psychiatrie sitzt auf dem Rücksitz, und das (legale) Drogengeschäft ist der Fahrer. Es ist eine Sache des Schwanzes, der mit dem Hund wackelt.

Wenn Psychotherapeuten die Ursachen der Neurose nicht ausrotten können, haben sie keine andere Wahl, als ihre Manifestationen zu behandeln. Dann müssen sie rationalisieren, dass die Behandlung von Manifestationen die Apotheose der Psychotherapie sei. Wenn sie nicht verstehen, dass eingeprägter Schmerz aus früher Bedürfnis-Deprivation die Ursache ist, oder nicht wissen, wie sie sich damit befassen sollen, dann werden sie in den äußeren Randbereichen bleiben und immer wieder Symptome zurückschlagen. Die Waffe der Wahl, um diesen Zauber geschehen zu lassen, war in der Regel Valium. Heute ist es Prozac. Elektroschock erlebt eine Renaissance und ist vielleicht die Wahl der Zukunft. Es ist bestimmt der wirkungsvollste Unterdrücker.

Wenn man bewusst oder nicht unter Schmerz steht, erfordert es die Notwendigkeit magischer Methoden, um noch mehr Schmerz zu vermeiden. Wenn man von der Existenz vergrabenen Schmerzes nichts weiß - und die meisten Leute haben keine Ahnung -, ist man gezwungen, sein Bedürfnis nach Hilfe auf die Gegenwart zu konzentrieren: Wochenend-Seminare, Vorlesungen, inspirierende Gespräche, etc.  Diese ändern tatsächlich nichts, überzeugen aber die Leute, dass sie in der Tat verändert werden. Lebensfrühling, Est, spirituelle Führung usw. – das ist Woodoo unter anderem Namen.

Natürlich ist es sehr attraktiv, nach Medikamenten zu greifen oder sich auf Therapien einzulassen, die einen magisch und schmerzlos umwandeln. Geht es nicht darum bei Medikamenten?  Schmerzlose Veränderung….Magie. Therapeuten nehmen daran teil, weil sie auch eine magische Formel wollen, wo der Patient von seiner Veränderung in der Therapie hingerissen ist. Es kann befriedigend sein, Leute nicht unter Schmerz zu setzen, Schmerz, der nichtsdestotrotz existiert, und die Dankbarkeit des Patienten für die erhaltene Hilfe zu bekommen.

Viele Leute wissen es besser, dennoch hoffen sie gegen die Hoffnung. Aber meiner Meinung nach erzeugt jedes therapeutische System, das sich nicht primär Bedürfnissen zuwendet, falsche Hoffnungen, löst nichts auf und ist letztendlich reaktionär. Jedes Therapiesystem, das nicht auf Bedürfnisse gerichtet ist, muss zur Kompensation werden; das heißt, es muss sich vielmehr mit dem symptomatischen Ausdruck der Pathologie befassen als mit der Ursache der Pathologie selbst. Da der symptomatische Ausdruck individueller Pathologie Myriaden von Formen annimmt, ist die Aufgabe reaktiver Behandlung nicht nur gewaltig, sondern sie ist letzlich fruchtlos.

 

Soziales Bedürfnis und persönliches Bedürfnis

Betrachten wir einen Augenblick lang die Gesellschaft. Soziale Systeme, die errichtet werden, ohne dass an Bedürfnisse gedacht wird, müssen ihre Einwohner frustrieren und traumatisieren. Auf sozialer Ebene sind die Symptome unerfüllter Bedürfnisse vielfältig. Hohe Verbrechensquoten, geistig-psychische Krankheit, zunehmender Drogengebrauch und wachsende Raten chronischer Krankheit sind nur einige Beispiele. Es ist kein Zufall, dass man im bedürftigsten Segment der Gesellschaft die pathologischten Symptome finden kann, die höchste Häufigkeit von Mord und Vergewaltigung, Gewalt gegen Frauen, Kindesmisshandlung, Alkoholismus, Drogenmissbrauch und so fort. Auch kann man in diesen Sektoren mehr hyperaktive und antisoziale Kinder finden, die durch Bedürfnis-Deprivation zu diesen gemacht wurden. Die Existenz von Gangs ist selbst eine Widerspiegelung von Bedürfnissen. Bedürftige junge Leute bilden Gruppen in Opposition zu anderen solchen Gruppen, alle, um Identität, Bedeutung und ein Zugehörigkeitsgefühl zu erlangen. Gang-Aktivitäten, Substanz-Missbrauch und religiöse Bräuche können verschiedene Formen annehmen, aber in der Regel werden sie durch den Schmerz versagter Bedürfnisse erzwungen.

Die meisten Gesellschaften gründen vielmehr auf Profit als auf Bedürfnissen. Wenn das der Fall ist, muss die Gesellschaft kompensierende Subsysteme entwickeln, um mit den Symptomen dieses zentralen Widerspruchs fertig zu werden. Somit werden mehr psychiatrische Krankenhäuser und Gefängnisse gebaut, und Rufe nach mehr Disziplin in den Schulen werden laut. Es werden mehr Opiate hergestellt, um die Hyperaktivität und antisozialen Tendenzen von „Problemkindern“ zu unterdrücken und hochgradig ängstliche Leute zu beruhigen, sodass sie weiterhin funktionieren können. Eine Wettbewerbsgesellschaft, die vielmehr auf Erwerb basiert, als dass sie auf Bedürfniserfüllung ausgerichtet ist, produziert nicht für alle Jobs, aber vielleicht geht sie als oberflächliches Heilmittel mit Arbeitslosigkeit sparsam um. Sie schafft Städte, die unter der Luftverschmutzung ersticken, und ist gezwungen, ein enormes Maß an Energie und Geldmittel für die Behandlung von daraus resultierenden Erkrankungen der Atemwege, der Augen und des Herz-Kreislauf-Systems abzuzweigen. Wenn Symptome und nicht Ursachen ‚anvisiert’ werden, werden solche Mittel vergeudet.

Nehmen Sie Los Angeles. Anstatt das Ausmaß des Automobilverkehrs durch die Errichtung eines lebensfähigen Massentransportsystems zu reduzieren, kauften drei Industrie-Giganten (die mit Öl, Reifen und Autos handeln) die Bahnlinien der Stadt auf und zerstörten schließlich das Straßenbahn-System. Diese Gesellschaften haben auch Bedürfnisse, das Bedürfnis nach Profiten, Bedürfnisse, die mit menschlichen Grundbedürfnissen kollidieren. Und sie werden nach diesen Bedürfnissen Ausschau halten, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung und des Planeten, den sie bewohnen.

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Sind sie schuldig? Vielleicht nicht. Wie alle bedürftigen Leute sind sie in einem System gefangen, das sich selbst auf dieselbe Weise errichtet hat, wie das menschliche Gehirn sich selbst aus ‚Kette und Schuss’ von Erfahrung und Widrigkeit konstruiert hat. Ist das System einmal in Gang, ist alles andere zweitrangig. Die Bedürfnisse nach Profit, Expansion und Marktbeherrschung haben vor menschlichen Bedürfnissen Vorrang. Dasselbe geschieht innerhalb des persönlichen Systems. Der Neurotiker jagt Geld, Erfolg, Prestige, Achtung und Macht hinterher. Er ist ständig auf der Jagd nach symbolischer Erfüllung, die nichts mit realem biologischen Bedürfnis zu tun hat. Seine unerfüllten Bedürfnisse machen ihn ehrgeizig. Einige Leue, die so bedürftig nach Anerkennung und Lobhudeleien sind, enden damit, dass sie andere kontrollieren. Es sind Bedürfnisse, die Hitler, Stalin, Pol Pot, ganz zu schweigen von Jim Jones und David Koresh antreiben, autoritäre Macht zu ergreifen und auszuüben. Die Regierung selbst ist ein erschreckend effektives Instrument für Unterdrückung und Missbrauch; wer außer einem bedürftigen Soziopathen würde die Macht wollen, die sie verleiht?

Wenn eine Gesellschaft seine Einwohner nicht ernährt und ihnen keinen angemessenen Schutz bietet, und sie protestieren, riskieren sie, von den Unterdrückungs-Kräften, auch als Ordnungs-Kräfte bekannt, getötet zu werden. Die Obrigkeit will nicht daran erinnert werden, dass Menschen Bedürfnisse haben. Das gilt auch für die Psyche. Jemand benimmt sich abhängig und bedürftig und braucht Drogen, um mit dem Leben fertig zu werden, und er wird weiter unterdrückt, vielleicht durch Elektroschock-Therapie, und gezwungen, seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Oder Leute sind deprimiert, wobei ernsthafte Bedürfnisversagung direkt unter der Oberfläche liegt. Sie werden unter (legale) Drogen gesetzt und angewiesen zu funktionieren. Gibt es da einen Unterschied zu den hungernden Bauern in Südamerika, die Kokablätter kauen, um sich zu betäuben, während sie in mörderischem Tempo arbeiten, um Rauschgift für die Drogenbarone zu produzieren? Werden Bedürfnisse in der Gesellschaft oder im Individuum unterdrückt, beinhaltet dieses ‚Werk’ auch die Unterdrückung der sekundären Symptome. Es gibt mehr Verbrechen und psychische Krankheit – weg damit. Mehr Depression – mit Drogen beiseite schieben. Mehr psychische Zusammenbrüche – weg damit.

Wenn sich die kranke Gesellschaft und das neurotische Individuum einmal gebildet haben, erzeugen sie irreale Bedürfnisse und Ideologien, um sie zu rechtfertigen. Ein hoher materieller Lebensstandard ist das, wonach ein jeder strebt, im Glauben, das sei der Schlüssel zum Glück, aber ist er es? Wenn soziale Probleme nur bandagiert werden und man sich nicht Jahr für Jahr auf bedeutungsvolle Weise mit persönlichen Bedürfnissen befasst, nehmen die Symptome schleichend zu. Was soll Millionen von Nervenzusammenbrüchen und den Zusammenbruch der Gesellschaft verhindern? Prozac und Religion, Ideologie und Psychotherapie. Das ist der Leim, der das Land zusammenhält. So viele Leute sind emotional so depraviert, dass es ohne diese Schmerzkiller nicht genug Ärzte und Kliniken gäbe, um mit der Verrücktheit fertig zu werden.

Für eine große Zahl von Leuten ist Psychotherapie die neue Religion, der neue Weg zur Erlösung. Das Wesentliche jeder Religion ist Hoffnung – die Hoffnung auf Transformation und Erlösung. Der Patient hat sein ganzes Leben mit der unbewussten Suche nach Erfüllung und Wiedergutmachung verbracht, und das und nicht weniger will er von der Therapie. Was verspricht jede Psychotherapie? Erfüllung, Wiedergutmachung, Erlösung, Glücklichkeit. So erwartet der Patient und bietet der Therapeut dieselbe Sache: Magie. Das ist bestimmt verständlich. Verzweifelte Leute wollen, dass ihr Leiden aufhört. Sie wollen nicht wirklich wissen, warum es ihnen so schlecht geht; sie wollen nur ein Ende der Qual. Sie wollen schnell und schmerzlos geheilt werden. Und Psychotherapeuten wollen helfen.

Die Leute wollen einfache Lösungen, schnelle Behandlung und Lösung ihrer Probleme, aber sie wollen nicht durch die Turbulenzen der Veränderung gehen. Psychotherapien passen in dieses Ethos, teils weil viele Psychotherapeuten selbst gegen ihren eigenen Urschmerz abgewehrt sind. Therapeutische Ansätze, die die Notwendigkeit verneinen, in der Vergangenheit zu suchen und Ursachen auszurotten, haben wahrscheinlich mehr Erfolg in einem relativ jungen Land wie den USA, das weniger Traditionen als europäische Länder hat, und welche nicht alle auf die eigene Vergangenheit abgestimmt sind. Und seit einiger Zeit ist bei den psychotherapeutischen Tendenzen in diesem Land ein Wechsel im Gange, ein Wechsel weg von Vergangenheits-Reflexion und hin zum Hier und Jetzt. Therapeutisch bedeutet das, den Patienten zu behandeln, als hätte er keine Geschichte, keine Vergangenheit – ein fehlgeleiteter Ansatz, der dazu verurteilt ist, Symptome für Ursachen zu halten und Neurose intakt zu lassen.

Es gibt ein altes Axiom von George Santayana, des Inhalts, dass derjenige, der die Geschichte nicht versteht, verdammt ist, sie zu wiederholen. Das trifft zweifellos genau so auf Patienten zu, wie es auf Länder zutrifft.

Die Lösung – auf sozialer und persönlicher Ebene – muss letztlich in der Organisation der Gesellschaft und des Individuums um das Bedürfnis herum liegen. Damit das geschehen kann, muss es ein Bedürfnis-Bewusstsein geben. Ein solches Bedürfnis-Bewusstsein ist wesentlich für die Lösung der zentralen Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der Bürger und den Bedürfnissen derer, die die Produktions- und Verteilungsmittel kontrollieren, zwischen den Bedürfnissen eines Kindes und einem Elternteil, das dafür verantwortlich ist, sie zu erfüllen.

Im Gegensatz zu dem, was viele Psychotherapien beinhalten und praktizieren, hilft einem ein solches Bedürfnis-Bewusstsein, sich vielmehr mit Ursachen zu befassen als mit Wirkungen. Es beginnt mit einer inneren Erfahrung, einem Bewusstsein des persönlichen Selbsts. Das entwickelt sich dann in ein soziales Bewusstsein. Sich seiner Kindheitsbedürfnisse bewusst zu sein, bedeutet, sich dessen bewusst zu sein, was Kinder in vielen Bereichen brauchen. Wenn man darüber hinausgeht und die Agonie erlebt, die zustandekommt, wenn solche Bedürfnisse versagt werden – nachdem die Barrieren der Verdrängung Jahrzehnte nach dem Geschehen des Traumas angehoben worden sind – verringert man damit die Wahrscheinlichkeit, dass man ein solches Trauma seinen eigenen Kindern zufügt.

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Mit seinen biologischen Rhythmen und Gefühlen in Kontakt zu stehen, bedeutet auch, die Art von Lebens- und Arbeitssituationen zu verstehen, die man braucht; ein Lebenshintergrund, der nicht auf einer Gesellschaftsorganisation um Gleichförmigkeit, Produktivität und statistischen Indikatoren wirtschaftlichen Wachstums gründet, sondern auf den Bedürfnissen des Individuums, im Reich des Bewusstseins zu wachsen.

Die Lösung des Konflikts zwischen persönlichen Bedürfnissen und den Bedürfnissen derer, die in der Position sind, sie zu erfüllen, würde darauf hinauslaufen, dass es weniger neurotische Leute und eine weniger explosive Gesellschaft gibt. Individuen wären nicht mehr bedürftig, hyperaktiv, antisozial, würden nicht mehr zu Alkoholismus oder Substanz-Missbrauch oder symbolischer Bedürfnis-Erfüllung getrieben: Erfolg, Reichtum, Einfluss und der ganze Rest. Desgleichen würde die Gesellschaft nicht mehr hastig und chaotisch ohne Rücksicht auf die natürliche Umwelt und ihre begrenzten Ressourcen Energie verbrauchen. Würden Bedürfnisse erfüllt werden, würde sich das Ausmaß der gesamten im sozialen und persönlichen Bereich verbrauchten Energie radikal vermindern, und man würde auch effizienter mit ihr umgehen. Würde man den Bedürfnissen der Leute entsprechende schnelle Verkehrssysteme bauen, gäbe es auf den Straßen weniger Automobile, weniger verbranntes Benzin, weniger Verschmutzung, gesündere Luft. Das würde wiederum die Anzahl der Leute reduzieren, die wegen ihres  Lungenzustands und Herzkrankheiten ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, sodass es weniger Bedarf nach medizinischer Betreuung, Medikamenten, Klinikbetten und so weiter gäbe.

Wenn wir erst in der Lage sind, uns bewusst mit unserem eigenen Urschmerz (unbefriedigten Bedürfnissen) zu verbinden, werden wir nicht länger versuchen, ihn mit Schmerzkillern zu unterdrücken, und wir werden aufhören, im angestrengten Bemühen um Aufmerksamkeit, Anerkennung, Wertschätzung, Hochachtung und Liebe erregt herumzuzappeln.

Ist es möglich, das System zu ändern? Können wir die Psyche der Menschen ändern? Nehmen wir die Lektionen, die wir in der Primärtherapie gelernt haben.

 

Sich Bedürfnissen zuwenden: Die Logik des Bewusstseins

Da unerfüllte Bedürfnisse an der Wurzel der Neurose liegen, wendet sich meine Therapie hauptsächlich Bedürfnissen zu. Primärtherapie bietet keine oberflächliche Abhilfe und auch keine Symptom-Beruhigung, sondern den Schmerz, der sich wirklich ereignete. Wir diskutieren nicht über die Gedanken des Neurotikers. Noch versuchen wir, sie zu ändern. Stattdessen helfen wir dem Patienten, seine frühen Bedürfnisse in all ihrer unerfüllten Agonie zu fühlen. Wie wir herausgefunden haben, ist es diese Erfahrung, die lösend wirkt. Wir „ändern“ Geist und Psyche eines Menschen, ohne uns jemals direkt damit zu befassen.

Wenn entsprechend im sozialen Bereich der zentrale Widerspruch gelöst wird – wenn die Mittel der Bedrüfniserfüllung nicht in den Händen privater Individuen sind, deren Interessen im Widerspruch zu denen der meisten Leute stehen – ändern sich Ideologien automatisch.

Die Lösung des Widerspruchs zwischen den Kräften des Bedürfnisses und den Kräften der Verdrängung werden die Umstrukturierung des gesamten sozialen Systems erleichtern. Da soziale Symptome zurückgehen, da sich Gewaltverbrechen und Gang-Aktivitäten, Substanz-Missbrauch und Kindesmisshandlung dramatisch reduzieren, wird Unterdrückung nicht mehr das Mittel der Wahl sein. Vollzugskräfte und Justiz werden aufhören, auf Gewalt und Unterdrückung zurückzugreifen, um jedes Problem zu lösen. Ärzte in psychiatrischen Kliniken werden nicht sofort Medikamente gebrauchen, um die Symptome der Patienten zu unterdrücken. Schulen werden konstruktivere Wege als Unterdrückung finden, um auf hyperaktive Kinder und andere zu reagieren, die Probleme machen. Und Psychotherapeuten werden die Verdrängung ihrer Patienten nicht unterstützen, indem sie sie unter (legale) Drogen setzen, sie dissoziieren oder ihnen eine Ideologie einimpfen, die Bedürfnisse ignoriert.

Mit dem Nachlassen der Verdrängung wird das Bedürfnis nach einer therapeutischen Ideologie verschwinden. Das kommt daher, weil Ideologie der Handlanger der Verdrängung ist, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftweiter Basis. Ohne Verdrängung gibt es kein emotionales Interesse mehr, eine irreale Ideologie aufrecht zu halten, insbesondere eine, die den eigenen besten Interessen zuwiderhandelt. Zum Beispiel verbringt man in einigen Therapien wie der Jungschen und Freudschen Analyse Stunde um Stunde damit, Träume zu analysieren. Teil der Theorie ist, dass laut Freud Träume „der Königsweg zum Unbewussten“ sind. Der Patient übernimmt diesen Wert und diese Auffassung und bringt Unmengen an Träumen in jede Sitzung ein. Man durchsucht sie mit einem feinen Staubkamm, und nichts geschieht, außer dass der Patient überzeugt ist, er mache Fortschritte, weil er wundervolle Einsichten in seine Träume hat. Aber sein Leben ändert sich nicht. Könnte es auch nicht. Es ist eine Spielerei, die die zentralen Realitäten meidet, die den Patienten wirklich befreien könnten.

Dieser Punkt an sich – dass man Leuten eine Ideologie einimpfen kann, die nachteilig für das Wohlbefinden ist – ist der interessanteste von allen. Warum ist das möglich und so weit verbreitet? Es kann nur geschehen, wenn das Individuum von seinem eigenen Sein ausgeschlossen ist. Verdrängung und Schmerz sind eine Einheit. Das eine erzeugt das andere. Eine Gesellschaft, die nicht repressiv ist, produziert weniger Schmerz, und dass ist eine Gesellschaft, die sich um Bedürfnisse dreht. Aber eine Gesellschaft oder ein persönliches System, die Bedürfnisse verneinen, müssen repressiv werden und Ideologien entwickeln, um sich selbst zu rechtfertigen:  wie z. B. die Idee, dass Sie der Architekt Ihrer eigenen Neurose sind und dass Sie sie durch einen Willensakt zum Verschwinden bringen können. Oder die Vorstellung, dass Drogenabhängige und Alkoholiker ‚es bringen’ und anfangen müssen, für sich selbst ein produktives Leben zu schaffen, was natürlich stimmt. Aber wie?

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Es ist eine unerbittliche Dialektik. Wenn Sie sich nicht eingeprägten Bedürfnissen zuwenden, läuft es darauf hinaus, dass Sie das Bedürfnis des Individuums verstärken, frühen Schmerz auf jede ihm mögliche Weise zu verdrängen.

Es gibt Leute, die sagen, Primärtherapie zerrütte die Psyche. Diese Kritik basiert auf einer dämonologischen Sicht der Psyche, einer vermeintlich rationalen Erweiterung der alten religiösen Auffassung, dass wir von teuflischen Kräften bewohnt werden, die wir zurückschlagen müssen. Das ist auch die Freudsche Sicht: dass das Unbewusste voller destruktiver Impulse und Instinkte ist, dass es uns zu Versuchungen treibt, denen wir für alle Zeit widerstehen müssen. Es stimmt, wenn man nicht richtig damit umgeht, kann das ‚Anheben’ der Verdrängung und das Fühlen von Urschmerz Menschen in Bruchstücken zurücklassen. Aber jene, die Primärtherapie als zerrüttend kritisieren, erkennen nicht, woraus das Unbewusste wirklich gemacht ist. Das andere Problem, das wir haben, ist, dass es überall auf der Welt an die  fünfhundert Kliniken gibt, die meinen Namen oder das Wort „Primär“ benutzen und jede Art von Therapie praktizieren, über die ich keine Kontrolle habe. Sie geben meiner Therapie einen schlechten Namen.

Heute wissen wir sehr viel mehr über die Rolle verschiedener Gehirnstrukturen und chemischer Prozesse bei der Verdrängung von Schmerz und Integration von Gefühlen, als es früher der Fall war. Auf Grund umfangreichen Forschungsmaterials wissen wir, dass das Gehirn darauf angelegt ist zu unterbinden, dass schmerzvolle Botschaften das Bewusstsein erreichen. Neurorezeptoren vermitteln diesen Prozess. Zum Beispiel regt Schmerz Gehirnneuronen an, Endorphine, Serotonin, Gaba und andere Substanzen abzusondern, die dabei helfen, die Psyche vor überwältigender Information zu schützen. Dieses innere schmerztötende System desensibilisiert das Gehirn; es blockiert neurologische Kanäle und schützt dadurch das Individuum vor (Ur-)schmerz. Wir wissen, wie Verdrängung Information vom zerebralen Kortex und anderen Teilen des Gehirns wegleitet. Wir wissen von der Rolle des Thalamus für das menschliche Bewusstsein und für die Informationsübertragung zum Kortex, um Verknüpfung zustande zu bringen. Wir haben einen Gehirnforscher unter unseren Mitarbeitern, dessen Aufgabe darin besteht, uns all die Gehirnstrukturen, Prozesse und chemischen Substanzen verstehen zu helfen, die an der Verdrängung und Integration von (frühem) Schmerz beteiligt sind.

Da wir uns der Prozesse bewusst sind, die sich abspielen, wenn wir uns gegen das Fühlen verschließen und wenn wir uns ihm öffnen, können wir die Gehirnkanäle langsam öffnen, so dass das System des Patienten nicht überwältigt wird. Die Psyche darf nicht mit erschütterndem Schmerz überflutet werden; man muss ihr erlauben, lang verdrängte Botschaften nach und nach zu integrieren. Das erfordert, dass man weniger schmerzvolle Erlebnisse zuerst fühlt und die schmerzhafteren danach. Wir beginnen in der Gegenwart; eine Scheidung, ein Todesfall, ein emotionales Trauma, und gehen im Lauf der Monate auf Kindheitsereignisse zurück; schließlich gelangen wir nach Monaten oder Jahren zu Traumen am Lebensanfang. Es ist eine unausweichliche Sequenz. Es ist keine Laune von mir sondern eine biologische Hierarchie, der man folgen muss. Schmerz hat seine eigene evolutionäre Logik und Ordnung, an die wir uns anpassen und die wir respektieren müssen.

Wir brauchten fast 30 Jahre, um die Techniken zu perfektionieren, die wir benutzen. Das Resultat ist, dass Patienten unsere Therapie nicht überwältigt und in Stücken verlassen; sie sind in der Lage, ihren Schmerz zu fühlen und zu integrieren. Mit unseren Gehirnkartierungs-Verfahren können wir jetzt „sehen,“ dass diese Integration stattgefunden hat. Wir können es verifizieren, indem wir uns die Vitalfunktionen und andere klinische Kriterien ansehen. Die Wahrheit ist, dass unsere Patienten gesund werden und dass „Desintegration“ oder „Zerrüttung“ ein Mythos ist, den Leute ausgeheckt haben, die übermäßige Angst vor dem Unbewussten haben oder die daran interessiert sind, Schmerz als unwesentlich für Neurose und Psychotherapie zu erachten.

Wenn wir überlegen, wie weit wir seit Freuds Tagen gekommen sind, erkennen wir, wie antiquiert das Freudsche psychoanalytische System ist. Es ist ein System, dass auf Phantasie beruht; sein Ego, Es und Überich sind Konstrukte, die in Wirklichkeit nicht existieren. Viele Psychotherapien bemühen sich emsig, das Ego zu stärken, dennoch gibt es keine präzise Definition, was das Ego ist, noch irgendeine Vorstellung, wo es liegen könnte. Freuds Vorstellungen und seine Therapie mögen zu seiner Zeit vor nahezu einem Jahrhundert Gültigkeit besessen haben, aber die Wissenschaft hat einen Sprung nach vorne gemacht. Das Unbewusste ist weit von einem Versteck der Schattenkräfte und Dämonen entfernt. Es ist ein freundlicher Ort, nichts, dass man fürchten müsste, nichts, vor dem man davonlaufen müsste. Manchmal laufen die Leute davon; das passiert, wenn sie gezwungen sind, Schmerzen ins Auge zu sehen, für die sie nicht bereit sind. Wenn man den biologischen Prozessen vertraut und weiß, wie man mit ihnen arbeitet, wird dieses verfrühte Ereignis nicht stattfinden.

 

Vorsicht vor Pseudo-Primärtherapien!

Die größten Probleme in einer Gefühlstherapie treten auf, wenn Menschen die Bewegungen des Fühlens durchmachen, ohne zu fühlen, oder wenn sie Schmerzen außerhalb der Sequenz wiedererleben. Wie ich früher bemerkte, ist das als Abreaktion bekannt. Sie findet statt, wenn der Therapeut die Charakteristika und Funktionen des körperlichen Abwehrsystems nicht versteht. Abreaktion kann Menschen in Stücken zurücklassen, und dann geben sie der Primärtherapie die Schuld.

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Primärtherapie hat eine Menge Nachahmer ‚ausgebrütet’, die ganze „Wiedergeburts“-Industrie. Mit den Jahren haben zahlreiche Kliniken behauptet, Therapeuten zu haben, die ich ausgebildet habe. Oft wenn ich eine TV- oder Radio-Show mache, treten Leute an mich heran und berichten von ihrer „Primärtherapie,“ gewöhnlich in Kliniken und mit Therapeuten, von denen ich nie gehört habe. Einige meiner Ex-Patienten praktizieren inzwischen, ohne einen einzigen Tag Training absolviert zu haben. Deshalb ist Abreaktion so überhandnehmend. Zweifelsohne ist sie das, was jede Pseudotherapie-Gruppe im Namen der Primärtherapie macht.

Diese Pseudo-Primärtherapien benutzten und benutzen eine Reihe von Techniken, um ihre Patienten in Geburtsprimals zu bringen. Einige haben ihre Patienten in Wannen mit heißem Wasser eingetaucht, nackt, versetzten sie in Panik und ermutigten sie dann, mit ihren Geburtsfeelings Fühlung aufzunehmen. Eine andere Technik besteht darin, Patienten eine Geschichte über Geburt lesen zu lassen, die sie vermeintlich in die richtige Gemütsverfassung versetzt, um das Geburtstrauma wiederzuerleben. Einige Rebirther haben die Atemtechniken benutzt, die zuerst in The Primal Scream [Der Urschrei] beschrieben wurden, Techniken, die wir kaum noch benutzen. Wir haben entdeckt, dass künstliche Techniken nicht notwendig sind und gewöhnlich eingesetzt werden, wenn ausreichende Information fehlt. Diese Techniken neigen dazu, Schmerz in der falschen Reihenfolge hochzubringen, und können gefährlich sein. Wir machen nichts Mechanisches. Der Patient ist keine Maschine. Er oder sie braucht menschliche Techniken, biologische Methoden. Wir wenden keine Stroboskop-Blitze auf das Gehirn an, wie wir es in den frühen Siebzigern taten, noch benutzen wir Körperpanzer-Techniken wie in der Bioenergetik. Es ist völlig natürlich, wie es sein sollte.

Alle Pseudo- oder Wiedergeburts-Ansätze haben etwas gemeinsam: Sie versuchen, den Patienten so schnell wie möglich dahin zu bringen, dass er die Geburt wiedererlebt, sogar in der ersten Therapiestunde, nach einem Zeitplan, den der Therapeut festlegt und der nicht der inneren Uhr des Patienten entspricht. Während es einigen Leuten unmöglich ist, sehr schnell in ein Geburtsprimal zu gehen, gleichgültig, auf welche Weise sie es versuchen, können es andere tatsächlich. Aber die Ergebnisse sind fast immer verheerend. Warum?

Geburts-Urschmerzen werden in den innersten Tiefen des Nervensystems registriert. Es sind auch die Schmerzen mit der höchsten Valenz oder elektrischen Ladung. Sie müssen zum Schluss eines systematischen Kontinuums wiedererfahren werden, nachdem eine Reihe geringerer Schmerzen wiedererlebt worden ist. Wenn sie wie beim Rebirthing am Anfang erlebt werden, können sie ziemlich zerrüttend sein. Der Patient wird mit einer Anhäufung frühen Schmerzes überflutet, für die es keine begriffliche Handhabe gibt, keine Möglichkeit, sie zu verstehen oder zu integrieren. Es kann sein, dass er umgehend mystisch wird, da der Kortex nach etwas greift, woran er sich festhalten kann. Wenn der Therapeut an das Mystische glaubt, wird der Patient unter dem Deckmantel psychischer Gesundheit kränker als zuvor. Der Patient weiß in diesen Fällen als letzter, was geschieht. Er fühlt sich gut, weil er zu seinem Kopf Zuflucht genommen und völlig den Kontakt mit sich selbst verloren hat. Früher oder später wird er den Preis bezahlen. Der Rebirthing-Therapeut – oft kein ausgebildeter Psychologe oder Psychiater – entscheidet sich dafür, diese schädlichen Wirkungen zu ignorieren.

In einer anderen Spielart des Rebirthing gab Stanislav Grof seinen Patienten große Dosen LSD. Er behauptete, dass die Droge viele Patienten befähige, durch die Wiedergeburt zu gehen und Todesgefühlen bei der Geburt nahezukommen. Nur durch den Einsatz „einer ganzen Reihe von hochdosierten LSD-Sitzungen,“ so theoretisierte Grof, könne man „existenzielle Verzweiflung, metaphysische Angst, mörderische Aggression, abgrundtiefe Schuld und Minderwertigkeitsgefühle und die Agonie totaler Vernichtung“ erfahren und transzendieren. Und er berichtete, dass nahezu jeder, dem es gelang, mit dem Medium des LSD in die Nähe des Todes zu reisen, eine gewisse Art spiritueller „Transzendenz“ erlangte. Wenn diese schrecklichen Gefühle erlebt werden, so Grof weiter, ist man geöffnet für „orgiastische Gefühle kosmischen Ausmaßes“ (was immer die sein mögen), „spirituelle Befreiung und Erleuchtung, ein Gefühl ekstatischer Verknüpfung mit der ganzen Schöpfung und mystische Vereinigung mit dem kreativen Prinzip im Universum.“ [6]

Meiner Meinung nach sind es gerade diese hohen Dosen LSD, die Angst in „kosmische“ und „ekstatische“ Erfahrungen umwandeln, während sie gleichzeitig garantieren, dass das Subjekt seine Qual nie voll bewusst bewältigen kann. In der Tat behauptete Grof, dass viele seiner Subjekte Raum und Zeit überschritten und Ewigkeit und Unendlichkeit erlebten. Wie ein körperlicher Mensch das alles aus einem Geburtserlebnis heraus zustandebringt, wird nicht klar. Bewusstsein ist eine Sache; diese ganzen abgehobenen Flüge in die Spiritualität sind eine andere Sache. Ich bin mir nicht sicher, was Grofs schwülstige Worte bedeuten, aber ich habe Patienten gesehen, die bestimmte Vorstellungen heraufbeschwören, wenn der Schmerz zu groß ist, um damit fertig zu werden. Wie ich in einem früheren Kapitel gesagt habe, geht es bei der „Wiedergeburts“-Erfahrung genau darum. Leute, die ihrem Schmerz zu nahe sind, umarmen „Gott“, um davor gerettet zu werden. Sie sagen „Ich bin gerettet worden!“ Und das sind sie – nur wissen sie nicht wovor. Vorstellungen sind sowohl ein Produkt von als auch eine Zuflucht vor Schmerz. Wenn sich Menschen während einer LSD-Erfahrung der Geburt nähern, dann geschieht es oft, dass sie „wiedergeboren“ werden.

Grof jedoch machte aus der Umwandlung von Schmerz etwas Positives. Sie wurde zur „Transzendenz“, und das war sie – Überschreitung des Schmerzes. Seine Patienten befassten sich nicht nur mit einem materiellen eingravierten Geburtserlebnis. Es war eine Erfahrung, die sie über das,  was wir Sterbliche kennen und erleben, auf eine andere Ebene hinaustrug, wo Zeit und Raum nicht mehr existieren. Das Wiedererlebnis der Geburt, sagte Grof, führe zu „kosmischer Überflutung.“ Er sprach auch davon, wie das Subjekt „kraftvolle Energieströme erlebt, die durch seinen Körper fahren….gefolgt von Episoden explosiver Entladungen und Gefühlen ekstatischer Freisetzung.“ Danach kommt es zu Visionen von Atombomben, Kriegs- und Zerstörungsszenen, explodierenden Vulkanen etc., ganz zu schweigen von der „Vereinigung mit der „Großen Mutter.“  Eine meiner neuen Patientinnen hatte vor Jahren an einem Wochenende eine Rebirthing-Sitzung, ohne dass ich davon wusste.

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Am Montag wurde das sofort dadurch offensichtlich, dass sie über ihre „transzendenten“ Erfahrungen diskutierte, und durch ihr unechtes Lachen und ihren glasigen Blick. Es brauchte Wochen, um dieses Wochenend-Ereignis ungeschehen zu machen.

Meiner Ansicht nach ist die Vereinigung mit der Großen Mutter und der ganze Rest einfach eine symbolische Art zu sagen, dass Menschen von innerem Schmerz überflutet und nicht von ihm befreit worden waren. Es ist kein Wunder, dass Grofs Patienten in Mystizismus und Spiritualismus ‚krabbeln’. Sie sind im Schnellverfahren in ein Erlebnis außerhalb der Reihenfolge katapultiert worden, das eingeprägt in den innersten Tiefen des Gehirns liegt und für das sie keine Vorbereitung, keinen Bezugsrahmen und keinen geordneten, allmählichen Abstieg haben. Da sie von der Gewalt einer katastrophalen Erfahrung überflutet werden, sind sie gezwungen, in ihre Köpfen zu fliehen. Und in einer wilden Flucht vor Schmerz ist der menschliche Geist zu unglaublichen und kreativen Phantasieflügen fähig. Aber der Schmerz wird nicht transzendiert; vielmehr wird er, da er auf ein unerträgliches Maß angewachsen ist, in „kosmische“ Gedankenbildung umgewandelt. Der rationale Verstand beschwört Erklärungen für diese explosive, unerklärliche Erfahrung herauf. Er kommt zu dem Schluss, dass eine gewisse unbekannte mystische Kraft dahinterstecken muss. Probleme werden nicht gelöst; sie werden symbolisiert. Das ist das Wesen der Abreaktion.

All das Um-Sich-Schlagen, Schreien und Sich-Winden als Resultat der Geburtserfahrung unter LSD mag wie ein reales Geburtsprimal aussehen, wenngleich es in Wirklichkeit einfach eine Freisetzung roher Energie ist und zu einer weiteren Abwehr gegen Urschmerz wird. Wir wissen, dass Abreaktion stattfindet, weil sich bei den Messwerten der Vitalfunktionen nicht die charakteristischen Änderungen zeigen, die sich zeigen sollten.

Wie die Pseudo-Primärtherapien ignorierte Grofs Ansatz zum Rebirthing – der übrigens manchmal von Regierungsbehörden und psychiatrischen Institutionen finanziell unterstützt wurde – die Dialektik. Unter der autoritären Anleitung des Therapeuten lässt man den Patienten viele kleinere Urschmerzen überspringen, um sich künstlich auf das Geburtstrauma zu konzentrieren. Bewusstsein  wird nicht integriert; man pfuscht an ihm herum. Allein schon aus theoretischen Gründen sollte klar sein, dass man sich bei der Umkehrung von Neurose erst mit den jüngsten, weniger schweren Schmerzen befassen muss und sich dann methodisch zu den tieferen, hochgradig geladenen vorarbeiten muss. Das steht im Einklang damit, wie das Gehirn sich entwickelt und organisiert.

Jeder von uns hat Tausende kritischer nachgeburtlicher Erfahrungen, die dazu beitragen, uns neurotisch zu machen. Zu glauben, dass eine Art aufs Geratewohl eingeleitete „Wiedergeburts“-Erfahrung das alles auslöschen kann, bedeutet, an Hexerei zu glauben. Aber Pseudo-Primärtherapeuten wissen nicht, wie sie zwischen Abreaktion und wahrer Auflösung unterscheiden sollen, oder es bekümmert sie einfach nicht. Im Gegensatz dazu, was wir in Primärtherapie machen, überwachen sie die biologischen Messwerte nicht, die objektiv reflektieren, was sich abgespielt hat. Darüber hinaus kommt es, wenn tatsächlich Auflösung stattfindet, zu keinen symbolischen Nachwirkungen, was wir bei Tausenden von Patienten gesehen haben: keine Worte und Begriffe, keine Erklärung, kein psychotischer Symbolismus, nur Gefühle. Der Körper erkennt einfach seinen Schmerz an. Aber wenn Abreaktion stattfindet, kommt es wahrscheinlich zu kosmischen Vereinigungen mit der Großen Mutter und dergleichen. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man die gewaltige Kraft der Geburtserfahrung bedenkt, mit den schnellen Veränderungen bei Körperkerntemperatur und Herzschlag und anderen Vitalwerten, die mit ihr einhergehen.

Man sagt, Nachahmung sei eine Form von Schmeichelei. Aber wir brauchen keine Schmeichelei, und leidende Menschen brauchen keine Versuchskaninchen zu sein. Noch müssen sie „kosmische“ Erlebnisse haben. Viele Leute haben versucht, Primärtherapie nachzuahmen, aber niemand hat es geschafft, sie nachzuvollziehen. Etwas so Präzises wie Primärtherapie können Dilettanten oder Scharlatane nicht korrekt praktizieren. Und das ist der Grund, warum eine Menge Leute, die eine Pseudo-Primärtherapie durchmachen, in schlechterer Verfassung aus ihr herauskommen als zu Beginn der Therapie. Eine Zulassung in Psychologie oder Psychiatrie ist bei dieser präzisen Form der Psychotherapie keine Kompetenz-Garantie. Des Weiteren besteht für diejenigen, die Primärtherapie machen wollen, kein Grund, das Rad nochmals zu erfinden. Sie müssen nicht die ganzen Fehler machen, die wir in unseren frühen Jahren aufgrund mangelnden Verständnisses von Gehirnprozessen machten. Während die meisten unserer Gewinne in Ausbildung und Forschung fließen, möchte ich ernsthafte Forschung bei denjenigen Pseudo-Primärtherapeuten erst noch sehen, die aus unserer Arbeit Kapital geschlagen haben, ohne sie wirklich zu verstehen.

Wie so viele andere Therapien betreiben die Rebirther ein Geschäft, in dem man Leuten die Magie anbietet, nach der sie sich sehnen, die unverzüglichen Ergebnisse und schnellen Heilungen. Es ist unrecht, auf diese Weise mit Leuten zu spielen, sie auszunutzen und zu manipulieren. Wir haben zu viele Fälle psychischer Zusammenbrüche und suizidaler Depressionen als dessen Resultat gesehen. Der überflutete Patient versucht mit allem, was ihm zur Verfügung steht, zu verdrängen. Wenn es funktioniert, wird er depressiv; wenn es nicht funktioniert, erfährt er gesprengte Schleusen und permanente Angstattacken, Nervosität, ständige Agitation und Mangel an erholsamen Schlaf.

Man muss verstehen, worum es bei der Selbstverteidigung des Körpers geht. Abwehren entstehen und existieren genau zu dem Zweck, dass (frühe) Schmerzen das System nicht überwältigen. Sie sind elektrochemische Umhüllungen, die durch Schmerz stimuliert werden. Diese Abwehrhüllen plötzlich wegzunehmen, bedeutet, das System für mehr Schmerz zu öffnen, als es vielleicht integrieren kann. Alles, was diese Abwehrmechanismen künstlich verändert, produziert künstliche und potentiell gefährliche Ergebnisse. Andererseits ergeben sich natürliche Resultate, wenn man das System natürlich sein lässt. Das Unbewusste verdrängter Schmerzen hat sich langsam durch Zuwachs an Erfahrungen aufgebaut. Es gibt dorthin keine Abkürzungen und somit keine Abkürzungen zum Bewusstsein.

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Wirkliche Primärtherapie ist im Gegensatz zu ihren schlechten Nachahmungen kein Geschäft. Es ist eine sakrosankte Methode, Leute zu helfen, dass sie gesund werden. Unsere Methoden sind vielleicht nicht perfekt. Aber meiner Meinung nach sind sie von allen bestehenden die wissenschaflichsten.

Primärtherapie ist nicht sauber und rein, und sie ist nicht intellektuell. Viele anständige Ladys und Gentlemen stößt der Gedanke ab, sich Stunde um Stunde schreiend und weinend  am Boden zu wälzen und Monate in Qual zu verbringen. Sie wollen eine kontrollierte Situation, dieselbe (von anderen auferlegte) Kontrolle, die sie in das Schlamassel brachte, in dem sie stecken, dieselbe Kontrolle und Verdrängung, die sie später sehr krank machen wird. Was mit den meisten Therapien nicht stimmt, ist diese Kontrolle. Meiner Ansicht nach ist das Chaos innen und nicht Kontrolle von außen die sine qua non für echte, kreative, heilsame Psychotherapie. Es ist das Chaos des Schmerzes, nicht seine sorgfältige Vermeidung oder seine Umwandlung, was letztendlich heilt. Ein Patient muss den Schmerz in der richtigen Reihenfolge fühlen und seinen oder ihren spezifischen inneren Reaktionen entsprechend  darauf antworten und nicht mit einer Reaktion, die der Anweisung eines anderen entspricht. Schmerz selbst, nicht die Gedanken und Symptome, die lediglich seine Ableger sind, birgt den Schlüssel zur Dialektik des Bewusstseins und zum Ende der Neurose.

Primärtherapie erzeugt neue Menschen oder Menschen, die nicht mehr nach magischer Erlösung suchen müssen, die zu ihrem Ursprung zurückgehen, als sie naiv, unschuldig, hoffnungsvoll, spontan, wunderbar, warm, offen waren. Sie können nicht wieder so sein, indem Sie erwachsen agieren. Sie müssen in Ihre Kindheit zurückkehren.

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Anmerkungen und Quellen [1]-[6]]: siehe Originalversion

 

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Übersetzung: Ferdinand Wagner

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