Artikel u. Buchausz.

Buchauszug

Artikel u. Buchausz.
 

Original:   GRAND DELUSIONS                                                                                                         

Buchübersetzungen

    

 
 

Am Beispiel der Gestalttherapie und ihres Gründers Fritz Perls zeigt Janov, wie stark die persönlichen (frühen) Lebensumstände  und die Neurose eines Gründers die Gestalt des Theoriengebäudes beeinflusst, das dieser errichtet. Und das gilt gewiss nicht nur für die Gestalttherapie.

Ferdinand Wagner

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Dr. Arthur Janov

 

  GRAND DELUSIONS

GROSSE ILLUSIONEN

  Psychotherapien ohne Fühlen

 

Veröffentlicht im Juni 2005 auf primaltherapy.com

 

„Ohne die zentrale Antriebskraft von Perls’ Persönlichkeit, von der sie ihre Identität ableitete, schien die Gestalttherapie nicht mehr zu wissen, wo und wie sie ihre Definition erlangen sollte. Perls’ Nachfolger griffen nach Prinzipien, mit denen sie die Elemente einer Theorie und Therapie zusammenkleistern wollten, die ohne ihre Hauptsäule auseinandergefallen war. Perls schaffte es nicht, seinen Anhängern eine in Übereinstimmung mit Biologie und Psychologie stehende Theorie zu hinterlassen, auf der sie eine effektive Therapie entwickeln könnten. Stattdessen ließ er sie mit breiter Sentimentalität, vager Ideologie und dubiosen Techniken zurück. So versuchten die Praktiker, nichts außer Acht zu lassen, indem sie Elemente aus Mystizismus, Religion, Philosophie und Psychologie einsammelten. Da diese Vermischung aus Methode, Technik und Ideologie nicht auf der Wirklichkeit des Organismus beruhte, fand sich die sogenannte Gestalt-Therapie mehr denn je in Stücken wieder. Ironischerweise war die eine Sache, die der Gestalttherapie fehlte, eine Gestalt. „

  Arthur Janov

 

Kapitel 12  

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GESTALTTHERAPIE:

IM HIER UND JETZT LEBEN - UNERLEDIGTE GESCHÄFTE UNERLEDIGT LASSEN  

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Ich hörte eine Geschichte über Fritz Perls, als Abraham Maslow eine Präsentation über die zehn Schritte zur Selbstverwirklichung veranstaltete. Ich hörte, dass Fritz Perls nicht viel über die Sachen sagte, dass er im Wesentlichen die Sache-an-sich war, die, wie Sartre behauptete, bei den meisten fehlte. Fritz Perls Reaktion auf Maslow und 500 Zuhörer bestand darin, dass er auf seinem Bauch durch den Mittelgang kroch, wobei er die Laute eines Seehunds nachmachte – und Maslow mit seinem eigentlichen Mangel an Präsenz oder Dasein konfrontierte. [1]

 

Einführung

Gestalttherapie ist eine der nicht-traditionellen „New-Wave“-Therapien, die in der „Human-Potential“-Dekade der sechziger Jahre aufkamen. Sie wurde von Fritz Perls entwickelt, einem in Deutschland geborenen Psychoanalytiker, der in den 1940ern mit der Freudschen Theorie brach, um seine eigene „Gestalt“-Ansicht des Menschen zu schaffen. Jedoch erlangten Perls Ansichten erst durch den Aufruhr der 1960er Jahre weitverbreitete Anerkennung. Aber mit der Anerkennung kam die Kontroverse, denn Perls war seine neue Therapie, und Perls war bestenfalls unkonventionell, noch häufiger provozierend und immer umstritten. Für einige war er nicht mehr als ein „undisziplinierter, streitsüchtiger und lüsterner alter Mann“, der mit der Führung ‚verrückter’ Encounter-Gruppen großspurig auftrat und völlige sexuelle Freiheit befürwortete.“ Für andere war er ein „bärtiger, brillanter, unberechenbarer, schurkischer alter Wunderknabe, [der] die Hoffnung auf das Nirwana, auf  die Heilung anbot; darauf, auf einer Trage nach Lourdes zu kommen und in der Lage zu sein, es auf eigenen Füßen wieder zu verlassen.“ [2]

Einerseits ist es schwer, Gestalttherapie getrennt von Perls als treibender Kraft hinter ihr zu beurteilen, während es unfair scheint, Schlüsse über die Therapie zu ziehen, die auf den persönlichen Exzentrizitäten ihres Gründers basieren. Dass er mächtigen Einfluss auf die Leute hatte, die mit ihm in der Ausbildung zusammenarbeiteten, ist ziemlich klar. Die am häufigsten gegen Gestalttherapie gerichtete Kritik betrifft ihren konfrontierenden Ansatz. Perls Therapiestil drehte sich ums Provozieren und Konfrontieren, und seine Praktikanten benutzten ebenso Provokation und Konfrontation – oft in einem nicht wünschenswerten Ausmaß. Abe Levitsky, ein Gestaltler in San Francisco und ehemaliger Student von Fritz, fasste das Problem treffend zusammen: „Spott war eine Waffe, die [Fritz] benutzte, und leider habe ich das Gefühl, dass Spott von vielen Gestalttherapeuten verinnerlicht und verewigt wurde. Aber das hat nichts mit Gestalttherapie zu tun. Es hat schlicht mit der Reizbarkeit von Fritz zu tun, wobei sein Stil statt seiner Botschaft imitiert wird.“[3]  Ich habe mir einige von Perls Tonbändern angehört, und ich muss sagen, keines von ihnen ergab einen Sinn. Es war das zusammenhanglose Umherstreifen eines Mannes, der zu „locker“ war. Er verwechselte Ausagieren wie ein Affe oder wie irgendetwas anderes, das er sich vorstellen konnte, mit Freiheit.

In welchem Ausmaß Perls jähzorniger, spöttischer Stil an Therapeuten der zweiten Generation weitergegeben wurde (Perls starb 1970), ist schwierig festzustellen. Wir können jedoch abschätzen, wie weit seine Kernideen und –techniken bewahrt und ausgearbeitet wurden, indem wir das Gestalt Journal aus den 1980ern durchlesen und die Sonderausgabe  des Journals vom Herbst 1993 durchsuchen, die des hundertsten Geburtstags von Fritz Perls gedenkt.

Perls Botschaft war auf vielerlei Art kurz und punktgenau. „Mache deine eigene Sache“, „Sei jetzt da“, und „Verliere deinen Verstand und komme zur Besinnung“ sind Standard-Gestaltgebote. Tatsächlich schrieb Fritz sogar etwas, das er Gestalt-Gebet nannte und das er häufig verwendete, um seine Gruppentherapie-Sitzungen zu beginnen: Und nebenbei bemerkt, nachdem ein Patient seine Zeit im heißen Stuhl abgesessen hatte, küsste er oder sie Perls auf die Stirn; ein Zeichen des Respekts, so glaubte man.

Ich mache meine Sache, und du machst deine Sache.

Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben.

Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach meinen zu leben.

Du bist du, und ich bin ich,

Und wenn wir uns zufällig finden, ist es wunderbar.

Wenn nicht, kann man nichts machen. [4]

So oberflächlich sich dieses „Gebet“ auch liest, es enthält tatsächlich die drei Hauptprinzipien oder –werte, auf denen Gestalttherapie gründet:

(1)    In der Gegenwart leben;

(2)    Leben und ausdrücken, wer wir „wirklich“ sind, und

(3)    Lernen, unsere Projektionen von Fehlern und Tugenden auf andere einzugestehen.

 

Perls Theorie: Die frühen Jahre

Gestaltpsychologie wurde in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt, um zu erforschen, wie wir die Welt wahrnehmen. Das deutsche Wort Gestalt wurde benutzt, um die Relativität der Wahrnehmung zu beschreiben und zu zeigen, dass die Wahrnehmung des Ganzen mehr als die Summe seiner Teile ist. Fritz Perls gefiel das Konzept, und so lieh er sich einfach das Wort als Namen für seine Therapie. Seine Therapie hatte jedoch keine formale Verbindung mit der Gestaltpsychologie als akademischer Gegenstand.

Perls Konzept der Gestalt erwuchs aus seiner schließlichen Opposition zu Freuds Konzept von der Vorrangigkeit der Instinkte. Perls hatte sich einige Jahre, nachdem er 1920 in Berlin seinen Doktortitel (med.) erhalten hatte, einer Ausbildung zum Psychoanalytiker unterzogen. Anfangs hatten Freuds revolutionäre Ideen über menschliche Sexualität und unbewusste Motivation sein Interesse erregt. Als Teil seiner Ausbildung studierte er Freudsche Theorie und unterzog sich selbst drei separaten und langwierigen Analysen. Keine der Analysen war für Perls persönlich hilfreich, aber dennoch arbeitete er an seiner Ausbildung unter Supervision bis zur vollen Zertifizierung weiter.

Dann trat die Geschichte dazwischen und erleichterte Perls Bruch mit dem Freudschen Gedankengut. Die Bedingungen im Vorkriegs-Deutschland deuteten darauf hin, dass die Abreise die einzige sichere Alternative für die jüdische Familie Perls war. Fritz beschloss, sich in Südafrika neu anzusiedeln, und 1935 hatte er das South African Institute of Psychoanalysis als Ausbildungszentrum für potentielle Analytiker gegründet. Scheinbar war Perls noch immer dem Freudschen System verbunden, wenngleich ein Papier, das er 1936 auf den International Congresses of Freudians vorstellte, von seinen Kollegen kühl aufgenommen wurde. In diesem Papier schlug Perls kühn eine Revision der traditionellen Freudschen Sicht der „oralen Widerstände“ vor. Voller „Groll“ über die „Zurückweisung“, die seine Ketzereien hervorriefen, kehrte Perls nach Südafrika zurück und begann einen „Kampf, um aus dem Treibsand der freien Assoziationen herauszukommen.“ [5] Die geographische Distanz gab Fritz die Freiheit, sich weitläufig über seine neuen Ideen auszulassen, neue Ideen zu verinnerlichen, mit denen er sich auseinandergesetzt hatte (am bemerkenswertesten die  Wilhelm Reichs und mehrerer existenzialistischer Autoren), und aufzuhören, ein Freudscher Analytiker zu sein, ein „Weisheitsscheißer“, der „die Leute verwirrte.“ [6]

Perls erstes Buch Ego, Hunger, and Aggression: A Revision of Freud’s Theory and Method wurde 1940 geschrieben und 1942 veröffentlicht. Es repräsentiert Perls Unabhängigkeitserklärung von seinem Freudschem Hintergrund. Später schrieb er zur Erklärung seines Bruchs mit der Orthodoxie:

 

Psychoanalyse stellt sich als geschlossenes, unverändertes und unveränderliches System heraus, voller Erklärungsgebaren aber ohne in sich selbst klares Verstehen. Psychoanalyse ist eine Krankheit, die vorgibt, ein Heilverfahren zu sein. Erfolglose Behandlungen von drei bis mehr als zwanzig Jahren überwiegen bei weitem den dürftigen Erfolg. [7]

 

Perls Kollegen gingen nicht gerade wohlwollend an die in Ego, Hunger, and Aggression präsentierten Auffassungen heran. Als er das Buch Maria Bonaparte, einer Freundin Freuds, zeigte, sagte sie laut Überlieferung zu ihm: „Wenn Sie nicht mehr an die Libido-Theorie glauben, sollten Sie besser Ihren Rücktritt einreichen.“ [8] Tatsächlich resultierte das Buch für Perls letztlich in nahezu völliger beruflicher Isolation, da kein traditioneller Psychoanalytiker damit etwas zu tun haben wollte.

Was waren diese vermeintlich ketzerischen Auffassungen? Eines der ketzerischsten Konzepte ersetzte Freuds Libidotheorie der Sexualität mit einer nicht-libidinösen Theorie der Homöostasie. Während Freud behauptet hatte, dass sexuelle Energie der Hauptmotivationsfaktor in der Psyche sei, behauptete Perls nun, dass wir primär durch eine angeborene organismische Tendenz , nach Ausgeglichenheit zu streben, motiviert seien. In einem pragmatischeren Argument betont Perls, dass Hunger (Selbst-Erhaltung) den Vorrang vor Sex [Erhaltung der Spezies] hat und dass deshalb Essgewohnheiten für die Formung der Psyche fundamentaler sind als sexuelle Instinkte. Des weiteren glaubte er nur teilweise an die Gültigkeit der psychoanalytischen Theorie der Übertragung (eine weitere Bastion des Freudschen Rahmenwerks) und setzte sich dafür ein, dass es wichtig sei, die Rolle des Analytiker über die der objektiven anonymen analytischen „Leinwand“ hinaus zu personifizieren.

Am signifikantesten für Fritz war wahrscheinlich der Schlussteil des Buches mit der Überschrift „Concentration Therapy“. Hier veröffentlichte er die Konzepte, die die Basis der Gestalttherapie werden sollten, Ideen, die, wie er sagte, ihm persönlich „etwas geistigen Frieden brachten“. In diesem Abschnitt präsentierte Perls erstmals seine Hier-und-Jetzt-Philosophie, lehnte die Notwendigkeit „geschichtlichen Grübelns“ ab und erklärte seine Version des Konzepts der psychologischen Projektion.

Perls beginnt „Concentration Therapy“, indem er hypothetisiert, dass die Konzepte in der Freudschen Theorie sich stark vermehrt hätten, um mit jeder neuen Verhaltensmöglichkeit zurechtzukommen: Zuerst gab es Übertragung; dann gab es negative Übertragung; dann gab es latente negative Übertragung! Er schlägt vor, diese Situation zu vereinfachen, indem er eine „neue Technik“ präsentiert, deren Ziel einfach war, „das Gefühl für uns selbst wiederzuerlangen“. Perls erklärt:

 

Unsere Technik ist keine intellektuelle Prozedur, obwohl wir den Intellekt nicht völlig ignorieren können. Sie ähnelt der Yoga-Technik, obgleich ihr Ziel gänzlich anders ist. Beim Yoga spielt das Abstumpfen des Organismus um der Entwicklung anderer Fähigkeiten willen eine herausragende Rolle, wogegen es unser Ziel ist, den Organismus zu vollerem Leben zu erwecken. [9]

 

Er fährt dann fort, indem er zur Geduld in der Erlernung der Technik mahnt und den Prozess mit dem Lernen des Alphabets vergleicht: „Nur wenn Sie den Erwerb der neuen Technik……mit der vollen Bewusstheit der Schwierigkeiten betrachten, die sich vor uns auftürmen, werde ich in der Lage sein, Ihnen dabei zu helfen, das Alphabet des „Sich-Selbst-Fühlens“ zu erlangen.“ [10]

Der Schlüssel für das Erlernen dieses neuen Alphabets war Konzentration, die als Übung auf so alltägliche Sachen wie Essen gerichtet sein konnte. Essen war in der Tat die sine qua non seiner neuen Theorie. Perls besteht darauf, dass die Übungen in dem Kapitel mit der Überschrift „Concentration on Eating“ die „Quintessenz“ von Ego, Hunger, and Aggression seien, und er weist seine Leser an, „diesem Kapitel Vorrang [vor] jeder anderen Übung einzuräumen.“ [11] Er bringt dann eine Theorie „prä-dentaler und dentaler Stufen der oralen Entwicklung, die viele Persönlichkeitscharakteristika des Erwachsenen mit dem Ess- und Kaustil verbindet:

 

…Vermeiden Sie das Schlucken psychischer und physischer Happen, die zwangsläufig Fremdkörper in Ihrem System bleiben. Um die Welt zu verstehen und aufzunehmen, müssen Sie vollen Gebrauch von Ihren Zähnen machen. Lernen Sie, ganz durchzuschneiden, bis die Vorderzähne aufeinandertreffen. Wenn Sie die Gewohnheit haben, zu zerren und zu knabbern, hören Sie auf damit….. Wenn Sie Angst davor haben, Leute zu verletzen, sie anzugreifen, „Nein“ zu sagen, wenn die Situation es erfordert, sollten Sie die folgende Übung beachten: Stellen Sie sich vor, dass Sie jemandem ein Stück Fleisch aus dem Körper beißen. Können Sie sich vorstellen, es sauber abzubeißen oder machen Ihre Zähne nur den Eindruck, als würden Sie auf Gummi beißen? Wenn Sie in Ihrer Vorstellung fähig sind geradewegs durchzubeißen, können Sie dann das besondere „Gefühl“ des Fleisches auf Ihren Zähnen erleben? Sie könnten eine solche Übung als teuflisch und grausam missbilligen, aber diese Grausamkeit ist genauso Teil und Partie Ihres Organismus, wie er der eines Tieres in seinem Kampf ums Leben ist. [12]

 

In einem anderen Kapitel „Sense of Actuality“ verwirft Perls die Gültigkeit vergangener Ereignisse. Gemäß Perls „bedeutet Wirklichkeitssinn nichts anderes als die Anerkennung, dass jede Begebenheit in der Gegenwart stattfindet.“ [13] Weil es für Perls nur gegenwärtige Realität gibt, „ist es Zeitverschwendung, sich mit Verhalten außerhalb des Hier-und-Jetzt zu befassen.“ [14]

Laut der Encyclopedia of Psychology in ihrer Erklärung der wesentlichen Konzepte der Gestalttherapie war Perls Vorstellung von der vollen Konzentration auf die Gegenwart gleichbedeutend mit „Bewusstheit“ oder damit, „in Kontakt mit Gedanken, Gefühlen und Empfindungen zu stehen, wie sie von Augenblick zu Augenblick geschehen“:

 

Gegenwärtige Hier-und-Jetzt-Erfahrung konstituiert die einzige Realität, wogegen Erinnerungen an die Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft als Phantasien betrachtet werden. Da Bewusstheit sich zu einer gegebenen Zeit nur auf einen Ort konzentrieren kann, ist sich die Person, die entweder mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigt ist, nicht bewusst, was in der Gegenwart geschieht. Wie Erving und Miriam Polster (1973, s. 7) es ausdrücken, „existiert jetzt nur die Gegenwart und….davor wegzulaufen lenkt von der Lebensqualität der Realität ab.“ [15]

 

Laut Perls ist es Zeitverschwendung, sich außer auf die gegenwärtigen Realität auf etwas zu konzentrieren, weil es nicht existiert; ein Standpunkt, den er „beweist“, indem er die orthodoxe Freudsche Auffassung der Regression anficht. Perls behauptet, dass erwachsenes Abgleiten in hilfloses oder erregbares kindgleiches Verhalten eher eine angeborene Persönlichkeitsschwäche reflektiert als zeitlich-historische Altersebenen. Das „wahre Selbst“ des Erwachsenen kommt jetzt durch, es ist seiner Rollen-Abwehr entblößt und enthüllt „eine Unterentwicklung, die niemals zu existieren aufhörte“:

 

Wenn der Neurotiker im Leben auf Schwierigkeiten stößt, regrediert er, so behauptet Freud, auf bestimmte Stufen in der Kindheit, eine Regression, die man beinahe in Jahren messen kann. Was meiner Meinung nach geschieht, ist selten eine geschichtliche Regression; es ist die bloße Tatsache, dass das wahre Selbst des Patienten, seine „Schwächen“ klarer sichtbar werden….Die ängstliche Person, die es im Allgemeinen schafft, kühl, ruhig und gefasst zu erscheinen, ist in Zeiten des Stresses  mehr auf seine Probleme konzentriert als darauf, die äußere Erscheinung aufrecht zu erhalten. Sie regrediert nicht in den Zustand ihrer Kindheitsangst. Ihr Kern, ihr wahres Selbst war nie etwas anderes als erregbar; ihre Unterentwicklung hat nie zu existieren aufgehört. Sie ist auf ihr wahres Selbst zurückgefallen, vielleicht auf ihre konstitutionelle Natur, aber nicht auf ihre Kindheit. [16] [Kursivschrift hinzugefügt]

 

Somit haben wir keine Kindheitseinflüsse, nur eine schwache Konstitution. Wir können nicht zu Kindheitsereignissen zurückkehren, nur zu endogenen Defekten.

In einem Kapitel über „Visualisierung“ beschreibt Perls in den frühen 1940ern, was später (in den späten 1960ern) eine populäre therapeutische Technik werden sollte. Er beginnt damit, dass er aufzeigt, wie Visualisierung für den Erwerb neuer Fertigkeiten wie Autofahren oder Kurzschrift hilfreich sein kann ---- wie geistiges Visualisieren der zu erlernenden Schritte oder Symbole die Zeit beschleunigen kann, die es braucht, um sich den neuen Lernstoff anzueignen. Er fährt fort, indem er ihren noch größeren Wert als therapeutische Technik erörtert, um zu erlangen, was er als „emotionale Wiederbelebung“ bezeichnet. Hier vollzieht Perls eine wichtige Abkehr von der traditionellen Freudschen Theorie über die freie Assoziationstechnik, die, wie er behauptet, zu „freier Dissoziation“ führt. Anstatt einem Traumbild zu allen und jedem seiner Berührungspunkte zu folgen, so schlägt Perls vor, sollte man sich nur auf das Bild an sich konzentrieren, mit dem Ziel, eine detaillierte Beschreibung davon zu liefern. Diese Art von Visualisierungsprozess, so beharrt er, führe weit effektiver als freie Assoziation zu kathartischer Freisetzung:

 

[Visualisierung] sorgt für einen kürzeren und überlegenen Weg zur „emotionalen Wiederbelebung“ als das gewöhnliche Konversationsgespräch oder freie Assoziationen. Ein Mann zum Beispiel, der ziemlich abschätzig von seinem Vater spricht, könnte plötzlich in Tränen ausbrechen, wenn man ihn bittet, ihn sich bildlich vorzustellen und sich auf die Details seiner Erscheinung zu konzentrieren. Er wird von seinem plötzlichen emotionalen Ausbruch überrascht sein und erstaunt darüber, dass er immer noch so viel Gefühl für den alten Mann übrig hat. Der karthartische Wert, dass man sich auf das Bild einer Person oder eines Ereignisses konzentriert, zu der oder dem man eine emotionale Beziehung hat, ist beinahe der von Hypno- oder Narko-Analyse mit dem zusätzlichen Nutzen, dass es die bewusste Persönlichkeit stärkt. [17]

 

Obgleich er seiner Vorstellung widerspricht, dass es Zeitverschwendung sei, in die Vergangenheit einzutauchen, leistet Perls in dieser Passage zwei wichtige Beiträge mit seinen Beobachtungen, dass (1) „Konzentrieren“ auf ein Bild oder eine Erinnerung aus der Vergangenheit in einer tief gefühlten Wieder-Verknüpfung damit resultieren kann und dass (2) das Bewusstsein der Verknüpfung therapeutisch wichtig für die Persönlichkeit ist. Jedoch hören die Techniken der Gestalttherapie jäh damit auf, den Patienten in die Lage zu versetzen, die authentische „tief gefühlte Wiederverknüpfung“ zu vergangenen traumatischen Erfahrungen zustandezubringen, die für die Heilung wesentlich ist.

In „Body Concentration“ sehen wir die Grundlagen dafür, was später Perls „Sei das Ding“-Technik werden sollte, bei der der Patient gebeten wird, jede Rolle und jede Person in dem Traum oder der Lebenssituation zu sein. Wir sehen auch den Einfluss von Wilhelm Reich [18], dessen ahistorische Brennpunkt- und Körperpanzer-Theorie der Neurose viel dazu beitrug, Perls in eine andere, nicht-freudianische Richtung zu bewegen. In dem Kapitel mit der Überschrift „Body Concentration“ wird Reichs Einfluss am klarsten in Perls „Theorie der somatischen Konzentration“. Hier schlägt Perls vor, dass Verdrängung durch muskuläre Konzentration geschieht und dass Entspannung die entspechende Lösung ist: „Wenn wir die Kontraktionen des Muskelsystems als ‚Repressoren’ bezeichnen, dann scheint das Heilmittel für Verdrängung offensichtlich Entspannung zu sein.“ [19] Obgleich er zugibt, dass jede Art „absichtlicher Entspannung“ ein begrifflicher Widerspruch ist, rät er, dass „Sie die bewusste Herrschaft über Ihr Muskelsystem wiederherstellen müssen, um Verdrängungen ungeschehen zu machen.“ Dies lässt sich zustandebringen, indem man sich ruhig hinsetzt und akribisch jeden Krampf, Spasmus, jede Spannung oder Kontraktion im Körper beobachtet; indem man die volle Verantwortung für die angespannte Zone übernimmt („Ich spanne meine Augenmuskeln“ anstatt „Meine Augenmuskeln sind angespannt“); indem man die Situation dadurch kontrolliert, dass man die Zone willkürlich „um ein Haar“ entspannt und strafft; und dann, indem man herausfindet, was die Kontraktion ausdrückt, und es ausdrückt („Ich soll verdammt sein, wenn ich weine“). [20]

Perls folgert zu Recht, dass jeder Ausdruck des Verdrängten mehr Energie für das gegenwärtige Leben freisetzt: „Jedes zugelassene Bild, jede vergossene Träne stellt Ihrer bewussten Persönlichkeit ein bisschen Energie zur Verfügung.“ [21] Dennoch gelangt er nicht wirklich zur Quelle der Spannung – eine Quelle tief in der Vergangenheit, die gegenwärtige Körperspannung generiert. Wie Perls behaupten würde, was immer es ist – es ist die Schuld und Verantwortung des Individuums, etwas, das es bekämpfen (sprich verdrängen) muss, indem es „die Kontrolle über die Situation an sich nimmt“ und identifiziert, was es ist; was wirklich nichts Profunderes ist als nur so weit zu gehen, dass man anerkennt, dass körperliche Spannung eine Form von Angst ist.

Mit der Projektion zu arbeiten wurde für Perls Gestalttherapie in den 1960er Jahren ein wesentlicher Brennpunkt. In dem mit „The Assimilation of Projections“ überschriebenen Kapitel von Ego, Hunger, and Aggression  sehen wir seinen grundlegenden Standpunkt, der sich in den frühen 1940ern fest etablierte. Perls beschreibt akkurat die Art von Projektion, die häufig zwischen Patient und Analytiker stattfindet: Der Patient glaubt, dass der Analytiker  in einem speziellen Bereich verurteilend oder missbilligend sei, wenngleich er es nicht ist. Der Patient, erklärt Perls, projiziert seine eigene Selbstverdammung auf den Analytiker. Der Patient sieht dann den Analytiker als Widerspiegelung der Eigenschaften oder Haltungen, die er in sich selbst nicht anerkennen will; „er [der Patient] reagiert auf seine Projektion, ‚als ob’ der Analytiker und nicht er selbst missbilligend sei.“ [22]

Als nächstes benutzt Perls sein Konzept der Projektion, um das Freudsche Konzept der Übertragung zu entthronen.  Wie bereits früher erörtert, funktioniert der Analytiker in der orthodoxen Sicht der Übertragung als eine Art unbeschriebene Tafel, auf die der Patient signifikante Personen aus seinem eigenen Leben überträgt. Auf diese Weise, so glaubte man, würde die analytische Beziehung automatisch wieder die ursprüngliche psychologische Dynamik hervorrufen und neue Lösungen und erwachsene Einsichten möglich machen. Der Patient, der anfangs das Bild eines harten, vernachlässigenden Vaters auf den Analytiker übertrug, könnte tatsächlich entdecken, dass der Analytiker in Wirklichkeit nicht streng und vernachlässigend ist---und dass es, allgemein gesagt, unkorrekt war anzunehmen, dass alle männlichen Autoritätsfiguren hart und vernachlässigend seien.

Perls greift diesen Eckstein Freudscher Theorie auf und behauptet, dass er grundlegend falsch sei. Der Patient übertrage keine Kindheitsbilder bedeutsamer Leute auf den Analytiker; er projiziere bloß seine eigenen unakzeptablen Elemente. Somit projizierte nach dieser Ansicht der Patient, der einen harten, vernachlässigenden Vater auf den Analytiker übertrug, in Wirklichkeit seine eigenen harten, vernachlässigenden Eigenschaften:

 

Wir müssen zugestehen, dass er nicht einfach das Vater-Bild auf den Analytiker übertragen haben konnte. Als Kind hatte er seine eigene Intoleranz in den Vater projiziert….Der ganze komplizierte Prozess, beide Aspekte—der grausame Vater und der grausame Analytiker—laufen auf die simple Tatsache der Projektion der uneingestandenen Grausamkeit in der eigenen Persönlichkeit des Patienten hinaus. [23]

 

Er folgert, dass es „Zeitverschwendung“ sei, sich mit Übertragung zu befassen und geht dann zur Beschreibung der Schritte über, durch die wir unsere Projektionen „assimilieren“.

Perls Auffassung der Projektion war so beschaffen, dass sie zum allumfassenden Brennpunkt der Gestalttherapie wurde Sie war der alles aufnehmende Brotkorb für jedes Lebensproblem und die Basis für Veränderung und Wachstum.

Der erste Schritt zur „Assimilation“, so schreibt Perls, besteht darin, sich bewusst zu werden, dass Projektionen tatsächlich existieren. Da die meisten von uns sich sträuben zuzugegeben, dass wir selbst projizieren, schlägt er vor, dass wir unsere Träume betrachten als „die eine Sphäre, in der es nicht schwierig ist, die Projektionen zu entdecken.“ [24] Durch unsere Träume können wir den zweiten Schritt in diesem Prozess ausführen, welcher darin besteht zu erkennen, dass die projizierten Traumelemente tatsächlich Teile unserer eigenen Persönlichkeit sind: „Die Person oder das Tier, das den Alptraum beherrscht, ist immer ein unerwünschter Teil von Ihnen selbst.“[25] Wenn wir Projektionen als Teil unserer eigenen Persönlichkeit erkennen, müssen wir sie absorbieren, um ihren Einfluss zu beenden. Das erfordert die schwierige Aufgabe der Identifikation:

 

Es ist nicht leicht zuzugeben, wenn Sie furchterregende Träume haben, dass Sie ein teuflisches Vergnügen daran finden, andere Leute zu erschrecken, oder dass Sie eine Giftschlange oder ein Menschenfresser sind….Im Allgemeinen kann man sagen, wann immer Sie eifersüchtig, argwöhnisch sind, sich ungerecht behandelt, als Opfer fühlen oder verdrossen sind, können Sie schwer darauf wetten, dass Sie projizieren, vielleicht sogar, dass Sie ein paranoider Charakter sind.“ [26]

 

Die Encyclopedia of Psychology erklärt den Ansatz der Gestalttherapie zur Assimilierung von Projektionen durch “Traumarbeit” wie folgt: “Indem er jedes Objekt und jeder Charakter im Traum wird (belebt und unbelebt) kann sich der Träumer mit Projektionen, Konflikten und unerledigten Situationen, die sich im Traum widerspiegeln, identifizieren und sich dadurch wieder zu ihnen bekennen. [27]

Im Weiteren betont Perls die Wichtigkeit, die „Tendenz“ zur Projektion abzulegen, und wiederholt die Notwendigkeit, unsere unzähligen individuellen Projektionen zu absorbieren. Eine Art das zustandezubringen ist zu lernen, wie man sich ausdrückt, was durch die  vorher erwähnte Visualisierungs-Technik praktiziert werden kann. Erstens: „Stellen Sie sich bildlich eine Person vor, gegen die Sie einen Groll hegen. Sagen Sie ihr genau, was Sie von ihr halten. Lassen Sie sich gehen; seien Sie so emotional, wie Sie nur können; brechen Sie ihr ihr verdammtes Genick; fluchen Sie, wie Sie nie zuvor geflucht haben.“ Und zweitens: „…Begreifen Sie, dass Sie die ganze Zeit nur Ihr eigenes Selbst bekämpft haben. [28]

In diesen Übungen sehen wir den Vorläufer von Perls „Lass-es-alles-heraushängen“-Thema, das zum Model für Encounter- und Sensitivity-Gruppen in den sechziger Jahren wurde. Wir können auch die im Grunde zusammenhanglose Natur seines Ansatzes sehen. Während es tatsächlich konstruktiv sein kann, seine Gefühle zu identifizieren, zu lernen sie besser auszudrücken und ihnen aggressiv Stimme zu verleihen, während man sich die Person (z. B. ein Elternteil) bildlich vorstellt, der gegenüber man nicht gewohnt ist, solche Gefühle an den Tag zu legen, kann das nichts beitragen, um Neurose wirklich zu heilen.

Im Schlusskapitel von Ego, Hunger, and Aggression –„Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ macht Perls erneut seine Überzeugung geltend, dass „Konzentration das effektivste Mittel ist, durch das neurotische und paranoide Störungen geheilt werden können.“

Die Schlussfolgerungen des Buchs diskutieren Idealismus als Mittel, durch das Individuen, die von ihrem biologischen Selbst abgeschnitten sind, einen „Lebenssinn“ in der Form von Idealen erfinden, um die Existenz zu gerechtfertigen. Diese Ideale jedoch sind nur weitere steife innere biologische Realitäten und führen zu Nervenzusammenbrüchen und schizoiden Spaltungen, wie sie durch den Jekyll-Hyde-Charakter veranschaulicht werden. Indem wir versuchen, ideale Personen zu werden, betont Perls, schaffen wir gleichzeitig das Gegenteil: „Ohne Akzeptanz ihrer biologischen Realität wird der ‚idealistische’ Dr. Jekyll und der ‚materialistische’ Mr. Hyde weiterexistieren, bis die Menschheit sich schließlich selbst zerstört hat.“ [29]

Es ist keine Überraschung, dass Perls Idealismus verachtete und ihn als Urheber der Zerstörung sah, wenn man sich der Zeitperiode und der Umstände erinnert, unter denen er schrieb. Als jüdischer Flüchtling in Südafrika (und ebenso als Veteran des 1.Weltkrieges) hatte Perls aus erster Hand die Zerstörung erfahren, die im Namen des Idealismus möglich war. Hitlers Ideal der Super-Rasse war im Grunde die treibende Kraft hinter der Nazi-Bewegung. Aber nicht nur Nazis beteiligten sich an den Greueln einer kriegführenden deutschen Nation. Millionen „normaler“ deutscher Bürger trugen letztlich direkt oder indirekt zu dem bei, was zu einem der entsetzlichsten Debakel der menschlichen Geschichte wurde. Sicherlich erklärt das, warum Perls das Konzept der Projektion zum zentralen Gegenstand seiner Therapie machte und warum er so steif und fest behauptete, sie sei der einzige bedeutsame psychologische Mechanismus. Da er Zeuge der scheinbaren Leichtigkeit geworden war, mit der anscheinend gesunde und fürsorgliche Menschen gegeneinander gestellt werden konnten, verstand Perls richtig, dass Projektion ein Schlüsselteil des Prozesses war. Damit eine Gruppe von Leuten als überlegen akzeptiert wird und eine andere Gruppe als unterlegen, muss die sogenannte überlegene Gruppe alle ihre Fehler und Minderwertigkeiten auf die designierte unterlegene Gruppe „abladen“ oder projizieren. Die unterlegene Gruppe „trägt“ dann für die überlegene Gruppe die negativen Projektionen und lässt sie in glückseliger und selbstzufriedener Immunität zurück.

Da Perls jeglichen Brennpunkt in vergangenen Ursachen in Abrede stellte, macht es Sinn, dass er nur die Mechanismen beobachtete, die über die Projektionen der Person den gegenwärtigen oder unmittelbaren Zustand ausdrückten. Projektionen zu erforschen kann in der Tat eine Art Landkarte des gegenwärtigen Seinszustands der Person liefern, aber sich nur mit Projektionen zu befassen ist, als würde man das Unkraut auszupfen und die Wurzeln drinlassen. Perls bekam dieses Problem flüchtig zu sehen, als er von der Notwendigkeit sprach, sich zusätzlich zur ‚Assimilierung’ der unzähligen individuellen Projektionen mit der Tendenz zur Projektion zu befassen. [30] Er erkannte, dass diese „Tendenz“ ausgerottet werden musste, aber er erforschte nicht, was diese Tendenz zuerst einmal geschaffen hatte. Stattdessen gehen seine Schriften implizit von der Annahme aus, dass die Tendenz, negative Eigenschaften zu projizieren, Teil und Partie der menschlichen Natur ist und dass sie zu überwinden einen Willensakt und einige Dutzend Visualisierungs-Übungen erfordere.

Das soll Perls Beitrag nicht abwerten, der darin bestand die Notwendigkeit zu betonen, dass man die Verantwortung für seine negativen Emotionen übernimmt---es war in der Tat eine angebrachte Botschaft für den größten Teil der Welt. Noch soll es den Grad mindern, in dem Projektion zu neurotischem Verhalten beiträgt und es aufrecht erhält. Es soll nur nahelegen, dass eine tiefere Dynamik involviert ist, mit der man sich befassen muss, wenn die „Tendenz“ zu projizieren ausgelöscht werden soll.

Wenn der soziokulturelle Hintergrund der Ära des Zweiten Weltkriegs Perls Leidenschaft für bestimmte Auffassungen zu erklären hilft, so hilft sein persönlicher Lebenshintergrund sein Anathema für andere zu erklären---insbesondere seine „Konzepte“ von vergangener Geschichte, persönlicher Verletzbarkeit und von Bedürftigkeit. Perls leugnete die Gültigkeit in der Vergangenheit liegender Ursachen nicht nur intellektuell ab, er duldete keine Erwähnung dieses Themas. In seinen eher rationalen Momenten bezüglich dieses Themas behauptete er, dass die vergangene Geschichte einer Person nur ausführlicher behandeln könne, was man [ohnehin] hier und jetzt in der Gegenwart beobachten könne. In seinen weniger rationalen Momenten reagierte er auf die Erwähnung vergangener Ursachen einfach mit Ärger bis hin zu vollem Zorn.

In der Tat repräsentierte der Gegenstand vergangener Ursachen und persönlicher Verletzlichkeit Perls’ uneingestandene „Achillesferse“. Es ist an diesem Punkt wichtig, einige Aspekte von Perls eigenen Primär-Beziehungen zu erwähnen. Nach seinem eigenen Bekunden war sein Leben im Elternhaus unglücklich. Seine Eltern hassten sich. [31] Sein Vater wurde regelmäßig gegen seine Mutter tätlich. Der Vater hatte anscheinend Hass für den kleinen Frederick übrig, den er „ein Stück Scheiße“ nannte. [32] Als Teenager fand Fritz noch mehr Hass in der Schule, wo die Lehrer „lieblos“ und „grausam“ waren. [33] In dieser Umgebung entwickelte der Junge anscheinend, was Jeffrey Masson als „nahezu unergründlichen Mangel warmherziger Gefühle für…seine eigene Familie“ beschreibt. Masson zitiert Perls’ einzige Erwähnung seiner älteren Schwester in seiner Autobiographie. „Sie war eine Klette….Sie hatte auch ernste Augenprobleme…Als ich von ihrem Tod in einem Konzentrationslager hörte, habe ich nicht sehr getrauert.“ [34]

Perls—der sich selbst gegen seine eigenes Kindheitsleiden abgehärtet hatte—war wegen seiner Intoleranz gegen sensible oder bedürftige Männer berüchtigt. Oftmals wurden in Perls Gruppe arglose Männer wegen der bloßen Indiskretion, einen Satz mit „Ich will“ oder „Ich brauche“ zu beginnen,  „abgeschossen“. Sein Biograph, der Psychiater Martin Shepard, schreibt:

Fritzs Härte stand stets in dirktem Verhältnis zu seiner eigenen Bedürftigkeit, und er war zu dieser Zeit besonders bedürftig [die frühen 1960er, während seines ersten Arbeitspensums auf Esalen]. Sein Benehmen und Verhalten entmutigte jene, die ihn in die Rolle eines sorgenden Elternteils oder Geborgenheit-Gebers setzen wollten. Er behandelte solche Wünsche….. spöttisch oder mit einem logischen Argument; „Wozu braucht ihr mich?“ würde er vielleicht fragen. „Wozu braucht ihr eure Eltern? Ihr habt Augen und Ohren und Energie. Was wollt ihr tun?“ [35]

Shepard zitiert dann den San Francisco-Gestaltler Abe Levitsky, ein früherer Student von Perls,  der sagte, dass sein Mentor „übermäßigen Wert auf die Kernpunkte Autonomie und Selbsthilfe legte, von denen er meinem Empfinden nach beinahe besessen war und die seine eigenen ungelösten Abhängigkeitsprobleme reflektierten.“ [36]

Als Vater glaubte Perls zweifelsohne daran, in seinen Kindern „Autonomie“ zu fördern. Seine Methode war, sie entweder zu ignorieren oder zurückzuweisen. In seiner Autobiographie hat er nur einen markigen Kommentar für seine Tochter übrig: „Renate ist eine Schwindlerin.“ Während er die Art und Weise seiner Tochter nicht guthieß, ließ er sich nicht dazu herab, seine Enkelin kennenzulernen. [37] Was das Verhältnis zu seinem Sohn anbelangt, beschrieb der Sohn Jahre später (in einem Gespräch 1993), wie sich sein Vater grundsätzlich aus der Aufgabe, ihn zu erziehen, heraushielt. Stephen Perls, ein klinscher Psychologe, berichtet, dass er sich als Junge „ignoriert“ und „herabgesetzt“ fühlte. Selten aß die Familie zusammen. Sein Vater, sagt er, „hätte sich nicht noch weniger“ um ihn oder seine Interessen kümmern können. Fritz war ganz auf sein eigenes Leben zentriert: seine Arbeit, Kollegen und Freundschaften.

Für seine Kinder hatte er keine Zeit. Laut seinem Sohn hatte Perls „einen blinden Fleck, wenn es zu interfamiliären Beziehungen kam. Er machte seine Sache und ich machte meine Sache.“ Perls junior fügt hinzu: „Bis ich etwa 30 war, trat ich für ihn nie als Figur in Erscheinung, die sich klar von meiner Schwester und Mutter unterschied.“ Fritz warb um seinen Sohn nur, indem er ihn einlud, ihm bei der „Ausführung“ des Gestalttherapie-Trainings zuzusehen, so sinniert Stephen Perls. [38]

Der Biograph Shepard spekuliert, dass aufgrund der Tatsache, dass man Perls’ eigener Bedürftigkeit als Kind mit Härte begegnet war, es Perls’ Würde verletzte, von anderen etwas zu wollen oder brauchen, und eine ähnlich harte Reaktion auslöste. Deshalb „wollte Fritz etwas, aber er bat nicht darum. Und so verdammte er die Bedürftigkeit anderer.“ [39] Nachdem seine eigenen Kindheitsbedürfnisse ignoriert worden waren, vollzog Perls an seinen eigenen Kindern und dann an einigen seiner Patienten eine Wiederholungsvorstellung, indem er auf sie mit verschiedenen Arten von Misshandlung reagierte. Shepards nennt das mit Recht Perls’ „Bedürftigkeits-Paradox“ und erklärt dann das Paradox auf sehr un(Gestalt)ische Weise im Hinblick auf Perls’ Lebenserfahrungen in der Vergangenheit:

 

Fritz war ein Mann, der in seinem Leben außerordentlich unter unerwiderter Liebe litt. Er hatte die Liebe seines Vaters entbehrt, hatte für die Liebe seiner Mutter die zweite oder dritte Geige gespielt, hatte als Jugendlicher wenige Freunde gehabt, hatte seinen engsten Kumpel im Krieg verloren und sich selbst immer als hässliche Kröte erlebt. Als er älter wurde, lernte er zu leben, ohne sich seinen Kollegen, seiner Frau oder seinen Kindern nahe zu fühlen. Er ertrug diese Entbehrung, indem er predigte „Ich mache meine Sache, du machst deine…….Wenn wir uns begegnen, ist es schön. Wenn nicht, kann man nichts machen.“ [40] [Kursivschrift original]

 

Shepard verbindet Perls’ Aversion gegen Vergangenheits-Ursachen sogar ganz speziell mit Schmerz aus seiner Vergangenheit:

 

Es ist möglich, dass Fritzs Desinteresse an der Vergangenheit damit in Beziehung stand, dass er viele schmerzliche Erinnerungen der Kindheit nicht neu entfachen wollte. Sein ständiger Hunger nach Bestätigung mag vielleicht von seinen frühen Problemen beim Stillen an der Brust seiner Mutter herrühren, daher, dass er weniger „Enährung“ bekam als seine älteste Schwester, und von den Verunglimpfungen seines Vaters. „Ich bin sicher, schrieb [Fritz], „dass meine Angeberei größtenteils Überkompensation ist…. für meine Unsicherheit….um euch in den Glauben zu hypnotisieren, dass ich etwas ganz Besonderes bin.“ [41]

 

Wenn Perls Ego, Hunger, and Aggression in der Hoffnung veröffentlicht hatte, etwas „ganz Besonderes“ zu werden, wurde er bitterlich enttäuscht. Die einzige „besondere“ Antwort, die er von der professionellen psychoanalytischen Gemeinde erhielt, war einmütige Ablehnung. Absichtlich oder unabsichtlich vollzog er effektiv seinen Abfall von der Freudianischen Gemeinde.

 

Perls’ Theorie und Therapie: Die späteren Jahre

1946 zog Perls mit seiner Familie von Südafrika nach New York und etablierte in der nächsten Dekade die Gestalttherapie als einen formalen therapeutischen Ansatz. Sein zweites Buch Gestalt Therapy wurde 1951 veröffentlicht, aber seine Wirkung war „nahezu Null“. Perls begann dann eine Reise von Stadt zu Stadt und initiierte kleine Encounter-Gruppen sowohl für Profis als auch für Laien. Verstreute Gestalt-Zentren entsprangen hier und dort in den 1950er Jahren, aber Perls und seine Therapie blieben bis zu seiner Angliederung an Esalen in den 1960ern relativ unbekannt.

In gewissem Sinne brachte Esalen Perls und seine Therapie „auf die Landkarte“.  Die Leute gaben jetzt häufig Perlsismen von sich, legten Lippenbekenntnisse ab, wie wichtig es sei, „seine eigene Sache zu machen“, „jetzt hier zu sein“ und ihre  „Topdogs“ im „heißen Stuhl“ loszuwerden. Der heiße Stuhl, eine Eigenheit der Gestalttherapie, ist eine Art therapeutischer elektrischer Stuhl, in dem sich der Patient der oft konfrontativen Weisung des Therapeuten fügt.

In Ego, Hunger, and Aggression hatte Perls seine Konzepte in relativ wissenschaftlichen Begriffen formuliert. Er hatte von „differenziertem Denken“ geschrieben, von „organismischer Reorganisation“, von „sensomotorischen Widerständen“ und von „Pseudo-Metabolismen“. Jetzt ließ er alle Ansprüche auf wissenschaftliche Untermauerung fallen und arbeitet geradewegs auf stark vereinfachende Schlagworte hin, die, so glaubte er, die grundlegenden „Polaritäten“ beschrieben, auf denen das Leben beruhte.

Ein speziell Perlsianisches Konzept ist die Vorstellung einer Topdog-Underdog-Persönlichkeitsspaltung. Perls sprach vom Topdog anstatt vom Freudianischen Superego, und folgerte dann: „Wenn es ein Superego gibt, muss es auch ein Infraego geben. Wiederum hat Freud den Job nur halb erledigt. Er sah den Topdog, das Superego, aber er ließ den Underdog aus, der genauso eine Persönlichkeit ist wie der Topdog.“ [42] Diese grundlegenden Einteilungen der menschlichen Persönlichkeit waren gemäß Perls „zwei Clowns…, die das Selbstquäl-Spiel auf der Stufe unserer Phantasie vollziehen.“ [43] Der Topdog ist der verinnerlichte Elternteil—die moralistische, perfektionistische und autoritäre Stimme, charakterisiert durch Soll- und  Muss- Anweisungen. Der Underdog auf der anderen Seite ist das verinnerlichte Kind---der Teil von uns, der selbst-suchend, impulsiv, defensiv, schmeichelnd, heulsusisch und machtlos ist (um einige von Perls’ eigenen Adjektiven zu benutzen). Den Kräften des Freudschen Es nicht unähnlich kämpfen Perls’ Topdog und Underdog endlos, denn der Kampf zwischen ihnen „wird niemals vollendet.“

Diese zwei Teile von uns entwickeln sich im Prozess schlechter Kindheitsreifung, in dem Eltern nicht für genügend Frustration für ihr heranwachsendes Kind sorgen. Hier haben wir ein Gestalt-Echo von Maslows Schule der harten Schläge. Unzureichende Frustration verlangsamt den Wachstumsprozess („Ohne Frustration gibt es keine Notwendigkeit, keinen Grund Ihre Ressourcen zu mobilisieren, zu entdecken, dass Sie fähig sein könnten, etwas unter eigener Regie zu bewältigen“) [44], und das Kind bleibt in einer Sackgasse stecken. An diesem Punkt findet der kritische Übergang statt, in dem das Kind versucht, die äußere Umwelt durch Rollenspiele und Manipulation zu kontrollieren, und es versteift sich in den Topdog-Underdog-Rollen, die es bis ins Erwachsenenalter peinigen werden:

 

Worauf wir aus sind, ist die Reifung der Person, die Entfernung der Blöcke, die einen Menschen daran hindern, auf eigenen Füßen zu stehen. Wir versuchen ihm zu helfen, den Übergang zu schaffen von der Unterstützung, die von der Umwelt kommt, zur Selbst-Unterstützung. Und im Grunde machen wir das, indem wir die Sackgasse finden. Die Sackgasse ereignet sich ursprünglich, wenn ein Kind keine Unterstützung aus der Umwelt bekommen kann, aber noch nicht für seine eigene Unterstützung sorgen kann. In diesem Moment der ausweglosen Situation beginnt das Kind die Umwelt dadurch zu mobilisieren, dass es schwindlerische Rollen spielt, sich dumm, hilflos, schwach, schmeichlerisch stellt und all die Rollen spielt, die wir gebrauchen, um unsere Umwelt zu manipulieren. [45]

 

Was war die Lösung? Fritz schrieb, sie bestand darin, „den Patienten dahin zu bekommen, dass er herausfindet, was sein eigenes verschollenes Potential ist, [indem er] den Therapeuten als Projektionsleinwand [benutzt].“ [46] Der Patient würde vom Therapeuten genau das erwarten, was er in sich selbst nicht mobilisieren konnte, und durch würde sich durch eine neue Bewusstheit die Eigenschaft oder Fähigkeit „wieder aneignen“, die er vom Therapeuten erwartet hatte.

Wo beendet dieser sogenannte Durchbruch die Topdog-Underdog-Teilung? Theoretisch würde sie in Vergessenheit geraten, da die Person durch die Wiederaneignung ihrer vielen projizierten Teile „ganz“ und „real“ wurde. In Wirklichkeit jedoch demonstrierte Perls eine unleugbare Bevorzugung (und Vorliebe) für das, was man als leicht gereiften Underdog bezeichnen könnte, als das ideale Erwachsenen-Verhalten. Das wäre der Erwachsene, der „seine eigene Sache macht“, der impulsiv, spontan und im Einklang mit seinen und nur seinen Bedürfnissen handelt. Das war für Perls das Ideal, und er war anscheinend sehr stolz darauf, dieses Verhalten persönlich zu modellieren.

Ein Beispiel aus Perls’ Biographie, in dem Perls beschreibt, wie er in einer Gruppensitzung eine Frau satt hatte und sie dreimal buchstäblich niederschlug, exemplifiziert gut seine idiosynchratische Auffassung erwachsenen Verhaltens:

 

Ich machte sie wieder fertig und sagte keuchend: „Ich habe mehr als eine Schlampe in meinem Leben verprügelt.“ Dann stand sie auf, warf ihre Arme um mich: „Fritz, ich liebe dich.“ Anscheinend bekam sie endlich, wonach sie ihr ganzes Leben verlangt hatte, und es gibt Tausende von Frauen wie sie in den Staaten. Sie provozieren und quälen, versauen und ärgern ihre Ehemänner und bekommen nie ihre Tracht Prügel. Sie müssen keine Pariser Prostituierte sein, um das zu brauchen, damit Sie Ihren Mann respektieren. [47]

 

Shepard zeigt auf, dass zu den Paradoxa der Gestalttherapie das folgende gehört: während der Kern der Therapie angeblich auf Selbst-Ausdruck basierte und darauf, seine eigene Sache frei von den Solls des Topdogs zu machen, hatte Perls in Wirklichkeit seine eigene Liste hoch taxierter Verhaltensrichtlinien für Männer und Frauen:

Das größere Gestaltparadox dreht sich um sein Beharren, dass man sich auf seine innere Wahrheiten einstimmen und ihnen folgen soll, wo immer sie hinführen….[Dennoch] beinhaltet Gestalt in sich ihren eigenen Satz von „Solls“, ihre eigenen ungeschriebenen aber allgegenwärtigen Vorschriften. Einige Kritiker, die Fritz Perls als einen Mann mit wenigen oder keinen Werten betrachteten, haben ihn falsch eingeschätzt. Er bewertete solche Vorstellungen wie „folge deinen Impulsen, nicht deinen Gedanken“, „tritt für deinen Underdog ein, nicht für deinen Topdog“ hoch. Und er hatte seinen eigenen Satz von Solls. Die Leute sollten frei und impulsiv sein wie er; sie sollten nicht verklemmt oder abwehrend sein; und sie sollten willig sein, nach innen zu gehen und zu erforschen, was immer ihre Verrücktheit ausmacht. [48]

Perls’ Vorliebe fürs Philosophieren war seiner Vorliebe fürs Etikettieren ebenbürtig--- auch wenn er es als „Elephantenscheiße“ herabsetzte.

 

„Ich betrachte Neurose als Symptom unvollendeter Reifung.“

„Jetzt-Erfahrung löst alle neurotischen Schwierigkeiten.“

„Angst ist nichts als der Spalt zwischen jetzt und später.“

„Verliere deinen Verstand und komm zu deinen Sinnen.“

„Nimm dich vor Helfern in Acht. Sie verderben dich und lassen dich abhängig und unreif bleiben.“ [49]

 

In diesen Pseudo-Weisheiten sehen wir Perls’ elementaren Mangel an Verständnis für die Dialektik der Neurose und Angst. Wir sehen auch seine Entwicklung von einem Freudianischen „Weisheitsscheißer“ zu einem Weisheitsscheißer in der Aufmachung eines selbst-wichtigen und unsympathischen Gurus, der die Ausflüsse von Schmerz als „unvollendete Reifung“ mißversteht und seine eigene Abscheu vor Bedürftigkeit in eine Theorie umwandelt, die die Dialektik ignoriert und Verdrängung sanktioniert.

Da er den Existenzialismus als philosophische Basis der Gestalttherapie beanspruchte, fügte Fritz häufig orientalische Aromen als zusätzliche Untermauerung hinzu. Taoismus, Koans und Zen waren seine Lieblingsreferenten, und er stellte sein Hier-und Jetzt-Konzept oft als eine Art mysteriöses, enigmatisches Koan vor:

 

Lassen Sie mich Ihnen nun von einem Dilemma erzählen, das nicht leicht zu verstehen ist. Es ist wie ein Koan—diese Zen-Fragen, die unlösbar scheinen. Der Koan lautet: Es existiert nichts außer dem Hier und Jetzt. Das Jetzt ist die Gegenwart, ist die Erscheinung, ist das, was sie bewusst wahrnehmen, ist der Moment, in dem sie Ihre sogenannten Erinnerungen und Ihre sogenannten Vorahnungen mit sich tragen…Die Vergangenheit ist nicht mehr. Die Zukunft ist noch nicht…Es kann unmöglich etwas außer dem Jetzt existieren. [50] [Kursiv original]

 

Entsprechend ist im Schema der Gestalttherapie alles grundsätzlich bedeutungslos, was Ihnen in der Vergangenheit passierte. Wenn Sie näher auf sie [Vergangenheit] eingehen und sie als Grund gebrauchen, um andere (wie Ihre Eltern) für Ihre Probleme verantwortlich zu machen, funktioniert sie als Hindernis für jede Art persönlichen Wachstums. Die Enzyclopedia of Psychology umrahmte diesen Kernpunkt in ihrer Kritik der Gestalttherapie vom Standpunkt der Perlsschen Betonung „der Wichtigkeit, Verantwortung für sein eigenes Verhalten zu übernehmen“:

 

Anstatt die Verantwortung für seine Erfahrung abzustreiten, anderen zuzuschieben, sie zu projizieren und zu verdrängen, wird das Individuum ermutigt, Gedanken, Gefühle und Handlungen als Teile des Selbst zu akzeptieren. Verantwortung Sündenböcken zuzuschreiben – Eltern, Kindheitstraumen, Ehegatten und ähnlichem – belässt das Individuum machtlos und abhängig. Anstatt die Umwelt für das verantwortlich zu machen, was wir, wie wir uns einbilden, nicht für uns selbst tun können, muss ein jeder von uns seine eigene Arbeit tun, sein eigenes Risiko eingehen und dadurch entdecken, wer wir sind und wozu wir fähig sind. [51]

 

Ich nehme an, dass einiges für diesen klaren Blick auf persönliche Verantwortung spricht. Wer schon würde sich entscheiden, sich lieber in der Vergangenheit zu wälzen als mit seinem Leben weiterzumachen? Ein anderes Konzept von Perls ist das „unerledigte Geschäft“ oder „unvollendete Situationen aus der Vergangenheit, die von unausgedrückten, nie voll erlebten oder entladenen Gefühlen begleitet werden.“ Dieses alte Gepäck stört, wenn es ins gegenwärtige Leben mitgeschleppt wird, „gegenwartszentrierte Bewusstheit und authentischen Kontakt mit anderen.“ [52] Oberflächlich ist das eine attraktive Idee. Wer würde nicht wählen, diese Lasten abzuwerfen, um seine Erfahrungen und Beziehungen zu bereichern? Aber das Problem besteht darin, dass angesichts der unbestreitbaren neurobiologischen Präsenz von Vergangenheits-Schmerz in der gegenwärtigen Existenz des Organismus diese „nie voll erlebten oder entladenen Gefühle“ fortfahren werden, sich auf unsere aktuellen Gefühlszustände und Verhaltensweisen auszuwirken, gleich, wie sehr wir uns darauf festlegen, die Vergangenheit hinter uns zu lassen, um nach „Bewusstheit“ und Wachstum zu streben.

Was die Techniken der Gestalttherapie für die Auflösung der „unerledigten Geschäfte“betrifft, erfordern sie typischerweise, „dass die ursprüngliche Situation neu inszeniert wird und der assoziierte Affekt erfahren und ausgedrückt wird.“ Das involviert in der Regel die Arbeit mit dem heißen Stuhl, wobei der Patient die Topdog-Underdog-Aspekte seiner oder ihrer Persönlichkeit ausagiert. „Auf diese Weise wird Vollendung erreicht, das Vertieftsein in die Vergangenheit löst sich auf, und das Individuum kann seine Aufmerksamkeit und Energie wieder auf neue Möglichkeiten richten.“ [53]

Bei der Diskussion dieses „unerledigten Geschäfts“- Problems ist es wichtig, Perls’ paradoxe Position bezüglich der Vergangenheit zu wiederholen – als etwas, das nicht wirklich existiert. Nicht nur das; laut Perls sind Erinnerungen von gestern und vorgestern nichts als Lügen und Täuschungen, die wir heraufbeschworen haben, um unsere missliche Lage zu rationalisieren. „Ihr alle wisst, wie sehr ihr lügt. Ihr alle wisst, wie sehr ihr euch selbst täuscht, wie viele eurer Erinnerungen Übertreibungen und Projektionen sind, wie viele eurer Erinnerungen zusammengestoppelt und verzerrt sind.“ [54]  Hier gab Perls schon vor langem eine Vorschau auf die aktuelle Kontroverse bezüglich des „Syndroms der verdrängten Erinnerung“ und der „Pseudoerinnerungen“ an sexuellen Missbrauch, von denen Professionelle glauben, dass Patienten sie heraufbeschwören. Das ist aber noch nicht alles. Die Situation verschlimmert sich, da Perls im Weiteren die Realität des Traumas an sich leugnet:

 

Der große Irrtum der Psychoanalyse bsteht in der Annahme, dass die Erinnerung Realität sei. All die sogenannten Traumata, die vermeintlich die Wurzeln der Neurose sind, sind eine Erfindung des Patienten, um seine Selbstachtung zu wahren. Keines dieser Traumata hat je nachweislich existiert. Ich habe keinen einzigen Fall eines Kindheitstrauma gesehen, das keine Fälschung war. Es sind alles Lügen, an die man sich klammert, um seine Unwilligkeit zu wachsen zu rechtfertigen. [55] [Kursiv zugefügt]

 

Perls hatte offensichtlich das Gefühl, es sei für ihn das Beste, sich gegen seine eigene schmerzhafte familiäre Vergangenheit abzuhärten – sich auf einen autonomen Pfad zu begeben und sich nicht in Vorwürfen und Ressentiments zu wälzen – und den Horror auszulöschen, der sein Heimatland überwältigte, anstatt „seine Zeit [mit Rückschau] zu vergeuden.“ Aber diese vorsätzliche Verleugnung des Traumas löscht weder seine Realität aus noch die Traumen, die andere erleben. Ich kann nicht umhin mich zu fragen, was er sagen würde, wenn er mit der Statistik des Department of Health, Education and Welfare konfrontiert würde, dass Kindesmisshandlung in diesem Land epidemische Ausmaße erreicht hat; oder noch dramatischer, wie er den brutalen physischen Schaden erklären würde, der noch immer auf den Gesichtern und Körpern der Kinder in den Rehabilitationszentren für Kindesmisshandlungen sichtbar ist.

Perls Behauptung, das Trauma an sich sei nichts als eine selbst-dienliche Erinnerungsverzerrung, ist absurd. Wir können Fälle von Trauma allzu klar mit unseren eigenen Augen sehen. Aber was ist mit seiner Feststellung, dass die Erinnerung auch eine Verzerrung sei? Seine Basis für diese Behauptung ist die Erklärung (die er als prima facie-Statement behandelt), dass Erinnerung eine „Abstraktion“ sei. [56] Seine Überlegung geht dahin, dass Ereignisse, da sie sozusagen leibhaftig erlebt werden, sich über Gedankenabstraktion leibhaftig nicht  akkurat  wieder-repräsentieren können. Von da sein Schluss, dass Erinnerung und Geschichte nie identisch sein können.

Nichtsdestotrotz deuteten die 1959 veröffentlichten Forschungsarbeiten des kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield darauf hin, dass Erinnerung tatsächlich ein verschlüsseltes neurophysiologisches Ereignis ist, das genauso real ist wie die Neuronen, die es vermitteln:

 

Jedes Individuum formt eine neuronale Aufzeichnung seines Bewusstseinsstroms. Da künstliche Reaktivierung der Aufzeichnung [durch Anbringen einer Elektrode an einem speziellen Teil des Gehirns] später im Leben all diese Dinge wiederzuerschaffen scheint, die früher im Brennpunkt seiner Aufmerksamkeit enthalten waren, muss man annehmen, dass die reaktivierte Aufzeichnung [i. e., die Erinnerung] und die ursprüngliche neuronale Aktivität [das ursprüngliche Ereignis] identisch sind. [57]

 

Mit anderen Worten scheinen die Erinnerung und das Erlebnis, das erinnert wird, ein und dasselbe zu sein. Penfields Arbeit wirft auch Licht auf die sogenannte „Verfälschung“ der Erinnerung, die Perls so beunruhigte. Die Verzerrung der Erinnerung kann einfach eine Angelegenheit der Größe der Entfernung im Gehirn vom Ort der wahrheitsgetreuen Erinnerung sein (der „Gefühlsort“) zu Orten sein, die in unmittelbar anliegen und ein Symbol der Erinnerung erzeugen. Penfield zitiert den Fall einer Gehirnoperation, bei der er eine Elektrode an einem Punkt im temporalen Kortex platzierte und als Resultat erhielt: „Ich habe das Gefühl, dass Räuber hinter mir her sind“. Wenn er sie direkt auf dem Gefühlsort anbrachte, löste sie folgende Reaktion aus: „Ich erinnere mich, wie mein Bruder eine Pistole auf mich richtete.“ Mit anderen Worten, wenn man den tatsächlichen Gefühlsort einer speziellen Erinnerung  stimuliert, führt das dazu, dass sie genau so aktiviert wird, wie sie ursprünglich geschah. Wenn man angrenzende Orte stimuliert, erzeugt man Symbole dessen, was tatsächlich geschah.

Wenn Perls behauptet, dass das Trauma selbst nichts anderes sei als eine selbst-dienliche Verzerrung, irrt er sich gewaltig. Ein Trauma erzeugt Verzerrungen, um das Bewusstsein nicht zu stören; andernfalls wäre man dem Schmerz wehrlos ausgeliefert. Aber dieser Standpunkt ist in hohem Maße misanthropisch: Jeder ist egozentrisch, sagt er (das wird er als ihm eigen anerkennen müssen), jeder lügt und verzerrt, und es gibt keinen wirklichen Kindheitsschmerz.

Ist Perls’ Sicht der Erinnerung einmal in Zweifel gezogen, was wird dann aus seinem Hier-und-Jetzt-Konzept und aus seinem Es-gibt-keine-Vergangenheit-Konzept? Weitaus reichhaltiger als Perls’ limitierte Formulierung ist die erforschte Realität dessen, was Penfield ein „Doppelbewusstsein“ nannte:

 

[Der Patient] hat ein Doppelbewusstsein. Er betritt den Strom der Vergangenheit, und es ist dasselbe, wie es in der Vergangenheit war, aber wenn er auf die Ufer des Stromes schaut, ist er sich ebenso der Gegenwart bewusst. [58]

 

Somit kann das Leben in der „Gegenwart“, wie Perls es predigte, nicht stattfinden, weil unsere Gegenwartsmomente mit dem Strom der Vergangenheit erfüllt sind, genau wie wir die Zukunft mit dem Strom dessen erfüllen, wer wir heute sind.

 

Projektion in der Gestalttherapie

Während Perls’ Arbeit auf Esalen weitete und festigte sich sein Konzept der Projektion –erstmals ausgearbeitet in Ego, Hunger, and Aggression—zu einer Schlüsselposition in der Therapie. Perls machte jetzt geltend, dass alles, was wir über eine andere Person oder über irgendeine Situation in der Außenwelt fühlen oder denken, eine Projektion eines bestimmten Teils von uns selbst sei. Wenn ich somit sagte „Ich mag Betty nicht, weil sie zuviel tratscht“, würde es in Wirklichkeit bedeuten, dass ich eine Klatschbase bin. Da ich nicht willig wäre, die negative Eigenschaft in mir selbst zu erkennen und mich mit ihr zu befassen, würde ich sie bereitwillig in einem anderen erkennen und verurteilen.

Es ist nichts falsch an der Substanz dieser Lehre. Von Zeit zu Zeit projizieren wir alle unsere unerwünschten Eigenschaften auf andere. Gewiss scheinen wir besonders sensibel für Aspekte im Verhalten anderer Leute zu sein, die widerspiegeln, was wir in uns selbst (bewusst oder unbewusst) verurteilen. Wie schon an früherer Stelle eingeräumt, ist Projektion ein legitimer psychologischer Abwehrmechanismus, wie die Paranoia zeigt, bei der unerträgliche Feelings anderswo „hingeschickt“ und anderen angelastet werden. „ ‚Sie’ wollen mich verletzten.“ Es ist nicht so, dass die Person jemand anderen verletzen will, obgleich es so sein kann, sondern dass sie in ihrer Kindheit furchtbar verletzt wurde und die Erinnerung jetzt ihre Wahrnehmungen von anderen dominiert.

Denken Sie an Perls’ frühere Aussage, dass „die Person oder das Tier, das den Alptraum beherrscht, immer ein unerwünschter Teil von uns selbst ist“. [Kursiv zugefügt] Das Beispiel, das Perls 1942 benutzte, um seine neue und radikale Position zu veranschaulichen, erfüllte eine positive Funktion, indem es einen Typ der Trauminterpretation vorschlug, der eher auf die Persönlichkeit anwendbar war als die präsidierenden Freudschen Typen. Er zitiert einen Traum, in dem der Träumer von einer giftigen Schlange gebissen wird und erklärt: „Es könnte vielleicht korrekt sein, die Schlange als agressives Phallus-Symbol zu interpretieren, aber es nützt mehr, wenn Sie nach der Giftschlange suchen, die in Ihrem eigenen Charakter verborgen ist.“ [59] Nach der Schlange im Inneren zu suchen statt nach dem Phallus im Äußeren scheint in der Tat wie ein gesunder Schritt nach vorne – und, wie früher bemerkt, es war auch ein besonders zeitgemäßer Standpunkt angesichts der fortschreitenden historischen Ereignisse.

Leider jedoch untermauerte der Lauf der Zeit Perls’ rigide Auffassung von der Rolle der Projektion nur noch weiter. Das Problem kommt mit Perls’ extremer Quantifizierung der Projektion als Phänomen, das alles einschließt – jedes Traumelement, jede Phantasie oder jeden Tagtraum, alle Reaktionen auf alle Leute, Situationen und Ereignisse. Da es in Perls’ Formulierung keine legitimen Vergangenheitseinflüsse oder verlässlichen Erinnerungen gab, konnten Projektionen nur den inneren und unmittelbaren Seinszustand der Person darstellen. Diese Sichtweise impliziert des Weiteren, dass es abseits der Machenschaften der Psyche jedes Individuums keine äußere Realität geben kann. Ich kann nicht einfach schwatzhafte Leute nicht mögen, weil ich solches Verhalten eine auslaugende und negative Zeitverschwendung finde. Nein, in Perls’ Sicht würde ich einfach meine negativen Gefühle über meine eigenen schwatzhaften Tendenzen projizieren – zugegeben oder nicht zugegeben – Punkt. In der Tat sind Verhaltensstandards und qualitative Bewertungen selbst Aspekte der Projektion, die in den Bereich von Perls’ „Soll-nicht“-Anweisungen fallen. Es ist die Erhebung persönlicher Pathologie in das Reich der Theorie.

Mit seiner Arbeit in Esalen in den 1960ern präsentierte Perls folgerichtig (und vorhersagbar) das Dogma der Projektion, das unzweideutig die Möglichkeit abstritt, dass Traumelemente (oder Reaktionen auf Leute und Ereignisse) auch tatsächliche Leute, Ereignisse oder Traumen repräsentieren oder symbolisieren könnten, die dem Individuum in seinem Leben widerfahren waren.  Gut veranschaulicht sehen wir das in Gestalt Therapy Verbatim, das eine Auswahl aus Tonbändern von Perls’ Wochenend-Traumarbeits-Seminaren enthält, die zwischen 1966 und 1968 auf Esalen abgehalten wurden. Mit gleichbleibender Präzision ergreift Perls methodisch, schnell und überzeugend jede Reaktion, jedes Feeling, jede Empfindung, jedes Traumelement oder jede Phantasie und etikettiert sie als Projektion. Aber was ist zum Beispiel mit den erwünschten Teilen unseres Selbst, zu denen wir gerne gelangen würden aber nicht können? Was ist mit einer sexuellen Reaktion, die total unterdrückt ist, oder mit einem Lachen, das im Inneren feststeckt? Perls lässt nur Raum für das Unerwünschte.

 

Der heiße Stuhl

Perls’ Gebrauch seines beühmten „heißen Stuhls“ war eine seiner zentralen Techniken in der Ausführung seiner therapeutischen Lehren.  Er entwickelte diese Technik für etwas, das er seinen „Zirkus“ nannte – „Demonstrationen der Gestalttherapie vor hundert Leuten oder mehr auf einer Bühne, die er montiert hatte.“ [60] Bei einem typischen Encounter mit Perls ging die gewillte Person zu dem bezeichneten Bereich hinauf, wo Fritz mit zwei leeren Stühlen saß. Einer der Stühle war der heiße Stuhl – der Stuhl, in den sich die arbeitswillige Person setzte – und der andere Stuhl war der Sitz, zu dem die Person sich begab, wenn sie ihre unterschiedlichen Rollen ausführte. Einige betrachteten das, was sich zwischen Fritz und seinem Kandidaten im heißen Stuhl abspielte als brillant, einfallsreich und innovativ. Andere betrachteten es als selbst-nachsichtig und unsensibel, sogar grausam. Seine Ex-Frau, die auch Gestalttherapeutin ist, sah im heißen Stuhl „einfach eine Methode, die ihn davor bewahrte, sich engagieren zu müssen.“ [61] Sein Freund und Verleger, Arthur Ceppos, glaubte, „das ganze Geheimnis hinter Fritzs heißem Stuhl [sei], den Leuten zu zeigen, wie sie sich selbst zum Narren machten.“ [62] In der Tat schien Perls in der therapeutischen Gemeinschaft ohne Beispiel, was seine Fähigkeit anbelangt, sogenanntes närrisches Benehmen bei denen hervorzurufen, die ihm gegenüber im heißen Stuhl saßen.

Die Technik des heißen Stuhls war ein Ableger einer früheren Technik, die man „Psychodrama“ nannte. Hier spielten Individuen verschiedene Rollen, sodass sie ein Gefühl dafür bekämen, wie es ist, jemand anderer zu sein, und sie sollten diese unterschiedlichen Rollen auch mit dem Ziel spielen sich zu verändern. Aggressiv handeln anstatt passiv wäre eine Möglichkeit. Ihre Auffassung und die von Perls war, dass schauspielen half, eine Person zu verändern, ihr Blickfeld erweiterte und sie befähigte, sich selbst objektiv zu sehen. Aber Schauspieler spielen natürlich die ganze Zeit Rollen und ändern sich überhaupt nicht.

Schauspiel ist Spaß, manchmal kann es weh tun, aber im Wesentlichen ist es ein Spiel, bei dem der Rädelsführer den Zirkus leitet. Der Brennpunkt liegt auf dem Führer, der in der Regel vergöttert wird und der in jedem Fall das letzte Wort hat. Es gibt kein grundlegendes Vertrauen in den Patienten und seine Gefühle. Es gibt kein wirkliches Empfinden für die Tragödie der Neurose, dafür, wie schrecklich unglücklich der Patient ist. Es ist alles ein Spiel, man schlüpft in Rollen und wird vom Chef „niedergemacht“.

Ich nahm an einem Seminar von Perls teil (und auch an einem von Rogers) und mir fiel auf, dass sich die Theorien, die Psychologen konstruieren, direkt aus deren Persönlichkeiten zu entwickeln scheinen. Als Studenten äfften wir Perls’ Gruppenführung nach, rauchten Kette und sagten: „Sei ein Aschenbecher.“ Sei eine Couch.“ Es war alles Laune und Grille. Aber in gewissem Maß hatte es  mit Gefühlsbefreiung zu tun, was in seiner Epoche etwas Neues war. Nach einer Gruppensitzung, in der eine Frau auf dem heißen Stuhl saß, kam es natürlich wie erwähnt zu dem obligatorischen Kuss auf Perls’ Stirn oder Wange. Der Meister erhielt sein Huldigung. Es war mehr eine Show als Therapie; eine interessante Show, denn er war ein Showman, aber wissenschaftliche Therapie stand außer Frage.

Auf ihre eigene Weise wendet Gestalttherapie, wie Fritz Perls und jene sie praktizierten, die seine Arbeit fortführten, eine Form der Hypnose auf seine Patienten an. Der Therapeut ist die zentrale Figur, das Kommandozentrum. Der Patient erhält seine Fingerzeige über die Wirkichkeit eher von dieser externen Figur als von den Wahrheiten seiner eigenen Erfahrungen, die in seiner eigenen Psyche enthalten sind. Er unterwirft sich auf die gleiche kindliche Weise wie das hypnotische Subjekt den Suggestionen und der Autorität des Therapeuten, sodass die nachfolgende Erfahrung für ihn weitgehend bestimmt und festgelegt ist. Seine Realität wird durch die stärkere Präsenz des Therapeuten umschrieben (in gewissem Sinn durch das stärkere Bedürfnis des Therapeuten).  Wenn Perls’ verbatime Berichte irgendwelche Anhaltspunke liefern sollen, so sagt Ihnen der Gestalttherapeut, was Sie zu fühlen und zu tun haben; wann Sie es tun sollen und wie Sie es tun sollen  -- bis hinab zur Auswahl der Worte und Bilder, mit denen der Patient sich ausdrücken soll. Wie unterscheidet sich das von dem Hypnotiseur, der Ihnen sagt, dass Sie schläfrig sind, wenn Sie es nicht sind, oder dem Kultführer, der das Bedürfnis seiner Anhänger nach jemandem, der sich um sie sorgt, dahingehend manipuliert, dass es mit seinem eigenen Bedürfnis nach Kontrolle und Macht übereinstimmt? Im Fall von Perls’ Therapie verbergen sich Kontrolle und Macht trügerisch hinter einem angeblichen Desinteresse an beidem.

Hypnose funktioniert durch seine Fähigkeit, sich die Spaltung des Bewusstsein zunutze zu machen, die das Wesen der Neurose ausmacht. Therapie macht dasselbe, obwohl nicht auf exakt dieselbe Weise. Perls erkennt Konflikte, Polaritäten, Teilungen innerhalb des Selbsts an, jedoch führt er seine Therapie durch Spiele aus, die er anstiftet und die den Spalt nicht nur veranschaulichen sondern ihn auch vergrößern. Es ist Teil des hypnotischen Prozesses, das Subjekt zu überzeugen, dass etwas geschieht, das nicht geschieht.

 

Das Ziel der Therapie bei Gestalt ist, das Bewusstheit der Leute zu entwickeln, was wirklich mit ihnen geschieht, was sie wirklich wollen, wonach sie wirklich streben, wohin auch immer der Organismus blickt, worauf auch immer seine Aufmerksamkeit gelenkt wird. Das Ziel der Therapie ist, das irgendwie zu ermöglichen….dadurch, dass man ihnen den Besitz ihres Selbst zurückgibt, den Besitz über ihre eigenen Motive, dass man herausfindet, was ihnen unbewusst ist, was sie tun, ohne es zu wissen….Leute zu nehmen, die konditioniert und automatisch sind und sie in eine Art Ägide über sich selbst zu versetzen. [63]

 

In der Gestalttherapie wird der Patient unbewusst gehalten, indem man ihn gewahr sein lässt; eine Trennung, die dadurch aufrechterhalten wird, dass man ihm die Illusion gibt, dass er bewusster geworden sei; dass er „in Kontakt stehe mit Gedanken, Gefühlen und Empfindungen, wie sie von Moment zu Moment geschehen“; dass er seinen Verstand verloren habe und zur Besinnung komme; dass seine „aktuelle Hier-und Jetzt-Erfahrung die einzige Realität bildet.“ Genau wie in der Hypnose ist das Bewusstsein darauf beschränkt, für gegen Schmerz gerichtete Ablenkung und für eine Barriere gegen die Gegenwart der Vergangenheit zu sorgen. Bewusstsein ist auf die gegenwärtigen Ableger verdrängten Schmerzes in Form von Projektionen im Hier-und-Jetzt eingeengt.  Der Hauptunterschied zwischen Hypnose und Gestaltherapie besteht darin, dass Hypnose Bewusstheit ausschließt, um die Vereinigung des Bewusstseins zu vermeiden, wogegen Gestalt das Unbewusste ausschließt, um dasselbe zu erreichen.

 

Gestalttherapie nach Perls: Ein Gerangel um die Definition

Wie weit haben sich Perls’ ursprüngliche Konzepte erhalten? Wie weit hat Perls’ Persönlichkeit das Gestalt-Erbe durchdrungen? Hat sich Gestalttherapie entwickelt und sich neuen Richtungen zugewandt?

Ein Überblick über das Gestalt Journal liefert Antworten auf diese Fragen.

Zusammengefasst blieben Perls’ Konzepte als Eckpfeiler der Therapie. Zwischenzeitlich wurden neue Dimensionen und Ausarbeitungen hinzugefügt. Die Eindringlichkeit von Perls’ Persönlichkeit blieb eine Quelle des Nacheiferns für die einen und eine Quelle des Konflikts und der Neubewertung für die anderen.

Ein Artikel mit dem Titel „Die Zukunft der Gestalttherapie“  dient als einleitende ‚Kollektion’ von Post-Perls -Trends, -Standpunkten und –Problemen. [64] Das Symposium, über das dieser Artikel berichtet, schien eine Retrospektive auf und ein Ende für die Perlssche Phase zu repräsentieren und funktionierte teilweise als ein Forum, das entscheiden sollte, wohin man als nächstes gehen sollte. Obwohl vier Redner unterschiedliche Themen erörterten, tauchte in jeder Präsentation eine gemeinsame Besorgnis auf: ob Gestalttherapie überleben würde oder nicht, und wie man das Überleben am besten unterstützen könnte. Man räumte ein, das die Bewegung durch eine Art Identitätskrise gehe. Die Redner äußerten Bedenken dahingehend, ob die Therapie in der Lage wäre, neue Ansätze zu integrieren und zugleich „ihre Integrität und Kohärenz“ zu bewahren. Sie stellten die Bedeutung der Therapie im Wechsel der Zeit in Frage, überlegten, dass das „narzisstische Genießen“ der Selbstentwicklungs-Ära der sechziger Jahre durch größere ökologische und umweltliche Sorgen, die eher eine planetenorientierte als eine selbstorientierte Zentrierung verlange,  ersetzt worden sei. Sie bekräftigten, dass Gestalttherapie weiter anwendbar bleiben könne, weil „eine moralische Vison, die die Einheit des menschlichen Lebens mit der Natur betrifft, die Wahrheit ist, die Gestalttherapie verkörpert.“ [65]

Das Bedürfnis nach einer Definition in Begriffen, die Platz für das Überleben der Gestalttherapie bieten würden, war während des ganzen Symposiums klar. Ein Sprecher erklärte treffend: „Wenn wir weiterhin die Notwendigkeit ignorieren zu definieren, wer wir in unserem Zentrum sind und was unsere Grenzen sind, würde ich eine Zukunft voraussagen, in der wir durch eine endlose Zahl neuer Techniken ersetzt werden und in der unser Name als Entschuldigung für schlechte Therapie, schlechte Ausbildung und schlechte Disziplin verwendet wird.“ [66] [Kursivschrift zugefügt] Ein anderer Artikel des Journals über Depression illustriert die traditionelle Perlssche Flanke der Therapie. Neurose wurde voraussagbar in Begriffen von Perls’ „Topdog-Underdog“-Persönlichkeitsspaltung definiert. In dieser Spaltung „scheitert das Individuum daran, den Konflikt zwischen zwei diametral entgegengesetzten Komponenten seiner Persönlichkeit zu lösen oder sich dessen voll bewusst zu sein.“ Diese Komponenten sind Verhaltensweisen und Überzeugungen, die in füher Kindheit erworben („intro-jiziert“) werden und „unerledigte Geschäfte“ begründen. Depression bedeutet aus Sicht der Gestalt(therapie), dass sich die Person ihres Topdog-Underdog-Konflikts nicht voll bewusst ist und deshalb zwischen den zwei polaren Gegenstücken hin und herzappelt.

 Weder die Topdog- noch die Underdog-Seite wird voll ausgedrückt. Deshalb „ist das neurotische Individuum weiterhin das verdrängte Ziel seiner eigenen Aggression.“ Eine Lösung kommt zustande, indem man sich durch die unerledigten Geschäfte arbeitet – was für Gestaltler der jüngsten Zeit dasselbe bedeutet, was es für Perls bedeutete: den Topdog und den Underdog unter völligem Ausschluss vergangener realer Lebenserfahrungen als seine eigenen Eigenschaften auszuagieren. [67]

Ein über den Grad der in der Gestalttherapie verwendeten Strukturierung besorgter Therapeut drückte den Konflikt und die Neubewertung aus, die in den Jahren nach Perls’ Tod stattfand. Der Autor stellte fest, dass Perls’ „wahrhaftig experimenteller Ansatz…(später) angepasst und zur Routine gemacht wurde, um sofortige Einsichten und Heilungen zu produzieren.“ Der Autor war besorgt über die negativen Konsequenzen dieser routinisierten Strukturierung („Technik und Zwang hatten Erfindungsgabe und Kreativität überholt“) und erklärte, dass Perls solche Probleme wahrscheinlich dadurch vermeidete, dass er einfach Leute, die von seiner „hohe Struktur-hohe Frustration-Form der Therapie“nicht profitieren würden, „ausselektierte“ (i. e., eliminierte). [68]

Eine Gegenreaktion zu dieser anscheinend unauslöschlichen Prägung der Perls-Persönlichkeit kann man in einem Ableger der Gestalttherapie sehen, der als „transpersonale Gestalt“ bekannt ist. Diese Abweichung nahm teils Perls’ Neigung zum Mystischen an und repräsentierte teils eine Reaktion gegen den modus operandi Perlsscher Aggression. [69] Transpersonale Gestalt behauptet, dass Perls’ Grundpfeiler-Prinzip des Hier-und-Jetzt das Verbindungsglied zu solchen transpersonalen Konzepten wie dem „Fluss des Tao“ und dem Jungschen „kollektiven Unbewussten“ sei. Die Verlagerung weg von Perls’ Vermächtnis kann man jedoch in der neuen Betonung der sanfteren Seite des Lebens finden. In der transpersonalen Gestalt wird die traditionelle Technik der „kreativen Frustration“ durch „eine Atmosphäre der Fürsorge und des gegenseitigen Vertrauens“ ersetzt. „Sanftmut ersetzt die Attacke;“ und die „Geh-zum-Teufel“-Attitüde, die so oft mit dem Gestalt-Gebot „Ich mache meine Sache und du deine Sache“in Verbindung gebracht wird, wird durch folgende neue Formulierung  ersetzt:

 Ich bin ich   und   ich bin du.

Du bist du   und    du bist ich. [70]

Transpersonale Gestalt stellt die traditionelle Gestalt auf eine neue Ebene. Der Wert dieser neuen Ebene ist jedoch ebenso dubios wie ätherisch. Wo die traditionelle Gestalt sich mit dem Persönlichen beschäftigt, zentriert sich diese neue Gestalt auf das „Kosmische.“ In der traditionellen Gestalt wird jeder Aspekt eines Traums als Eigenschaft des Träumers angesehen. In der transpersonalen Gestalt jedoch wird jede Person als ein Aspekt oder eine Eigenschaft des Kosmos angesehen:

Der transpersonale Ansatz fasst jeden von uns als eine Manifestation der Energie des Universums auf. Es ist, als hätte Gott, der Träumer, alle von uns als Manifestationen Seinerselbst erschaffen und sich mit jedem von uns so sehr „identifiziert“, dass er vergaß, wer er wirklich war. Wenn wir uns erinnern, wer wir wirklich sind, entdecken wir, dass ein jeder von uns Gott ist. [71]

Wie nützlich diese Art kosmischer Mutmaßung für eine Person ist, die einfach die Kräfte zu verstehen versucht, die sein eigenes Leben antreiben, ist bestenfalls fraglich. Die Schlussbemerkungen des Autors legen eine Art beunruhigender Tangente zum Evangelium nahe:

 

Jede Person kann seine eigene Gestaltarbeit machen durch Meditation, durch die Entwicklung des „Zeugen“-Teils seines Bewusstseins und dadurch, dass er göttliches Vertrauen und göttlichen Glauben im Universum für eine sichere Umgebung sorgen lässt. [72]

Transpersonale Gestalt hat eindeutig wenig oder nichts mit Psychotherapie zu tun. Eine gewisse unerbittliche Ausgeglichenheit wird in den entfernten Seiten der Gestalt offensichtlich. So unerschrocken, ja sogar unverschämt bodenständig Perls war, so ätherisch, mystisch, körperlos – und letzendlich substanzlos – war die transpersonale Flanke.

Sie ist definitiv „New Age.“

Ohne die zentrale Antriebskraft von Perls’ Persönlichkeit, von der sie ihre Identität ableitete, schien die Gestalttherapie nicht mehr zu wissen, wo und wie sie ihre Definition erlangen sollte. Perls’ Nachfolger griffen nach Prinzipien, mit denen sie die Elemente einer Theorie und Therapie zusammenkleistern wollten, die ohne ihre Hauptsäule auseinandergefallen war. Perls schaffte es nicht, seinen Anhängern eine in Übereinstimmung mit Biologie und Psychologie stehende Theorie zu hinterlassen, auf der sie eine effektive Therapie entwickeln könnten. Stattdessen ließ er sie mit breiter Sentimentalität, vager Ideologie und dubiosen Techniken zurück. So versuchten die Praktiker, nichts außer Acht zu lassen, indem sie Elemente aus Mystizismus, Religion, Philosophie und Psychologie einsammelten. Da diese Vermischung aus Methode, Technik und Ideologie nicht auf der Wirklichkeit des Organismus beruhte, fand sich die sogenannte Gestalt-Therapie mehr denn je in Stücken wieder. Ironischerweise war die eine Sache, die der Gestalttherapie fehlte, eine Gestalt.

 

Gestalttherapie heute

1993 war Fritz Perls seit nahezu einem Vierteljahrhundert tot. Seine Theorien und seine Therapie lebten weiter. In der Herbst `93-Ausgabe des Gestalt Journals, in der man die hundertste Wiederkehr von Perls Geburtstag feierte, blickt Norman Friedman, Direktor des Gestalttherapie-Zentrums in Queens, auf die Genesis der Topdog-Underdog-Dichotomie zurück, erklärt das Grundprinzip für den Gebrauch des „heißen Stuhls“ im Topdog-Underdog-Rollenspiel und bringt Beispiele für die Therapeut/Patient – Wechselwirkung a la Perls.

Friedman beschreibt, wie der Topdog-Underdog-Spalt in einer einzelnen Persönlichkeit  der Kindheit entspringt. Konkret entsteht diese neurotische Persönlichkeit in einem frühen Alter, wenn die Eltern des Kindes eher verlangen, dass das Kind „sich ihren eigenen unerfüllten Bedürfnissen fügt, als die des Kindes zu erfüllen.“ Sie wollen ein ruhiges Kind, ein gehorsames Kind, ein Kind, das die Familie gut aussehen lässt – während das Kind andere Dinge von ihnen will und braucht, wie „ein angemessenes Maß an Anerkennung, Bestätigung, Trost und Hilfe.“ Eltern und Kind wetteifern um die Erfüllung ihrer Bedürfnisse, und das abhängige Kind verliert und bildet Abwehrmaßnahmen  --ignoriert seine eigenen Bedürfnisse,  ist gefällig, unterwürfig, etc. – um zu überleben. „Aus diesem Kompromiß heraus“, schreibt Friedman, „bildet sich eine Polarität, eine intrapsychische Reflexion der tatsächlichen Situation: Die Stimme der Eltern wird als Topdog verinnerlicht, während die des Selbsts des Kindes zum Underdog wird.“ Später im Leben verursacht der Konflikt zwischen den zwei Ursachen Angst und andere Probleme. Ich nehme an, es wäre Ketzerei zu behaupten, dass es keinen Topdog-Underdog in unseren Gehirnen gibt. Wenn meine Mutter bei einem Autounfall starb, als ich fünf war, ist es keine Topdog- oder Underdog-Sache, es ist eine Sache großen Schmerzes und der Frage, wie dieser mein Leben beeinflusst hat.

Laut Friedman „symbolisiert die Technik des ‚heißen Stuhls’, die in Gestalt verwendet wird, die Verpflichtung, die eine Person eingeht,  die Angst in Angriff zu nehmen, wenn sie heraufkommt, um mit dem Therapeuten zu arbeiten.“ Wie Perls’ Version sitzt der Patient bei der „Stuhlarbeit“ im heißen Stuhl, wobei ein „leerer Stuhl“ einige Meter entfernt platziert ist. Was folgt, ist ein „Dialog“ mit dem Ziel, „beide Seiten des Konflikts“ in „Bewusstheit“ zu bringen. Der Patient beschwört beide Rollen herauf oder agiert sie aus; der leere Stuhl ist der Ort, wohin sich die Topdog-Projektion –vielleicht Mutter oder Vater –bewegt.

Die erste Stufe der Stuhlarbeit ist dafür da, dass „die Polarität zu Bewusstheit kommt und der Patient für beide Seiten Verantwortung übernimmt“, und dass der Patient die Projektion „zurücknimmt“ und „eingesteht“. Die Rolle des Therapeuten in all dem ist es nicht zu erklären, interpretieren oder zu beruhigen, sondern „als objektiver Befähigender“ zu fungieren, der „für ein Model der Offenheit und Authentizität“ sorgt, um „den Konflikt so gut wie möglich herauszustellen, sodass er zu Kopfe gebracht werden kann.“

 

Friedman kreiert den folgenden hypothetischen Dialog:

P (eine College-Studentin): Mein Englisch-Professor hat mir gestern auf meine Arbeit    nur eine 2 gegeben. Ich glaube, er mag mich nicht.

T (Therapeut): Würden Sie ihm das bitte sagen?

P: „Warum machen Sie mich so runter? Mach’ ich nicht alle Hausaufgaben?“

T: Schalten Sie jetzt um und seien Sie er.

P: „Sicher machen Sie die ganzen Aufgaben. Aber Sie sind nur eine Drohne, ohne Phantasie.“

T: Können Sie sich selbst hören? Wie klingen Sie?

P: Wissen Sie, ich glaube, er sieht für mich ein bisschen wie mein Vater aus! Der mochte nie, was ich tat.

 

Die nächste Stufe der Stuhlarbeit, schreibt Friedman, besteht darin, „beide Seiten zu ermutigen, sich gegenseitig zu konfrontieren und den Konflikt zu intensivieren.“ Mit anderen Worten zielt sie darauf ab, die „Neuinszenierung“ des „unerledigten Geschäfts“ zu herbeizuführen, die nach Perls’ Theorie wesentlich für die Erfahrung und Assimilierung nicht eingestandener Feelings ist. Friedmans Dialog geht folgendermaßen weiter:

 

P: Mein Vater mochte nie, was ich tat.

T: Wie fühlt sich das an?

P: Es ist ein beschissenes Gefühl. Ich fühle mich wie Scheiße.

T: Könnten Sie ihm das jetzt sagen?

P: „Paps, du kritisierst mich immer, gibst mir immer das Gefühl, dass ich nichts richtig machen kann.“

T: (Pausiert, um zu sehen, ob sie mitgeht mit dem, was sie sieht, schlägt dann vor): Stellen Sie sich um.

 P: (Als Paps): „Naja, du weißt, Schatz, es ist nur, weil ich dich so sehr liebe, dass ich dich strahlen sehen möchte.“

 T: Wechseln Sie zurück.

 P: „Das ist Scheißdreck! Wenn du mich so sehr liebst, warum zeigst du mir immer meine Fehler?“

 (Als Paps): „Naja, irgendjemand muss es ja machen. Wie sonst willst du lernen, dich gut zu entwickeln?“

 T: Was fühlen Sie als Paps?

 P: Dass sie ein Stück Scheiße ist.

T: Könnten Sie ihr das nochmals sagen? Tun Sie es ganz offen.

 

Der Therapeut bittet dann darum, dass die Patientin (als ihr Paps) ihr sage, was er von ihr braucht (Bestätigung) und dass sie ihm sage, was sie von im braucht (dass er ihr sage, er liebe sie). Friedman sagt, dass hier authentische Feelings erlebt und ausgedrückt werden, aber die zwei sind in eine Sackgasse geraten: Keiner kann dem anderen geben, worum gebeten wird. „Der ‚Vater’ fürchtet, seine Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit zu exponieren, während die ‚Tochter’ nicht all die Verantwortung dafür übernehmen kann, ihn zu erfreuen, wenn sie sich selbst verletzlich und unzulänglich fühlt.“ An dieser Stelle darf der Therapeut nicht versuchen, der Patientin zu helfen, diese auswegslose Situation aufzulösen. Weil „das Feststecken in der Sackgasse der grundlegende Wendepunkt von Neurose zu Gesundheit [ist]“, „muss der Therapeut genügend persönliche Therapie gehabt haben, um diesen Ort persönlich erlebt zu haben und somit in der Lage zu sein, der Notwendigkeit nachzukommen, dass die Patientin der Situation mutig entgegentritt anstatt sie zu ‚fixieren’.“

Indem er ein aufmerksamer und mitfühlender Zuhörer ist, das Problem anerkennt und so weiter, unterstützt der Therapeut die Patientin dabei, ihre Abwehr fallen zu lassen und zu „implodieren“ oder voll zu fühlen, was Friedman als „Nichts“, „Isolation“, unterschwellige Angst vor dem Verlassenwerden“ und „Vernichtungsangst“ bezeichnet.

In der weiteren Entfaltung dieser Pseudo-Sitzung sagt der Therapeut der Patientin, dass er ihr hilft, „bei dem Feeling des Feststeckens zu bleiben.“ Die Patientin reagiert sarkastisch, und der Therapeut schlägt vor, dass sie sich über ihn beklage. Sie einigen sich dann, dass das, was sie wirklich braucht, nicht darin besteht, ihn zu konfrontieren sondern wirklich zu fühlen, wie sie feststeckt. Scheinbar beginnt sie es zu fühlen; das Atmen fällt ihr schwer, sie fürchtet sich und sagt schließlich: „Gott, ich fühl’ mich so allein!“ Dann beschreibt sie, wie sie ein „Fließen“….Fallen“ erlebt. Sie fragt den Therapeuten, was sie tun soll. Er sagt ihr, sie solle sich ihrem Weinen überlassen. Friedman beschreibt, was geschieht:

 

Sie beginnt jetzt, mit der furchtbaren Trauer Kontakt aufzunehmen, die sie verdrängen musste, als Preis, dass sie überhaupt überleben konnte, um sich der Vernachlässigung ihrer emotionalen Bedürfnisse durch ihre Eltern anzupassen, als sie sehr klein war. Wir stehen jetzt der elementaren Tragödie der menschlichen Existenz gegenüber.

 

P: (Ihr Gesicht verzieht sich, ihre Atmung scheint einen Moment auszusetzen, sie hält ihre Hände vors Gesicht, ihre Brust und Schultern fangen zu beben an, und sie beginnt zu schluchzen. Das ist eher konvulsiv als Schreien oder Weinen. Sie hält abrupt inne): Heilige Scheiße! Was ist hier los?

T (Sehr präsent aber unaufdringlich.): Verzweiflung. Lassen Sie es einfach geschehen.

P: (Sie überlässt sich dem Schluchzen. Das dauert einige Minuten, hört dann auf, beginnt dann erneut.)

T: Um wen trauerst du?

P: Um mich selbst. All diese vergeudeten Jahre. Verdammt! (Sie gerät in Wut.) (Als Tochter): „Ich hasse dich, du verfluchter Versager! Fahr zur Hölle, fahr einfach zur Hölle!“

(Allmählich beginnt sie, Erleichterung zu verspüren. Ihr Atmen wird langsam, tief, regelmäßig. Sie schaut sich um, blinzelt mit den Augen, ist sich nicht bewusst, dass sie Tränen vergossen haben, und schnieft durch die Nase. Sie lächelt.

Bald darauf erklärt die Patientin, dass sie sich gut fühlt und dass alles „farbiger..schärfer“ scheint. Friedman betont, dass Gestalttherapie charakteristisch in der Art sei, sowohl wie sie Feelings aufdeckt als auch sicher stellt, „dass sie ihr richtiges Objekt suchen.“ Im Weiteren stellt er die Frage, ob diese Art von „Durchbruch“ andauern werde oder ob es mehr von der Natur einer „dramatischen Vorstellung“ sei. Erforderlich sei, so schreibt er, weitere Arbeit in folgenden Sitzungen, „um wieder einen Vater, der gut genug ist, an die Stelle zu setzen, die durch den ‚Realvater-Introjekt’ vakant zurückgelassen wurde. Selbst-Fürsorge wird mit anderen Worten die Form annehmen, dass sie den fehlenden Teil ersetzt… als Unterstützendes Selbst für das Unterstützung brauchende Selbst – ein Verinnerlichungs-Assimilierungs-Integrations-Prozess.“ [73]

Wie in vielen anderen nicht-dialektischen Therapien ist hier Bewusstheit (awareness) das Ziel. Das ist gut und schön, aber das Ziel muss Bewusstsein (consciousness) sein, nicht nur zerebrale oder intellektuelle Bewusstheit. Es gibt die Auffassung, dass Gedanken in der Form von Bewusstheit und Einsichten Veränderung bewirken können. Unsere Forschung weist darauf hin, dass es zu keiner tiefgreifenden Veränderung kommt, bis  der tiefe Schmerz, der im limbischen System und darunter gespeichert ist, ins Bewusstsein aufsteigt.  Das bedeutet nicht ab und an ein paar Tränen. Es bedeutet, dass Schmerz über Monate und Jahre immer wieder stundenlang erlebt wird. Ein Großteil dieser Technik wurde von Morenos Psychodrama ausgeliehen, das in den vieriger und fünfziger Jahren populär war, in dem Patienten in verschiedene Rollen agierten.

 

Schlussfolgerungen

Gestalttherapie begann als persönliche Reaktion eines Mannes auf die allzu psychische Zentrierung der klassischen Freudschen Analyse. Perls’ Ansatz schien nie seine leidenschaftlich reaktionären Eigenschaften zu verlieren, was vielleicht zur Erklärung beiträgt, warum seine Methode sich nicht zu einer zusammenhängenden, systematischen Theorie und Therapie entwickelte. Ihren Antrieb erhielt sie eher aus der emotionalen Rebellion gegen die Psychoanalyse als aus teifgreifender Einsicht in die Natur menschlichen Leidens. Perls schien einiges vom Bild der Neurose und von der der Notwendigkeit zu begreifen, Gefühle auszudrücken, aber der Ausdruck geschah niemals wirklich. Er stand unter seiner Kontrolle; was zu fühlen war, wieviel und wann. Perls Ansatz schuf keine beweisbaren Hypothesen, die das Kennzeichen einer wissenschaftlichen Therapie sind.

Die Stärken der Gestalttherapie liegen in ihrer grundsätzlichen Absicht und in den Richtungen, in die sie deutete – nämlich auf die Erweiterung des bewussten Erlebens. Perls erkannte die Mängel in Freuds Modell, wie ehedem Freuds Schüler vor ihm. Er erkannte auch (1) die Notwendigkeit, dass Therapie aus ihrem sprichwärtlichem „Kopf“ herauskommen musste und (2) dass vielmehr Fühlen als Denken entscheidend war, um Gesundheit wiederherzustellen. Seine Wertschätzung der nonverbalen Aspekte der Erfahrung und der Notwendigkeit, sich mit mehr als nur Worten auszudrücken, eröffneten neue Türen zum Bewusstsein, die lange Zeit verschlossen waren.

Aber auch wenn Gestalttherapie in der richtigen Richtung begann, setzte sie für jeden Schritt vorwärts mehrere Schritte zurück. Obwohl Perls im weitesten Sinne oft verstand, was mit der Psychoanalyse und mit den Individuen nicht stimmte, wusste er nicht wirklich, wie er die Dinge richtig stellen konnte.

Der beständigste Aspekt der Gestalttherapie, Perls selbst, trägt zu ihrer Begrenztheit bei. Ervin und Miriam Polster, Langzeit-Gestalttherapeuten, die Autoren von Gestalt Therapy Integrated , Gründer und stellvertretende Direktoren des Gestalt Training Center ind San Diego, räumen ein, dass zu den „unglücklichen Vermächtnissen“ von Perls’ Arbeit seine „simplizistische Anwendung des Bestehens auf Unmittelbarkeit“ gehörte, die  zu „fixer Nachahmung“ durch schlecht gerüstete Schüler ermutigte, die Perls Theorien nur oberflächlich verstanden, so unvollständig sie auch sein mögen. [74]

Perls verlangte totale Erfahrung. Aber paradoxerweise tat er das, während er zugleich die Vergangenheit als verbotenes Territiorium abzäunte, Verdrängung als ungültig und Erinnerung als verzerrt anprangerte. Er wollte geistige Grübeleien zurückweisen und die Person durch Fühlen zum Leben erwecken, konzentrierte sich aber dennoch auf Bewusstheit und Verstehen. Er bestand darauf, dass die Leute so leben sollten, wie sie wirklich waren, dennoch konstruierte er eine Therapie, deren Hauptmerkmale inszenierte Feelings und Rollenspiele involvierten – Rollen, die er schrieb. Er leugnete das Unbewusste ab, während er verkündete, dass Träume, die in einem unbewussten Zustand entstehen, Sammlungen all dessen seien, was wir sind. Übertragung wurde verneint, dennoch machte sich Perls durch seine therapeutischen Bühnenauftritte und seine Selbstpräsentation als Seher unvermeidlich selbst zu einer symbolischen Figur und somit zum Brennpunkt übertragener Gefühle. Das Phänomen der Übertragung fallen zu lassen bedeutete ebenso, Aspekte der totalen therapeutischen Erfahrung zu unterdrücken,  wie sein radikaler Anspruch, dass das Trauma ein Trugschluss sei. Diese letztere Position war ironischerweise der des abgelehnten Freuds ähnlich, welcher seine Theorie der Wunscherfüllung auf dem Schluss errichtete, dass Patienten ein Kindheits-Verführungs-Trauma vielmehr phantasierten als erinnerten. Eine andere Ähnlichkeit mit dem Freudschen Modell, das er ursprünglich ablehnte, ist seine Auffassung von inneren Mängeln und angeborenen Schwächen.

Wie das Beispiel Friedmans veranschaulicht, haben einige Gestalttherapeuten weit mehr als Perls das vergangene Trauma in die Therapie eingelassen, aber sie gehen nicht weit genung, gestatten „Neuinszenierung“ als schwachen Ersatz für das volle Wiedererleben schmerzreicher Ereignisse, suchen nach Bewusstheit anstatt nach vollem Bewusstsein. Eine Perlssche Unvereinbarkeit gewährleistet weiterhin, dass die Therapie nicht zu  authentischem, integrierendem und befreiendem Fühlen führen wird. Die theoretische Erkenntnis, dass „unerledigte Geschäfte“ oder wie immer man es nennt der Neurose zugrundeliegen, ist mit therapeutischen Techniken gekoppelt, die nicht leisten, was sie zu leisten behaupten: vergangene Geschäfte zu ‚assimilieren’ oder „beenden“, um das Individuum zu befreien, damit es „jetzt hier sein kann.“

Ihr loses Gewebe aus humanistischer Gesinnung und intensiver therapeutischer Aktivität verlieh der Gestalttherapie die Erscheinung einer Therapie des Fühlens, die am Ende genau die Art von Scheinbarkeit erzeugt, die sie so aufrichtig zu untergraben suchte. Sie gerät hauptsächlich über dem Widerspruch ins Wanken, dass sie versuchte, der menschlichen Erfahrung Tiefe zu geben, während sie sich nach Perls’ Beteuerung mit der „äußersten Oberfläche“ befasste. Tief drinnen –im Schatten ihres Showman-Gründers, der als Reaktion auf Abraham Maslow wie ein Seehund robbte und bellte – ist Gestalttherapie sehr seicht.

  Ende des Kapitels

 

  Anhang: Quellen [1] – [74] Siehe: GRAND DELUSIONS

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Übersetzung: Ferdinand Wagner

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Artikel u. Buchausz.