Artikel u. Buchausz. |
BUCHAUSZUG |
Artikel u. Buchausz. |
ORIGINAL: GRAND DELUSIONS
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Dr.
Arthur Janov GROSSE ILLUSIONEN Veröffentlicht
im Juni 2005 auf primaltherapy.com
Kapitel
11 _____________________ HUMANISTISCHE
PSYCHOTHERAPIE: POTENTIAL
VERKÜNDEN, SCHMERZ IGNORIEREN _____________________ Einführung Die
Humanistische Bewegung ist ein perfekter Kontrapunkt zum Freudschen Erbe
eines turbulenten Es und unberechenbarer Impulse. Als solcher hat sie für
einen ausgleichenden Gegensatz innerhalb der Evolution der Psychotherapie
gesorgt. Die Humanisten sprechen von menschlichen Potentialen und
Wachstum, von „Selbstverwirklichung“ und „Spitzenerfahrungen“, während
sie sorgsam darauf achten, nie Worte wie Schmerz, Verdrängung oder
Trauma zu erwähnen. Die persönlichen Realitäten der täglichen
Erfahrung des Menschen werden zugunsten
philosophischer und existenzieller Möglichkeiten übersehen:
wichtig ist vielmehr, was er sein könnte, als was er ist und wie
er so geworden ist. Kovel beschreibt diesen Abschied kurz und prägnant: Dahin
ist die Angst der europäischen existenziellen Analyse. Dahin ist
der Zweifel und die Zweideutigkeit, der Skeptizismus der Freudschen
Psychoanalyse. Mit anderen Worten, die Dämonen sind verschwunden. An ihre
Stelle ist Energie, Fließen, Akzeptanz, Fürsorge, Zärtlichkeit
getreten: Freude. [1] Die
Humanistische Bewegung wird am besten durch Abraham Maslow und seine
„Psychologie des Seins“ veranschaulicht; durch Carl Rogers und seine
„Klientenzentrierte Therapie“; und durch Roberto Assagioli und seine
„Psychosynthese.“ Was alle drei Theoretiker gemeinsam haben, ist eine
Vielzahl von Techniken und eine einzigartig nicht-dialektische Sichtweise.
Sie konzentrieren sich auf das Potential zur Aktualisierung des Selbsts
und schenken dem Schmerz und Trauma der Neurose keine Beachtung. Dieser
beschwingte Ansatz ist unbestreitbar reizvoll, dennoch, wenn die
Humanistische Bewegung Schmerz überspringt, um ein Gipfelerlebnis zu
erreichen, bedeutet es ihren Niedergang als Therapie.
Abraham
Maslow Abraham
Maslow ist bestens bekannt für die Entwicklung der
„Dritte-Kraft-Psychologie“: die Psychologie der Selbstverwirklichung,
menschlicher Potentiale und Gipfelerlebnisse. Der Begriff „Dritte
Kraft“ bezog sich auf das Abweichen der Humanistischen Bewegung vom
Behaviorismus einerseits und von der Psychoanalyse andererseits. Maslow
und andere, die 1964 die Gesellschaft für Humanistische Psychologie gründeten,
glaubten, dass diese zwei Schulen der Psychologie sich nicht direkt mit
menschlicher Erfahrung befassten – oder mit menschlichem Potential.
Maslow war der Ansicht, dass wir das Beste im Menschen und nicht
das Kranke im Menschen untersuchen müssten. In der Tat liegt die
Schubkraft seiner Psychologie ganz auf dem Besten – die Utopie oder
„Eupsychia“, wie er es nennt – des menschlichen Potentials. Einige
seiner Begriffe – Selbstverwirklichung,
Gipfelerfahrungen oder Spitzenerlebnisse und dergleichen – haben
über die Jahre Einzug in unser Volkslexikon gehalten. Maslow,
ehemaliger Präsident der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft,
hatte tiefgreifenden Einfluss auf die gesamte Psychotherapie. Seine Ideen
waren Grundlage der Human Potential- und New Age – Bewegungen. Als
historischer Hintergrund ist die Anmerkung interessant, dass Maslows
eigene Kindheit sehr schmerzvoll war. 1968, zwei Jahre vor seinem Tod,
erinnerte er sich, dass er ein „kleiner Judenjunge in nicht-jüdischer
Nachbarschaft [war]. Es war ein bisschen, als sei ich der erste Neger, der
sich auf einer Schule einschrieb, die ausschließlich für Weiße war.“
Isoliert und unglücklich „wuchs [Maslow] in Büchereien und unter Büchern
auf, nahezu ohne Freunde….. Bei meiner Kindheit ist es ein Wunder, dass
ich nicht psychotisch bin.“ [2] Als
junger Psychologie-Student zog es ihn anfangs zum Behaviorismus hin, aber
das ließ bald zu Gunsten von Gestalt und Freudscher Sichtweisen nach. Mit
dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Da er zu
alt war, um Soldat zu werden, gelobte Maslow, den Rest seines Lebens einer
Theorie menschlichen Verhaltens zu widmen, die auf weltweiter Basis
anwendbar war – eine „Psychologie für den Verhandlungstisch“ Zur
Erklärung, warum er dieses Projekt unternahm, sagte er später: „Ich
wollte beweisen, dass Menschen zu Größerem fähig sind als Krieg und
Vorurteil und Hass.“ [3] Indem
er sich aufmacht zu beweisen, dass der Mensch größer ist als Krieg oder
Hass, weicht er den Kräften aus, die ihn zu solch niederem Streben
treiben. Damit stellt er Ideale über die Realität. Potentiale sind nur
Teil des Bildes; die positive Seite. Auch für Maslows Bestes im Menschen
ist Schmerz die andere Hälfte. Wenn Sie beweisen wollen, dass es im Leben
mehr gibt als Schmerz, können Sie das nicht tun, indem Sie den Schmerz
ignorieren und die Potentiale verkünden. Sich auf die erbauliche Seite
des Bildes zu konzentrieren, bedeutet, nicht in der Lage zu sein, eine
lebensfähige Theorie menschlichen Verhaltens anbieten zu können. Die
erfordert, dass man die Wechselwirkung von Schmerz und Verdrängung bei
der Blockierung von Potentialen versteht. Sich nur auf Ideale zu
konzentrieren, ist lobenswert aber nicht wissenschaftlich. Es ist eine
nette liberale Weltanschauung. Maslows
Theorie der Bedürfnisse Maslow
betrachtet die Befriedigung basaler menschlicher Bedürfnisse als
Eckpfeiler gesunder menschlicher Entwicklung. Er sieht diese Bedürfnisse
als ihrem Ursprung nach angeboren, physiologisch und instinktiv. Überdies
bilden die Bedürfnisse eine Hierarchie: Es gibt eine natürliche Bedürfnis-Progression.
Auch geht Maslow von der Annahme aus, dass die ersten drei Bedürfnis-Ebenen
in seinem System „in der zivilisierten Gesellschaft“ allgemein
befriedigt werden. Mit der Rubrik der „Zivilisation“ räumt er trotz täglicher
Realität von Armut und Mangelernährung mühelos mit Bedürfnissen nach
Überleben, Sicherheit und Liebe auf. Auch
wenn es genug Nahrung, genug Wasser, genug Kleidung, genug Berührung
gibt, sind die subtilen Schatten der Deprivation oft dennoch gegenwärtig.
Die Erfüllung von Überlebensbedürfnissen lässt sich nicht sauber
messen; Deprivation ist nicht einfach eine Frage der Quantität, Sattheit
oder Verfügbarkeit. Das kleine Kind, das gezwungen wird, mehr zu essen
als es braucht, wird zum Beispiel ein Erfüllungs-Trauma erleiden, genau
wie das Baby, das geschubst, in die Luft geworfen und überstimuliert
wird. In der Tat kann ein Zuviel genauso traumatisch sein wie ein Zuwenig.
Auch für den Säugling an der Brust ist es nicht einfach eine Sache der
Quantität. Die nervöse Mutter, die abgelenkte Mutter, die ärgerliche
Mutter erfüllt die Bedürfnisse des Babys nicht, egal wieviel Milch sie
produziert. Ebenso wird das Kleinkind, das über seine Bedürfnisse nach
Plan gefüttert wird, trotz etwaiger Sättigung ein Deprivationstrauma
empfinden. Traumen ereignen sich auf vielfältigste Weise im Verlauf
dessen, was Maslow für die Erfüllung basaler Überlebens- Bedürfnisse hält. Dasselbe
Problem trifft auf Ebene zwei der Hierarchie zu: Sicherheitsbedürfnisse.
Einerseits bezeichnet Maslow elterlichen Streit und Tumult als Bedrohung für
das Sicherheitsbedürfnis des Kindes, aber er weist diese Ebene als in der
zivilisierten Gesellschaft generell erüllt von sich. In den Vereinigten
Staaten, die angeblich als Musterbeispiel für zivilisiertes Verhalten und
hohe moralische Standards fungieren, bleiben die Statistiken über die
Misshandlung von Kindern und Frauen und über Gewaltverbrechen auf hohem
Niveau. Wenn man Armut und zügellose Sucht hinzunimmt, könnte man mutmaßen,
dass ein hoher Prozentsatz der US-Population in der Kindheit
keine Erfüllung seiner Bedürfnisse nach Sicherheit findet. Maslow
nimmt an, dass Ebene-3-Bedürfnisse nach Liebe ebenso grundsätzlich
‚versorgt’ werden: „Wieder gilt, dass in unserer Gesellschaft solche
Bedürfnisse im Allgemeinen gut befriedigt werden und nur beim Neurotiker
oder bei schwereren pathologischen Fällen finden wir ernste
Deprivation.“ [4] Wir werden in der Geschichte unseres Landes mit
kontinuierlich hohen Zahlen über Misshandlung, Verbrechen, Drogensucht
und geistig-psychischer Krankheit konfrontiert und klammern uns vielleicht
dennoch an die Illusion, dass „schwere Deprivation“ kein alltägliches
Phänomen sei. Wenn sie das nicht ist, was ist dann für die
Ernsthaftigkeit und Allgemeinheit der Probleme verantwortlich, denen wir
gegenüberstehen? Warum nimmt inzwischen ein Viertel unserer Bevölkerung
Beruhigungsmittel? Warum sind die Wartezimmer der Ärzte voll von
Patienten mit einer Vielzahl psychosomatischer Leiden? Neurose ist so alltäglich,
so „durchschnittlich“, dass sie normal aussieht. Ebene
vier unserer basalen Bedürfnisse sind laut Maslow die Wertschätzungs-Bedürfnisse.
Diese Bedürfnisse haben zwei Richtungen: Wir brauchen Wertschätzung von
uns selbst (Selbstachtung) und ebenso von anderen (Anerkennung). Tatsächlich
bezieht Maslow eine lange Liste von Attributen ein, um diese Wertschätzungsbedürfnisse
darzustellen. Um einige zu zitieren – Wir haben Bedürfnisse nach „Stärke“,
„Leistung“ und „Herrschaft“, ebenso nach „Status“, „Ruhm“
und „Würde.“ Die
Befriedigung dieser Vielzahl von Wertschätzungsbedürfnissen führt dann
zur Krönung in der Hierarchie basaler Bedürfnisse: zum Bedürfnis nach
Selbstverwirklichung. Das ist das Bedürfnis, „ all das zu werden, was
jemand werden kann…Ein Musiker muss musizieren, ein Künstler malen, ein
Poet muss schreiben.“ [5] In
den letzten zwei Ebenen seiner Hierarchie verwechselt Maslow reale Bedürfnis-Zustände
mit ihren symbolischen Ableitungen. Wenn unsere biologischen Grundbedürfnisse
nach Liebe nicht erfüllt werden, finden
wir raffiniertere, mehr begriffliche Wege, um diese Deprivation auszudrücken.
Als Säuglinge können wir zuerst nur weinen und schreien. Als Kleinkinder
entwickeln wir dann sprachliche Fähigkeiten und rufen nach nach Mami und
Papi. Wenn das nicht funktioniert, lernen wir auf eine Weise zu handeln,
die symbolisch oder metaphorisch nach ihnen ruft. Wir werden krank als
Bitte um Aufmerksamkeit. Oder werden „klug“, um zu sagen: „Schau
mich an. Akzeptiere mich.“ Dieses Verhalten, das sich als Reaktion auf
unerfüllte Bedürfnisse ergibt, ist in Wirklichkeit ein verfeinerter
Schrei. Das gilt auch für die sogenannten Bedürfnisse nach Würde und
Ruhm. Das sind die Grundbedürfnisse nach Liebe in umgewandelter Form.
Aber Maslow gibt ihnen den Namen realer Bedürfnisse. Wenn Sie das Bedürfnis
nach Würde auseinandernehmen, finden Sie jemanden, der in seinem frühen
Leben verlacht, verunglimpft oder erniedrigt wurde. Maslow
letzte zwei Bedürfnis-Ebenen, die Bedürfnisse nach Wertschätzung und
Selbstverwirklichung, fallen in diese Kategorie. Wenn ihre späteren
Ableitungen alles sind, was wir von unseren basalen Bedürfnissen erfahren
können, kommen wir zu der Annahme, die Bedürfnisse nach Prestige, Status
und auch Selbstvertrauen seien reale Bedürfnisse. Die Kraft des realen
Vergangenheits-Bedürfnisses wird von symbolischen Bedürnissen
absorbiert, die sie real scheinen lassen. Seite
2 Dann
geht ein Fachmann her und sagt, dass diese Bedürfnisse tatsächlich real
sind. Viele von uns sind so depraviert, dass wir zu dem Glauben gekommen
sind, dass diese sogenannten Bedürfnisse nicht nur grundlegend sondern
genetisch seien….weil so viele von uns diese Bedürfnisse haben. Aber es
gibt kein Bedürfnis nach Selbstachtung. Eltern, die ein Kind lieben, müssen
nie „Ich achte dich“ oder derartige Worte sagen. Das ist in die Art
eingebaut, wie die Eltern mit dem Kind reden, ihm zuhören, die Art, wie
die Mutter das Kind berührt, wie der Vater mit ihm kommuniziert, seine
Gefühle ausdrückt und dem Kind seine ausdrücken lässt. Ein Kind, das
geliebt wird, hat keine speziellen Bedürfnisse nach Wertschätzung. Es fühlt
sich gut. Punkt. Es lebt sein Leben und macht sich keine Gedanken, was es
über sich selbst fühlt, weil es es selbst ist. Ein
Baby wird nicht mit einem Bedürfnis nach Würde geboren. Es braucht keine
„Selbstverwirklichung“. Das sind Erfindungen von Erwachsenen. Wenn ein
Kind als Objekt, als Ding, als Befehlsempfänger behandelt wird, wird es
im Kampf um „Würde“ aufwachsen. Es wird mit Macht um eine hohe
Position in der Firma kämpfen oder um den richtigen Schreibtisch und das
richtige Büro, oder um den besten Tisch im Restaurant oder um einen
Augenblick öffentlichen Beifalls (weil man als Kind von ihm keine
richtige Notiz nahm) – alles, um sich wie „jemand“ zu fühlen. In
Maslows Modell kommt Selbstverwirklichung nach der Befriedigung der
Liebes- und Achtungs-Bedürfnisse. Es ist folglich primär ein erwachsenes
Streben, das letzte basale Bedürfnis auf dieser Hierarchie. Selbstverwirklichung
ist nicht das letzte Bedürfnis, das erscheint; sie ist der erste, natürliche
Seinszustand, in den wir hineingeboren werden. Wir werden
selbstverwirklichend geboren. Beobachten Sie das Baby, wie es in jedem
möglichen Moment nach dem Leben greift. Es greift danach so natürlich,
wie es atmet. Schauen Sie dem Kleinkind zu, wie es seine neue
Fortbewegungswelt mit totaler Überzeugung und Fröhlichkeit erforscht.
Babies manifestieren kontinuierlich Selbst-Verwirklichung. Es ist genau
das, was sie tun: sie spielen, schauen, überlegen und bewegen sich mit
Freude, Zweck und Erfüllung. Was dann diesen natürlichen Prozess
vereitelt, ist die Deprivation des basalen Bedürfnisses, geliebt zu
werden. Wenn das nicht geschehen wäre, wäre der Erwachsene noch immer in
Berührung mit seinen jugendhaften Gefühlen von Enthusiasmus, Freude,
Neugier und Fröhlichkeit. Um
das Selbst zu verwirklichen, muss jemand er oder sie selbst sein.
Um man selbst zu sein, muss jemand minimale Verdrängung haben. Um
minimale Verdrängung zu haben, muss jemand wenig Schmerz haben. Wenig
Schmerz zu haben, bedeutet, geliebt worden zu sein. Man wird
selbstverwirklichend geboren; nur wenn man nicht geliebt wird, entsteht
der Drang nach Selbstverwirklichung. Dieser ist kein natürliches Bedürfnis,
sondern ein Ableger von Schmerz. Maslows
Trägheitstheorie Maslow
selbst gestand einen Mangel in seiner Motivationstheorie ein. Er erkannte
das Paradox, dass „sie unzulänglich schien, um zu erklären, warum viele
Individuen ihr Potential nicht entwickeln können, wenn die
menschliche Spezies wachstumsorientiert ist.“ [Kursivschrift nachträglich]
Tatsächlich, so räumt er ein, erreicht wahrscheinlich „nur ein
Bruchteil eines Prozents“ jemals Selbstverwirklichung. [6] Das an sich
scheint die Unzulänglichkeit von Maslows Sicht aufzuzeigen. Wenn niemand
dieses Ideal erreicht – wenn Selbstverwirklichung alles andere als
universell ist- wäre es dann nicht erforderlich, einen genaueren Blick
darauf zu werfen, warum das so sein könnte? Maslows
Lösung für diese Lücke in seiner Theorie bestand einfach darin, ihr
eine weitere Idee hinzuzufügen.
Die Idee lautet, dass wir zusätzlich zu unserer natürlichen Tendenz nach
Wachstum auch eine angeborene Tendenz nach Trägheit haben. Diese
Trägheit ist teilweise physiologisch, wie im Bedürfnis nach Ruhe, und
teilweise psychisch, wie in unserem Bedürfnis, „Energie zu
konservieren“ ( was immer das heißt). Aufgrund dieser neuen
Anziehungskraft zur Trägheit hin, brauchen wir „Herausforderung als zusätzliche
Vorbedingung in der äußeren Umwelt.“ [7] Während
es stimmt, dass der Mensch ein angeborene Tendenz nach Wachstum hat, ist
das Fehlen von Wachstum nicht auf eine bestimmte andere
ausgleichende Tendenz zurückzuführen. Maslow liefert unabsichtlich eine
Rechtfertigung für Schmerz, indem er seine Verdrängung – die er als Trägheit
missversteht – zu einer unabänderlichen Gegebenheit macht, über die
man keine Kontrolle hat. Uns angeboren ist ein Lebens-Prozess, kein
Trägheitsprozess. Ruhe ist genauso Teil des Wachstums - prozesses
wie Aktivität. Es gibt keine Trägheit im Schlafzustand. Tatsächlich
findet überall in den Zellen und Systemen des Körpers im Schlaf
dynamische Aktivität statt. Es ist eine Zeit der Wiederherstellung und
Auffüllung. Die Tatsache, dass wir uns dieser Aktivität nicht bewusst
sind, mindert nicht ihre Dynamik. Dasselbe gilt für psychische Ruhe. Wachstum
bedeutet keinen ständigen Aktivitätszustand; es bedeutet der zu
sein, der man ist. Wenn das geschieht, wächst man wahrhaftig. Kinder,
die in Waisenhäusern aufwachsen, wachsen oft nicht zu vorgesehener Größe.
Wenn man sie in eine liebevolle Umgebung setzt, beginnen sie wieder zu
wachsen. Das ist echtes Wachstum, kein bildliches. Wachstum sollte man
deshalb nicht auf einen psychologischen Begriff begrenzen. Es ist ein natürlicher
Zustand. Wir müssen erkennen, dass die Gründe, warum wir unsere
Potentiale nicht entwickeln können, von Menschen gemachte Gründe sind,
keine angeborenen Tendenzen. Für die Unfähigkeit zu wachsen sind
Bedingungen verantwortlich, die aus Ignoranz und Schmerz heraus geschaffen
und begünstigt wurden. Trägheit kann sehr wohl eine Einprägung sein …
„Ich kann mich nicht mehr rühren. Ich habe überhaupt keine Energie
mehr.“ Tiefe Verdrängung kann Energievorräte unterdrücken, so dass
Trägheit einsetzt. Solange
wir glauben, dass eine Trägheit, für die wir (oder jene, die uns
formten, als wir klein waren) nicht verantwortlich sind, für gescheiterte
Potentiale verantwortlich ist, werden wir weiterhin scheitern. Und wir
werden dieses Scheitern weiterhin auf nachfolgende Generationen übertragen. Trägheit
zu einer Gegebenheit zu machen, die aus einer gewissen genetischen Tendenz
entsteht, bedeutet die Dialektik zu ignorieren, die die dynamische
Wechselwirkung der agierenden realen Kräfte demonstriert. Seite
4 Evolution
ist kein statischer Prozess, in dem man unveränderbare Tendenzen
weitergibt. Was in einem Jahrtausend angeboren war, ist im nächsten nicht
mehr existent. Evolution ist ein Prozess kontinuierlicher Veränderung von
einem niedrigeren, einfacheren oder „schlechteren“ Zustand zu
einem höheren, komplexeren oder „besseren“ Zustand. Bewusstsein ist
das spezielle evolutionäre Werkzeug des Menschen. Es allein kann die
menschliche Bedingung voranbringen. Es allein kann unsere Auffassung von
Angeborenheit revolutionieren. Aber wenn wir unsere Mängel gewissen unabänderlichen
Kräften zuschreiben, frieren wir in der Tat unsere eigene Evolution ein
und sichern die Übertragung verfehlter Potentiale. Maslows
Sicht der Neurose Maslows
Sicht der Neurose ist überraschend widersprüchlich. In Towards a
Psychology of Being macht er eine eindeutig biologische Sicht des
Liebesentzugs geltend: Hunger
nach Liebe ist eine Mangelkrankheit wie Hunger nach Salz oder die
Avitaminosen….Es käme niemandem in den Sinn, die Aussage in Frage zu
stellen, dass wir Jod oder Vitamin C „brauchen.“ Ich erinnere Sie
daran, dass der Beweis, dass wir Liebe „brauchen“, von genau derselben
Art ist. [8] Jedoch
erwähnt Maslows Definition der Neurose in The Farther Reaches of Human
Nature keinerlei Verbindung mit Liebesentzug. Tatsächlich
widerspricht er seiner obigen Ansicht und lässt sogar eine gewisse
Verachtung für diejenigen durchblicken, die Neurose mit
psychophysiologischen Begriffen betrachten: Genau
genommen bedeutet Neurose eine Nervenkrankheit, ein Relikt, ohne das wir
heute sehr gut auskommen können. Hinzu kommt, dass der Gebrauch der
Bezeichnung „psychische Krankheit“ Neurose in dieselbe Abhandlungswelt
setzt wie Geschwüre, Verletzungen, bakterielle Invasionen, gebrochene
Knochen oder Tumore. Aber mittlerweile haben wir sehr gut gelernt, dass es
besser ist, Neurose vielmehr als Krankheit zu sehen, die mit spirituellen
Störungen in Beziehung steht, mit Bedeutungsverlust, Zweifeln
über die Ziele des Lebens, Trauer und Wut über eine verlorene Liebe, mit
einer anderen Lebenssicht, dem Verlust von Mut und Hoffnung, der
Verzweiflung über die Zukunft, fehlender Selbstliebe, mit der Erkenntnis,
dass das Leben vergeudet ist, oder damit, dass keine Möglichkeit für
Freude oder Liebe etc. besteht. [9] Obwohl
dies eine perfekt passende Beschreibung einiger Symptome der Neurose ist,
erhellt es nur Manifestationen, keine Ursachen. Es ist eine leicht
verfeinerte Art zu sagen, dass Neurotiker an neurotischen Symptomen
leiden. „Bedeutungsverlust“ entwickelt sich aus einer sehr konkreten
und physiologisch vermittelten Dissoziation oder Trennung zwischen
Bewusstseinsebenen. Die Bedeutung, dass es „keine Möglichkeit für
Freude oder Liebe“ gibt, setzt sich in dem kleinen Kind fest, lange
bevor es das Wort spirituell auch nur aussprechen kann. Das Kind
trennt die Bedeutung vom Verhalten seiner Eltern ab, sodass ihre ständige
Vernachlässigung nie als „Sie lieben mich nicht“ gefühlt wird. Das
Gefühl jedoch setzt einen ständigen Kampf in Gang, sie dazu zu bringen,
dass sie es lieben. Das Kind ist höflich, klug, artig, athletisch oder
was immer nötig ist, um die Bedürfnisse der Eltern zu erfüllen. Genau
das bedeutet bedingte Liebe. Die Bedingung ist, dass das Kind wettmacht,
was immer in der Kindheit der Eltern fehlte. Wenn ein Elternteil als Kind
verspottet und herabgesetzt wurde, dann wird das Kind sehr respektvoll
sein müssen. Was
„spirituell“ für Maslow genau bedeutet, ist unklar. Es ist eines der
wundervollen Ideale, die man nicht definieren oder einer strengen Prüfung
unterziehen kann. Es ist so unpräzise wie das „Es“. Wenn Neurose erst
etwas „Spirituelles“ ist, entfernt sie sich von der Biologie und wird
zu einer vagen psychischen Krankheit ohne physiologische
Begleiterscheinungen. Maslow
behauptet, Neurose und Psychose seien „kognitive Krankheiten“, die
alle kognitiven Funktionen der Wahrnehmung, des Lernens, Erinnerns,
Beachtens und Denkens infiziert. In einer anderen Quelle nennt Maslow
Neurose die Unfähigkeit, „eine kluge Wahl zu treffen.“ [10] Eine
solche neurotische Person benimmt sich, als würde beinahe immer eine
große Katastrophe bevorstehen, d. h., sie reagiert gewöhnlich wie
auf einen Notfall…das soll heißen, man kann von einem neurotischen
Erwachsenen sagen, dass er sich benimmt, als hätte er wirklich Angst vor
einer Tracht Prügel.“ [11] [Betonung zusätzlich] Hier
trifft Maslow ins Schwarze, weiß es aber nicht. Wie andere beobachtete er
die äußeren Zeichen der Neurose richtig, nahm sie aber nicht wirklich
ernst. Er machte die physiologischen Gegenstücke des Beobachteten nicht
ausfindig. Wenn der Neurotiker sich verhält, „als würde beinahe immer
eine große Katastrophe bevorstehen,“ muss in seinem Körper und Gehirn
etwas vor sich gehen, das das alles so real macht. Und tatsächlich ist es
so. Im neurotischen Erwachsenen reverbieren oder widerhallen wirkliche
Kindheits-Katastrophen noch immer durch das ganze System. Die Katastrophe
ist noch immer real, weil sie noch immer so unangetastet ist, wie sie sich
ursprünglich durch neurobiologische Prozesse ereignete. Beachten
Sie noch eine andere Sicht der Neurose laut Maslow: Leute,
die es nicht schaffen, ihre Talente zu entwickeln, die ein langweiliges,
uninteressantes Leben führen, die niemals praktikable Methoden
entwickeln, mit anderen Leuten Beziehungen zu haben, wissen unterbewusst, dass
sie sich deswegen selbst Schaden zugefügt haben. Daraus entwickelt
sich „Neurose“. [12] [Kursivschrift zusätzlich] Da
haben wir’s. Neurose entwickelt sich nicht aus fehlender Aufmerksamkeit,
aus dem Druck, den Zurückweisungen, den Erniedrigungen, den Schlägen.
Stattdessen ist sie selbst-verewigt. Der Neurotiker entwickelt in all
seiner Schuld an seinen verfehlten Potentialen und uninteressantem Leben
seine eigene Neurose. Schlimmer noch, der Neurotiker hat sich selbst
Schaden zugefügt, indem er ein solches Leben führt, sagt Maslow –
als gäbe es keine konkreten Gründe, keine früheren Ursachen, die dafür
verantwortlich sind. Es gibt wenige Neurotiker, die das Gefühl haben,
dass sie sich selbst geschadet haben. Sie leben vor sich hin, als seien
sie ‚auf Automat geschaltet’, führen das Programm aus, das für sie
in der Kindheit angeordnet worden ist. Sie stellen sich selbst oder ihr
Leben nie in Frage. Die
einzige Art, wie der Neurotiker sich selbst schadet, ist zu glauben, dass
er seine Neurose aus kindischen Ängsten und verfehlten Potentialen selbst
geschaffen hat. Weder kindliche Einstellungen noch unentwickelte Talente
oder uninteressante Leben sind für die Schaffung der Naurose
verantwortlich. All das sind nur unglückliche Resultate eines viel
tieferen Prozesses. Ein
letzter Widerspruch in Maslows Theorie bringt wegen seiner weitreichenden
und schädlichen Implikationen Diskussionen hervor. Maslow sagt, dass
schlimme Eigenschaften wie destruktives Verhalten, Sadismus und
Grausamkeit und so fort „heftige Reaktionen gegen die Frustration
unserer inneren Bedürfnisse, Emotionen und Fähigkeiten zu sein
scheinen.“ [13] Das Individuum wird krank, wenn ihm „essentielle Fürsorge“
verweigert wird. Aber dann beschließt er den Abschnitt mit einem
Lobgesang auf die Neurose, indem er sagt, dass Disziplin, Deprivation,
Frustration, Schmerz und Tragödie alle für unser größeres Wachstum notwendig
sind. Soweit
diese Erfahrungen unsere innere Natur aufdecken, fördern und erfüllen,
soweit sind sie wünschenswerte Erfahrungen. Es wird zunehmend klar, dass
diese Erfahrungen etwas mit einem Sinn für Leistung und Ich-Stärke zu
tun haben und deshalb mit einem Sinn für gesunde Selbstachtung und
gesundes Selbstvertrauen. Die Person, die nie gesiegt
oder sich widersetzt hat und nie einer Sache Herr geworden ist, ist
weiterhin voller Zweifel, ob sie es könnte. [14] Ironischerweise
ist ein Großteil von Maslows „Spitzenerfahrungs“-Psychologie
in Wirklichkeit eine Philosophie der Verleugnung, die Neurose fördert.
Maslow legt nahe, dass das äußerste Paradox der Neurose darin
besteht, zu der Überzeugung zu gelangen, dass man braucht, was man nicht
braucht, und tatsächlich braucht man das, was einem schadet. Auf diese
Weise wird eine schwere Entbehrung als „Charakterbildung“ notwendig.
Es gibt Erwachsene, die schließlich zu der Überzeugung kommen, dass jede
Tracht Prügel, die sie als Kinder erhielten, gut war, weil sie ihnen
beibrachte, wie man Schmerz aushält, oder dass Isolation von Wert war,
weil sie lernten, auf sich gestellt zurecht zu kommen. Maslow
ist in eine zeitgenössische Falle geraten, die von der vorherrschenden
Verleugnung des Schmerzes für ihn ausgelegt worden war. Anders als andere
Lebewesen haben Menschen enorme Macht, ihre Welt zu bestimmen. Diese Welt
wiederum hilft die Qualität ihrer Menschlichkeit zu bestimmen.
Neurotische Menschen errichten eine neurotische Welt. Zum Beispiel werden
Kindheitstraumen in der Schule der harten Schläge zu Lektionen von unschätzbarem
Wert umgewandelt. Eine Generation harter Zuchtmeister-Eltern lehrt die nächste,
dass man das Kind verzieht, wenn man die Rute spart. Eltern, die ihr Kind
nähren und schützen sollen, misshandeln es schließlich und
rationalisieren seine katastrophalen Gefühle, indem sie in etwa sagen:
„Leiden ist gut für dich.“ Wenn es nicht direkte körperliche
Misshandlung oder emotionaler Terror ist, ist es eine subtilere Form der
Bedürfnis-Deprivation, wie in einer Familie, wo offener Gefühlsausdruck
missbilligt wird. Somit finden und schaffen neurotische Vorstellungen,
Werte und Lebensstile ihre eigene Rechtfertigung. Eine
Anti-Schmerz-, Anti-Feeling-Welt erfordert eine Bevölkerung, die gegen Fühlen
abgestumpft ist. Das erreicht man auf verschiedene Art. Eine Möglichkeit,
die uns als intelligenten Wesen offen steht, besteht darin, uns selbst
durch Selbsttäuschung unverwundbar zu machen. Anstatt also auf unsere
Eltern wütend zu sein, weil sie uns nicht liebten, danken wir ihnen, dass
sie „uns hart gemacht haben.“ Wir sind dankbar, dass wir nicht
hinausgehen und spielen konnten, stattdessen gezwungen wurden, zu üben
und Hausaufgaben zu machen. Wir haben das „Programm“ gekauft. Wir sind
in der Arbeit erfolgreich, aber wir haben Kolitis oder Migräne; und wir
bringen den frühen Druck nie mit späteren Symptomen in Verbindung. Maslow
unterstützt diesen Prozess, indem er Rationalisierungen, die Schmerz hoch
schätzen, zur Theorie erhebt. Er hat persönlichen Liberalismus auf die
Ebene einer Theorie erhoben; eine Art Tue-Gutes-Philosophie, wo man sich
vorstellt, man könne Neurose weglieben. Wenn
Sie Maslows Argument folgen, dass Disziplin, Deprivation, Frustration,
Schmerz und Tragödie für unser größeres Wachstum notwendig sind, dann
müssen Sie zwangsweise zu dem Schluss kommen, dass wir mehr Disziplin,
Deprivation, Frustration, Schmerz und Tragödie brauchen. Wir werden durch
alle Arten schwächender Erfahrungen geführt, sodass wir Ersatz-Stärken
entwickeln müssen: Ein einsames Kind „lernt“, ein „unabhängiger“
Erwachsener zu sein, ein misshandeltes Kind wird jemand, der „ebenso gut
austeilen wie einstecken“ kann. Diese Stärken werden dann als real
gesehen, während die bedrohlichen Erfahrungen – die Vernachlässigung,
die Bedürfnisverweigerung – als wertvoll und stärkend gesehen werden. Das
große Experiment für die Menschheit wäre, den Glauben aufzugeben, dass
Leiden für Ego-Stärke und Selbst-Achtung (zwei abstrakte Begriffe)
notwendig ist, und zu sehen, was geschieht, wenn Liebe – eine
nicht-neurotische Liebe, die auf der Erfüllung früher Bedürfnisse gründet
– zum Ausgangspunkt und Leitprinzip des Lebens wird. Seite
6 Carl
Rogers Der
personenzentrierte Ansatz….hängt von der Verwirklichungstendenz ab, die
in jedem lebenden Organismus gegenwärtig ist – die Tendenz zu wachsen,
sich zu entwickeln, sein volles Potential zu erkennen. [15] Carl
Rogers nimmt eine Hauptposition in der Humanistischen Bewegung und einen
herausragenden Platz in der Psychotherapie im Allgemeinen ein. Einige
haben Rogers sogar als „den einflussreichsten Psychologen in der
amerikanischen Geschichte“ bezeichnet. [16] Die Empfehlungen Rogers,
Psychologie-Professor an der Universität von Chicago, sind beeindruckend:
Präsident der American Psychological Association un der American Academy
of Psychotherapists, Gründer der Gesellschaft für Humanistische
Psychologie (in den 1960ern, mit Abraham Maslow und Rollo May), führender
Entwickler der „Encounter-Gruppen-Therapie.“ Einige sehen in Rogers
die Humanistische Bewegung, so durchdringend war sein Einfluss unter
Humanisten und in der Human-Potential-Bewegung. Rogers Theorie und seine
Therapie haben einen unverkennbaren pastoralen Beigeschmack, was nicht überraschen
kann, wenn man seinen Hintergund im evangelischen Christentum betrachtet.
Der Mittelpunkt seiner Arbeit ist die Beziehung zwischen Patient und
Therapeut, wobei der entscheidende Bestandteil die „bedingungslos
positive Beachtung“ seitens des Therapeuten ist. Rogers
ist bestens bekannt für seine „nicht-direktiven“ Techniken und seine
„klientenzentrierte Therapie“, die auch als „personenzentrierte
Therapie“ bekannt ist. In der Tat hielt er es für wichtig, den Begriff
„Klient“ anstatt „Patient“ zu benutzen, scheinbar in dem Bemühen,
die übergeordnet/untergeordnete Natur der therapeutischen Beziehung
umzuwandeln. Auch entfernt „Klient“ Neurose vom medizinischen Modell
und impliziert, dass die Krankheit nicht wirklich physiologisch ist.
Jedoch kann „klientenzentriert“ und „nicht-direktiv“ irreführend
sein. Was an der Oberfläche nicht-direktiv zu sein scheint, ist darunter
vielleicht zwingend (sprich „direktiv“). Außerdem kann, was als
klientenzentrierte Therapie betrachtet wird, auf vielerlei Art eher eine
„therapeutenzentrierte“ Therapie sein. Interessanterweise
geht Rogers von dem Punkt aus, dass Therapeuten, obwohl sie keine
Einsichten oder Wissen vermitteln können oder den Patienten keine bessere
Lebensweise beibringen können, eine sichere therapeutische Umgebung
bereitstellen können, die für die Heilung wesentlich ist. „Das
Scheitern eines jeden solchen Ansatzes durch den Intellekt hat mich zu der
Erkenntnis gezwungen, dass Veränderung durch Erfahrung in einer Beziehung
zustandezukommen scheint.“ Rogers behauptet, dass im Innersten einer
potentiell heilsamen Therapie Eingaben des Therapeuten wie „Echtheit“,
„bedingungslose Akzeptanz“ und „Mitteilung des empathischen
Verstehens und der bedingungslosen positiven Beachtung des Therapeuten an
den Patienten.“ [17] Er sieht die Rolle des Therapeuten als die einer
„Hebamme einer neuen Persönlichkeit.“ [18] Rogers schreibt: Wenn
ich für eine bestimmte Art von Beziehung sorgen kann, wird die andere
Person in sich selbst die Fähigkeit entdecken, diese Beziehung für
Wachstum zu verwenden, und es kommt zu Veränderung und persönlicher
Entwicklung. [19] Unter
diesem Gesichtspunkt beruht
die einzige Bedingung für Veränderung vielmehr auf der Fähigkeit des Therapeuten,
sich auf den Patienten zu beziehen, als auf der Fähigkeit des Patienten,
mit sich selbst in Verbindung zu treten. Der Therapeut ist dann der
Dreh-und Angelpunkt von Rogers Prozess und macht die Therapie mehr therapeutenzentriert
als klientenzentriert. Rogers Position unterscheidet sich nicht von den
Neo-Freudianern, die auch glauben, dass Verbesserung durch die
Arzt-Patient-Beziehung mittels Übertragung zustandekommt. In der
Psychoanalyse nennt man es eine „korrigierende emotionale Erfahrung.“
Sie besagt, dass jede reale Wärme und beständige Liebe hilft, Neurose
aufzulösen. Aber wieviele Neurotiker können keine Liebe annehmen,
bevorzugen den Kampf um sie und sind dann sehr geschickt darin, Wege zu
finden, um sie zu zerstören? Obgleich
es stimmt, dass man eine bestimmte Art von Beziehung zwischen Patient und
Therapeut schaffen muss, ist das nur der Anfang. Um Rogers obige Hypothese
auf ein dialektisches Gefüge umzuformulieren: Wenn ich einen bestimmten
Beziehungstyp bereitstellen kann, wird die andere Person in sich selbst
die Fähigkeit entdecken, mit ihrem eigenen verdrängten Schmerz in
Beziehung zu treten und somit sich selbst befreien, um Veränderung,
Wachstum und persönliche Entwicklung zu erreichen. Rogers
sagt, dass der erste Satz in seiner Hypothese – einen bestimmten
Beziehungstyp bereitzustellen – bedeutet, dass der Therapeut sich auf
eine echte und reale Art verhält. Er stellt ganz richtig heraus: „Nur
auf diese Weise kann die Beziehung Realität haben, und Realität
scheint als eine erste Bedingung [für Therapie] äußerst wichtig zu
sein.“ [20] Als Nächstes sagt Rogers: „Je mehr Akzeptanz und
Sympathie ich für dieses Individuum fühle, umso mehr werde ich eine
Beziehung schaffen, die er oder sie nutzen kann.“ Das bedeutet, jeden
„fluktuierenden Aspekt der Person“ zu akzeptieren und einen
„bedingungslosen Selbstwert ….ungeachtet seines Zustands, seines
Verhaltens oder seiner Gefühle“ mitzuteilen. [21] Es bedeutet auch, ein
„grundlegendes Vertrauen in die Person“ mitzuteilen, um dem
grundlegenden „Misstrauen [der Gesellschaft] gegen die Person
entgegenzuwirken.“ [22] Der
heikle Teil dieser Bedingung ist, dass Wärme, Sympathie, Akzeptanz und
Vertrauen schwer zu schlagen sind. Auch wenn der Patient fühlen muss,
dass er oder sie eine vertrauenswerte Person ist, kann der Brennpunkt
nicht auf dem Therapeuten liegen, der diesen Wert liefert. Alle Akzeptanz
auf der Welt kann das Trauma nicht ungeschehen machen, dass man von den
Eltern abgelehnt worden war. Um es zu wiederholen: Wir können Neurose
nicht weglieben. Da verlangt man von Liebe zu viel – dass sie viele
Jahre, die jemand mit gefühllosen, gleichgültigen, gedankenverlorenen
Eltern verbracht, ungeschehen macht. Das zu Grunde liegende Thema, dem sie
sich verschreiben, ist, dass Neurose nur psychisch ist und durch
psychische Prozesse ungeschehen gemacht werden kann. Neurose ist
neurophysiologisch und ist überall in unseren Systemen. Wieder
gilt die Dialektik: Wenn man die verdrängten Gefühle der Wertlosigkeit fühlt,
stellt man schließlich das Wertgefühl wieder her….ohne dass Worte wie
„Wert“ Eingang in die Gleichung finden. Selbstwert und Vertrauen kann
man anderen nicht aufpfropfen. Wie Phönix müssen sie sich aus der Asche
ihres eigenen Gegenteils erheben. Zustände von Wertlosigkeit und
Misstrauen liegen im Patienten. Seite
7 Man
muss die interne Dialektik des Patienten aktivieren,
nicht nur die Wärme und Akzeptanz und das Vertrauen des Therapeuten. Das
heißt, die alten Gefühle, die gegen die Tore der Verdrängung stoßen, müssen
in den Kampf eingreifen. Neurose liegt nicht zwischen den Leuten;
sie manifestiert sich zwischen Menschen, aber sie ist ein innerer
Zustand. Sie kann nicht zwischenmenschlich geheilt werden, egal wie nett
wir sind, und übrigens, Carl Rogers war ein wirklich freundlicher,
wundervoller Mensch. Ein
Kind, dass ständig ignoriert wird und nie eine Antwort bekommt oder mit
dem man nie redet, entwickelt das Gefühl, nicht wert zu sein, dass man
mit ihm redet: Wertlosigkeit. Wenn es fühlt, was „sie“ ihm angetan
haben, verschwinden die neurotischen Gefühle der Wertlosigkeit und werden
einfach durch ein Selbst ersetzt, das sich fähig fühlt. Kurz
gesagt gibt es keine Selbstachtung, keine Selbstvertrauens-Gefühle, die
sich im Inneren einnisten und darauf warten, herausgelassen zu werden. Es
ist keine Sache, die man ausfindig macht. Wenn man die Wertlosigkeit fühlt,
wandelt sie sich sofort in ihr Gegenteil; dann ist es endlich mit ihr
vorbei. Ein
anderes Problem mit dem Therapeuten, der bedingungslose Akzeptanz vorschlägt,
besteht darin, dass sie leicht mit Rogers früherer Aussage über den
Therapeuten, der real und authentisch sein soll, kollidieren kann. Wenn
man wiederholt mit ausagierendem Verhalten oder endlosen verbalen Tiraden
eines schwer abgewehrten Patienten konfrontiert ist, ist man nicht real
und authentisch, indem man einfach Wärme und Akzeptanz vermittelt. Hier
verwechselt Rogers Wirklichkeit und Märchen; er verwechselt warmherzig
sein mit real sein. Beide sind nicht unbedingt dasselbe.
In der wirklichen Welt strahlen die Leute keine Wärme und Akzeptanz aus,
egal wie wir uns verhalten. Das ist keine realistische Haltung und deshalb
keine, die notwendigerweise therapeutisch ist. Ich kann mit einem
ausagierenden Patienten streng sein und ihn dennoch akzeptieren. Ich
akzeptiere, dass sein Verhalten ein Resultat von Schmerz ist und dass es
irgendwo da drinnen eine reale Person gibt, die der Mühe wert ist. Diese
Annahme bringe ich allen Patienten entgegen. Aber angesichts
konfrontierenden oder abscheulichen Verhaltens strahle ich keine Wärme
aus. Ich behandelte eine Frau, die sich über alles beschwerte. Sie war
abscheulich, und ich sagte es ihr. Ich brachte sie zu dem Feeling: „Ich
weiß nicht, was falsch ist. Wenn ich mich beschwere, hält es die
Tatsache am Leben, dass etwas nicht stimmt. Wenn ich aufhöre, mich zu
beschweren, verliere ich jede Hoffnung, es herauszufinden.“ Ich sage
dieser Patientin nicht aus einer moralischen Haltung heraus, dass sie
abscheulich ist, sondern zu ihrem Wohl und zum Wohl der Therapie. Ich
denke, Dr. Rogers hob seine eigene Liebenswürdigkeit auf die Ebene eines
therapeutischen Prinzips. Viele Patienten müssen wegen ihres
Ausagierens ermahnt werden. Ihr Abwehrverhalten unbegrenzt zu akzeptieren
würde nur die Neurose verewigen. Während
„Wärme, Sympathie und Akzeptanz für alle“ eine gefällige Richtlinie
ist, ist sie nicht unbedingt therapeutisch, und sie ist definitiv nicht
realistisch. Auf Seite des Therapeuten bedeutet real zu sein, irreales
Verhalten auf Seite des Patienten nicht zu akzeptieren. Der Punkt ist,
dass eine Regel allein nicht
in allen Fällen passt. Das
dritte Element, das Rogers betont, ist „ein tiefes empathisches Verständnis,
das mich befähigt, seine persönliche Welt mit seinen Augen zu sehen.“
[23] Das wiederum überbetont, was der Therapeut dem Patienten mitteilen
muss, weil es auf eine fehlgeleitete Konsequenz hindeutet: Der Patient
erscheint zur Therapie und ist auf das konzentriert, was der Therapeut
bereitstellen wird. Was Rogers als entscheidend beschreibt, ist nicht nur
von sekundärer Bedeutung, sondern grundsätzlich unmöglich. Wie soll ein
Individuum die Realität eines anderen durch dessen Augen sehen? Wichtig
ist, dass der Patient sich mit seiner persönlichen Welt verknüpft. Natürlich
muss der Therapeut einen grundlegenden Sinn für Verständnis und Empathie
haben, aber der entscheidende Punkt ist nicht, wie gut der Therapeut
die persönliche Welt des Patienten wahrnimmt, sondern wie sehr der
Patient selbst sie fühlt. Was
Rogers mit dem Individuum meint, das die „Fähigkeit, die Beziehung zu
verwenden,“ entdeckt, ist, dass die Person sich in einem geeigneten
Klima einfach „in Richtung Reife vowärtsbewegen wird.“ Sie wird so
frei sein, an den Tag zu legen, was ihr angeboren ist: „Den Drang, der
in allem organischen und menschlichen Leben offensichtlich ist – zu
expandieren, sich auszubreiten, autonom zu werden, sich zu entwickeln, zu
reifen…“ [24] Rogers räumt ein, dass sein Drang unter Schichten
„verkrusteter psychischer Abwehren“ vergraben sein kann oder er
kann von „ausgearbeiteten Fassaden“ verdeckt sein, aber der Drang
existiert in jedem Individuum und „wartet nur auf die richtigen
Bedingungen, um freigesetzt und ausgedrückt zu werden.“ [25] Diese
Erklärung widerspricht in Wirklichkeit dem, was in der Rogerschen
Therapie geschieht. Rogers glaubt, dass die den Menschen angeborene
Tendenz zu Wachstum und Reife sich zeigt, wenn der Therapeut für
Akzeptanz und Wärme sorgt. Nichts,
was der Therapeut dem Patienten gibt, wird für sich Gesundheit
garantieren, und sei es noch so bedingungslos warmherzig. Rogers spricht
von Akzeptanz, aber offensichtlich akzeptiert er nicht, was allen Neurosen
zu Grunde liegt. Laut Aussage Jeffrey Massons in Against Therapy erkennt
Rogers weder die Existenz von Kindheitsmisshandlung an, noch schreibt er
ihr irgendeine Bedeutung zu. Nach Rogers Ansicht ist frühe Bedürfnis-Deprivation
– die Saat, aus der später Neurose wächst – keine Realität. Masson
schreibt, dass es Rogers Theorie und Praxis „an Sensibilität für das
reale Leiden der Menschen fehlt.“ Als
ich mir die vielen Fallgeschichten durchlas, die Rogers in seinem Büchern
vorlegte, war ich bestürzt zu sehen, dass
Berichte über authentische Traumen nahezu völlig fehlten. Obwohl
Rogers die psychoanalytische Theorie größtenteils ablehnte, war er
eindeutig der Überzeugung, dass „Sorgen“, wie er es nannte, von innen
kamen und nicht aus der realen Welt. Und genau so eindeutig übermittelte
er die Botschaft seinen Klienten, wie es sicher ist, dass jeder
Psychoanalytiker sie seinen Patienten übermittelte. Das ist der Grund,
warum in nahezu allen Darstellungen beider Therapiearten trotz der Häufigkeit
von Traumen im wirklichen Leben der Leute, die sich der Therapie
unterziehen, solche Berichte fehlen. [26] Seite
8 Überdies
ist es nicht nur so, dass Rogers die Realität nicht akzeptiert, dass
unserere frühen Erfahrungen anhaltende tiefe Qual verursachen, sondern er
traut auch unserer Fähigkeit nicht, zu erkennen, was diese Realität war.
Zutreffende Erinnerung existiert laut Rogers nicht. Das Beste, was wir tun
können, um unsere Vergangenheit zu erforschen, ist, über sie subjektiv
nachzudenken: Die
Vergangenheit können wir niemals kennen. Alles, was existiert, ist
jemandens gegenwärtige Wahrnehmung der Vergangenheit. Selbst die
durchdachteste Fallgeschichte oder die vollständigste freie Assoziation
über die Vergangenheit enthüllt nur Erinnerungen, die jetzt
vorhanden sind, „Fakten“, wie sie jetzt wahrgenommen werden.
Wir wissen nie etwas über die Vergangenheit des Individuums. [27] Diese
Position an sich - die die Rolle der Vergangenheit bei der Behandlung von
Neurose zurückweist – gewährleistet, dass auf Heilung kein Verlass
ist. Rogers
Ideen in der Therapie Wie
überträgt Rogers seine Prinzipien in die Therapie? Der Rogersche
Therapeut drückt einfach neu aus, was der Klient gerade gesagt hat. Er
versucht nicht, dem Klienten etwas mitzuteilen. Er reflektiert – mit den
beigefügten Zutaten von Wärme und Akzeptanz -
nur, was vorgegeben ist, ohne dass „eine Interpretation und
Bewertung abgegeben wird.“ [28] Es ist eine durchdachte Rationalisierung
für therapeutische Passivität. JAN
(Klientin): Die Angst, zu heiraten und gebunden zu sein und vor Kindern–
ich finde sie schrecklich. Und sie wird stärker, je älter ich werde -- CARL:
Es ist Angst vor Bindung und Angst, Kinder zu haben? Und das alles
scheint eine wachsende Angst zu sein, alle diese Ängste scheinen
zuzunehmen. JAN:
Ja, ich fürchte mich nicht vor Bindung. Zum Beispiel, wenn es um meine
Arbeit geht, um Freundschaft, darum, bestimmte Dinge zu erledigen. Aber
Heirat ist für mich sehr – CARL:
Also sind Sie kein Mensch, der verantwortungslos oder dergleichen ist – JAN:
Nein, überhaupt nicht. CARL:
Sie sind Ihrer Arbeit verpflichtet, Sie sind Freunden verpflichtet. Es ist
nur die Vorstellung, in die Ehe eingebunden zu sein – das macht Ihnen höllische
Angst. [29] Wenn
ich das sehe, erinnert es mich an den alten Witz über Rogersche Therapie.
Der Patient sagt: „Ich bin traurig.“ Der Therapeut sagt: „ Sie sind
traurig.“ Patient: „Ich bin so deprimiert.“ Therapeut: „Sie fühlen sich deprimiert.“ Patient: „Ich
bin so deprimiert, mir ist nach Selbstmord zumute.“ Therapeut: „Sie fühlen
sich so deprimiert, dass Sie sich selbst umbringen wollen?“ Der
Therapeut geht zum Fenster hinüber, sieht den Patienten durch die Luft
fliegen. „Da ist er ja!“ Rogers
Anliegen ist, die Leute dahin zu bringen, dass sie sich besser fühlen,
indem der Therapeut „bedingungslose positive Beachtung“ gegen das
Selbstbild des Patienten ins Feld führt. Marilyn Monroe wurde von
Millionen geliebt, bewundert, gepriesen und verherrlicht und fühlte sich
noch immer ungeliebt und wertlos. Sie konnte sich nicht geliebt fühlen,
weil sie nicht fühlen konnte. Kovel beschreibt Rogers Therapie als
„unerschrocken inspirativ“: Der
Rogersche Therapeut ist ein aktiver Übermittler von Beachtung für [den
Patienten]. Er tut dies auf die einfachst-mögliche Weise, nicht indem er
unterhalb der Oberfläche forscht sondern indem er diese Oberfläche an
den Patienten zurückreflektiert, die Worte des Patienten neu ausdrückt,
so dass die Aussage, die er gerade gemacht hat, auf ihn rückübertragen
wird, dieses Mal nicht mit dem masochistischen Selbsthass der Neurose
sondern mit der positiven Wertschätzung des Therapeuten beladen. [30] Rogers
befasst sich einfach mit dem, was in der therapeutischen Transaktion
geschieht. Tatsächlich ist die Transaktion sein Heilungs-Mekka. Was er
nicht wahrnehmen kann, ist, dass es genau das Überbleibsel der
Vergangenheit in dieser Transaktion ist, das bestimmt, wie sie abläuft.
Es ist die Vergangenheits-Realität, die – unerkannt - Rogers
therapeutische Beziehung zu einer rein symbolischen macht. Eine
warmherzige Vaterfigur ist beruhigend und erleichternd, aber kaum heilsam.
Es ist, als würde man zweimal die Woche einen ‚Schuss’ mit einem
Schmerzkiller bekommen. Er „wirkt“, aber nicht lange, denn nachdem man
die empathische, beruhigende Vaterfigur hinter sich lässt, sind Bedürfnis
und Schmerz noch immer gegenwärtig. Ein
Beispiel: Eine Frau, die ihr Leben einer kranken Mutter opferte, opfert
sich jetzt weiterhin für andere unter Vernachlässigung ihres eigenen
Lebens. Auf diese Weise bekam sie als Kind Liebe. Aber für einen
Therapeuten wird es eine Herkulesaufgabe sein – ein ständiger Kampf
gegen die Prägung -, sie durch Warmherzigkeit zu ermuntern, ihren eigenen
Bedürfnissen Beachtung zu schenken, wenn sie nicht fühlt, warum sie es
zuerst und bis jetzt nicht getan hat. Die Dialektik bestimmt, dass man den
Schaden erleben muss, sodass die Reparatur stattfinden kann. Kein Zugang
zum Schaden bedeutet keine Reparatur, nur Verbesserung. Nur indem sie tief
fühlt „Ich gab mein Leben und meine Wünsche auf, um mich geliebt zu fühlen“
wird sie befreit, so dass sie aufhören kann, sich zu opfern, und ihren
eigenen realen Bedürfnissen Beachtung schenken kann. Die Dialektik des
Bewusstseins bedeutet, dass die Erfahrung des Schmerzes sich in der
Sekunde, in der er gefühlt wird, in ihr Gegenteil wandelt. Seite
9 Rogers
läuft neben der neurotischen Realität her, berührt sie niemals
wirklich. Auf der einen Ebene haben wir neurotische Realität, die sich
aus speziellen vergangenen Ereignissen gebildet hat und via Verdrängung
im System festgehalten wird. Auf der anderen Ebene haben wir Rogers
Empathie, die sich über die neurotische Realität legt, ohne sich je
speziell mit ihr zu befassen. Weil es zwischen der Therapie und der
Neurose keine Schnittstelle gibt, gibt es keine Lösung. Rogers
Gegenwarts-Realität läuft im Leben des Patienten weiter, während die
neurotische Vergangenheits-Realität des Patienten in ihrer eigenen Richtung
weiterläuft. Die neurotische Realität und die Therapie setzen sich
einander unabhängig und ungeachtet fort, und die Zwei werden sich niemals
begegnen. Ein
anderes Problem mit Rogers Technik ist, dass sie primär (wenn nicht gänzlich)
verbal ist. Die stillschweigende Annahme ist, dass wir durch Sprache gesund
werden. Die Realität ist, dass wir als Ergebnis von Erfahrung
krank wurden, wobei Sprache erst viel später hinzukam, um die Erfahrung
zu benennen. Neurose ist zweifelsohne ohne Sprache möglich. Tatsächlich
wird Bewusstsein oft vereitelt, lange bevor das Baby zu sprechen beginnt;
und um Unbewusstheit geht es bei der ganzen Neurose. Ein gänzlich
nonverbales Trauma wie eine größere Operation ist ein Beispiel einer
Verletzung ohne Worte. Sie kann für das System ein solcher Schock sein,
dass die Schleusen der Verdrängung auf den Plan gerufen werden und die
Saat der Neurose gesät wird. All das soll nochmals ausdrücklich betonen,
dass Neurose eine Kraft ist und kein Begriff. Sprache
ist in der Tat sowohl phylogenetisch, in der Geschichte der Spezies, und
ontogenetisch, in der Geschichte eines einzelnen Individuums, eine späte
Entwicklung. Das ist der Grund, warum Reden allein niemanden gesund machen
kann, es sei denn auf der sprachlichen Ebene – das heißt,
intellektuell. In
dem obigen Ausschnitt einer Fallstudie versucht Rogers Klientin, sich mit
ihren Ängsten vor der Ehe, dem Kinder-Haben und Älterwerden
auseinanderzusetzen. Zum Ende der Fallstudie erklärt Rogers, dass er bei
seinen Interaktionen mit seiner Patientin „mit ihr psychologisch diesen
Pfad der Entmutigung entlanggeht.“ Das erlaubt ihr, so sagt er, „die
volle Tiefe ihrer Hoffnungslosigkeit zu erleben, ihr Unfähigkeit, sich
mit Ängsten zu befassen, ihren Wunsch nach einer hilfreichen Beziehung
mit einem anderen Mensch…das lachende Gesicht, mit dem sie ihren
Schmerz verbirgt.“[Kursiv zusätzlich] Rogers
ist sicher auf der richtigen Spur hinsichtlich dessen, was der Neurose
dieser Frau zu Grunde liegt und hinsichtlich der Art, wie sie diese davon
abzuhalten versucht, dass sie sie überwältigt. Aber die Auffassung, dass
es, wenn man ihr hilft, in einer rein gesprächsorientierten Therapie
„Bewusstheit“ zu erlangen, ihr ermöglicht wird, „die volle Tiefe
ihrer Hoffnungslosigkeit zu erfahren,“ ist extrem fraglich. Rogers
zitiert seine Patientin im Hinblick auf das, was sie in der Therapie
entdeckt hat: „Um mich dem Leben als ganze Person zu stellen, muss ich
diese fehlenden Teile von mir selbst entdecken“. [31] Sehen
wir uns die Erfahrung eines Patienten mit Rogersscher Therapie genauer an.
Die folgenden Exzerpte stammen aus einer Stellungnahme, die eine Klientin
an ihren Rogersschen Therapeuten geschrieben hat. Rogers nimmt diese
Aussage in sein Buch Client-Centered Therapy auf. [32] Was herüberkommt,
ist die übermäßige Konzentration auf den Therapeuten: Es
ist schwer zu erklären, was mit mir in den vergangenen Monaten [in der
Therapie] geschehen ist….Eines meiner ersten, stärksten und hartnäckigsten
Feelings war Schmerz – die ganzen Monate hindurch stand ich unter
Schmerz; nicht nur psychischer Schmerz, sondern wirklicher körperlicher
Schmerz, Übelkeit, schneller Herzschlag, schwacher Kreislauf,
Kopfschmerzen und so fort. Ich erinnere mich, wie ich einmal sagte, dass
ich mich fühlte, als würde ich mir ein Messer reinstechen und es immer
wieder herumdrehen, sodass mein Blut und alle meine Innereien herausströmten. Hier
weist die Patientin darauf hin, dass ihr ganzer Schmerz noch immer da ist. Meine
erste Reaktion auf Sie war, glaube ich,
Überraschung über Ihre Sensibilität und Ihre Bewusstheit dessen,
was und wie ich mich fühlte, auch wenn ich es sehr unklar oder überhaupt
nicht ausdrückte…Dann begann ich das Gefühl zu bekommen, dass Sie
meinen Gefühlen gegenüber nicht nur empfindsam und verständnisvoll
waren sondern sich auch sorgten und sich sehr sorgten. Ich glaube,
das ist das Gefühl, das ich die ganze Zeit energisch bekämpfte. Es strömte
einfach von Ihnen aus, von Ihrer Hand, als Sie das Feuerzeug benutzten,
von Ihrem Fuß, als Sie ihn vor mir ausstreckten und ihn langsam vor und
zurück bewegten, und besonders von Ihren Augen, wenn ich den Mut hatte,
Ihnen ins Gesicht zu schauen. Wegen der Stärke dieses Gefühls fand ich
es in der Regel nötig, mit der Wand oder dem Fenster zu reden, aber ich
war mir Ihrer immer schmerzlich und durchdringend bewusst. Ihr
Schmerz und ihre durchdringende Bewusstheit gehören nicht auf den
Therapeuten konzentriert. Wenn der Therapeut Wärme und Akzeptanz so sehr
betont, zwingt er die Patientin wirklich, dass sie seiner bewusst
ist und seine Botschaft von Sorge und Anteilnahme aufgreift. Der Therapeut
mag sehr wohl seine Feelings ausagieren ….“Ich bin eine liebevolle
Person; freundlich, sanft und sensibel….“ Das schafft für die
Klientin so viel Druck, dass sie es „in der Regel nötig fand, mit der
Wand oder dem Fenster zu reden.“ Ich
erinnere mich, dass Sie einmal einem Kurs beiwohnten (an diesem Tag fühlte
ich mich besonders schrecklich) und sich neben mich setzten. Ich wollte
Sie an diesem Tag gar nicht sehen. Dann streckten Sie Ihren Fuß aus, und
er berührte beinahe meinen. Ich weiß nicht, ob es absichtlich war oder
nicht, aber mir sagte es: „Ich weiß, wie schlecht es Ihnen geht, und
ich sorge mich, wie Sie sich fühlen, weil ich mich um Sie sorge.“ Ich hätte
beinahe geschrien. Ich wollte aufstehen und aus dem Zimmer laufen. Da ich
es nicht konnte, verschloss ich mich in meinem Schneckenhaus und wartete,
bis ich gehen konnte. Ich konnte weder sprechen noch irgendetwas anderes
tun, als Sie wahrzunehmen. Seite
10 Hier
kann sie wieder nichts anderes tun, als ihren Therapeuten wahrzunehmen.
Indessen wird das gesamte Material ihrer eigenen Gefühle übersehen.
Wichtig ist, dass die Gegenwart ihres fürsorglichen Therapeuten in ihr
eine tiefe schmerzliche Reaktion auslöst. Sie wollte schreien, sie wollte
aus dem Raum laufen, aber sie konnte sich nur selbst einfrieren. Nichts
davon wird beachtet. Der gesamte Brennpunkt ist auf die Botschaft des
Therapeuten gerichtet: „Ich kümmere mich um Sie.“ (Ich bin eine sehr
fürsorgliche Person) Diese Fürsorglichkeit scheint die Patientin
wiederholt aus ihren eigenen Feelings herauszudrängen; auf diese Weise
zwingt man jemanden, sich nicht schlecht zu fühlen, weil man sie oder ihn
so sehr liebt – was Eltern oft mit Kindern machen, um deren
„negative“ Emotionen zu unterbinden. Aber
was ist mit der Wut im Patienten? Wohin geht die angesichts eines
liebevollen, empfindsamen Therapeuten? Sie wird unterdrückt, während der
Patient nach altruistischen Idealen greift. Wer kann schon schreien und
rufen und gegen die Wand schlagen, wenn er oder sie mit dieser himmlischen
Atmosphäre konfrontiert ist? Diese
Art von Umwelt lässt keinen Raum für den Ausdruck extremer Zorngefühle.
Die ‚Ambiance’ [??] wirkt ihm entgegen und kämpft für die Unterdrückung
des Negativen. Es bedeutet, dass die Patientin im Namen der Therapie nicht
sie selbst sein kann. Ich verwende einige Zeit auf Rogers, weil es jede
Menge Psychotherapien gibt, die die Technik der Liebe und Wärme als
Werkzeug benutzen. Die
Klientin fährt fort, ihre Erfahrung mit Rogerscher Therapie zu
beschreiben: In
allen meinen Sitzungen war ich auf meine Beziehung mit Ihnen konzentriert.
Immer wenn ich den Versuch unternahm, mich aus ihr zurückzuziehen, andere
Beziehungen auf einer intellektueller Ebene zu erörtern, fühlte ich mich
gezwungen, auf Sie zurückzukommen. Ich konnte Sie einfach nicht abschütteln. Der
Therapeut erzwang ihre ganze Aufmerksamkeit. Im weiteren Verlauf
ihrer Aussage beginnt die Patientin, entscheidende Hinweise auf die Geschichte
ihrer Gefühle zu geben. Zuerst macht sie nur allgemeine und
versteckte Angaben, aber mit angemessener ‚Sondierung’ ließen sie
sich bestimmen und spezifizieren. Die Vergangenheit würde zur Gegenwart
werden. Ich
war der festen Überzeugung, dass Liebe geben bedeutete, meine Seele zu
verkaufen, von dem geliebten Menschen völlig dominiert zu werden und ganz
von ihm abhängig zu sein und dass man keine Liebe bekommen könnte, ohne
diesen hohen Preis zu zahlen. Deshalb kämpfte ich verzweifelt gegen jede
Liebe, die Sie mir vielleicht geben würden. Die
Problematik ist offensichtlich: Sich geliebt zu fühlen bedeutete das
Risiko, von einem anderen beherrscht zu werden. Was als Liebe und Fürsorge
galt, war offenbar elterliche Herrschaft, etwas, das sie ins
Erwachsenenleben übertrug. Leider befasst man sich damit nicht. Ich
versuchte Ihnen zu sagen, wie wertlos ich war – wie selbstsüchtig,
unzulänglich, schmutzig. Ich versuchte Sie zu hassen und anzugreifen. Sie
konnten mich unmöglich lieben, deshalb waren Sie falsch und grausam,
indem Sie vorgaben es zu tun. Ich
versuchte Sie niederzuringen, indem ich Beweise für ihre Zuneigung
forderte. Ich versuchte sogar, mich selbst zu ‚heilen’ und davon zu
schwärmen, wie wundervoll es sei. Aber Sie waren immer da, wie ein
starker Fels, gegen den ich vergeblich schlug und der nur sagte: „Ich
liebe Sie.“ Die
nie versagende „Ich-liebe-dich“-Haltung des Therapeuten bildet tatsächlich
eine Art Verleugnung der negativen Gefühle der Patientin. Sie geht
„vergeblich“ dagegen an – das heißt, diese Gefühle bleiben wieder
unvollständig. Der Druck, die Liebe des Therapeuten für sie zu
akzeptieren, schneidet sie von ihrer eigenen Realität ab, in der sie sich
völlig unliebenswert fühlt. Sie braucht keine Ersatz-Eltern, die
beteuern, dass sie liebenswert sei, und somit ihre verdrängten Gefühle
verleugnen. Sie muss ihre eigene Dialektik vervollständigen: erfahren,
wie ungeliebt sie sich als Kind fühlte, sodass sie endlich frei sein
kann, sich als Erwachsene geliebt zu fühlen. Ab
hier beschreibt die Frau eine Reihe lebhafter Vorstellungen, die im
Verlauf ihrer Therapie auftraten. Ihre Bildersprache ist extrem
anschaulich und die Echtheit der dahintersteckenden Gefühle ist nicht zu
leugnen: Ich
begann zu fühlen, dass ich einer festen Wand gegenüberstand, die zu hoch
war, um darüberzuklettern und zu dick, um hindurchzugehen. Eines Tages
war die Wand eher durchlässig als fest, und ich hatte die Hoffnung, dass
ich wirklich durch sie hindurchschauen könnte….Danach schien die Wand
zu verschwinden, aber hinter ihr entdeckte ich einen Damm, der gewaltige
schäumende Wasser zurückhielt. Ich hatte das Gefühl, als würde ich die
Gewalt dieser Wassermassen zurückhalten und als würde, wenn ich nur ein
kleines Loch öffnete, ich und alles um mich herum in dem nachfolgenden
Sturzbach der Gefühle zerstört. Eines Tages wandelte sich das Wasser in
Tiger – Tiger, die wütend an der Leine zerrten, an der ich mich
verzweifelt festhielt, als ich spürte, dass ich schwach wurde.
Seite
11 Diese
Bildsprache ist nicht bloß poetisch oder metaphorisch. Es finden sich
hier spezielle Ereignisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit dieser
Frau. Bildersprache ist ein Zugang zu unbewusster Erinnerung.. Sie ist ein
Barometer für die Intensität der Feelings und für den Grad ihrer
Unbewusstheit: je symbolischer, umso unbewusster. Weil das Rogerssche
Format die Vergangenheit nicht „sondiert,“ bleiben die Bilder eben
Bilder, kraftvolle Gemälde, die auf eine Realität hinzeigen aber
sie nicht voll enthüllen. Wenn sie mit wirklichen Ereignissen unverknüpft
bleiben, können sie die Primärgefühle nicht auflösen, die von diesen
Erfahrungen erzeugt worden waren. In der Stellungnahme heißt es weiter: Ich
dachte mehrmals ans Aufhören, aber ich wurde von dem Gefühl getrieben,
wenn ich „es“ dieses Mal nicht finden würde, dann nie. Ich begann
auch zu erkennen, dass, wenn ich wirklich was gefunden habe, wenn ich
wirklich ein Erlebnis hatte, es immer war, wenn ich versuchte, meine Gefühle
für Sie auszudrücken oder mich davor zurückzuhalten. Ich weiß, dass der
Druck Ihrer Gefühle für mich mich weiterhin an meinen Gefühlen für
Sie (und druch Sie für alle anderen in meinem Leben) arbeiten ließ. Die
Patientin ist in der Position, einem Standard gerecht werden zu müssen,
den der Therapeut setzt. Es erfordert in der Tat Druck, den Brennpunkt der
Patientin von ihr selbst abzuhalten und auf den Therapeuten zu
richten.Schließlich beschreibt die Patientin ihr Durchbruch-Erlebnis
gegen Ende der Therapie: Allmählich
wurde das Ziel oder Ende meiner Suche zu einem Licht, das sich seinen Weg
zur Oberfläche bahnte…..Letzte Woche war es direkt unterhalb der Oberfläche.
Ich musste noch eine Schicht entfernen. Ich sprach auf intellektueller
Ebene von meinen Gefühlen, von Geburt an ungeliebt zu sein. Ich brachte
mehrere Beispiele und versuchte, meine Gefühle in Bezug auf diese
Beispiele festzuhalten und zu erklären. Während ich redete, fühlte ich
mich immer unwohler, weil Sie stärker zu fühlen schienen, als ich es
tat. Dann begann ich das Gefühl zu haben, dass Sie nicht einmal zuhörten,
was ich sagte, aber alles fühlten, was ich fühlte, sogar mehr, als ich
mir des Fühlens bewusst war, und dass Sie sich sorgten. Plötzlich
fühlte ich mich, als sei ich wieder ein Baby geworden und werde
behaglich, sicher, mit warmherzigem Verständnis und großer Liebe in den
Armen meiner Mutter gehalten. Dann erkannte ich, dass es das war, was ich
vermisst hatte und was ich jetzt wollte und mein ganzes Leben gewollt
hatte. Ich erkannte auch, dass ich gerade auf diese Art geliebt worden war
und dass ich niemals entdeckt haben könnte, was fehlte, bis ich es –
vollständig - erfahren hatte. Der
Kontrast zwischen dem, was der Therapeut ihr gegeben hat und dem, was sie
früher von ihren Eltern erhalten hatte, brachte das Gefühl zur
Entfaltung, aber es wird nicht auf seine ursprüngliche und heilende
Quelle zurückgeführt, weil der Brennpunkt noch immer auf dem Therapeuten
liegt. Auch als die Patientin beginnt, in gewisse reale Gefühle zu
fallen, ist ihre Aufmerksamkeit auf das Mitgefühl des Therapeuten für
sie gerichtet. So zwingend ist sein Mitgefühl, dass er eine Art
Ersatzmutter wird. Sie überspringt dann ihren Schmerz, dass sie von ihrer
wirklichen Mutter nicht geliebt wurde, und geht dazu über, symbolische
Behaglichkeit, Sicherheit und Liebe zu fühlen. Ihre eigene Dialektik ist
kurzgeschlossen worden. Ihr Schmerz bleibt, und er wird schließlich die
symbolische Erleichterung ihrer Therapie zerfressen. Laut
Kovel sind in den begrenzten Bezugsrahmen der Rogersschen Therapie
begrenzte Behandlungsergebnisse eingebaut. Er kommt zu dem Schluss, dass
sie am besten „für relativ nicht-neurotische Leute der Mittelklasse“
geeignet ist und dass sie „am besten funktioniert, wo die Person nicht
zu weit oder zu tief gehen muss.“ [33] Rogers
umgeht Kindheitstrauma und
unbewussten Schmerz zugunsten von Wärme, Akzeptanz und „bedingungsloser
positiver Beachtung.“ Was er nicht versteht, ist, dass positive
Beachtung in der Gegenwart verdrängte Missachtung aus der
Vergangenheit nicht durchdringen kann. Unbewusster Schmerz überwiegt
gegenwärtige Realitäten und dauert an, lange nachdem sich diese gegenwärtigen
Realitäten bereits geändert haben. Diese frühe Missachtung ist eine
Einprägung – eine physiologische Realität. Und das sind messbare Kräfte.
Das ganz frühe Kindheitstrauma erzeugt radikale Veränderungen bei den
Hormonen und in der Elektrophysiologie. Es ändert die Gehirnwellen. Der
Versuch, Vernachlässigung in den ersten Lebensmonaten durch Ermahnung
oder Einsicht in der Therapie zu ändern, bedeutet, eine Wasserpistole zu
verwenden, um eine wütende Flammenhölle zu löschen. Im
Wesentlichen glaubt Rogers vielmehr, dass Heilung darin liegt, was
zwischen Patient und Therapeut geschieht, als dass er versteht, dass genau
diese Interaktion durch die Vergangenheit des Patienten vorbestimmt ist.
Bis man sich mit der Vergangenheit befasst, bleibt die therapeutische
Beziehung eine symbolische. Und Symbole lösen keine Neurose; sie halten
sie aufrecht. Es ist jedoch ein logischer Irrtum. Frühe Beziehungen
mit unseren Eltern machten uns neurotisch. Deshalb sollte eine bessere
Beziehung später die Neurose ungeschehen machen. Dem ist nicht so. Weil
die frühe Beziehung in der Person noch immer klar ersichtlich ist. Sie
ist jetzt verinnerlicht, und man reagiert ständig auf sie. Wir müssen
dahin zurückgehen, wo sie begann…. Zu der ursprünglichen Schlüsselbeziehung;
und nicht versuchen, auseinanderzuklauben, wie der Patient sich in gegenwärtigen
Beziehungen verhält. Wir benutzen die gegenwärtigen Schwierigkeiten in
Beziehungen als Vehikel, um zeitlich zu den generierenden Ursachen zurückzureisen. Obwohl
Rogers ziemlich viel über Erfahrung redet, sind „Wachstum“,
„Werte“ und „Selbstverwirklichung“ die Art von Erfahrung, die er
erörtert. Schmerz wird nicht im Geringsten erwähnt und Trauma oder Bedürfnis-Deprivation
schon gar nicht. Über neurotische Erfahrung ohne genügend Bezugnahme auf
Schmerz zu reden bedeutet, den neurotischen Spalt nicht einzuengen sondern
zu erweitern. In Rogers verbalem Therapietyp haben Sie zwei gleichzeitige
aber unverknüpfte Erfahrungen. Sie haben reale Erfahrung, die
unterbewusste Verarbeitung von Schmerz, und Sie haben irreale Erfahrung,
das bewusste Reden über Werte und Wachstum, das stillschweigend den
Schmerz übersieht. „Darüber“ reden, wie es war. Die Therapie schafft
Veränderungen in der irrealen (voll bewussten) Hälfte der Erfahrung,
ohne deren reale (unbewusste) Hälfte zu berühren. Mit anderen Worten bewirkt
sie auf reale Weise irreale Veränderung; oder reale Veränderung auf
irreale Weise. Sie bewirkt keine reale Änderung auf reale Weise. Seite
12 Es
läuft alles auf Folgendes hinaus: Eine Krankheit zu verstehen, lässt die
Krankheit bestehen. Man verändert Krankheit nie, wenn man darüber redet.
Wenn ein anderer die Krankheit akzeptiert, bleiben Sie dennoch krank. Und Neurose
ist eine Krankheit, gleich, wie nett sie formuliert wird. Es ist eine
durch Erfahrung erzeugte Krankheit. Roberto
Assagioli Der
transpersonale Trend in der Humanistischen Bewegung wird am besten durch
etwas veranschaulicht, das als „Psychosynthese“ bezeichnet wird, ein
Ansatz, den der italienische Psychologe Roberto Assagioli entwickelt hat.
„Transpersonal“ bezieht sich auf das Transzendieren einer Person oder
auf eine Person, die sich selbst transzendiert. Mehr als jeder andere der
erwähnten Theoretiker verlässt Assagioli die reale Welt konkreter
Erfahrung und begibt sich ins Reich des Mystizismus. Er spricht von
Energie-Transmutation, vom Super-Bewusstsein, vom höheren Selbst und von
harmonischer Koordination. Er spricht von „kindlichen Vorstellungen“
aber nicht von Kindheitstraumen; von „Willen“ aber nicht von Fühlen;
von den „dunklen Kräften“ des Unbewussten aber nicht von Trauma und
Deprivation in der realen Lebenserfahrung, Assagiolis
Theorie dreht sich um die Auffassung vom Willen. Er sieht den
Willen als Basis jeder Entscheidung und Wahl. Dementsprechend involviert
seine Therapie den Gebrauch vieler Techniken zur „Weckung, Entwicklung,
Stärkung und direkten Steuerung des Willens.“ [34] Diese
Willenssteuerung ist für die Heilung dessen entscheidend, was Assagioli
„die fundamentale Schwäche des Menschen“ nennt. Tatsächlich listet
er eine Reihe von Schwächen auf: die Illusionen und Phantasmen, denen wir
zum Opfer fallen, die unerkannten Komplexe, die in unserem tieferen
Unbewussten spuken, das Herumgestoßen-Werden von äußeren Einflüssen
und die blendende und hypnotisierende Wirkung trügerischer Erscheinungen.
[35] In
Assagiolis Psychosynthese werden die den Willen stärkenden Techniken
mittels eines vierstufigen Prozesses auf die obigen Schwächen angewandt,
der auf dem Buddismus ähnliche
Ideale wie „harmonische innere Integration“, wahre Selbsterkenntnis
und richtige Beziehungen zu anderen“ abzielt. [36] Betrachten wir, bevor
wir diesen Prozess untersuchen, zuerst die Natur des Willens als
Eckpfeiler der Psychosynthese. Man
durchschaut leicht, dass Assagiolis Auffassung vom Willen als Fähigkeit
des Menschen, eine Wahl zu treffen, im Grunde die gleiche ist wie Albert
Ellis Formulierungen in seiner Rational-Emotiven Therapie. Der einzige
oberflächliche Unterschied betrifft den Farbton. „Der Mensch wählt
seine Neurose und er kann sie ungeschehen machen“ wird uns in zwei
verschiedenen Tönungen präsentiert. Ellis gibt uns die gelehrte,
intellektuelle Tönung, während Assagioli uns mit der mystischeren,
kryptischeren Schattierung versorgt. Nichtsdestotrotz ist die zentrale
Botschaft die gleiche: Lerne, diese Wahl/Entscheidung-treffende Kraft zu
kontrollieren, und du hast es geschafft. Das
Problem ist, wie treffen Sie die Entscheidung, die Entscheidung zu
treffen? Die
Kraft unterhalb der Ebene unmittelbarer Bewusstheit macht Willenskraft
wirkungslos. „Willen“ ist eine intellektuelle Kraft, die den Primärkräften
darunter an Macht nie ebenbürtig ist. Wenn
Schmerz übersehen wird, muss der Wille in der Tat als vom gesamten
menschlichen Wesen getrennte Sache künstlich beherrscht und trainiert
werden. Es ist wie das Problem, wenn man kein Verlangen nach Sex hat. Wie
bekommen Sie den Willen, danach zu verlangen, Sex zu haben? In
einer vereinten, bewussten Person sind freier Wille und Willenskraft
unwesentliche Angelegenheiten. Wenn das gesamte System in Harmonie wäre,
wäre die Idee eines „Willens“ als etwas Gesondertes nicht notwendig.
Ein schwer gestörtes Kind kann sich in der Schule nicht konzentrieren
oder lernen. Wie erlangt es den Willen, lernen und sich konzentrieren zu
wollen? Wenn man die störenden Aspekte in seiner Umwelt und in seiner
Persönlichkeit entfernt, dann würde es vielleicht lernen wollen. Alle
Willenskraft auf der Welt ist nicht stark genug, um den Suizid eines
Elternteils und die ständige Depression des verbleibenden zu überwinden. Für
die bewusste Person kann es keinen Dualismus, keine Spaltung, keine
Verwicklung in einen Aspekt des Bewusstseins geben, der von der Gesamtheit
des Organismus getrennt funktioniert. Es kann keine Instanz geben, die
frei und von vergangenen Erfahrungen unbehindert agiert. Weil wir
Gesamtorganismen sind und jedes Stückchen von uns von unserer
Vergangenheit beeinflusst wird, wird jede Entscheidung, die wir treffen,
von dieser Gesamtheit bestimmt; es kann keinen mystischen Elan geben,
der sie überwindet, genau wie kein einzelner „Aspekt“ unserer selbst
von ihrem Einfluss frei ist. Wenn wir an freien Willen denken, meinen wir
in der Regel „Willenskraft“, die Fähigkeit, uns trotz unserer Umstände
zu kontrollieren. Allein die normale Person kann sich selbst
„kontrollieren,“ da sie – ganz sie selbst – diese Kontrolle ist. Assagiolis
Ansicht über die „Schwächen“ des Menschen lässt die zentrale
vereinende Schwäche des Schmerzes aus und befasst sich stattdessen mit
ihren Ablegern: die oben aufgezählten
„Schwächen“. Wir fallen nicht Illusionen, Phantasmen und
unerkannten Komplexen zum Opfer, wenn wir nicht unter Schmerz stehen. Denn
schmerzfrei zu sein bedeutet, Kontakt mit der Realität zu haben – keine
euphorische Realität, keine sorgenfreie, transzendente, höhere, glückselige
Realität, sondern eine menschliche Realität. Assagiolis
vierstufiger Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der die Schwächen
zu berichtigen sucht, die er als Kernproblem der Menschheit anführt,
besteht aus folgenden vier Phasen: Seite
13 1.
Gründliche Kenntnis der eigenen Persönlichkeit 2.
Kontrolle ihrer unterschiedlichen Elemente 3.
Verwirklichung des wahren Selbsts; die Entdeckung oder Schaffung
eines vereinenden Zentrums 4.
Psychosynthese: die Bildung oder Wiederherstellung der Persönlichkeit
um das neue Zentrum. [37] Die
erste Phase – Erlangung gründlicher Kenntnis der eigenen Persönlichkeit
– bedeutet, eine „Bestandsaufnahme der Elemente vorzunehmen, die unser
bewusstes Sein formen.“ Es bedeutet auch, in den Abgrund unseres
„tieferen Unbewussten“ hinabzutauchen: definiert als „ die dunklen
Kräfte, die uns umfangen und bedrohen – die ‚Phantasmen’, die
angestammten oder kindlichen Vorstellungen, die uns heimsuchen oder still
und heimlich beherrschen, die Ängste, die uns lähmen, die Konflikte, die
unsere Energien aufzehren.“ [38] Auch hier wieder sehen wir, dass
konkrete auf Urschmerz beruhende Ursachen zugunsten von Kräften,
Phantasmen und angestammten Zwangsvorstellungen übersehen werden. Der
einzige Bezug auf Kindheitstraumen ist deren Verminderung auf „kindliche
Vorstellungen.“ Der einzige Bezug auf besondere verdrängte Ereignisse
geschieht in der indirekten und abschätzigen Form von „Ängsten, die
uns lähmen“ und „Konflikten, die unsere Energien aufzehren.“
Solange das Unbewusste als der Schuldige angesehen wird, sei es in einem
Freudschen oder Psychosynthetischem Bezugsrahmen, wird der wahre Schuldige
unerkannt entkommen. In
der zweiten Phase von Assagiolis Persönlichkeitsentwicklung, „Kontrolle
der unterschiedlichen Persönlichkeitselemente,“ wird sein Hang zum
Kognitiven auffallend klar. Er sagt, nachdem wir die dunklen Kräfte in
unserem Unbewussten entdecken, müssen wir „Besitz von ihnen ergreifen
und Kontrolle über sie erlangen.“ Um das zu Wege zu bringen, schlägt
er eine als „ Desidentifikation“ bezeichnete Methode vor, die auf
folgendem Prinzip basiert: Wir
werden von allem beherrscht, mit dem sich unser Selbst identifiziert. Wir
können alles beherrschen und kontrollieren, von dem wir uns selbst
desidentifizieren. Assagioli
erklärt: In
diesem Prinzip liegt das Geheimnis unserer Versklavung oder unserer
Freiheit. Jedes Mal, wenn wir uns mit einer Schwäche, einem Fehler, einer
Angst oder irgendeiner persönlichen Emotion oder Trieb
„identifizieren,“ begrenzen und lähmen wir uns selbst. Jedes Mal,
wenn wir „Ich bin mutlos“ oder „Ich bin gereizt“ zulassen, werden
wir immer mehr von Depression oder Zorn beherrscht. Wir haben diese
Einschränkungen akzeptiert; wir haben uns in unsere eigenen Ketten
gelegt. Wenn wir stattdessen in derselben Situation sagen „Eine Woge der
Mutlosigkeit versucht mich zu überschwemmen“ oder „Ein
Zornimpuls trachtet danach, mich zu überwältigen,“ ist die
Situation ganz anders. Dann stehen sich zwei Kräfte gegenüber; auf der
einen Seite unser wachsames Selbst und auf der anderen die Mutlosigkeit
und der Zorn. Und das wachsame Selbst unterwirft sich dieser Invasion
nicht; es kann diese Impulse der Entmutigung oder des Zorns objektiv und
kritisch überprüfen; es kann nach ihren Ursachen suchen, ihre schädlichen
Wirkungen vorhersehen und ihre Grundlosigkeit erkennen. Das reicht oft
aus, um einer Attacke solcher Kräfte zu widerstehen und den Kampf zu
gewinnen. [39] Dem
riesigen Reservoir psychologischer Erklärungen für Neurose fügt
Assagioli seinen Lieblings – Begriff Identifikation hinzu. Er
behauptet, dass Identifikation das Geheimnis unserer Versklavung oder
unserer Freiheit sei. Wenn man aber wirklich über seinen Schlüsselsatz
nachdenkt - „Jedes Mal,
wenn wir uns mit einer Schwäche, einem Fehler, einer Angst oder
irgendeiner persönlichen Emotion oder Trieb „identifizieren,“
begrenzen und lähmen wir uns selbst“ – hat man den Eindruck, dass
Assagioli nicht viel mehr sagt als …wenn wir uns schwach fühlen, fühlen
wir uns schwach. Identifizieren
ist
ein Psychologen-Begriff, einer dieser sicher-abstrusen Konzeptionen, die
hinter dem Neurotiker-Bedürfnis nach Mythologie her sind. Trocken,
analytisch, objektivierend impliziert er die Objektivität
wissenschaftlicher und verfeinerter Nachforschung. Sicher vermittelt er
nicht, wie das Leben subjektiv erfahren wird. Die Leute „identifizieren
sich“ nicht; sie fühlen und reagieren und verhalten
sich auf gewisse Weise. Wenn sich Menschen schwach fühlen, fühlen sie
sich so aus einem Grund, der innerhalb des Gefühls liegt. Eine
Neudefinition der Begriffe durch den Therapeuten läuft nur darauf hinaus,
dass das Problem in seinen Besitz gelangt – was bedeutet, dass
der Patient jetzt den Therapeuten verstehen muss und nicht umgekehrt.
Dieselbe Sache in zwei verschiedenen Sprachen zu sagen, macht nichts
klarer. Einen Laienbegriff zu nehmen und ihn durch professionellen
Psychojargon zu erklären, macht ebenfalls nichts klarer. In
Wirklichkeit fühlen die Leute einfach ihr Leiden und reden darüber,
wie es sich anfühlt. Ich glaube, das sollte uns eine sehr gute
Vorstellung von den Richtlinien vermitteln, nach denen die Therapie
verlaufen sollte – im Gegensatz dazu, wie sie gewöhnlich verläuft. Es
scheint, dass viele Theoretiker so viele Begriffe und Formulierungen in
ihren Köpfen herumtragen und so schnell mit Interpretieren, Übersetzen
und Neuformulieren sind, dass sie nicht hören können, was ihre Patienten
wirklich sagen. In
der zweiten Hälfte der zitierten Ausführungen Assagiolis bietet er eine
Lösung an, die unsere Emotionen als von uns getrennte Kräfte
vermenschlicht, Kräfte, die darauf aus sind, uns zu kriegen. Die „Woge
der Mutlosigkeit, die versucht mich zu überschwemmen“ attackiert
nicht als Wesen in sich selbst unser „wachsames Selbst.“ Sie ist früher
Schmerz, der direkt aus unserer persönlichen Geschichte entsteht. Es ist
nichts, das man bekämpfen und überwinden muss; es ist etwas, das
man fühlen und verknüpfen muss. Seite
14 Für
Assagioli kommt Befreiung davon, dass man das Selbst von seinem Schmerz dissoziiert.
Das ist in der Tat eine falsche Befreiung, ähnlich dem, was wir bei der
Kritik der Hypnose gesehen haben. Der Neurotiker ist sein ganzes Leben
lang desidentifiziert worden. Er braucht dafür kein weiteres Rezept.
Assagioli fährt fort: Aber
auch wenn diese Kräfte in uns selbst zeitweise stärker sind, wenn die
bewusste Persönlichkeit zuerst von ihrer Gewalt überwältigt wird, wird
das wachsame Selbst nie wirklich besiegt. Es kann sich in eine innere
Festung zurückziehen, dort abwarten und sich auf den günstigen Moment
vorbereiten, in dem es zum Gegenangriff übergehen kann. Vielleicht
verliert es einige Kämpfe, aber wenn es seine Waffen nicht aufgibt und
nicht kapituliert, wird das Endergebnis nicht gefährdet, und am Ende wird
es den Sieg erringen. [40] Das
militaristische Vokabular ist kaum zu übersehen: stärker, überwältigt,
Gewalt, wachsam, erobert, Festung, Gegenangriff, Kämpfe, Waffen,
kapitulieren, Sieg. Beachten Sie auch die fortlaufende anthropomorphe
Beschaffenheit des sich abspielenden Dramas. Wenn die dunklen Kräfte in
uns zeitweise die Kontrolle erlangen, kann sich das wachsame Selbst in
seine innere Festung zurückziehen und dort den günstigen Augenblick
abwarten, in dem es zum Gegenangriff übergeht! In einer Zeit, in der die psychobiologischen
und psychophysiologischen Ursprünge psychischer Prozesse
endlich entdeckt werden, ist der Nutzen dieser Art veralteter Metapher
kaum ersichtlich. Assagiolo fährt in derselben Tonart fort [Kursivschrift
zusätzlich, um das militaristische Vokabular zu unterstreichen]: Dann
können wir die Attacken, die aus dem Unbewussten kommen, zurückschlagen
und außerdem eine fundamentalere und entschlossenere Methode anwenden:
Wir können die tiefliegenden Ursachen dieser Attacken in Angriff
nehmen und die Wurzeln des Problems wegschneiden. Diese
Vorgehensweise kann in zwei Phasen unterteilt werden: a) Zertrümmerung
der schädlichen Vorstellungen oder Komplexe, b) Kontrolle und
Nutzung der dadurch freigesetzten Energien. [41] Er
sagt, dass wir ein gewisses Maß an Kontrolle über unsere dunklen Kräfte
erlangen können, indem wir uns ihrer bewusst werden. Genau das macht
angeblich die Psychoanalyse. Wenn wir sie jedoch wirklich ausrotten
wollen: Wir
müssen kalte, unpersönliche Beobachtung anwenden, als wären sie bloße
natürliche Phänomene, die sich außerhalb von uns ereignen. Wir sollten
zwischen uns selbst und ihnen eine „psychologische Distanz“ schaffen,
uns diese Vorstellungen oder Komplexe sozusagen vom Leib halten und dann
in Ruhe ihren Ursprung, ihre Natur und – ihre Dummheit betrachten! [42] Assagioli
macht wieder den gleichen Fehler, einen Fehler, der die Unzulänglichkeiten
von Maslows Theorien und Rogers psychotherapeutischen Techniken
wiedergibt. Weil er nicht versteht, wie Symptome auf einer tieferen Ebene
mit einem sehr persönlichen Schmerz in Verbindung stehen, macht er die
Symptome zu einer Art unpersönlicher Feind, der „kalte, unpersönliche
Beobachtung“ erfordert. Aber der wahre Feind ist genau das, was er als Lösung
verordnet: Es ist genau der Mangel an Feeling (siehe kalt) und die
Abtrennung (siehe unpersönlich), die Neurose zuerst wiedergaben.
Da er glaubt, dass der Schlüssel zur Heilung darin liegt, eine bessere
Abwehr zu errichten, verordnet er mehr und nicht weniger von der
Krankheit. Assagiolis
letzter Irrtum im obigen Abschnitt kommt zustande, wenn er eine Haltung
der Dummheit gegenüber den Symptomen verordnet. Der Neurotiker hat
sich sein ganzes Leben mit seinen Symptomen dumm gefühlt. Das verstärkt
nur seine negative Sicht von sich selbst. Warum schließlich, wenn seine
Symptome so dumm und lächerlich sind, war er nicht in der Lage, sich
davon zu befreien? Er kann nur zu dem Schluss kommen, es müsse sein, weil
er genau so dumm ist und sehr schwach obendrein. Symptome
drücken abgetrennten Schmerz aus, solange er zu katastrophal bleibt, als
dass die Person ihn verknüpfen könnte. Das bizarrste psychotische
Symptom kann eine eindrucksvoll rationale Verknüpfung mit Geschichte der
Person haben. Kontext enthüllt diese Rationalität. Die
Person, die „Erlöser“-Visionen hat, die überall sein Bild sieht,
wird als jemand angesehen, der Trugvorstellungen halluziniert. Aber das
tiefe Gefühl darunter, wie es auf einen meiner Patienten zutraf, war:
„Es gibt niemanden, der mich rettet!“ Sein Leben war die Hölle, und
es gab niemanden, an den er sich wenden konnte. Später sah er den Erlöser.
Er sah ihn so oft und an so vielen Orten, dass man ihn als verrückt
betrachtete. Wir müssen auch daran denken, dass neurotische Symptome eine
wichtige Funktion haben, die von dumm oder verrückt weit entfernt ist.
Sie weisen auf frühen Schmerz hin – und je „dümmer“ oder
irrationaler sie scheinen, desto katastrophaler ist der Schmerz, den sie
anzeigen. Die
dritte und vierte Phase der Methode Assagiolis wird sehr mystisch. In der
dritten Phase („Verwirklichung des wahren Selbsts“) müssen wir „das
persönliche Bewusstsein zu dem des Selbsts erweitern; nach oben gelangen,
indem wir dem Strahl zu den Sternen folgen; das tiefere mit dem höheren
Selbst vereinen.“ Wenigstens ist Assagioli konsequent. Er platziert
nicht nur das Schlechteste von uns (die Vorstellungen und Komplexe in
unserem tieferen Unbewussten außerhalb von uns selbst; er platziert
ebenso unser Bestes außerhalb von uns! Es scheint, das „höhere
Selbst“ sitzt über uns und nicht in uns. Hier kehrt Assagioli einfach
zu christlichem Mystizismus zurück. Er legt „höheres“ Wissen und das
gute Leben in einen Gott, eine Seele oder ein höheres Selbst. Wir
müssen nicht zu den Sternen gelangen sondern in unser Unbewusstes. Die
Vergangenheit des Individuums ist per Definition real und wahr – und das
ist mehr, als man über Bewusstseinsfelder, höheres Bewusstsein und auch
über Superbewusstsein sagen kann. Seite
15 Bewusstsein
ist
einfach; und es bedeutet, dass Realität und unsere Wahrnehmung dieser
Realität übereinstimmen. Nicht mehr und nicht weniger. Die
vierte Phase ist die Stufe, auf der die „Psychosnthese“ stattfindet
– „die Bildung oder Neuformung der Persönlichkeit um das neue
Zentrum.“ Um das zu erreichen, müssen wir unsere unbewussten Kräfte
„umwandeln.“ Wir müssen lernen, „die durch die Analyse
freigesetzten Kräfte und die Zertrümmerung der unbewussten Komplexe“
zu nutzen. Wir müssen die fehlerhaften und unzulänglichen Aspekte
unserer Persönlichkeit entwickeln (durch Autosuggestion, Wachrufung oder
Übung). Schließlich müssen wir die „verschiedenen psychologischen
Energien und Funktionen koordinieren und unterordnen. Assagioli räumt
ein, dass das alles äußerst schwierig scheint, schließt aber
optimistisch: Auf
diese Weise bildet sich die neu wiedererschaffene Persönlichkeit, und ein
neues und höheres Leben beginnt, das wahre Leben, für das das
vorige als bloße Vorbereitung, beinahe als Schwangerschaft betrachtet
werden kann. Somit
wird das Leben, das wir haben, durch ein mysteriös höheres und wahreres
ersetzt. Für mich deutet das wieder darauf hin, wie „himmlisch“ es für
einen Neurotiker ist, sich das nicht-neurotische Leben vorzustellen. Aber
lassen Sie mich deutlich werden. Wir müssen uns nicht umwandeln,
transzendieren, transformieren oder zu den Sternen gelangen. Wir müssen
uns einfach mit der Realität in uns in Verbindung setzen. Wir müssen
nicht nach Indien reisen, um Erlösung zu finden. Wir müssen nur ein paar
Millimeter in unser Gehirn hinabsteigen. Persönliche
Psychosynthese bedeutet, die Persönlichkeit zu perfektionieren (sie von
Komplexen und dergleichen zu befreien), und spirituelle Psychosynthese
bedeutet, „sich mit dem Selbst zu vereinen.“ Der persönliche Teil
kommt zuerst, und so beginnt die Therapie mit einer klinischen Bewertung
der „unbewussten Komplexe“, „antagonistischen Merkmale“,
„Ambivalenzen und Polaritäten“ und „Sub-Persönlichkeiten“ des
Patienten. Aber wie bei Rogers gibt es nirgendwo Erwähnung von Trauma,
Verletzung, Deprivation oder Schmerz. Nirgends werden spezifische konkrete
Ereignisse und ihre Wirkungen erwähnt. Obgleich die Vergangenheit des
Patienten untersucht wird, um Familieneinflüsse zu ermitteln, besteht
diese Nachforschung aus einer „systematischen Befragung“, die vielmehr
darauf abgestimmt ist, den Ursprung der Charaktermerkmale des Patienten
aufzudecken als seinen Schmerz. Es ist ein rein kognitiver Ansatz, in dem
der Patient sich selbst untersucht, als wäre er eine getrennte Person,
und somit getrennt wird – genau das, was ihn zuerst neurotisch machte.
Wie in der Freudschen Therapie geben sich „Verstehen“ und
„Einsicht“ wieder als Bewusstsein aus. Sie verstärken vielmehr die
Verdrängung, als sie zu reduzieren. Die
Humanistische Bewegung ist ein toter Gang in der wahren dialektischen Art
und Weise. Der Freudschen These vom Menschen als impulsgetriebenes
Wesen wird die humanistische Antithese des Menschen als von
Energiefluss und Zartheit bestimmtes Wesen zugefügt. Das Problem, wenn
man den Prozess hier beendet, besteht darin, dass es keine Synthese
gibt. Ohne diese Synthese bleiben wir mit einer eindimensionalen,
nicht-dynamischen Sicht des Menschen zurück. Laut
Kovel haben sich die Humanisten von Neurose und Psychose weg- und auf
„gewöhnliche Unglücklichkeit und Entfremdung“ zubewegt. Die
Humanistische Bewegung, schreibt er, hat „soziale Entfremdung direkt für
Therapie zugänglich [gemacht]“. [43] Das gibt der Neurose praktisch
einen neuen Namen und eine neue Ursache. Jetzt ist sie nicht auf besondere
Ereignisse in unserem persönlichen Leben zurückzuführen sondern auf
Umstände unserer Zeit. Sollten
wir die Auffassung von gewöhnlicher Unglücklichkeit und gewöhnlicher
Entfremdung akzeptieren? Sind Entfremdung und Unglücklichkeit gewöhnliche
Bedingungen der Menschheit ohne besonderen Grund und spezielle
Behandlung? Ich glaube nicht. Der Erwachsene ist in seinem gegenwärtigen
Leben entfremdet, weil er von den Wurzeln seiner Vergangenheit entfremdet
ist. Er hat seine Kindheit und mit ihr den frei fließenden emotionalen
Ausdruck, den Kinder haben, hinter sich gelassen. Unglücklichkeit ist jetzt
eine existenzielle Bedingung, weil sie damals eine physisch
eingravierte Erfahrung war. Sie als Zeitgeist oder Weltanschauung
der Zeit abzulegen, erhellt überhaupt nichts. Soziale Entfremdung
kommt direkt von persönlicher Entfremdung und persönliche Entfremdung
beginnt mit der Entfremdung von den Eltern von ganz früh an. Diese
Entfremdung wird von einem tiefen Gefühl des Alleinseins und Fremdseins
begleitet. In
ihrem Eifer, den Mantel des Freudschen Es abzuwerfen, haben die Humanisten
den frühen Schmerz blindlings übergangen und einen atavistischen Satz in
die Glückseligkeit getan. Sie verstehen nicht, dass man das Negative des
Menschen nicht einfach verleugnen kann, während man seine Potenziale
nachdrücklich verstärkt. Man muss im Gegenteil beide Realitätsebenen
in Einklang bringen, wenn Bewusstsein wirklich „erhöht“ werden soll.
____________________ Anmerkungen und Quellen [1]-[43]: siehe Originalversion
____________________ Übersetzung: Ferdinand Wagner
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