Artikel u. Buchausz.

Buchübersetzungen

 
   

DR. ARTHUR JANOV

 

WHY YOU GET SICK - HOW YOU GET WELL

WARUM SIE KRANK WERDEN UND WIE SIE

GESUND WERDEN

DIE HEILENDE KRAFT DER GEFÜHLE

DOVE BOOKS, WEST HOLLYWOOD, CA, 1996

Aus dem Amerikanischen von Ferdinand Wagner


TEIL I

 

EINFÜHRUNG

Und hast du dennoch bekommen,                                

was du dir von diesem Leben wünschtest ?

Ja, das hab’ ich.                                                  

Und was war das?                                                        

Mich geliebt zu nennen.

Mich auf dieser Erde geliebt zu fühlen.

Late Fragment

RAYMOND CARVER

Warum sagen so viele Leute, sie fühlten sich „leer“ und „halb tot“? Warum sind so viele von uns so häufig ohne Enthusiasmus und deprimiert,  auch wenn wir einen liebevollen Ehegefährten und eine liebe Familie haben, gute Freunde, einen angenehmen Job, einen Ort, an dem sich’s gut leben lässt, und eine Menge Freizeit?

Warum  sind wir auch ohne einen offensichtlichen Grund ängstlich und besorgt? Was bringt einige von uns dazu, sich in einer Beziehung oder bei der Arbeit „gefangen“ oder „angebunden“ oder „erstickt“ zu fühlen, und was macht es so schwer, eine intime Beziehung oder einen Job zu halten? Warum sind andere hilflos, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu fällen und Probleme zu lösen?

Warum verbringen so viele Leute ihr Leben damit, nach Liebe zu suchen, und wandern von einer unbefriedigenden Beziehung zur anderen, ohne sie jemals zu finden?  Warum fällt es so vielen Menschen schwer, Sex zu genießen? Warum sind einige von uns im Bett aktiv und andere passiv? Warum masturbieren einige chronisch, haben wiederkehrende Fantasien oder entwickeln Fetische?

Warum sind so viele von uns Gläubige, die irrationale Ideen und Religionen annehmen, Gurus nachlaufen und den „Sinn des Lebens“ suchen, vielleicht indem sie entdecken, wer wir in vergangenen Inkarnationen waren?

Warum bemühen sich so viele psychotherapeutische Methoden, Patienten ihre Probleme „verstehen“ zu helfen, führen aber nicht wirklich zur Heilung und

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zwingen die Patienten, Woche für Woche und Jahr um Jahr zu stündlichen Sitzungen wiederzukehren, als wär's ein Kirchgang? Warum glauben Fachleute und Laien, dass Medikamente wie Prozac die effektivste Art seien, mit den Symptomen der Neurose umzugehen, wohl wissend, dass solche Medikamente nicht heilen können?

Warum werden so viele Menschen von Kopfschmerzen, hohem Blutdruck, Bronchitis, Asthma, Darmbeschwerden, Alkoholismus, Allergien und anderen chronischen Gesundheitsproblemen geplagt?

Und warum finden so viele Patienten heraus, dass ihre Ängste und Depressionen nach dem Wiedererleben von Traumen, die früh in ihrem Leben stattfanden, weniger werden, dass ihre Beziehungen und ihr Sexleben sich verbessern, sie nicht mehr den Drang verspüren, zu trinken oder Drogen zu nehmen, und warum entdecken sie, dass sich ihre Migräne, hoher Blutdruck und andere lebenlange Symptome teilweise oder ganz gebessert haben?

In den letzten dreißig Jahren habe ich sehr viel über Menschen gelernt und darüber, was sie bewegt. So banal es scheinen mag, was ich gefunden habe, ist eine einzige und dennoch komplexe Emotion namens Liebe. Nicht die romantische Liebe in Romanen, sondern eine fundamentale Liebe – die Liebe der Eltern zu ihrem Kind. Wenn ein Kind Liebe und Fürsorge entbehrt, so erzeugt das Schmerz, gleich wie diese Entbehrung sich manifestiert, und wenn dieser Schmerz nicht „gefühlt“ oder ins System integriert wird, wird er  seinerseits im späteren Leben physische und emotionale Krankheit verursachen.

Man glaubt es kaum, dass es Methoden gibt, den Schmerz des Liebesmangels zu messen, aber wenn ein Kind vernachlässigt, kritisiert, erniedrigt oder ignoriert wird, kommt es zu physiologischen Veränderungen in internen und gehirnlichen Prozessen, die tatsächlich messbar sind, wenn Patienten Jahre später diese Schmerzen wiedererleben.

Jüngste Fortschritte in der Forschung auf dem Feld der Psychologie, Biologie und Neurologie haben unser Wissen erweitert, sodass sich Informationen aus einer Vielzahl von Gebieten in einem einzigen Rahmenwerk vereinen, das uns erlaubt, Menschen,  ihre Motive und ihr Unbewusstes zu verstehen, und wie ihre Geschichte sie beeinflusst. Diese Geschichte, so stellt sich heraus, geht bis zu den ersten Monaten des Lebens zurück, wenn die Schmerzbahnen angelegt werden und der Fetus Schmerz empfängt, sich aber nicht dagegen verteidigen kann.

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Wer hätte sich je träumen lassen, dass Migränen, Neurose, Phobien und sexuelle Probleme im Erwachsenenalter aufgrund eines Traumas oder schlechter Sauerstoffversorgung schon bei der Geburt ihren Anfang nehmen könnten, oder dass diese Krankheiten durch das Wiedererleben des frühen Traumas umgekehrt werden könnten? Es ist eine machtvolle Vorstellung, dass man die Geschichte ungeschehen machen und neu gestalten kann. Die Natur gab uns das Trauma, sorgte aber auch für die chemischen Substanzen im Gehirn, um es abzuwehren, wobei sie die Erinnerung für die spätere Verarbeitung aufbewahrt. Alles, was nötig ist, um das Mysterium physischer und emotionaler Krankheit aufzuschlüsseln, ist der Zugriff auf die unbewussten Gefühle der Verletzung, des Liebesmangels, der Furcht und Zurückweisung, und das „System“ wird den Rest erledigen. Es ist einfach logisch, eine Logik der Gefühle, die ihr eigenes Wissenssystem haben.

Indem wir Patienten helfen, ihre vergrabenen Gefühle zu empfinden, geben wir ihnen ihre Menschlichkeit zurück und die Macht der Transformation und Wahl – die Freiheit, ein Leben außerhalb des Programms zu wählen, das in der Kindheit festgelegt wurde.  Es sind die Patienten, die Einsichten an den Tag legen. Alles, was sie zu lernen haben, liegt im Gehirn bereit und wartet auf Befreiung.

Wenn Sie dieses Buch lesen, begleiten Sie mich auf eine Reise in die Tiefen der Psyche, auf der wir die Geheimnisse des Unbewussten entschlüsseln werden.

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Kapitel 1

WARUM SIE KRANK WERDEN

 

Matisse: Danse

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Einem meiner Patienten in der Primärtherapie fiel es schwer, Leuten in die Augen zu schauen. In einer Gruppensitzung in meiner Klinik redete er andauernd über Augen und behauptete beharrlich, dass alle im Raum ihn mit „zornigen Augen“ ansähen. Sodann beugte ich mich über ihn und ließ meine Augen so zornig aussehen, wie ich nur konnte. Das warf ihn plötzlich in eine Erinnerung zurück, als er in seinem Bettchen lag und nach seiner Mutter schrie. Einen Augenblick später erschien sein Vater, wütend über die Störung, und schrie das hilflose Kind an. Nachdem meine „zornigen Augen“ diese Erinnerung wiedererweckt hatten, eine Erinnerung, von deren Existenz er nichts gewusst hatte, begann er erneut zu schreien – Schreie eines Kleinkinds, die er sonst nicht hätte nachmachen können.

Bei einer anderen Gelegenheit begann ein Patient, sich auf dem Boden zu winden, Arme und Beine in fetaler Position, wobei er  zwanzig Minuten lang pausenlos ganz tief atmete. Dieses schnelle, raspelnde, lokomotivähnliche Atmen, das tief im Gehirn organisiert wird, sagte mir, dass er seine Geburt wiedererlebt. Ich maß seine Körperkerntemperatur, seinen Puls und Blutdruck, die allesamt rapide genug abfielen, um zu suggerieren, dass er im Sterben begriffen sei. Dennoch geschah abgesehen von dem ungewöhnlichen Atmungsmuster etwas Außergewöhnliches in Hinsicht auf seine körperliche Aktivität:  Seine Bewegungen waren so kraftvoll, dass sie irgendwie die Effekte seines tiefen Atmens widerriefen.

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Es gab keine Anzeichen des Hyperventilationssyndroms, das schnelles Atmen gewöhnlich begleitet, noch kam es zu Benommenheit, Bewusstlosigkeit oder Händen, die in einer klauenähnlichen Position erstarrt sind. Er war einfach im Griff einer Erinnerung, einer Erinnerung, deren er sich noch einige Minuten zuvor völlig unbewusst war. Anstatt zu sterben, befand er sich auf dem Weg ins Leben.

Unterdessen schwimmt in einem biologischen Labor eine einzellige Amöbe in einer mit Wasser gefüllten Petrischale. Ein Experimentator gibt einige Tropfen chinesische Tusche in die Schale. Die Amöbe nimmt das Pigment in sich auf und lagert es in einer Vakuole. Dann wird das Wasser in der Schale durch frisches Wasser ersetzt. Die Amöbe entledigt sich der Tusche-Körnchen, kehrt zu ihrem normalen Status zurück und geht wieder ihren Geschäften nach.

Diese drei scheinbar beziehungslosen Ereignisse sind tatsächlich eng miteinander verbunden. Im Verhalten der einzelligen Amöbe und in der Agonie der beiden Patienten liegen die Schlüssel zur Natur geistig-seelischer und körperlicher Krankheit. Wir müssen an unsere Entdeckungen nur die richtigen Fragen stellen, um die Antwort auf das Rätsel zu finden, das so vielen Beschwerden zugrunde liegt. Die richtigen Fragen können zu Antworten führen, die schließlich ein Heilmittel darlegen. Sie werden auch zu einem Verständnis der menschlichen Bedingung führen: was und wer wir sind und was unser Verhalten steuert. In diesem Buch definiere ich geistig-seelische Krankheit und ihre Heilung neu, denn Neurose ist gar nicht das, für was wir sie gewöhnlich halten. Obwohl wir dazu neigen, Neurose im Sinne sozialen Verhaltens aufzufassen, sind ihre leicht identifizierbaren verhaltensbezogenen Manifestationen nur die Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche neurotischen Verhaltens liegen verdrängte Traumen, die früh im Leben erfahren wurden: ein dramatisches Ereignis wie die Verwicklung in einen Autounfall oder – viel wichtiger - die Verletzung, wenn unsere Kindheitsbedürfnisse nicht erfüllt wurden; wenn wir vernachlässigt, ignoriert, misshandelt oder dazu gebracht worden sind, dass wir uns ungeliebt fühlten.

In den letzten drei Jahrzehnten haben wir Wege gefunden, die fortlaufende Präsenz des frühen Traumas zu messen. Die Kraft einer traumatischen Erinnerung verbleibt im System, reverbiert  auf tieferen Gehirnebenen und arbeitet gegen den Körper, indem sie Symptome hervorruft, wo immer der Körper gerade verletzlich ist. Frühe Erfahrung formt unsere Interessen, Werte, Motivationen und Ideen. Vergrabene

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Erinnerungen aktivieren ständig das System und schaffen Zerrüttung, die schließlich in ernsthafter geistig-psychischer Krankheit resultieren kann. Wir können uns plötzlich mit bestimmten Beschwerden oder Obsessionen wiederfinden und keine Ahnung von ihrem Ursprung haben. Rückenschmerzen, Schlaflosigkeit, chronische Immunkrankheiten wie Epstein-Barr und chronisches Ermüdungssyndrom, Depression, hoher Blutdruck, Arthritis, Migränen, Allergien, Kolitis, Epilepsie, Herzkrankheit, Alkoholismus, Sucht, Angst und Geschwüre sind neben anderen Krankheiten so vorherrschend geworden, dass die Gesellschaft neue Industriezweige errichtet hat, die allein auf der Erleichterung von Schmerz basieren. Das Fernsehen bombardiert uns mit Anzeigen für Ibuprofen, Aspirin, Schlaftabletten und anderen Schmerzkillern und erkennt somit implizit den Schmerz an, in dem wir alle stecken.

Auf dem Feld der Medizin und Psychotherapie befassen sich die Ärzte heutzutage andauernd mit Symptomen. Betrachten Sie gerade mal das  Diagnostische und Statistische Manual geistig-psychischer Störungen (DSM-IV), ein Referenzbuch, das von Fachleuten in der Psychologie und Psychiatrie benutzt wird und Seite für Seite jede erdenkliche Variation geistig-psychischer Krankheit beinhaltet. Und in Washington D. C. sind für Symptome Monumente errichtet worden in Form von Gebäuden, die dem Studium von Drogenmissbrauch, Alkoholismus, Herzkrankheit, Krebs und so weiter gewidmet sind. Überall in den Vereinigten Staaten spezialisieren sich Experten auf die Behandlung von Kolitis, Geschwüren, Migränen, Diabetes, hohem Blutdruck, Asthma, Angst, Depression, Eheproblemen, Essstörungen und so weiter. Sie geben Salz hinzu, nehmen Salz weg, fügen Thyroxin hinzu, entfernen Thyroxin, spekulieren über die Gründe für jemandens Allergien oder Unglücklichkeit, analysieren Träume und verschreiben fast immer Medikamente. Sie versuchen, das Symptom zu normalisieren, anstatt die Person zu normalisieren, die das Symptom an den Tag legt.

Spezialisten unterteilen typischerweise menschliche Dysfunktionen in körperliche und psychologische Beeinträchtigungen und behandeln sie trotz jüngster Beweise, die auf das Gegenteil hindeuten, als seien die zwei Bereiche separate Ganzheiten. In diesem Land gibt es in einigen Bereichen der Alternativmedizin den wachsenden Trend, das Individuum als Ganzes zu behandeln, und immer mehr Forschungsanstrengungen werden Theorien gewidmet, die Heilung und Psyche betreffen. Bei unserer Arbeit im Primal Center sehen wir bemerkenswerte Beweise dafür, dass

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jede emotionale Verletzung ein körperliches Gegenstück hat, und dass die zwei nicht getrennt werden dürfen.

Der wirkliche Killer in der heutigen Welt ist nicht Herzkrankheit, Krebs, Schlaganfall oder Versagen des Immunsystems. Es ist die Verdrängung, die Agentin der Neurose. Verdrängung beschränkt unsere Fähigkeit, auf Ereignisse reagieren zu können und hemmt den Ausdruck von Gefühlen. Sie bildet das Fundament vieler Krankheiten emotionaler und körperlicher Natur, und oft tötet sie im wahrsten Sinne des Wortes. Sie veranlasst uns nicht nur, ohne dass wir es wissen, auszuagieren und gegen die Leute um uns herum anzukämpfen, sondern hält uns auch davon ab, uns selbst zu kennen, wir selbst zu sein und unser Leben zu genießen.

Obwohl uns die Verdrängung unglücklich macht und oft krank, ist ihre Macht übersehen worden, weil sie eine Kraft ist, die so unsichtbar wie die Gravitation ist. Sie umhüllt unsere traumatischen Erinnerungen und verdunkelt unsere Geschichte, indem sie Gehirnschaltkreise verändert, sodass wir nicht sehen, was wir nicht zu sehen wagen und das nicht begreifen, was für uns gefährlich wäre, wüssten wir davon.

Was verursacht Verdrängung? Schmerz. Wenn das Trauma oder die Deprivation, die uns früh im Leben aufgebürdet wurden, so groß sind, dass sie die Kapazität des Organismus, darauf zu reagieren, übersteigen, werden sie zu Schmerz. Dieser Schmerz stimuliert seinerseits die Produktion repressiver Agenten – der Endorphine und anderer natürlicher Schmerzkiller.

Beweise aus verschiedenen Quellen legen nahe, dass viele Krankheiten, die bis jetzt schwierig zu erklären waren, tatsächlich alle aus der gleichen Quelle stammen. Dasselbe trifft auf  Persönlichkeitsticks, Gewohnheiten, Verhalten, Triebe und Obsessionen zu. Eine Tatsache, die die Theorie einer ähnlichen Abstammung wirksam stützt, ist die, dass dieselbe Art von Tranquilizern und Schmerzkillern benutzt wird, um gänzlich unterschiedliche Symptome zu behandeln. Betrachten Sie die „Wunderdrogen“, die als Serotonin–Aufnahme–Hemmer bekannt sind, - Prozac, Paxil, Zoloft -, welche zur Behandlung von Schlaflosigkeit, Anorexie, Depression, Angst und Fettleibigkeit verwendet werden, neben anderen Leiden.

In der Primärtherapie arbeiten wir umgekehrt zum konventionellen Ansatz. Anstatt von Symptomen zu möglichen Ursachen zu arbeiten, arbeiten wir von den Ursachen zu den Symptomen. Durch diese Methode haben unsere Therapeuten ein tieferes Verständnis entwickelt, wer wir sind, was uns vorwärts bewegt und was

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uns zurückhält. Wir haben gelernt, dass das, was die Leute krank macht, der Schlüssel ist, um sie wieder gesund zu machen.

Gedächtnisstudien, von denen der Neurophysiologe E. Roy John in seinem Buch Mechanismen des Gedächtnisses  berichtet, decken auf, dass dieselben Gehirnzellen benutzt werden, wenn ein Individuum zuerst ein Objekt sieht und später gebeten wird, sich an dasselbe Objekt zu erinnern. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn bei der Erinnerung eines vergangenen traumatischen Ereignisses ganze Systeme auf den Plan gerufen werden. Obwohl dies eindeutig ein Bereich für zukünftige Forschung ist, unterstützt es unsere Erkenntnisse, dass die innere Realität immer präsent ist und dass es einigen schwer fällt, zwischen innerer und äußerer Realität zu unterscheiden. Was man als äußeres Ereignis wahrnimmt, kann innerlich und mit einem Ereignis aus der Vergangenheit verknüpft sein.

Primärtherapie hilft den Menschen, sich mit dieser inneren Realität zu befassen. Diese Realität hat nichts mit Selbstachtung, Ego, Selbstwert, kreativer Visualisierung oder das Image steigernden Übungen zu tun. Es geht um ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, der Kern, um den sich die Neurose und die sie begleitenden Leiden drehen. Wenn Sie es vermeiden, sich mit der Wahrheit Ihrer Geschichte und Ihrer unbefriedigten Bedürfnisse zu beschäftigen, sei es im sozialen oder psychologischen Bereich, werden Symptome bleiben, und Sie werden zu strikten Behandlungsweisen gezwungen, die  nur auf Symptome eingehen. Wenn diese Behandlungen darin scheitern, die Primärflut zu neutralisieren, die unter Ihrem Elend brandet, werden Sie weiterhin leiden. Man tendiert dazu, emotional begründete Krankheiten wie Depression, Angst und obsessive Zwangsstörungen mit Antidepressiva oder Elektroschock-Therapie zu behandeln, wobei letztere jetzt leider ein Comeback in der Behandlung von Kindern feiert. Bei Leiden mit physiologischer Grundlage wie z. B. Geschwüren wird die Behandlung immer invasiver und beinhaltet in wachsendem Maße stärkere Medikamente und oft eine Operation. Aber wenn die Menschen die Quelle des Schmerzes, der ihr System angegriffen hat, identifizieren und erfahren könnten, könnte der Schmerz vermieden werden. Sich mit dem Bedürfnis zu befassen anstatt es zu ignorieren oder es durch Medikamente oder Schockbehandlung ins Versteck zu zwingen, ist der einzige Weg, die Zellen zu normalisieren und den Organismus in einen stabilen Zustand oder Homöostase zurückzubringen. Wie in anderen Hauptströmungen der Wissenschaft sind die Hypothesen der Primärtherapie nachprüfbar, Fortschritt ist vorhersagbar und Heilung quantifizierbar.Was im Unbewussten liegt, ist in Nichts dem ähnlich, was

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die meisten Psychiater und Psychologen sich vorgestellt haben. Anstatt unseres rohen tierischen Erbes finden wir einen freundlichen Ort. Je tiefer wir in das Unbewusste eintauchen, umso größer die Heilungsmöglichkeiten. Wir haben herausgefunden, dass es nichts Heilsameres als Gefühle gibt: einzelne Erinnerungen und Emotionen aus dem frühen Leben voll zu erfahren. Wenn die Therapie korrekt ausgeführt wird, sodass das Unbewusste in der richtigen Reihenfolge allmählich bewusst wird, wird jede verdrängte Erinnerung integriert und ihre Leidenskomponente eliminiert.

Durch die Umkehrung des neurotischen Prozesses fühlen wir uns besser und entspannter. Wir haben weniger Migränen und niedrigeren Blutdruck. Kolitis, Allergien, Asthma und epileptische Anfälle verlieren an Kraft, verschwinden vielleicht sogar ganz. Es ist weniger Nervenenergie da, die unsere Konzentration stört und uns zwingt, spirituelle Führung  zu suchen oder den Sinn des Lebens zu suchen. Wir sind endlich frei zu leben.

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Kapitel 2

NEUROSE: DAS FUNDAMENT DER KRANKHEIT

 

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Neurose ist so weit verbreitet, dass es scheint, als sei sie in die Mehrheit der Population genetisch einprogrammiert. Wir erben die Neurose nicht; was wir erben, ist eine über Millionen Jahre geformte und gestaltete Gehirnstruktur, die die Kapazität für Neurose hat. Dieses Erbe hat uns die Fähigkeit verliehen, mittels Verdrängung mit Schmerz fertig zu werden, den Input von Schmerz durch Funktionsverzerrungen   zu kompensieren und uns unserer selbst und dessen, was wir fühlen und empfinden, unbewusst zu sein. Kurz gesagt überleben wir, indem wir Mechanismen gebrauchen, die uns helfen, die Realität zu vermeiden und abzuwenden, wenn diese Realität überwältigend ist.

Als das Trauma das Bedürfnis nach einer ausgleichenden Kraft schuf, ließ das Gehirn einen Kortex „wachsen“, der uns dabei helfen sollte, uns aus Problemen herauszudenken. Das machte uns schlau und fähig, abstrakt zu denken, „in unseren Köpfen“ zu leben und uns selbst davon zu überzeugen, dass Denken der Weg sei, unsere Probleme zu lösen. Er gestattete uns, uns dazu verleiten zu lassen, genau jene Werkzeuge zu benutzen, die Gefühlen entgegenwirken und uns innerlich unzugänglich machen. Und  er gab uns einen Überlebensmechanismus, der uns krank machen kann und sogar verursachen kann, dass wir vor unserer Zeit sterben.

Das menschliche System ist nicht liberal; es ist faschistisch. Es ist ungnädig und unerbittlich, und es kennt kein Erbarmen. Seine einzige Sorge ist

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das Überleben der Spezies, nicht des Individuums. Um die Spezies zu bewahren, müssen wir uns von uns selbst trennen. Verdrängung erlaubt uns, uns selbst und andere unmenschlich zu behandeln, weil sie unsere Menschlichkeit effektiv unterdrückt. Sie bringt uns dazu, Generation um Generation emotionaler Krüppel großzuziehen, sodass die Zivilisation weitergehen kann. Neurose ist keine Perversion des Menschen; sie ist die Essenz des Menschseins. Neurotisch zu sein heißt nicht, „krank“ zu sein, sondern mit dem Gesamtziel der Natur in Einklang zu stehen, das Leben fortzusetzen. Ohne Neurose befänden sich viele von uns in ständiger Agonie.  Mit Neurose werden wir zu weniger menschlichen Geschöpfen, aber wenigstens funktionieren wir. Wir fühlen einfach weniger.

Das menschliche Gehirn erinnert sich nicht nur, sondern es ist auch Erinnerung in konkretisierter Form, die Kulmination einer langen Geschichte der Evolution. Entgegen dem populären Sprichwort kann das, was Sie nicht wissen, Sie verletzen, weil die verdrängte Erinnerung an das Trauma traumatisch ist.   Neurose bewahrt die Kindheit in ursprünglicher Form, und es ist die Erinnerung der von Entbehrung geprägten Kindheit, die uns anhaltend Schmerz zufügt. Wenn man in seiner Kindheit nicht geliebt wird, wird das System dahingehend alarmiert, dass Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Der Körper schüttet Stresshormone aus, um sich auf die Erinnerung einzurichten. Patienten, die zum Primal Treatment Center kommen, haben zu Beginn der Therapie gewöhnlich hohe Stresshormon-Spiegel. Der Körper ist energetisiert, um sowohl vor einem unsichtbaren Feind zu fliehen als auch gegen ihn anzukämpfen – gegen unsere Gefühle. Stresshormone heben den Blutdruck, erhöhen den Puls und können letztlich zu kardiovaskulären Problemen führen. Je größer der Stress, umso geringer die Immuneffizienz. Die Hormone stören normale Funktionen, sodass wir uns  schließlich alle möglichen Krankheiten von Allergien bis hin zu Krebs einhandeln können. Wir haben herausgefunden, dass die Stresshormon-Spiegel fallen, wenn erwachsene Patienten ihren unerfüllten Bedürfnissen nach Liebe nachgehen und sie wiedererleben. Solange sie es nicht tun, ändert sich wenig. Kindheitsgefühle zu unterdrücken bedeutet, sich partiell unbewusst durchs ganze Leben zu bewegen. Das Ergebnis ist, dass ein guter Teil unserer Population tatsächlich schlafwandelt.

Die Person, die angetrieben ist, die fühlt, dass sie keinen Urlaub nehmen kann, die nicht still sitzen kann, die zu allen Zeiten in Bewegung bleiben muss, ist krank. Der „Urknall“ des Kindheitsschmerzes dieser Person wird im Laufe der Jahre absorbiert. Man hält sich ständig auf Trab, um

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das Feeling zu vermeiden, dass es nichts gab oder gibt, was man an der frühen Situation ändern könnte. Wenn das Gehirn kontinuierlich mit Verdrängung beschäftigt ist, muss all diese Energie und Aktivierung auf irgendeine Art von Krankheit hinauslaufen. Die Hyperaktivität, die damit begann, dass man gleich nach der Geburt Stunden oder Tage lang allein gelassen wurde, die sich mit der Vernachlässigung durch eine kranke oder depressive Mutter fortsetzte und die sich durch einen tyrannischen oder feindseligen Vater verschlimmerte, mag damit enden, dass sie im Alter von fünfundsechzig Jahren einen Schlaganfall und partielle Lähmung verursacht.

Wir haben keine Prägung; wir sind die Prägung. Neurose ist überall und nirgends, auf den ersten Blick unsichtbar und dennoch sehr sichtbar in ihren psychophysiologischen Wirkungen, darin, wie wir uns verhalten, und in unserem Gesundheitszustand. Sie hat so viele verschiedene Gesichter, dass es scheint, als befassten wir uns mit hundert Krankheiten und nicht nur mit einer einzigen. Sie ist so labyrinthisch, dass sie schwierig zu fixieren und zu behandeln ist. Den meisten Ärzten könnte es schwer fallen, die Vorstellung zu akzeptieren, dass eine Herzattacke oder ein Schlaganfall das Ergebnis eines Ereignisses ist, das sechzig oder fünfundsechzig Jahre füher geschah. Aber wenn wir eine kleine Kamera in das Gehirn setzen könnten, wie es ähnlich der Neurologe Wilder Penfield in seiner Untersuchung der Epilepsie machte (siehe Kapitel 14), würden wir die traumatischen Erinnerungen in ursprünglicher Form bewahrt sehen. Vielleicht wäre die Ursache des Schlaganfalls dann kein solches Geheimnis. In der Tat zeigen einige Erwachsene, die Halluzinationen erleben, gesteigerte limbische Aktivität in Gehirnstrukturen wie dem Hippokampus und Thalamus, wo Kindheitsgefühle gespeichert werden, ebenso wie dem Kortex, wohin alte Feelings aufsteigen, die dort  entweder interpretiert oder unterdrückt werden. Die Halluzinationen können ein Ableger historischer Einprägungen von vor etwa vierzig Jahren sein und unterscheiden sich nicht von den physischen Symptomen, die sich Jahrzehnte nach dem Ereignis zeigen können.

Neurose mit ihren physischen Manifestationen ist eine lebenslängliche Verurteilung, aus der es nur ein Entrinnen gibt: Bewusstsein. Dieser Weg ist jedoch so gut verborgen, dass er sich dem Blick zahlloser professioneller Augen entzogen hat. Wir sind historische Geschöpfe, und jede Therapie, die diese Geschichte übersieht, ist zum Scheitern verurteilt. Ohne die Geschichte kann man nur „Hilfe“ anbieten, was keine schlechte Sache ist, aber mit der Geschichte kann man mehr anbieten – Heilung.

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Die Tür zu unserer Neurose öffnet sich

  Kehren wir zu dem Beispiel der Amöbe in der Einleitung zurück. Dieser mikroskopische, einzellige Organismus ist ziemlich primitiv, aber sein Verhalten kann uns viel über menschliche Neurose sagen, weil er in evolutionärem Sinn der Prototyp für uns selbst ist. Wie die Amöbe mit dem fremden Eindringen von Partikeln aus chinesischer Tusche fertig wird, ist ein Paradigma dafür, wie wir mit einem Trauma fertig werden. In beiden Fällen veranlasst ein Stressor den Organismus, seine Abwehr zu konzentrieren und seine normalen Funktionen zu ändern. Die Amöbe sondert die chinesische Tusche in Vakuole ab; wir verdrängen schädliche Informationen und verwahren sie im Gehirn in einer Reihe von Strukturen, die als limbisches System bekannt sind. Wir überleben trotz unserer unerfüllten Bedürfnisse; vielleicht wäre Überleben ein besserer Begriff für unser Verhalten als Neurose.

Neue Informationen zeigen, wie ähnlich die Funktion unserer Zellen der der Amöbe ist. Laut der Ausgabe der Science News vom 29. April 1994 gibt es Höhlen oder Caveolae in menschlichen Zellen; das sind tatsächlich Höhlen innerhalb von Zellkörpern, die schädliches oder noxisches Material speichern. Diese Caveolae können sich öffnen, Moleküle von außen aufnehmen uns sich dann verschließen, sehr ähnlich wie die Amöbe. Es ist möglich, in diesen Höhlen nach historischen Inhalten zu graben, ähnlich wie es bei den uralten Höhlenzeichnungen geschah, die in Frankreich gefunden wurden. Zum Beispiel fand man bei Diabetikern, dass die Anhäufung von Substanzen, die anhaltend dem Blutzucker ausgesetzt sind und dadurch verändert werden, die Nieren und andere Organe schädigen könnte. Die schädlichen Substanzen können innerhalb der Caveolae aufbewahrt werden. Schließlich können sie von den Caveolae freigesetzt werden. Wenn meine Patienten wiedererleben, wie sie bei der Geburt mit Äther narkotisiert wurden, und wieder Äther riechen, sollte das vielleicht nicht zurückgewiesen werden.

Wir retten uns selbst, indem wir widrige Umstände wie Anoxie, Verlassenheit und andere Arten von Trauma verinnerlichen, d.h., sie in unser Gehirn und unsere Physiologie eingravieren. Verdrängung bewahrt unsere Kindheitstraumen wie eine Fliege im Bernstein: die Hoffnungslosigkeit eines kleinen Kindes, das erkennt, dass seine Eltern es nicht genug lieben können; die Hilflosigkeit eines kleinen Mädchens, das in ein Pflegeheim geschickt wird, wo es körperlich und emotional misshandelt wird; die Verzweiflung eines Kindes, dessen psychisch kranker Vater niemals ein fürsorglicher, liebevoller

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Mensch sein kann; die Traurigkeit eines Kindes, dessen Mutter untätig daneben steht, während der Vater das Kind kritisiert und schlägt. Dieses Kind wächst auf und nimmt Tranquilizer oder Antidepressiva, um wettzumachen, was seine Eltern ihm nicht gegeben haben: Tag für Tag 20 Milligramm Prozac oder 10 Milligramm Xanax erfüllen den Zweck, den Umarmungen erfüllt haben sollten. Was dieser Person erlaubt, wieder lebendig zu werden, ist das Wiedererfahren des ignorierten frühen Bedürfnisses.  Den Mangel zu fühlen macht uns wieder ganz, weil der Mangel überall im System ist.

Die gegenwärtige Realität hat keine Chance gegen alte unerfüllte Bedürfnisse. Auch wenn wir im Erwachsenenalter geliebt und bewundert werden, hungern wir noch immer nach der Liebe, die wir in unserer Kindheit nicht bekamen. Selbst wenn wir in der Gegenwart einen Haufen Lob erhalten, tendieren wir dazu, uns auf diese eine leichte Kritik zu konzentrieren, weil sie mit einer Vergangenheit resoniert, die allzu kritisch war. Im Gehirn ist „damals“ identisch mit „jetzt“. Es gibt nie genug Liebe in der Gegenwart, um die Vergangenheit zu verändern, niemals genug Lob, um ein ganzes Leben umzukehren, in dem man gescholten oder abgelehnt wurde. Marylin Monroe könnte dafür als Bestätigung gelten. Sie wurde von Präsidenten, berühmten Schriftstellern und Baseballstars geliebt, von Millionen Fans angebetet und fühlte sich dennoch ungeliebt. Leider reichte kein noch so großes Maß an Bestätigung aus, um sie vor Drogen und Alkohol zu bewahren, die sie einnahm, um ihren Schmerz unten zu halten. Ihr sehr früher Schmerz verschlimmerte sich  durch Vernachlässigung in der Kindheit auf grausame Weise. Wenn ihre Geschichte wirklich Inzest beinhaltet, was angedeutet wurde, muss die vereinte Kraft des Schmerzes erschütternd gewesen sein. Letztlich bedeutet der Applaus von Tausenden keine wirkliche Liebe; es ist ein Symbol der Liebe. Wirkliche Liebe bedeutet Umarmungen und Küsse, Verantwortung, Fürsorge, Schutz, Stabilität und da zu sein, wenn jemand ein Bedürfnis hat.

Jeder Neurotiker hat ein geheimes Leben, weil jeder Neurotiker geheime Gefühle hat. Aber Neurose enthält den Schlüssel zu ihrer eigenen Aufhebung. Unser neurotisches oder „krankes“ Verhalten und unsere körperlichen Symptome sind tatsächlich Teil des Weges zur Gesundheit. Wenn er sicher ist, befassen wir uns mit unseren Verletzungen und integrieren sie in unser System. Wie bei der Amöbe werden schädliche Elemente für die spätere Freisetzung in der geeigneten Umgebung sicher aufbewahrt. Wenn die Amöbe in klares Wasser gesetzt wird – eine sichere Umgebung – bewegt sich die Vakuole zum Rand der Zellmembran und stößt die Tuschekörnchen ab, wodurch sie die Amöbe wieder in ihren normalen Zustand versetzt. Desgleichen muss der Mensch, um Auflösung zu erreichen und zu normalem Funktionieren zurückzukehren, schädliche Elemente (zum Beispiel Wut) aus dem limbischen Lagerhaus ins Bewusstsein transportieren und schließlich aus dem Körper „abstoßen“. Das kann nur in einer warmen, freundlichen therapeutischen Umgebung geschehen. Unglücklicherweise wird es nicht unter den Umständen geschehen, die man in vielen Drogenbehandlungsprogrammen findet, wo eine Patientin, die über Missbrauch in ihrem frühen Leben weint, vielleicht ihrerseits verbal missbraucht wird; an solchen Orten denkt man, „harte Liebe“ bilde den Charakter. In einer wohlwollenden Umgebung jedoch würde sie ermutigt, der vollen Kraft der Missbrauchs-Erinnerung den Weg ins Bewusstsein zu gestatten und darauf mit dem Weinen und den Entsetzensschreien zu reagieren, die sie damals unterdrücken musste.

In der Primärtherapie öffnen wir die Tür zu unseren gespeicherten historischen Gefühlen. Wir haben einen Weg gefunden, Menschen zu helfen, Bedürfnis und Trauma zu fühlen und mit dem Bewusstsein zu verknüpfen. Wir haben die fürchterliche Gewalt eingeprägter Erinnerung in der Intensität eines Primals gesehen. Ein Wiedererlebnis von Geburtsanoxie oder des Schreckens, den ein tyrannischer Vater erzeugt, zu sehen, ein Wiedererlebnis, das über einen Zeitraum von Monaten oder Jahren Sitzung um Sitzung andauert, bedeutet, die unglaubliche Menge an Energie in uns zu erkennen. Diese Energie muss anderswohin umgeleitet werden. Sie lässt die Entwicklung von Schlaganfällen, kardiovaskulärer Krankheit und anderen Symptomen weniger geheimnisvoll erscheinen und erklärt die bemerkenswerte Beharrlichkeit von Obsessionen und zwanghaftem Verhalten, von Phobien, Depression und Angst.

Die Totalität der Reaktion – die ursprüngliche Umgebung und die Reaktionen darauf, die unterbunden wurden, - müssen zum Vorschein kommen: All die Gerüche und Anblicke, Klänge und Bilder müssen zurückkehren, von denselben Emotionen begleitet. Die Einprägung muss in kleinen Bruchteilen freigesetzt werden, damit der Patient nicht überlastet wird. Mit jedem Stückchen, das hochkommt, erweitert sich das Bewusstsein, bis die gesamte Einprägung bewusst gemacht und seine ganze Energie freigesetzt worden ist. Wie bei der Amöbe beginnt die Heilung, sobald der Missbrauch „abgestoßen“ wird; der Organismus kehrt allmählich zur Normalität zurück. Einmal voll wiedererlebt, kann das Trauma keinen Schaden mehr anrichten. Unsere Geschichte wird schließlich dahin versetzt, wo sie hingehört. Ihrer Kraft beraubt, wird sie einfach zu einer Erinnerung.

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ALIETTA: ERLEICHTERUNG DURCH FÜHLEN

 Heute Nacht ist es, als ob  langsam der Tod über mich käme. Der Tod. Ich war schon immer besessen von ihm. Die Angst davor, im Dunkeln alleine zu sein, ist noch immer da. Ich bin allein, ich bin immer allein gewesen, und ich werde es nie allein schaffen, ich brauche Hilfe. Ich hab’ soviel Angst. Es ist, als würde ich sterben, wenn mir keiner hilft, wenn keiner kommt. Ich bin völlig ruhig, wage nicht, mich zu bewegen, und ich fühle, wie ich langsam und unwiderstehlich von einer gewaltigen Schläfrigkeit übermannt werde. Ein Teil von mir wird total panisch. Aber ich bewege mich nicht. Mein Körper verweigert die kleinste Bewegung. Ich versuche, tief Luft zu holen, und finde heraus, dass ich nicht atmen kann. Die Panik wächst und mit ihr mein Bedürfnis zu atmen. Als ich versuche, meinen Mund zu öffnen, spüre ich, wie er sich zu einem stummen Schrei verzerrt. Ich ersticke und würge, bis ich mich selbst in ein schwarzes Loch fallen sehe. „Wo bist du, Mama? Du musst mir helfen. Ich sterbe.“ Ich habe keine Ahnung, wie lange ich in diesem narkoleptischen Zustand verbrachte. Es schien wie eine Ewigkeit.

Plötzlich verspüre ich irgendwo aus meinem tiefen Inneren ein überwältigendes Verlangen nach Bewegung, auch eine Angst davor, und das Bedürfnis zu schreien, mich aus diesem Tod herauszuschütteln. Etwas in mir weigert sich zu sterben. Ein Teil von mir ist noch lebendig und wächst. Ich muss all meine Willenskraft aufrufen.  Es ist ein körperliches Bedürfnis. Ich muss mich bewegen, ich muss da raus kommen, ich muss raus.

Als ich mich zwinge, mich zu bewegen, diese unglaublich mächtige Lethargie abzuschütteln, stoße ich einen unmenschlichen Schrei aus, und mein Körper beginnt, sich ziellos zu bewegen. Ich fange an zu treten, mein Rücken krümmt sich gewaltsam, alles tut weh, als mein Körper sich spannt und mich stoßen und kriechen lässt in absonderlichen Bewegungen, die ich nicht verstehe und über die ich überhaupt keine Kontrolle habe. Ich muss es einfach tun mit all meiner Kraft. Es ist extrem schwer, aber ich muss es tun. Ich stoße, würge, krümme mich weiterhin. Ich kann nicht atmen, ich sterbe schon wieder. Wieder falle ich in den komaähnlichen Zustand und wieder holt mich diese kleine Flamme da raus. Als ich stoße und zu atmen versuche, spüre ich plötzlich, dass ich es schaffe. Ich kann atmen; ich öffne meine Augen. Ganz tief aus meinem Inneren bricht pötzlich eine Explosion von unglaublicher Intensität über mich herein und wandelt sich zu einem unerwarteten Entzücken. Ich hab’s geschafft. Ich hab’s geschafft. Ich lebe. Und plötzlich ein Aufblitzen. Ich bin geboren!

Ich erinnere mich an die Freude, die ich fühlte. Sie war gewaltig. Ich lachte. Ich spürte das Blut schnell durch meinen Körper strömen.  Alles in mir wollte sich bewegen, dehnen, springen und die unglaubliche Freude ausdrücken, die ich jetzt fühlte. Ich wurde zu purer Ekstase, die Ekstase, einfach am Leben zu sein. Ich war alleine in meinem dunklen Zimmer und lachte, und ich erkannte, dass ich nie zuvor so etwas gefühlt hatte. Fühlte sich lebendig zu sein so an? Wie phänomenal.  Ich hatte nur Schmerz gefühlt, niemals

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Freude, aber jetzt war sie da, und ich wollte mehr davon. Eine neue Hingabe an das Leben begann. Es war fantastisch. Ich war erschöpft, und dennoch wollte ich auf und ab springen, die Bewegungen meines Körpers spüren und tanzen. Ich war endlich geboren. Die Einsichten begannen aus mir herauszuströmen. Ja, die Geburt, unverkennbar war sie es.

Die Agonie des Todes, der Kampf, geboren zu werden, und schließlich ganz aus eigener Kraft und ohne Hilfe auf diese Welt zu kommen, nur aufgrund meiner Entschlossenheit, nicht zu sterben. Dieselbe Entschlossenheit hat mich in den schlimmsten Situationen am Leben gehalten und ließ mich ständig nach etwas suchen, das mich retten würde. Es führte mich zur Therapie, und hier bin wiederum allein ich es, die es zustandebringen und sich selbst retten kann. Ich weiß jetzt, dass ich es schaffen werde. Ich musste den Leib meiner Mutter verlassen, in dem ich als Gefangene gehalten wurde und über zu lange Zeit langsam erstickte. Ich musste der Kontrolle ihres Körpers entkommen. Ich musste mein Zuhause verlassen, weil ich die permanente Kontrolle nicht mehr aushalten konnte, der ich ausgeliefert war, die Rigidität einer katholisch-bourgeoisen Erziehung. Ich musste das tun können, was ich wollte, weil ich andernfalls sterben würde. Und das Kind, das ich war, starb tatsächlich langsam in all den Jahren der Verdrängung und mangelnder Liebe.  Aber jetzt werde ich sie zurückbekommen, und Alietta wird wieder leben.

Später fragte ich meine Mutter, was bei meiner Geburt geschehen war. Zuerst erinnerte sie sich nicht, dann gab sie die Tatsache zu, dass man ihr zu ihrer Entspannung Medikamente geben musste, weil ich nicht herauskommen konnte.

 

Das Unbewusste bewusst machen

Um gesund zu werden, müssen wir zuerst feststellen, was uns krank macht. Der Neurotiker schleppt eine unglaubliche Last verdrängter Gefühle mit sich herum. Die Person ist sich dieses Gefängnisses aus Schmerz unbewusst, dennoch steuert er jeden wachen Augenblick von ihr. Er schränkt ihre Denkprozesse ein, ihre Wahrnehmungen, Vorstellungskraft und Wahlmöglichkeiten; er dirigiert ihre Träume, Sehnsuchten, Werte und Interessen; er kommt natürlicher sexueller Reaktionsfähigkeit in die Quere und blockiert die Fähigkeit, sich selbst voll als fühlendes menschliches Wesen zu erfahren; und er maskiert sich selbst, indem er in Organe einströmt, die wir dann als fehlfunktionierende Einheiten behandeln, oder indem er in Glaubenssysteme einströmt, die dazu dienen, die Person gegen eben diese  Gefühle zu verteidigen, die diesen Glauben entstehen ließen.

Neurose ist kurz gesagt diabolisch. Wir sind alle Charaktere in einem Eugene O’Neill – Stück, nur sind wir uns der Masken nicht bewusst, die wir tragen.

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Und weil wir uns des Krankseins nicht bewusst sind oder dessen, was uns krank macht, wissen wir nicht, wie wir gesund werden. Schlimmer noch, wir wissen nicht, dass wir gesund werden sollten. Unsere Neurose hat ihre Funktion erfüllt und dafür gesorgt, dass wir uns wohl fühlen. Wir steuern auf eine frühe Herzkrise zu oder auf eine andere katastrophale Krankheit, aber wir machen vergnügt weiter und sind uns der tickenden Bombe in uns nicht bewusst. Diese Bombe ist mit entsetzlichem Schreien und Weinen geladen. Der ganze Lärm steigt ständig an die Oberfläche, hält uns davon ab, uns zu konzentrieren und klar zu denken, also stopfen wir ihn  nach unten zurück. Wenn wir fortfahren, diese Explosionen zu dämpfen, wird sich der Druck aufbauen, und wir werden schließlich bersten.

Um gesund zu werden, müssen wir in eine Zeit zurückkehren, als wir reines Leiden in seiner eigenen Ausdrucksweise erfuhren, ohne irgendwas, das den Schlag gemildert hätte. Die Rückkehr in der persönlichen Zeit erlaubt uns, in die Geschichte der menschlichen Spezies zu spähen. Die Evolution bot uns das Werkzeug der Neurose zum Überleben an, und wenn Patienten in Agonie versinken und sich auf dem Boden winden, unfähig, ihre Arme und Hände zu bewegen, wissen wir, dass die vormenschliche Geschichte noch immer in uns wohnt. In einem Primal, in dem der Patient den Bereich einer Erinnerung berührt hat, die mit Sprache nicht eingefangen werden kann, wird er sich wie ein Salamander drehen und winden, seine Arme und Beine sind nutzlos, er würgt vielleicht und ringt um Luft, aber ohne Worte. Er ist jetzt vollständig im Griff dieses primitiven Gehirns und reagiert, wie es diktiert. In Evolutionszeit ist er mehr als hundert Millionen Jahre entfernt, und die Heilung findet in jenem Gehirn statt und in keinem anderen, weil das das Gehirn ist, welches traumatisiert wurde. Seine Vitalfunktionen und Gehirnwellenmuster, die diesen Zustand begleiten, schnellen systematisch in die Höhe.

Wenn wir das sehen, können wir einige der großen wissenschaftlichen Geheimnisse aller Zeitalter entwirren: Was ist ein Mensch? Was ist Neurose? Warum sind Menschen ängstlich und deprimiert? Was geschah in unserer Kindheit Warum bin ich krank geworden? Wie werde ich gesund? Es war exakt die Suche nach Antworten, die die Forscher von den wahren Lösungen weggeführt hat. Indem wir menschliches Leben minuziös analysiert haben, Menschen Zelle für Zelle auseinandergenommen haben, diese oder jene Blutzelle, dieses oder jenes Hormon gemessen haben, haben wir den gesamten Menschen vernachlässigt und somit vermieden, die einzigartige Qualität unseres Seins herauszufinden, wer wir sind und warum wir so sind. Und durch das

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Philosophieren darüber, was die grundlegende Natur des Menschen sei, sind wir „in unsere Köpfe“ geführt worden, weg von Gefühlen und den Kräften, die die Antworten geliefert hätten, nach denen wir suchen. Neurose kann nicht „ausgeknobelt“ werden; sie muss gefühlt werden. Gefühle haben eine ganz eigene Logik.

Aber weil das Gedächtnis selektiv sein kann - wie wissen wir, dass die wiedererlangte Erinnerung real ist? Oft ist es ganz einfach. Ich biete zwei Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung an. Einer meiner Patienten erlebte wieder, wie ihn seine Mutter, die ihn nach einem festen Zeitplan fütterte, hungern ließ. Sie hielt ihn in ihren Armen, gab ihm aber nicht die Brust. Er war sechs Monate alt. Als Erwachsener hatte er eine Erinnerung, wie er aufsah und ihre Ohrringe erblickte und sich wunderte, warum sie ihn hungern ließ. Als er seine Mutter besuchte und die Ohrringe beschrieb, die sie getragen hatte, war sie verblüfft. Sie hatte diese Ohrringe verloren, als das Kind ein Jahr alt war, und hatte sie nie erwähnt. Dennoch war diese Beschreibung hinsichtlich Farbe und Form exakt. Im zweiten Beispiel erlebte ein anderer Patient seine Geburt. Er war ein Zwilling und erlebte die Schwierigkeiten wieder, nach seiner Schwester herauszukommen. Seine Mutter sagte ihm, das sei unmöglich, da er als erster geboren worden sei. Er schrieb an die Klinik, die ihm die Aufzeichnungen zuschickte, welche bestätigten, dass er als zweiter geboren wurde.

Am Primal Center praktizieren wir eine Methode, die konventionellen Behandlungen diametral entgegengesetzt ist. Wir betrachten Menschen nicht als Sammlung von Symptomen oder Organen oder Zellen, sondern als ganze Organismen. Wir behandeln hohen Blutdruck nicht einfach als ein spezielles und isoliertes Leiden. Wir sehen, wie die Geschichte einer Person möglicherweise dieses Maß an Druck produziert hat. Gewöhnlich stellt sich heraus, dass der Druck im wahrsten Sinne des Wortes existiert. Wir wollen das Leiden nicht durch Medikamente, durch Reden oder Schock seiner Existenz berauben; wir wollen es mit Geduld und Intuition in das reale Gefühl und Trauma überführen, das es ist.

Die Primärtherapie reißt die unsichtbaren Wände der Verdrängung ein und erlaubt den Leuten, zum ersten Mal auf traumatische Aspekte ihrer Kindheit voll zu reagieren. Keine andere Therapie glaubt, das Unbewusste könne oder solle aufgeschlossen werden. Aber es gibt keinen schmerzlosen Weg aus der Neurose. Ein Patient, der in der konventionellen Therapie verspricht, „aufrichtig“ zu seinem Therapeuten zu sein und alle seine „Geheimnisse“ bloßzulegen,

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kann nicht aufrichtig sein, weil er seine Geheimnisse nicht kennt; und viele von ihnen liegen tief in seinen Zellen. Wir wissen das, weil nach der Primärtherapie das elektrische Potenzial bestimmter Muskelzellen vermindert ist. Das bedeutet, dass sich in diesen Muskelzellen Fragmente verborgener Wahrheiten befinden, Wahrheiten, die zum Ausdruck gebracht werden müssen.

Bei Neurose gibt es keine Wahrheit ohne Schmerz. Gewahrsein des Selbst ohne Feeling bedeutet nicht, man selbst zu sein. Es bedeutet einfach, ein objektiver Beobachter eines gespaltenen Selbst zu sein. Die zwei Selbst zusammenzubringen involviert Leiden, weil Leiden sie auseinander gehalten hat. Aktives Leiden ist die erste wichtige Stufe zur Gesundheit. So furchtbar es klingen mag, unsere Patienten können es kaum erwarten, zu den Sitzungen zu kommen und zu fühlen. Jede Sitzung ist ein weiteres Teilstück der Verletzung, das aus dem System herauskommt und nicht mehr gefühlt werden muss. Nichts tut so gut, als von dieser Last entbunden zu werden.

Man muss sich vor dem Unbewussten nicht fürchten. Darin liegt nur Ihr Selbst -  das bestürzte, verlorene Kind; das traurige, unschuldige Kind; das zornige, aufgebrachte Kind. Wenn wir Patienten in die Tiefen ihres Unbewussten führen, müssen wir auch  die Mysterien ins Auge fassen, die ehemals in der psychiatrischen Literatur beschrieben wurden. Es ist kein Gewölbe Dantescher Phantasmagorie. Es gibt keine Dämonen aus dem achtzehnten Jahrhundert, kein Es oder Schattenkräfte à la Freud, kein mystisches Bewusstsein, nach dem man streben müsste, nichts, das einen transzendentalen Prozess einbezieht. Was wir finden, ist schlicht unser trauriges, verschrecktes kleines Selbst.

 

ALIETTA: FÜNFZEHN JAHRE SPÄTER

Die Einsichten sind tiefer geworden und vollständiger. Nach so langer Zeit bin ich immer noch erstaunt über die Kraft eines Primals. Hin und wieder habe ich noch eines, aber der Schmerz hat sich endlich gelegt. Ich muss dieses Erlebnis nicht so oft fühlen. Nur wenn das Leben alten unerledigten Schmerz hochbringt, muss ich es fühlen. Es ist jetzt sehr selten. Fühlen bringt immer Klarheit und Vereinfachung, und ich kann mich jetzt mit der Realität und der Gegenwart befassen und nicht mehr mit der Vergangenheit.

Mein Leben ist jetzt sehr in Ordnung. Ich bin nicht mehr der Sohn meines Vaters. Ich bin keine knallharte Geschäftsfrau mehr. Ich bin nicht hinter dem Erfolg her, sondern nur hinter der Erfüllung für mein reales Selbst. Mein reales Selbst hat jetzt das Kommando übernommen; mein Leben ist viel einfacher. Ich habe endlich Liebe gefunden, und ich bin fähig zu lieben

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und geliebt zu werden. Ich bin jetzt Künstlerin. Das sollte ich von Anfang an gewesen sein, denn es gibt mir große Genugtuung und Frieden. Es ist mein reales Ich. Ich schlafe gut (ich litt immer an Schlaflosigkeit), ich esse besser, ich trinke nicht, ich bin nicht mehr abhängig von Aufputschmitteln. Ich bin allgemein viel gesünder. Ich hatte immer Infektionen und Blutungen und oft stimmte etwas nicht mit mir. Mein Augenlicht verschlechterte sich rapide. Nachdem ich in der Therapie war, lebte ich zwei Wochen ohne meine Gläser, bevor mir auffiel, dass ich sie verloren hatte.

Nun sind die Jahre vergangen und das Alter hat mich eingeholt. Ich bin viel sanfter, umgänglicher und viel offener und wärmer. Ich gehe sogar zu Partys, obwohl ich es noch immer nicht sonderlich mag. Aber es ist nicht die quälende Erfahrung, die es gewöhnlich war, und oft genieße ich es durch und durch. Es ist leichter, mit Leuten zusammen zu sein. Ich laufe nicht weg oder packe meine Koffer. Stattdessen bleibe ich und fühle die Gefühle. Ich mag es, Musik zu hören und Blumen zu züchten. Ich erfreue mich größerer Stabilität.

Mein Sexleben ist normal. Jahrelang musste ich Geburtsprimals haben, bevor ich einen Orgasmus erleben konnte, weil mein Körper durch den Geburtsschmerz so verschlossen war, dass der Schmerz immer dem Vergnügen vorausging. Ich bin entspannter, weil so viel Spannung mich für immer verlassen hat. Meine Träume sind nicht mehr symbolisch. Wenn sie schmerzvoll sind, muss ich nur zu dem Feeling zurückgehen, das in ihnen enthalten ist, und mich mit ihm befassen.

Ich fühle, dass ich von der Primärtherapie das bekam, was ich erwartete, und noch mehr. Was du hier bekommst, ist nicht einfach Therapie: Es ist das Geschenk des Lebens. Ich weiß, wer ich bin und was ich bin. Ich bin mir kein Geheimnis mehr. Tatsächlich bin ich nicht sicher, ob ich noch ein Unbewusstes habe. Soviel ist aufgetaucht und bewusst geworden. Es ist eine große Erleichterung. Mein Leben ist in Ordnung. All diese Jahre voller Schmerz haben sich bezahlt gemacht. Ich bin endlich glücklich.

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DIE GEBURT DER NEUROSE

 

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Hinweis d. Übersetzers:  Dieses Kapitel 3 ist über längere Strecken mit Kapitel 2, Neurose, in Janovs Buch Der Urschrei identisch. In den identischen Passagen habe ich die Übersetzung von Margaret Carroux weitgehend wortwörtlich übernommen.

Wir sind alle Bedürfnisgeschöpfe. Diese Bedürfnisse sind nicht unmäßig – gefüttert zu werden, es warm und trocken zu haben, in dem uns angemessenen Rhythmus zu wachsen und uns zu entwickeln, im Arm gehalten und geherzt und angeregt zu werden. Diese primären Bedürfnisse sind die zentrale Realität des Säuglings. Der neurotische Prozess beginnt, wenn diese Bedürfnisse eine Zeit lang nicht befriedigt werden.

Ein Neugeborenes weiß nicht, dass es aufgenommen werden sollte, oder dass es nicht zu früh entwöhnt werden dürfte, aber wenn seine Bedürfnisse unbeachtet bleiben, dann leidet es. Zuerst wird der Säugling alles in seinen Kräften Stehende tun, um Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erlangen. Er wird schreien, mit den Beinen strampeln und um sich schlagen, damit seine Bedürfnisse erkannt werden. Wenn seine Bedürfnisse nicht befriedigt werden, wird er entweder dauernden Schmerz erleiden, bis seine Eltern ihn befriedigen, oder er wird den Schmerz abstellen, indem er sein Bedürfnis abstellt. Wenn sein Schmerz stark genug ist, mag der Tod eintreten, wie Untersuchungen von Heimkindern gezeigt haben.

Da der Säugling das Hungergefühl weder selbst zu beseitigen vermag (das heißt, er kann nicht zum Kühlschrank gehen), noch einen Ersatz dafür finden kann, muss er seine Gefühle (Hunger oder den Wunsch, in den Arm genommen zu werden) vom Bewusstsein abtrennen. Dieses Abtrennen der eigenen Bedürfnisse und Gefühle ist ein instinktiver Schachzug, um übermäßigen Schmerz abzustellen. Wir nennen es Spaltung. Der Organismus spaltet sich, um

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seine Kontinuität zu schützen. Indes bedeutet das nicht, dass unbefriedigte Bedürfnisse verschwinden. Im Gegenteil, sie dauern ein Leben lang an und üben eine beständige Kraft aus, die auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse hinwirkt. Aber weil die Bedürfnisse im Bewusstsein unterdrückt worden sind, muss das Individuum nach Ersatzbefriedigung trachten. Da er sich nicht artikulieren durfte, mag er vielleicht im späteren Leben versuchen, andere dazu zu bringen, ihm zuzuhören und ihn zu verstehen.

Unbefriedigte Bedürfnisse sind nicht nur vom Bewusstsein getrennt, sondern das Gefühl für sie verlagert sich auch auf Bereiche, in denen stärkere Kontrolle oder Erleichterung geboten werden. So können Gefühle durch Urinieren (später durch Sex) erleichtert oder durch die Unterdrückung tiefen Atmens kontrolliert werden. Ein Säugling, der zu früh von der Brust entwöhnt wurde, lernt, seine Bedürfnisse zu tarnen und in symbolische Bedürfnisse zu verwandeln. Als Erwachsener wird er vielleicht nicht das Bedürfnis verspüren, an der Brust seiner Mutter zu saugen, aber er mag Kettenraucher sein. Sein Rauchbedürfnis ist ein symbolisches Bedürfnis.

Symbolische Befriedigung kann jedoch reale Bedürfnisse nicht erfüllen. Damit reale Bedürfnisse befriedigt werden, müssen sie empfunden und erlebt werden. Unglücklicherweise hat der Schmerz bewirkt, dass diese Bedürfnisse verschüttet werden, und Neurose nimmt ihren Platz ein. Was ist der Unterschied zwischen realen und neurotischen Bedürfnissen? Reale Bedürfnisse sind natürliche Bedürfnisse: zum Beispiel zu wachsen und sich im angemessenen Rhythmus zu entwickeln. Das bedeutet, als Kind nicht zu früh entwöhnt zu werden; nicht zu früh zum Laufen oder Sprechen gezwungen zu werden; nicht einen Ball auffangen zu müssen, bevor das Nervensystem es mit Leichtigkeit vermag. Neurotische Bedürfnisse sind unnatürliche Bedürfnisse – sie entstehen aus der Nichtbefriedigung realer Bedürfnisse. Wir kommen nicht auf die Welt, um Lob zu hören, aber wenn die realen Anstrengungen eines Kindes schlechtgemacht werden, wenn es das Gefühl bekommt, dass nichts, was es tut, gut genug ist, dann kann es sein, dass sich bei ihm ein heftiges Verlangen nach Lob entwickelt. Ebenso kann das Bedürfnis, sich als Kind zu artikulieren, unterdrückt werden, und eine solche Verleugnung kann sich beim Erwachsenen in ein Bedürfnis verwandeln, ununterbrochen zu reden.

Ein geliebtes Kind ist eines, dessen natürliche Bedürfnisse befriedigt werden. Liebe stillt seinen Schmerz. Ein ungeliebtes Kind ist eines, das leidet, weil es unbefriedigt ist. Ein geliebtes Kind hat kein Bedürfnis nach Lob, weil es nicht schlecht gemacht worden ist. Es wird danach bewertet, was es

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ist, nicht danach, was es tun kann, um die Bedürfnisse seiner Eltern zu befriedigen. Ein geliebtes Kind wird, wenn es erwachsen ist, kein unersättliches Verlangen nach Sex haben. Es ist von seinen Eltern im Arm gehalten und gestreichelt worden und braucht keinen Sex, um dieses frühe Bedürfnis zu befriedigen. Reale Bedürfnisse strömen von innen nach außen, nicht umgekehrt. Das Bedürfnis, im Arm gehalten und geherzt zu werden, ist ein Teil des Bedürfnisses, stimuliert zu werden. Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan und braucht mindestens so viel Stimulierung wie andere Sinnesorgane. Verhängnisvolle Folgen können eintreten, wenn die Stimulierung in den ersten Lebensjahren unzureichend ist. Ohne Stimulierung können Organsysteme verkümmern; umgekehrt können sie sich bei richtiger Stimulierung entwickeln und wachsen. Eine konstante geistige und physische Stimulierung ist notwendig.

Unbefriedigte Bedürfnisse verdrängen jede andere Aktivität des Menschen, bis sie befriedigt werden. Wenn die Bedürfnisse befriedigt sind, kann das Kind fühlen. Es kann seinen Körper und seine Umwelt erleben. Werden die Bedürfnisse nicht befriedigt, erlebt das Kind nur Spannung, die ein vom Bewusstsein abgetrenntes Fühlen ist. Ohne diese Verknüpfung fühlt der Neurotiker nichts.

Die Neurose beginnt nicht in dem Augenblick, in dem ein Kind sein erstes Fühlen unterdrückt, doch könnte man sagen, dass dann der neurotische Prozess beginnt. Das Kind verschließt sich stufenweise. Jede Unterdrückung und Verleugnung eines Bedürfnisses verändert das Kind ein wenig mehr. Aber eines Tages kommt es zu einem kritischen Wechsel, der das Kind grundlegend verändert. Von diesem Zeitpunkt an funktioniert es auf der Basis eines zweigeteilten Selbst: das irreale und das reale Selbst. Das reale Selbst sind die realen Bedürfnisse und Gefühle des Organismus. Das irreale Selbst ist der Deckmantel dieser Gefühle und wird zu der Fassade, die neurotische Eltern brauchen, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Elternteil, der das Gefühl braucht, respektiert zu werden, weil er von seinen Eltern ständig gedemütigt wurde, wird vielleicht unterwürfige und respektvolle Kinder verlangen, die ihm keine frechen Antworten geben oder nie Nein sagen. Eine kindliche Mutter wird vielleicht verlangen, dass ihr Kind zu schnell groß wird, alle Hausarbeiten übernimmt und in Wirklichkeit schon erwachsen ist, ehe es dazu bereit ist, damit die Mutter weiterhin das umsorgte Kind sein kann.

Das elterliche Bedürfnis wird zu einem impliziten Befehl für das Kind. Das Kind beginnt fast vom ersten Lebensmoment an, darum zu kämpfen, seine Eltern zufrieden zu stellen. Vielleicht wird es dazu angetrieben, zu lächeln, zu gurren,

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Winke-Winke zu machen, später dann sich aufzusetzen und zu laufen, und noch später sich mächtig anzustrengen, damit seine Eltern ein Kind haben, das anderen voraus ist. Im weiteren Verlauf seiner Entwicklung werden die Anforderungen an das Kind komplexer. Es muss gute Noten nach Hause bringen, hilfsbereit sein und Hausarbeiten erledigen, ruhig und bescheiden sein, kluge Dinge sagen und sportlich sein. Nur wird es nicht es selbst sein. Die tausenderlei Vorgänge, die sich zwischen Eltern und Kindern abspielen und die die natürlichen primären Bedürfnisse des Kindes verleugnen, bedeuten, dass das Kind leiden wird. Es kann nicht sein, was es ist, weil es dann nicht geliebt wird. Diese tiefen Verletzungen, diese Urschmerzen werden durch das Bewusstsein verdrängt oder verleugnet. Sie tun weh, weil sie nicht zum Ausdruck kommen oder befriedigt werden dürfen.

Jedesmal, wenn ein Kind nicht in den Arm genommen wird, obwohl es das Bedürfnis hat, jedesmal wenn ihm der Mund verboten, es ausgelacht, nicht beachtet oder überfordert wird, wird sein Fundus an Verletzungen gewichtiger. Diesen Fundus nenne ich den Urfundus. Eines Tages wird dann ein Ereignis eintreten, das zwar an sich nicht notwendigerweise traumatisch ist – etwa wenn das Kind zum hundertsten Mal einem Babysitter überlassen wird -, das aber dennoch das Gleichgewicht zwischen real und irreal verschiebt und das zustande bringt, was wir früher als Spaltung definierten. Dieses Ereignis nenne ich die große Primärszene. Es ist die Zeit im Leben des kleinen Kindes, wenn es erkennen muss: „Es besteht keine Hoffnung, dass ich um dessentwillen, was ich bin, geliebt werde.“ Die Erkenntnis geschieht nicht bewusst. Vielmehr beginnt das Kind, sich so zu verhalten, wie es die Eltern erwarten. Es spricht ihre Worte und tut, was sie tun. Es agiert irreal, d. h. nicht in Übereinstimmung mit der Realität seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Binnen kurzem wird das neurotische Verhalten automatisch.

Je mehr Angriffen der Eltern das Kind ausgesetzt ist, umso tiefer wird die Spaltung zwischen real und irreal. Es beginnt, auf vorgeschriebene Weise zu sprechen und sich zu bewegen, einen Körper nicht in verbotenen Zonen zu berühren (buchstäblich nicht sich selbst zu fühlen), nicht ausgelassen oder traurig zu sein, uns so weiter. Die Spaltung jedoch ist in einem zerbrechlichen Kind zwingend erforderlich. Es ist die reflexive (d. h. automatische) Art und Weise, wie der Organismus seine Gesundheit wahrt. Somit ist Neurose die Verteidigung des Organismus gegen eine katastrophale Realität, um seine eigene Entwicklung und psychophysische Integrität zu schützen.

Neurose beinhaltet, das zu sein, was man nicht ist, um zu bekommen, was nicht existiert. Würde Liebe existieren, wäre das Kind, was es ist, denn

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das ist Liebe – jemanden sein lassen, was er ist. Es muss also nichts mordsmäßig Traumatisches geschehen, um Neurose zu erzeugen. Sie kann daher rühren, dass ein Kind gezwungen wird, jeden Satz mit „bitte“ und „danke“ zu beenden, um zu beweisen, wie kultiviert die Eltern sind. Sie kann auch daher kommen, dass dem Kind nicht erlaubt wird, sich zu beklagen oder zu weinen, wenn es unglücklich ist. Vielleicht schicken sich Eltern aufgrund ihrer eigenen Angst an, ein Schluchzen rasch zu unterdrücken. Vielleicht lassen sie Wut nicht zu - „Brave Mädchen haben keine schlechten Launen; nette Jungen widersprechen nicht „- um sich zu beweisen, wie sehr die Eltern respektiert werden. Das Kind kapiert sehr schnell, was von ihm verlangt wird. Eine Rolle zu spielen oder etwas anderes. Es ist die Hoffnungslosigkeit, jemals geliebt zu werden, die die Spalting verursacht. Das Kind muss die Erkenntnis verleugnen, dass seine eigenen Bedürfnisse niemals erfüllt werden, gleich was es tut. Es entwickelt dann Ersatzbedürfnisse, die neurotisch sind.

Nehmen wir das Beispiel eines Kindes, das von seinen Eltern ständig verunglimpft wird. Im Klassenzimmer schwatzt er vielleicht unablässig (und riskiert, dass ihn der Lehrer schwer bestraft); auf dem Schulhof prahlt er vielleicht pausenlos (und vergrault die anderen Kinder). Als Erwachsener kann er lautstark etwas ersehnen und verlangen, das (für den Betrachter) so offensichtlich symbolisch ist, wie „der beste Tisch des Hauses“ in einem teuren Restaurant. Aber diesen Tisch zu bekommen kann das „Bedürfnis“, sich wichtig zu fühlen, nicht ungeschehen machen. Warum sollte sich sonst diese Vorstellung jedesmal wiederholen, wenn er zum Essen ausgeht? Abgespalten von dem authentischen, unbewussten Bedürfnis, als wertvolles menschliches Wesen anerkannt zu werden, leitet er die „Bedeutung“ seiner Existenz davon ab, dass er in schicken Restaurants anerkannt und bewirtet wird.

Kinder werden also mit realen biologischen Bedürfnissen geboren, von denen einige aus dem einen oder anderen Grund nicht von den Eltern befridigt werden. Es kann sein, dass einige Mütter und Väter die Bedürfnisse ihres Kindes einfach nicht erkennen; oder aus dem Wunsch heraus, keine Fehler zu machen, dem Ratschlag einer erhabenen Autorität in der Kindererziehung folgen und ihr Kind nach einem Zeitplan füttern, um den sie eine Flugverkehrsgesellschaft beneiden würde, es nach einem Flussdiagramm entwöhnen und es möglichst bald auf den Topf setzen.

Nichtsdestotrotz glaube ich nicht, dass Ignoranz oder methodologischer Eifer für die Neurosen – Rekordernte verantwortlich ist, die unsere

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Spezies seit dem Anbeginn der Geschichte eingefahren hat. Der Hauptgrund, dass Kinder neurotisch werden, liegt nach meinen Erkenntnissen darin, dass ihre Eltern zu sehr mit ihren eigenen unerfüllten Kindheitsbedürfnissen beschäftigt sind. So kann eine Frau paradoxerweise schwanger werden, um wieder wie ein kleines Kind umsorgt zu werden – wonach sie sich tatsächlich ihr ganzes Leben lang gesehnt hatte. Schwanger zu sein dient ihrem Bedürfnis und hat nichts damit zu tun, der Gesellschaft ein gesundes menschliches Wesen hinzuzufügen. So lange sie im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, ist sie relativ glücklich. Ist sie jedoch erst von ihrem Kind entbunden, kann sie in eine akute Depression verfallen. Sie kann es dem Kind verübeln, dass es sie der Aufmerksamkeit beraubt hat, die sie während der Schwangerschaft genossen hat. Weil sie für die Mutterschaft nicht bereit ist, kann ihre Milch vertrocknen und ihr Neugeborenes mit demselben Haufen früher Deprivationen zurücklassen, den sie selbst vielleicht erlitten hatte. Auf diese Weise finden sich in einem nie endenden Kreislauf die Sünden der Eltern in den Kindern wieder.

Ich bezeichne die Anstrengungen des Kindes, den Eltern zu gefallen, als Kampf. Der Kampf beginnt bei den Eltern und weitet sich dann über die Familie aus, da das Individuum seine versagten Bedürfnisse überall mit sich herumträgt, und diese Bedürfnisse müssen ausagiert werden. Es wird sich nach Ersatzeltern umsehen, mit denen es sein neurotisches Drama aufführt, oder es wird nahezu jeden, einschließlich seiner Kinder, zu elterlichen Figuren machen, die seine Bedürfnisse erfüllen sollen. Wenn ein Vater verbal unterdrückt war und ihm nie erlaubt war, viel zu sagen, müssen seine Kinder gute Zuhörer sein. Die wiederum werden ein verdrängtes Bedürfnis nach jemandem haben, der sie anhört, weil sie soviel zuhören mussten; dieser Jemand kann sehr wohl ihr eigenes Kind sein.

Der Schauplatz des Kampfes wechselt vom realen zum neurotischen Bedürfnis, vom Körper zum Geist, weil geistig-psychische Bedürfnisse in Erscheinung treten, wenn basale Bedürfnisse verleugnet werden. Aber geistig-psychische Bedürfnisse sind keine realen Bedürfnisse. Es sind neurotische Bedürfnisse, weil sie nicht den realen Erfordernissen des Organismus dienen. Die Faszination, wenn wir unseren Namen in Leuchtschrift oder auf gedruckten Seiten sehen, ist nur eine Indikation für die tiefe Entsagung individueller Anerkennung bei vielen von uns. Solche Errungenschaften dienen als symbolisches Streben nach elterlicher Liebe. Der Kampf besteht dann darin, ein Publikum zu erfreuen. Was der Neurotiker macht, ist, neue Etiketten (das Bedürfnis,

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sich wichtig zu fühlen) auf alte unbefriedigte Bedürfnisse (geliebt und geschätzt zu werden) zu kleben. Mit der Zeit mag er glauben, dass diese Etiketten reale Gefühle seien und dass das Trachten danach notwendig sei.

Es ist der Kampf, der ein Kind davon abhält, seine Hoffnungslosigkeit zu fühlen. Er manifestiert sich in übermäßiger Arbeit, im Schuften für hohe Dienstgrade, im Bestreben, der Macher zu sein. Der Kampf ist die Hoffnung des Neurotikers, geliebt zu werden. Anstatt er selbst zu sein, kämpft er darum, eine andere Version seiner selbst zu sein. Früher oder später kommt das Kind zu der Überzeugung, dass diese Version sein reales Ich sei. Der „Akt“ ist nicht mehr freiwillig und bewusst; er ist automatisch und unbewusst. Er ist neurotisch.

Einige Eltern fügen ihren Kindern unabsichtlich irreparablen Schaden zu. Andere Formen von Deprivation, wie Inzest, Trennung der Eltern, verlassen zu werden, zu Pflegeeltern geschickt zu werden oder zu mitzuerleben, wie ein Elternteil bei einem Autounfall ums Leben kommt, können unvermittelt auftreten und äußerst qualvoll sein. Andere Verletzungen können weniger dramatisch, aber potentiell genau so schmerzhaft sein. Es ist zum Beispiel nicht unbedingt schädlich, wenn Sie Ihr Kind einmal allein lassen, aber der Schaden besteht, wenn Sie Ihr Kind dazu bringen, dass es sich die gesamte Kindheit hindurch alleine fühlt.

Gleichgültig, ob Entbehrungen plötzlich oder nach und nach eintreten- es sind Traumen, die zu verstehen oder zu erklären Kinder nicht ausgerüstet sind. Wenn sie älter werden, wird der spezifische Schmerz – „Ich bin so einsam“ – in amorphes Leiden übersetzt: „Ich fühle mich so schlecht, und ich weiß nicht, warum.“

Was wir allgemein als neurotisch bezeichnen – Nervosität und Ängstlichkeit, Besorgtheit und Furcht, „Mangel an Selbstvertrauen“ und „negative Gedankenmuster“, Obsessionen und Zwänge – sind lediglich die äußerlichen Anzeichen vergrabenen Schmerzes. Wenn der Schmerz sich häuft, baut sich die Verdrängung in ihrer lautlosen Art auf. Wenn wir durch und durch verdrängt sind, verlieren wir den Kontakt mit uns selbst. Unser System findet Wege, den Schmerz zu verdämmen und weiter zu funktionieren, aber der Schmerz ist noch immer da. Liebesmangel in der Kindheit verschwindet nicht einfach, wenn wir aufwachsen. Das verdrängte Trauma bleibt als (Ein)prägung

Wegen der (Ein)prägung führen wir ein Leben, in dem wir uns einsam, ängstlich, leer, halbtot, deprimiert fühlen, verzweifelt versuchen,

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Liebe zu finden, aber nicht wissen, wie wir das anstellen sollen, und eine Spur unbefriedigender Beziehungen hinterlassen, während wir uns fragen, was das Ganze zu bedeuten hat. Unterdessen zerrüttet die Einprägung von ihrem verborgenen Ort aus mit der Zeit kontinuierlich unsere Physiologie, verursacht vielleicht Erkältungen und Allergien, wenn wir jung sind,  zermürbt uns körperlich, macht uns anfällig für chronische Krankheiten und schwächt unsere Immunfunktion. An einem bestimmten Punkt kann die tiefe gegen Urschmerz gerichtete Verdrängung sogar ernsthaftere immunologische Störungen und Krebs verursachen.

Die Kraft der Verdrängung ist teuflisch, weil man sie nicht sehen, schmecken, fühlen oder ertasten kann. Deshalb ist sie so schwer zu akzeptieren. Die einzige Möglichkeit, wie wir die Wirkung der Verdrängung sehen können, bietet sich durch die Primärtherapie, wenn Patienten den frühen Mangel an Liebe wiedererleben. Wir erkennen dann, wie fehlende Berührung und Fürsorge eine Erinnerung erzeugt, die niemals verschwindet. Wenn durch die Primärtherapie Symptome beseitigt werden, wissen wir sicher, dass verdrängte frühe Gefühle in der Kindheit und spätere Symptome im Erwachsenenalter miteinander in Beziehung stehen.

Viele Leute, einschließlich prominenter Persönlichkeiten in der Psychologie, bezweifeln die Theorie, dass unser Körper sich an Ereignisse erinnert, deren wir uns nicht bewusst sind. Darum geht es in der Kontroverse über das „Syndrom der verdrängten Erinnerung“. Wie ist es möglich, dass eine Frau, die zwanzig oder dreißig oder vierzig Jahre alt ist, sich plötzlich erinnert, dass ihr Vater sie sexuell belästigte, als sie ein kleines Kind war? Wie könnte sie so ein traumatisches Ereignis vergessen haben? Wenn sie sich so viele Jahre nicht daran erinnert hat, ist es dann nicht wahrscheinlicher, dass es nie geschah? Könnte sie nicht Gründe erfinden, um ihre ständige Unglücklichkeit zu erklären? Vielleicht glaubt sie den „Suggestionen“ ihres Therapeuten, dass so etwas geschehen sein könnte? Vielleicht hat sie Kindheitsereignisse ausgeschmückt oder gänzlich erfunden?

Die Skepsis derer, die nie gesehen haben, wie eine lange verdrängte Erfahrung wieder ins Bewusstsein aufsteigt, und das sogar nach Jahrzehnten, ist verständlich. Der Anblick dieses aufsteigenden Schmerzes, als ich ihn zum ersten Mal bei einem Patienten sah, ging weit über das hinaus, was ich in den siebzehn Jahren Praxis in der konventionellen Therapie jemals gesehen hatte. Der Schmerz kann so schwerwiegend sein, dass ein traumatisches Kindheitsereignis wie Inzest Hunderte Male wiedererlebt werden muss, um seine toxischen Auswirkungen endgültig aus dem Organismus zu eliminieren. Einige Amputierte haben,

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was als Phantom-Gliederschmerz bekannt ist – Schmerz, den sie in ihren verlorenen Gliedmaßen spüren. Seine Existenz legt nahe, dass etwas in der Vergangenheit, das schon lange tot und verschwunden ist, noch immer weh tun kann; dass man an einer Erinnerung leiden kann, die im Bewusstsein nicht existiert.

Jüngste Befunde an Transplantations-Patienten deuten auch auf die Tatsache hin, dass Zellen ihre eigenen Erinnerungen haben können. Eine Frau, der Herz und Lunge transplantiert wurden, entwickelte allmählich ein sonderbares Verlangen nach Bier und Chicken McNuggets. Eine kleine Nachforschung brachte die Tatsache ans Licht, dass der Spender „süchtig“ nach beidem war. Diese Transplantations-Patientin begann auch von Dingen zu träumen, die ihr fremd waren; sie träumte von Leuten, die offensichtlich mit dem Spender bekannt waren. Sie gründete eine Gruppe mit anderen von Transplantation betroffenen Individuen, welche von ähnlichen Ergebnissen berichten. Das eignet sich hervorragend als Anekdote, aber es scheint auch wieder auf ein Zellgedächtnis hinzudeuten, auf Erinnerungen, die nicht im Gehirn eingebettet sind, sondern anderswo im System. Für mich klingt das glaubwürdig, weil ich diese Art Erinnerung seit Jahrzehnten in meinen Patienten sehe. Wie sonst sollte man Fingerabdrücke erklären, die an den Füßen meiner Patientin nach dem Wiedererleben der Geburt auftreten? (Siehe Kapitel Dreizehn)

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ALICE: DAS GEFÜHL DER ZURÜCKWEISUNG

In einer einzelnen Sitzung  hatte ich zu weinen begonnen, weil ich solche körperliche Schmerzen hatte. Als ich mich hinterher aufsetzte, spürte ich, wie eine Hand genau an dem Punkt auf meiner linken Schulter nach mir griff, wo es wehtat. Ich hatte das eindeutige Gefühl, dass mich jemand dort gepackt hatte. Ich fiel in Gefühle und erlebte eine Szene wieder, in der mein Vater und meine Mutter miteinander stritten. Es sollte der letzte Tag meines Vaters in meinem Leben gewesen sein. Ich war sehr verängstigt und klammerte mich an die Knie meiner Mutter. Plötzlich spürte ich, wie mich eine Hand hinten an meinem Hemd packte und buchstäblich nach hinten schleuderte. Ich kam zum Stillstand, als ich gegen den Bettpfosten krachte. Ich hörte meinen Vater das Zimmer verlassen und nach unten gehen. Dann fuhr er weg.

Bevor ich mit dem Fühlen begann, hatte ich keine Ahnung, was geschah, als meine Eltern sich scheiden ließen. Es war so traumatisch wegen der Bedeutung jenes Tages. Ich sah meinen Vater nie wieder. Es ist für mich noch immer schmerzhaft, wenn ich mich an diese Szene erinnere. Der zweifache Schmerz in meinem Rücken trat exakt an den zwei Stellen wieder auf, wo die Hand meines Vaters mich gepackt hatte und entlang der Linie auf meinem Rücken, wo der Bettpfosten seine Abdrücke hinterlassen hatte.

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Einige Zeit später verschwanden die Schmerzen, und sie sind nie zurückgekommen, ausgenommen im Zusammenhang mit diesen besagten Gefühlen, als meine Eltern untereinander stritten und mein Vater mich für immer verließ.

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In der Primärtherapie haben wir herausgefunden, dass die Erinnerung an ein Ereignis umso stärker ist und die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht bewusst erinnert wird, paradoxerweise umso größer ist, je stärker die Emotion in diesem Ereignis ist. Laut einem Science News(–Artikel von James McGaugh von der University of California, Irvine, „helfen intensive Gefühle, ausgelöst von einem stresshaften oder emotionalen Ereignis, die Erinnerung an diese Erfahrung zu bewahren, und zwar weitgehend durch die Aktivierung.......(adrenergischer) Stresshormone, die für die Speicherung emotional geladener Information verantwortlich sind.“ Mit anderen Worten, schreibt McGaugh, „lösen emotionale Erinnerungen die Freisetzung adrenergischer Hormone aus, die die Erinnerung an diese Ereignisse verstärken.“ Des weiteren zeigt er auf, dass Stresshormone hartnäckige Erinnerungen bei denen begünstigen können, die an posttraumatischer Stressstörung leiden, und er schließt daraus, dass die Erinnerung umso glaubwürdiger ist, je stärker die emotionale Erfahrung ist. Kurz gesagt sorgen Stresshormone für stärkere Erinnerungen.

In seinem Buch Memory’s Voice sagt Dr. Daniel Alkon von den National Institutes of Health in Washington D. C.: „Erinnerungen in der Kindheit.......... werden dem Gehirn doppelt eingeprägt. Sie werden nicht nur in Netzwerken gespeichert, die beim Kind bereits vorhanden sind, sondern sie werden tatsächlich in den Netzwerk-Strukturen gespeichert, deren Schaffung und Aufbau sie unterstützt haben.“ Somit kann frühe Erinnerung die Muster von Nervennetzwerken verändern, und die Erinnerung wird zum Teil von diesen Veränderungen beeinflusst.

Wir haben die logische Folge dessen beobachtet: Je stärker die Erinnerung, umso mehr beeinflusst sie die Persönlichkeit, das Verhalten und die Gesundheit, egal ob man jetzt Zugang zu dieser Erinnerung hat oder nicht. J. E. LeDoux bestärkt diese Perspektive in einem Artikel im  Scientific American: „Das emotionale Gedächtnissystem.......formt und speichert ohne Zweifel seine unbewussten Erinnerungen (traumatischer) Ereignisse,“ und aus diesem Grund, fügt LeDoux hinzu, „kann das Trauma im späteren Leben mentale und verhaltensbezogene Funktionen beeinflussen, wenn auch durch Prozesse, die für das Bewusstsein unzugänglich bleiben.“

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Um für ein besseres Verständnis wiedererlangter Erinnerung zu sorgen, betrachtet das nächste Kapitel die physiologischen Mechanismen, mit denen der Körper Gefühle verdrängt und speichert, während er uns von dem Wissen abschirmt, dass sie existieren oder dass sie die Wurzel des Übels sind, das an unserer Gesundheit und unserem Wohlergehen nagt.

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DIE LEBENSLANGEN AUSWIRKUNGEN DES FRÜHEN TRAUMAS

 

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Wenn basale Bedürfnisse am Lebensanfang nicht befriedigt werden, können wir nicht normal sein. Und doch gibt es ein Leben spendendes primäres Bedürfnis, das noch grundlegender ist als das Bedürfnis nach Ernährung, Wärme, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Fürsorge und Schutz: Sauerstoff.

Wenige Minuten ohne Sauerstoff können entweder schweren Gehirnschaden oder den Tod bedeuten. Lebende menschliche Geschöpfe haben eindeutig ein Urbedürfnis nach Sauerstoff. Auch dieses fällt unter die Rubrik der Liebe. Geliebt zu werden bedeutet die Befriedigung aller Bedürfnisse, beginnend mit dem basalen physischen Bedürfnis nach Sauerstoff.

Unglücklicherweise kann die Neurose geboren werden, bevor wir es sind. Zu oft verabreicht man Müttern während der Geburt schwere Dosen an Anästhetika gegen den Schmerz. Wenn eine Mutter eine Dosis erhält, die hoch genug ist, um sie unbewusst zu machen (vom Gewahrsein des Schmerzes befreit), wirkt sich das Anästhetikum direkt auf die Überlebensfunktionen des Fetus aus. Anästhetika beeinträchtigen den Zugang zu Sauerstoff und können schnell lebensbedrohlich werden. Sauerstoffdeprivation kann auch eintreten, wenn die Nabelschnur eingeengt wird oder sich um den Hals des Babys wickelt. Der Zugang zu Sauerstoff wird dem Baby auch erschwert, wenn bei der Mutter keine ausreichende Dilatation eintritt, sodass der Austrieb des Babys behindert wird. In einigen Fällen wird die Nabelschnur zu früh durchgeschnitten, und der so sehr benötigte Sauerstoff verbleibt in der Plazenta.

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Wenn dem Fetus der Sauerstoff vorenthalten wird, wird sein Kreislauf- und Atmungssystem lahmgelegt, und sein Körper gerät in Panik. Gegen den Tod zu kämpfen, ist eine normale Reaktion, aber in diesem Fall verstärkt der Kampf die Gefahr. Das Ergebnis ist das fetale Stresssyndrom, charakterisiert durch schnellen Herzschlag, hohen Blutdruck und hektisches Atmen. Am Primal Center sind wir oft Zeuge, wenn Patienten diese frühen traumatischen Ereignisse wiedererleben, wobei wir jedesmal exzessive physiologische Reaktionen sehen. Diese Reaktionen sind nicht nur lebensbedrohlich, sondern sie könnten, sofern sie andauern, auch tödlich sein, zumal der Kampf zuviel Sauerstoff verbraucht und die Not verschlimmert. Je stärker der Kampf, umso straffer zieht sich die Nabelschnur, und umso größer wird die Erstickungsgefahr.

Wenn der Fetus kämpft, können dennoch zweierlei Dinge passieren. Entweder verbraucht die wilde Aufregung die Sauerstoffvorräte und verändert das Alkalinitäts-Säureverhältnis des Bluts, oder die Verdrängung tritt auf den Plan, um den Aufruhr zu unterdrücken und den Sauerstoff zu konservieren, um das Leben des Säuglings zu retten. In beiden Fällen ist ungeachtet des Mechanismus Unbewusstheit das Resultat. Diese Reaktion wird als „Einprägung“ in das Baby eingraviert und wird später als prototypische Reaktion in der Antwort auf Stress jeglicher Art in Erscheinung treten. Die Einprägung formt nicht nur die Persönlichkeit, sondern bestimmt spätere Symptome und kann sogar die Lebenserwartung kontrollieren.

Wenn Schmerz verdrängt wird, erinnert sich unser Körper. Die Erinnerung an Anoxie oder Sauerstoff-Deprivation lässt sich in den Zellen nieder, ein schädlicher Eindringling wie die chinesische Tinte. Sie verbleibt dort, eingeprägt in die Zelle mit der Dringlichkeit auf Leben und Tod des ursprünglichen Ereignisses, und wartet auf die Wiederverknüpfung mit dem Bewusstsein. Bei vielen von uns kann sie ein Leben lang vergraben bleiben, unsere Gesundheit beeinträchtigen und die Art und Weise, wie wir in der Welt funktionieren.

Ein Geburtstrauma, das Anoxie involviert, kann katastrophale Konsequenzen haben und oft in Kinderkrankheiten einschließlich Allergien, Asthma, epileptischen Anfällen, Aufmerksamkeitsstörungen (ADD) und dem Syndrom des plötzlichen Kindstods (SIDS), allgemein bekannt als plötzlicher Krippentod resultieren. In der Adoleszenz und beim Erwachsenen kann das Geburtstrauma zu Depression und Selbstmordversuchen, zum Syndrom chronischer Müdigkeit, zu Panikattacken, Phobien, Paranoia und Psychose führen.

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Obgleich sich viele von uns daran erinnern können, wie sie gescholten oder verprügelt wurden, als sie noch sehr klein waren, fällt es schwer zu glauben, dass  Erinnerungen bis zur Geburt zurückreichen. Die gewaltigsten Erinnerungen sind jedoch diejenigen, für die es keine Worte gibt.  Es existieren keine Worte oder Vorstellungen, mit denen man diese frühen traumatischen Erfahrungen umschreiben könnte, und es gibt keinen Weg, sie dem Intellekt zugänglich zu machen.

 

 Die Verbindung finden zwischen dem vergangenen Trauma und dem gegenwärtigen Verhalten

Wenn die Geburt oft so viel Schaden nach sich zieht, so könnte man sich fragen, warum ist sie dann weitgehend übersehen worden? Sie ist es nicht. Auch andere Forschungsarbeiten haben die lebenslangen Auswirkungen früher Sauerstoff-Deprivation und anderer früher Traumen verifiziert. Eine Studie von L. Salk und seinen Kollegen, die im englischen Medizinjournal The Lancet erschien, fand heraus, dass Atemnot bei der Geburt, die länger als eine Stunde andauert, mit erhöhtem Suizidrisiko im Teenageralter assoziiert ist. Eine Reihe von Studien kam zu dem Ergebnis, dass gewalttätige Kriminelle und Selbstmörder ein schweres Geburtstrauma erfahren hatten. Sarnoff A. Mednick zitiert in der Psychology Today Forschungsergebnisse, die besagen, dass in einer untersuchten Gruppe von 2.000 dänischen Männern, die im selben Jahr geboren wurden, von den sechzehn Männern, die gewalttätige Verbrechen begingen, fünfzehn „extrem schwierige Bedingungen bei der Geburt hatten.......und der sechzehnte hatte eine epileptische Mutter.“ Über die Effekte des Geburtstraumas auf die psychosoziale Entwicklung fand eine andere Studie, die im American Journal of Obstetrics and Gynecology veröffentlicht wurde, heraus, dass unter 1.700 untersuchten neunjährigen Kindern ein Viertel derer, die eine Steißgeburt hatten, mindestens einmal in der Schule sitzengeblieben war und dass jedes fünfte medikamentöse Hilfe benötigte. Andere Studien zeigen, dass Kaiserschnitt-Babys emotional gestörter, ängstlicher und unruhiger sind, während sie gleichzeitig passiver auf Stimuli reagieren als normal geborene Babys. Ich diskutiere diese Befunde in meinem Buch The Feeling Child.

Die Forschung dokumentiert auch, wie ein vorgeburtliches Trauma die physiologische und emotionale Entwicklung eines Kindes beeinflussen kann. Man weiß sehr wohl, dass ein Baby HIV-positiv geboren werden kann. Ebenso ist bekannt, dass ein Drogentrauma durchaus vor der Geburt eintreten kann.

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Drogen/Medikamente überwinden die plazentale Barriere, und der Fetus tut sich schwer, sie zu entgiften. Folgende Beispiele:

1.  Eine Studie von Davis et al. in Advances in Neurology über Mütter, die während der Schwangerschaft Barbiturate nahmen, fand, dass das Nervensystem des Kindes permanent beeinträchtigt wird, insbesondere die Neurotransmitter-Systeme.

2.  Schwangeren Müttern verabreichte Medikamente resultierten in gedämpfter Reaktivität beim Nachwuchs, wobei Probleme bei der Mutter-Kind-Bindung die direkte Folge waren.

3.   Eine Studie, die in Pediatrics erschien, berichtete, dass Babys von Müttern, die in der Schwangerschaft rauchten, ein dreifach erhöhtes Risiko hatten, an SIDS ((plötzlicher Kindstod)) zu sterben.

4.  Allgemein gebräuchliche Medikamente, die an trächtige Tiere verfüttert wurden, verursachten beim Nachwuchs vermindertes Gehirngewicht mit späteren Lernschwierigkeiten und Reproduktionsproblemen.

5.  Sobrian fand heraus, dass Stress bei einer schwangeren Mutter die Immunstärke ihres Nachwuchs senkt.

6.  Nach einem 1980 erschienenen Artikel in der Science News fanden Forscher an der Columbia University, dass Stress bei der Mutter während der Schwangerschaft „die Art und Weise ändern kann, wie embryonale Nervenzellen ihr genetisches Potenzial ausdrücken.“ Die vermittelnde Rolle von Hormonen ist in diese Veränderung einbezogen. Die Columbia – Wissenschaftler stimmen mit dem früher angeführten Punkt überein, dass ein Trauma am Lebensanfang die Entfaltung der genetischen Vorlage verändern kann. Wenn mann das genetische Potenzial ändert, ändert man den Lebensverlauf eines Menschen mit allen Implikationen für seine Biologie, Psychologie, sein Verhalten und seine Gesundheit.

7.  Vorläufiges Beweismaterial bezüglich Homosexualität, von dem kürzlich in der britischen Presse berichtet wurde, zeigt, dass Homosexuelle mit zweifacher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Rillen auf den Fingerspitzen ihrer linken Hand haben, wogegen die meisten Heterosexuellen mehr Rillen auf den Fingerspitzen ihrer rechten Hand haben. Die Autoren der Studie berichten, dass dies ein Merkmal sein kann, das sich vor der Geburt entwickelt hat. Sollte sich das bestätigen, ist es ein weiterer Beweis dafür, dass Traumen vor der Geburt die Anatomie und Physiologie bleibend verändern können und vielleicht ebenso die genetische Entfaltung und Persönlichkeit.

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Wir wissen auch, dass das, was nach der Geburt geschieht, für die Entwicklung entscheidend ist. Auf der Suche nach möglichen Verbindungen zwischen Geburtskomplikationen (künstlich ausgelösten Wehen, Steißgeburt, Zangengeburt, anomale Geburtslage), Ablehnung in der Kindheit und späteren Gewaltdelikten stellte sich heraus, dass Individuen, die beide Arten von Trauma gehabt hatten, sechsmal eher zu gewalttätigen Verbrechen neigten als diejenigen, die keinerlei traumatische Erfahrung gemacht hatten. „Ein Faktor allein“, wie die Autoren der Studie, Adran Raine, Patricia Brennan und Sarnoff Mednick, im  Brain-Mind Bulletin  bemerkten, „erhöhte das Risiko (für Gewaltverbrechen) nicht sonderlich, aber beide zusammen scheinen beinahe wie eine chemische Reaktion.“

In Untersuchungen an Tieren und Menschen über die potenzielle Verknüpfung zwischen früh im Leben erfahrener Gewalt und Brutalität und dem Hang zu späterer Gewalttätigkeit berichtete die  New York Times, dass Kinder, denen früh im Leben Gewalt widerfahren war, später zu Gewalttätigkeit tendierten. Das kann auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass frühe Gewalt „eine eindeutige Spur in der Chemie des Gehirns hinterlässt“, wobei ein Ergebnis ist, dass  das Serotonin-System an Wirkung verliert und die Verdrängung aggressiver Impulse schlechter funktioniert. Die untersuchten Individuen wiesen geringe Konzentrationsfähigkeit auf, eine weitere Indikation für einen fehlerhaften Verdrängungsapparat und für die Tatsache, dass der Körper kontinuierlich Schmerz einer tieferen Ebene verarbeiten muss.

In der Salk-Studie hatten sechzig Prozent von zweiundfünfzig Jugendlichen, die Selbstmord versucht hatten, drei bedeutende Risikofaktoren um die Zeit der Geburt: Atemnot, chronische Krankheit der schwangeren Mutter und fehlende pränatale Sorgfalt in den ersten zwanzig Wochen der Schwangerschaft.

Eine 30 Jahre-Studie, von der Emmy Werner im Scientific American berichtete, fasst die Wirkungen von Geburt und frühem Trauma übersichtlich zusammen. Diese Untersuchung an Kindern, die auf der Hawaii-Insel Kauai geboren wurden, sollte die Langzeiteffekte von prä- und perinatalem Stress beurteilen. Sechshundertneunundachzig Säuglinge wurden 1955 bei der Studie erfasst und registriert, und ihre Entwicklung wurde von einer Gruppe  von Krankenschwestern, Sozialarbeitern, Psychologen und Ärzten akribisch verfolgt. In dieser Gruppe untersuchter Kinder erlitten dreiundzwanzig ernsthafte prä- und perinatale Komplikationen (neun starben, bevor sie zwei Jahre alt waren); neunundsechzig

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erlitten mäßige Komplikationen vor oder um die Geburt; und eines von sechs Kindern hatte körperliche oder intellektuelle Behinderungen perinatalen oder neonatalen Ursprungs. Die Kinder, welche sowohl ein Geburtstrauma als auch Ablehnung in der Kindheit erlebten, hatten im Vergleich zum Gruppendurchschnitt eine zweifach so große Wahrscheinlichkeit, vor dem Alter von zehn Jahren auf geistige und psychische Hilfe angewiesen zu sein, und zwar aufgrund von Lern- oder Verhaltensproblemen. Von den siebzig Kindern, die im Alter von achtzehn Jahren Probleme mit der psychischen Gesundheit hatten, waren fünfzehn auch wegen wiederholter krimineller Vergehen vorbestraft.

Die zentralen Ergebnisse der Studie überraschten die Forscher: Die Auswirkungen des frühen Traumas schwächten sich mit den Jahren ab,  wenn die Erziehung des Kindes gut verlief, das heißt, wenn das Kind eine enge Bindung mit mindestens einer Bezugsperson eingehen konnte. Das lässt ein entscheidendes Bedürfnis erkennen – eine pflegende und schützende Beziehung zu einem Elternteil von ganz früh auf – die den Unterschied ausmachen kann zwischen schlechter und guter psychosozialer Anpassung und Gesundheit im späteren Leben (obgleich sie einige der mit geburtlichem und vorgeburtlichem Trauma in Zusammenhang stehenden Dysfunktionen, die auf lange Sicht zu körperlicher Krankheit führen können, nicht auflösen kann). In der Gruppe, die sowohl ein Geburts- als auch ein Kindheitstrauma erlitten hatte, gab es etwa im Vergleich zum gesamten Gruppendurchschnitt die dreifache Anzahl an Gesundheitsproblemen. Zu den verbreiteten Krankheiten unter den jungen Männern, die im Alter von achtzehn und später im Alter von dreißig Jahren wieder überprüft wurden, gehörten Rückenprobleme, Benommenheit und Ohnmachtsanfälle, Gewichtszunahme und Geschwüre. Die Gesundheitsprobleme der Frauen „bezogen sich weitgehend auf Schwangerschaft und Geburt.“

Diese Studie legt anschaulich dar, dass das Geburtstrauma langzeitliche Auswirkungen hat, auch wenn diese Effekte nicht immer offensichtlich sind. Warum werden wir krank? Weil ein frühes Trauma das System schwächt und es für alle Arten von Krankheit prädisponiert. Warum wissen wir nichts davon? Weil ein frühes Trauma am tiefsten verdrängt und deshalb am leichtesten vergessen wird. Es ist ein Teil des kollektiven Unbewussten.

Man kann Neurose nicht durch Liebe entfernen. Wenn jemand seine Gefühle verdrängt, ist es für ihn schwierig, sich geliebt zu fühlen; die Liebe seiner Eltern klopft an das Tor der Verdrängung und kann nicht herein. Dasselbe wird später bei seiner liebevollen Gefährtin passieren; ihre Zuneigung und Unterstützung kann nicht voll zu ihm durchdringen, kann die Bedürfnisse nicht erfüllen, die ursprünglich missachtet worden waren.

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In einer im Scientific American veröffentlichten Studie von H. Lagercrantz und Theodore Slotkin über verminderte Sauerstoffspiegel während der Geburt sagten die Forscher: „Der menschliche Fetus wird mehrere Stunden lang durch den Geburtskanal gezwängt, wobei der Kopf beträchtlichem Druck ausgesetzt ist und dem Säugling zeitweilig der Sauerstoff entzogen wird (durch Kompression der Plazenta und Nabelschnur während der Kontraktionen). Dann wird das Neugeborene aus einer warmen, dunklen, beschützten Umwelt in einen kalten, hell erleuchteten Klinikraum befördert, wo es ein paar riesige Gestalten kopfüber nach unten halten und ihm einen Klaps aufs Hinterteil verpassen.“

Während der Geburtsstrapazen produziert der Fetus große Mengen an Stresshormonen, die auch als Katecholamine (Adrenalin und Noradrenalin) bekannt sind, welche das System auf Kampf oder Flucht vor Gefahr vorbereiten, in diesem Fall vor der Gefahr des drohenden Todes durch Anoxie (Sauerstoffmangel). In unseren Untersuchungen bei neuankommenden Patienten weisen deren systematisch hohe Stresshormonspiegel darauf hin, dass sie immer noch auf das früh eingeprägte Trauma zu reagieren scheinen. Die Katecholamine beschleunigen den Herzschlag und helfen, Blut aus der Peripherie des Organismus abzuleiten und den Schlüsselorganen wie Herz und Lungen zuzuführen. Interessanterweise ergaben Studien an unseren Patienten, dass sich nach einem Jahr Therapie der Blutdurchfluss in den peripheren Gefäßen verbessert hatte.

Solange der Stress nicht exzessiv ist, sind Stresshormone sowohl während als auch nach der Geburt hilfreich. Kaiserschnitt-Babys, denen der natürliche Geburtsprozess vorenthalten wurde, haben tendenziell im späteren Leben weit mehr Probleme mit dem Atmungssystem. Bei der Geburt unterstützen die Katecholamine die Absorption von Lungenflüssigkeit und helfen, die Alveolen der Lunge zu reinigen. Einige Patienten, die die Geburt wiedererleben, erbrechen soviel Flüssigkeit, dass man mehrere Tassen damit füllen könnte. Ihre Reinigungsmechanismen sind offensichtlich defekt und zeigen ein mögliches Geburtstrauma an. Lagercrantz und Slotkin stellen fest: „Beinahe jedes Neugeborene hat eine Sauerstoffschuld, die der eines Sprinters nach einem Lauf gleicht.“ Genau das haben wir in diesen Geburtsurerlebnissen gefunden.  Druck gegen den Kopf ist einer der Hauptfaktoren, die den Katecholaminspiegel während der Geburt ansteigen lassen. Diese Hormone können in Reaktion auf einen kalten Entbindungsraum die Produktion eines speziellen Wärme erzeugenden und Braunfett genannten Gewebes unterstützen.

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Wenn das Baby bei der Geburt angeregt und stimuliert wird, wird es dadurch weit mehr anpassungsfähiger, als wenn es eine träge und schleppende Geburt erlebt.

 

 Neurose im Mutterleib

Diejenigen, die sagen, dass wir vor der Geburt nichts fühlen können und solange keine Erinnerungen haben können, bis uns Worte zur Verfügung stehen, mit denen wir sie artikulieren können, ignorieren den Beweis des Gegenteils. Der Fetus ist in der Lage, Schmerz zu registrieren, zu kodieren und zu speichern. Schon vor der Geburt, zwischen der siebenten und zwanzigsten Woche, sind die Nervenbahnen, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns befördern, beinahe voll entwickelt. Das bedeutet, es gibt Schmerzwahrnehmung und –speicherung auf einer äußerst rudimentären Ebene. Das Problem dabei ist, dass die inhibitorischen Neurotransmitterbahnen erst später voll funktionsfähig werden. Ein Großteil des Neurotransmitter-Netzwerks fängt in der dreizehnten Woche im Mutterleib mit der Entwicklung an und entwickelt sich kontinuierlich bis zur dreißigsten Woche weiter. Die Endorphinbahnen scheinen etwa in der fünfzehnten Woche funktionsfähig zu sein. Wenn eine Mutter während des dritten oder vierten Monats der Schwangerschaft raucht oder trinkt, Dämpfungs- oder Beruhigungsmittel einnimmt und nervös oder deprimiert ist, wirken sich die Veränderungen bei den Hormonen und im Blut auf das Nervensystem aus. Ein Trauma von solcher Beschaffenheit kann die Physiologie des Fetus in Richtung Passivität oder Hyperaktivität verzerren, abhängig von der Art des Traumas. Weil die Abweichungen und Funktionsverschiebungen innerhalb weniger Wochen nach der Empfängnis festgelegt werden, kann man sie leicht mit genetischen Prädispositionen verwechseln. Wenn sich später subtile Leiden festsetzen, lässt sich beinahe unmöglich sagen, wo deren Ursprung liegt, obwohl immer mehr Studien auf die Risiken von Nikotin und Alkohol hindeuten. Nikotin steht in Zusammenhang mit niedrigem Geburtsgewicht und Alkohol ist mit erhöhtem Vorkommen von Krebs beim Nachwuchs in Verbindung gebracht worden.

Jüngste Studien auf dem Gebiet der Medizin spiegeln unsere Befunde in der Primärtherapie wider. Forschung an Mäusen, die Vom Saal et al. durchführten, weist darauf hin, dass mütterlicher Stress die Konzentration männlicher und weiblicher Sexhormone beim Fetus verändert. Bolon und St. Omer fanden, dass weitere hormonelle Veränderungen bei der Mutter die Neurotransmitter-Entwicklung im Fetus ändern und „die Organisation von Gehirnbahnen

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festlegen“ und dass „Änderungen in der mütterlichen, fetalen und neonatalen Biochemie während kritischer Perioden (der Entwicklung) die Schaltkreise und somit das postnatale Verhalten von Jungtieren irreparabel verändern können.“ Wenn eine Mutter unter Stress steht, ändern sich ihre Hormone, besonders die Stresshormone, und das wiederum verändert Verschaltungen im Gehirn des Nachwuchs auf dauerhafte Weise. In einigen Fällen kommen diese sehr frühen Veränderungen „festverdrahteten“ Schaltkreisen gleich und können irreversibel sein.

Biologische Verzerrungen können schon früh im Mutterleib beginnen. Meine homosexuellen Patienten haben mir immer wieder erzählt, dass sie sich seit ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr  "anders" fühlten. Vielleicht reagieren sie auf grundlegende Veränderungen in der Biochemie und in der Verschaltung der Nerven, die in den ersten Monaten des Lebens nach der Empfängnis festgelegt worden waren. Wenn wir bei jemanden eine ernsthafte Erkrankung im Alter von fünfzig Jahren sehen, betrachten wir vielleicht etwas, das nur einige Wochen nach der Empfängnis seinen Anfang nahm. Eine grundlegende Angst kann sich in dieser frühen Phase einprägen und sich vielleicht Jahrzehnte später als Panikattacken zeigen, die urplötzlich ohne Sinn und Zweck auftreten. Oder wenn das Trauma der Mutter sehr schwer ist und lange genug andauert, kann es eine Fehlfunktion im Gehirn des Neugeborenen erzeugen, die später Lernstörungen verursachen  und Sexual- und andere Hormone verändern kann.

Die Sollwerte für Normalität werden dann vor und während der Geburt erhöht oder gesenkt, und diese Veränderung verfolgt die Person ein Leben lang. Jemanden mit dieser Art von früher Prägung zu normalisieren, dürfte sich als schwierig erweisen. Eine Prädisposition für Depression könnte sich im dritten oder vierten Monat der Schwangerschaft festsetzen. Wenn die Mutter chronisch deprimiert ist und ihre hormonellen Veränderungen den Fetus beeinflussen, könnte das, was ein genetischer Faktor zu sein scheint, ein sehr früher Umweltfaktor sein, zumal die Mutter die Umwelt des Babys verkörpert. Leiden wie die Parkinsonsche Krankheit (der Tod von  Dopamin absondernden Gehirnzellen) können sich im Alter von sechzig Jahren zeigen und sind vielleicht zum Teil auf sehr frühe Traumen zurückzuführen. So können vorgeburtliche und geburtliche Traumen dopaminergische Neuronen schädigen; das und lebenslanges Rauchen, Trinken schlechte Ernährung und allgemeiner Lebensstress kann den erforderlichen Dopaminausstoß im späteren Leben erhöhen. Schließlich sind die Vorräte erschöpft.

So gesehen ist Neurose möglich, noch ehe der Fetus

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mit der Außenwelt interagiert. Fühlt der Fetus Schmerz? Britische Forscher berichten, dass Föten zwischen der zwanzigsten und vierunddreißigsten Woche der Schwangerschaft auf einen invasiven Eingriff eine Stressreaktion zeigten. In einer im Magazin The Lancet berichteten Studie wurden Blutproben von sechsundvierzig Föten genommen, indem durch das Abdomen hindurch die Leber punktiert wurde. Die Föten reagierten mit kräftigen "Atmungs"- Versuchen und körperlichen Schlagbewegungen. Es kam zu einem Anstieg des Stresshormons Kortisol um 590 Prozent und zu einer permanenten Erhöhung der Endorphinwerte (ein Hormon, das die Schmerzwahrnehmung abstumpft) um 183 Prozent. Bei diesem Eingriff erhielten weder die Mutter noch ihre ungeborenen Kinder schmerzstillende Mittel, und die Autoren legen nahe, dass jeder therpeutische Eingriff an einem ungeborenen Kind mit angemessener Anästhesie einhergehen sollte.

Wenn ein invasiver Eingriff einen Fetus um sich schlagen lässt, eine Stressreaktion auslöst und die Produktion interner Schmerzkiller ansteigen lässt, kann der Fetus eindeutig schmerzvolle Empfindungen erleben und ist nach dem fünften Monat zur Verdrängung fähig. Das ist ein Grund, warum die Babys von alkoholkranken und rauchenden Müttern deformiert zur Welt kommen können oder in den ersten Lebensjahren für schwere Erkrankungen anfällig sein können. Informationen des California Birth Defects Monitoring Programms zufolge haben Babys von Müttern, die während der Schwangerschaft rauchten, die doppelte Wahrscheinlichkeit, mit Lippen- und Gaumenspalt geboren zu werden, eine Öffnung in der Oberlippe und im Dach der Mundhöhle. Das ist wichtig, da die Studie darauf hinweist, dass eine von vier Frauen in Kalifornien während der Schwangerschaft raucht. Es gibt bei einigen Babys eine genetische Tendenz zum Wolfsrachen, aber rauchen erhöht die Chance, dass er sich manifestiert, um 800 Prozent. Somit sind genetische Tendenzen von Bedeutung, aber es erfordert oft eine bestimmte Art von umweltlichem Stress, um ein Symptom zu erzeugen.

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AARON:  " ICH MUSS HIER RAUS!"

Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt an Brustkrebs. Sie war krank, als sie mich austrug, und sie war in tiefer Trauer um ihren Vater, der gerade gestorben war. Sie war mit einem zornigen, verrückten Mann verheiratet, und sie stand unter

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großem Stress. Es muss für sie sehr schwer gewesen sein, in dieser Zeit zu gebären. Es wäre besser für mich  gewesen, wenn sie keine Anstrengungen unternommen hätten, mich am Leben zu erhalten, weil ich bei meiner Ankunft tot war.

Ich bin ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, von kranken Eltern in ein krankes Land, in eine kranke Welt hinein geboren, in der ich nur ein Gesetz kannte: Überleben. Mein ganzes Leben habe ich nur  zu überleben versucht. Mehr habe ich nie erwartet.  Ich starb in meiner Mutter lange Zeit, bevor ich auf diese Welt kam. Das Versprechen, das jeder lebende Organismus fühlt, dass alles gut wird, war bereits gebrochen. Denn in meiner Mutter ging es mir nicht gut; tatsächlich lief alles schief. Sie war an Krebs erkrankt und sie war krank vor Trauer und Wut. Meine Entwicklung im Mutterleib war nicht normal, und ich konnte nichts daran ändern. Ich lebte in einer unfreundlichen Umgebung, die mich nicht in Frieden lassen würde.

Ich hatte immer das Gefühl: "Ich muss hier raus. Etwas Schreckliches passiert, wenn ich hier bleibe." Das war die ganze Zeit mein Lebensgefühl.  

 

Manche sagen, Babys fühlen Schmerz nicht so wie Erwachsene. Sie haben recht. Sie fühlen viel intensiver. Babys haben ein weit geöffnetes sensorisches Fenster und können die Kraft eines Traumas durch nichts filtern oder abschwächen. Studien von Anand und Hickey, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden, kamen zu dem Ergebnis, dass Babys, die einem chirurgischen Eingriff unterzogen wurden, die fünffache Stressreaktion von Erwachsenen zeigten, die eine ähnliche Operation durchmachten. In diesen Babys (wie in der vorher erwähnten Fetus-Studie) schossen Hormonspiegel, Blutdruck und Herzfrequenz in die Höhe. Der entscheidende Punkt ist, dass die Reaktion von Babys auf Traumen oft mehr ist, als sie verkraften können. Ein Teil der Reaktion wird unterdrückt und dann lebenslang gespeichert. Dieser Exzess findet sich in reverbierenden [widerhallenden, rückkoppelnden] Schaltkreisen im Gehirn wieder, wo er anhaltende Veränderungen bei biologischen Funktionen verursacht.

Die Reaktion des Babys ist nicht auf Operationen beschränkt. Emotionale Traumen werden dasselbe zustande bringen. Das kommt daher, weil die Einprägung eines Traumas die ursprüngliche Umgebung und die ursprüngliche Reaktion einschließt. Die ursprüngliche Umgebung wird als Erinnerung bewahrt, und wir reagieren weiterhin darauf, als sei sie gegenwärtig. Die Reaktion ist immer dieselbe, wie sie ursprünglich war, weil das ganze Ereignis noch immer lebendig ist. Wir wissen das, weil wir Patienten beobachten, die ein frühes Trauma wiedererleben. Wenn Geburtsanoxie keine andauernde

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und exakte Erinnerung wäre, wie anders könnte man sich erklären, dass Hunderte unserer erwachsenen Patienten die Sauerstoffdeprivation wiedererleben, die sie bei der Geburt erfuhren, reichlich Flüssigkeit erbrechen und würgen, keuchen und husten? Zusätzlich gehen voraussagbare Veränderungen der Körpertemperatur, des Pulses und des Blutdrucks mit diesem Zustand einher. Diese Muster sind sicher die Reaktionen, die das ursprüngliche Trauma begleiteten, den es sind dieselben Veränderungen, die man bei jemandem sieht, der  in der Gegenwart eine Anoxie durchmacht.

 

Die Macht der Liebe?

Auch wenn Eltern fürsorglich und liebevoll sind, kann die volle Wirkung ihrer Liebe nicht zu einem Kind durchdringen, das aufgrund eines sehr frühen Traumas bereits verdrängt. Noch einmal - Verdrängung ist eine Abwehr, die gefährliche Information von unserem Bewusstsein fernhält und physiologische Reaktionen unter Kontrolle hält; aber sie funktioniert auch dahin gehend, dass sie andere Arten von Information wie z.B. Liebe davon abhält, nach innen zu gelangen. Das könnte zum Teil für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern verantwortlich sein. Beide mögen geherzt und geküsst worden sein, aber eines hat vielleicht ganz frühen massiven Schmerz erlebt, der gleichermaßen massive Verdrängung in Gang setzte. Danach wird sich seine Lebenserfahrung von der seines Bruders oder seiner Schwester unterscheiden.

Verdrängung stumpft innere Gefühle und Emotionen ab und lässt die Neurose aufleben. Aber wie funktioniert Verdrängung? Das folgende Kapitel konzentriert sich auf die drei Ebenen des Bewusstseins - Instinkt, Emotion und Intellekt - und wie die Verdrängung auf sie wirkt.

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INSTINKT, EMOTION UND INTELLEKT: 

DAS BEWUSSTSEIN UND DIE MECHANISMEN DER VERDRÄNGUNG

 

Eine Geschäftsfrau macht Urlaub in einem tropischen Paradies in der Hoffnung, ihrem stressreichen Lebensstil zu entkommen und ihre Sorgen für einige Tage zu vergessen. Aber als sie dort angekommen ist, merkt sie, dass sie sich einfach nicht entspannen kann. Wenn sie sich nicht mit etwas beschäftigt - Blackgammon oder Volleyball spielen oder schnorcheln - fühlt sie sich innerlich aus dem Gleichgewicht geraten. Sie erwägt ernsthaft, nach Hause zu fahren.

Wenn eine Person sich an einem ruhigen Strand nicht wohlfühlt, aber nicht genau bestimmen kann, was sie beunruhigt, wo kommt dann der Stress her? Ich glaube, er stammt von dem primären Eindringling, der unterhalb der Oberfläche des vollständigen Bewusstseins lauert. Die Einprägung aus einer Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt, beeinflusst sie noch immer und treibt weiterhin ihr Verhalten an, obwohl sie sie nicht als das empfindet, was sie wirklich ist. Wie kommt das? Weil wir verschiedene Gehirnstrukturen besitzen, die verschiedene Ebenen des Bewusstseins regulieren und biochemische Mechanismen, die Verdrängung vermitteln.

Laut Paul Maclean vom Laboratory of Brain Evolution in Poolesville, Maryland, haben Menschen ein "dreieiniges Gehirn", das aus drei Elementen besteht: ein Reptilien-Gehirn, die (uralte) Hirnstamm-Struktur, die wir mit den Reptilien teilen; das paleomammalische Gehirn oder limbisches System,das wir

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mit anderen Säugern gemeinsam haben; und das mammalische Gehirn oder Neokortex. Diese drei Gehirne operieren wie vernetzte Computer - jeder mit seiner eigenen speziellen Funktion und Erinnerung - , die drei unterschiedliche Bewusstseinsebenen definieren, die zu einem Eckpfeiler für die Diagnose, Prognose und den Zugang zu Gefühlen in der Primärtherapie geworden sind.

Was jedes dieser drei Gehirne macht und wie sie interagieren, ist für das Verständnis der Neurose fundamental:

1. Die erste Gehirnebene, die es herauszuarbeiten gilt und die ich als Bewusstsein der ersten Linie bezeichne, ist die instinktive Ebene. Weitgehend im Hirnstamm und im Hypothalamus lokalisiert, reguliert sie die Vitalfunktionen.

2. Das limbische System ist der Sitz des emotionalen Bewusstseins der zweiten Linie, wo unsere Gefühle residieren. Es wird durch das limbische System und durch den Temporallappen des Gehirns vermittelt.

3. Auf der dritten Linie oder kortikalen Ebene, wo wir denken und Ideen entwickeln, wird der Input von den unteren Ebenen integriert. Diese Ebene steuert zur Erfahrung die Bedeutung bei.

Die Entwicklung jeder Bewusstseinsebene spiegelt die evolutionäre Entwicklung unserer Spezies wider. Genau wie Hunderte Millionen Jahre von der Evolution der ersten Linie bis zum Erscheinen des denkenden Kortex vergingen, geht die Entwicklung des Bewusstseins der ersten Linie bei einem Menschen weit der Zeit voraus, da sein Neokortex zu funktionieren beginnt. Das trägt zur Erklärung bei, wie wir ein Trauma erfahren können, bevor wir Worte haben, um zu beschreiben, was geschah, und wie es uns möglich ist, uns der Erinnerungen "unbewusst" zu sein, die uns ein Leben lang beeinflussen.

Instinktives Bewusstsein

Die erste Linie des Bewusstseins involviert das primitive Nervensystem. Seine Strukturen sind bei der Geburt voll leistungsfähig, aber sie beginnen bereitswährend der Schwangerschaft zu arbeiten und vermitteln die physiologischen Veränderungen in der Entwicklung. Die erste Linie ist die viszerale Psyche, die Hüterin der Empfindungen; die Vitalfunktionen sind weitgehend unter ihrer Kontrolle: Atmung, kardiovaskuläre Aktivität, Hormonausstoß, Verdauung und urinäre Prozesse. Bewusstsein der ersten Linie bewahrt die Homöostasie, hält unseren

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Blutdruck, unsere Herzfrequenz und andere Vitalfunktionen auf einem stabilen Niveau. Da wir immer mit der höchsten für uns verfügbaren Ebene neurologischen Funktionierens reagieren, beeinflussen Traumen, die vor dem sechsten Lebensmonat geschehen, wahrscheinlich diese Funktionen. Deshalb können wir voraussehen, wenn ein Patient Kolitis oder Herzklopfen aufweist, dass ein Trauma der ersten Linie - etwas, das geschah, bevor der Säugling sechs Monate alt war - involviert ist. Das kann zur Erklärung beitragen, warum einige Leute einen viel niedrigeren Puls, Blutdruck und Körpertemperatur haben als andere. Wir haben gesehen, dass ein frühes Trauma den Sollwert für den Körperthermostat, Hormone und einen großen Teil unserer Physiologie ändern kann und oft eine unsichtbare aber unmittelbare Rolle bei späterer körperlicher Krankheit spielen kann. Da die Entwicklung der ersten Linie den Emotionen vorausgeht, können wir nicht weinen, wenn es in Erscheinung tritt. Und wir können nicht sprechen, da Sprache die Funktion einer höheren Ebene ist und erst später kommt. Wenn Patienten sehr frühe Traumen wiedererleben, sind daran niemals Worte beteiligt. Die erste Linie kann jedoch die katastrophalen Empfindungen der Todesnähe speichern, das panische Atmen und die Körperbewegungen. Diese unsichtbaren aber physiologisch aktiven Erinnerungen belasten den Organismus über viele Jahre und können eine Rolle in der Entwicklung kardiovaskulärer Krankheit und anderer Leiden spielen.

Schmerzen der ersten Linie sind am wenigsten zugänglich; es ist die Ebene, von der die Erinnerungen am schwierigsten zurückzuholen sind, vielleicht weil es so schwer ist, an sie heranzukommen. Wenn man Zugang zu ihnen hat, lösen sich sowohl die Symptome als auch das Leiden. Es ist die Ebene, die am Anfang des Lebens zerrüttet wird, wobei sich der Ausstoß von Hormonen wie Thyroxin ändert. Und es geschieht durch das Wiedererleben auf dieser Ebene, dass sich der Hormonausstoß schließlich stabilisiert. Wir wissen, dass die Produktion von Thyroxin (das von der Schilddrüse abgesondert wird) ungefähr in der zwanzigsten Woche der fetalen Phase beginnt. Der Stress der Mutter kann sich auf den Fetus übertragen und leichte Veränderungen der Thyroxin-Sollwerte verursachen. Später dann im Kindes- oder Erwachsenenalter lassen sich beginnende Tendenzen zu Übersekretion oder Untersekretion von Thyroxin erkennen. Patienten, die hypothyreoid waren, lustlos, ohne Energie und zu leicht an Gewicht zunahmen, sind nach dem Wiedererleben von Traumen auf der ersten Linie nicht mehr hypothyreoid. Ohne Zugang zu dieser Ebene

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können wir nicht ermitteln, mit welcher unglaublichen Wucht sich ein Trauma  der ersten Linie auf das spätere Verhalten und auf die Entwicklung von Symptomen auswirkt, wie es uns formt und bestimmt, wer und was wir sind.

Emotionales Bewusstsein: Wie wir mit Gefühlen verfahren

Die zweite Linie, die "affektive Ebene" oder die "fühlende Psyche" beginnt  etwa ab dem sechsten Monat mit der Entwicklung, die bis in die späte Kindheit andauert. Mit der Zeit bezieht sich der Säugling auf eine Welt, die über die Brust und Wange der Mutter hinausreicht, stellt emotionale Bindungen zu  Eltern, Geschwistern, Tanten, Onkeln und Haustieren her und verschlüsselt die Gefühle auf der zweiten Linie. Das ist die Ebene der Gefühlszustände, auf der Individuen Musik genießen, Bilder entwickeln und sich der Poesie hingeben können. Es ist auch der Ort, von dem die eigenartigen Bilder kommen, die man in Kinderzeichnungen  und später in den Gemälden von Künstlern findet.

Die zweite Linie kann keine Berechnungen anstellen, aber sie kann träumen und Emotionen mit Empfindungen der ersten Linie mischen, um die Substanz und die Agonie der Erfahrung zu formen. Sie kann das Bewusstsein gegen den Terror eines Traumas der ersten Linie verteidigen und diesen Terror in einen Angsttraum über Monster verwandeln, die uns erwürgen wollen, oder in eine Phobie vor engen Räumen. Unter Stress kann ein Kind das Gefühl haben zu ersticken. Dabei handelt es sich um ein Eindringen der ersten Linie auf die zweite.

Ein traumatisches Ereignis wie z.B. Inzest, das im Alter von vier oder fünf Jahren geschieht, involviert weitgehend die zweite Linie, und die Leidens-/Gefühlskomponente des Schmerzes wird auf dieser Ebene gespeichert. Wenn die zweite Linie in Betrieb ist, hat das Kind die Kontrolle über die Muskeln der Körperwand, und damit kommt die Fähigkeit hinzu, diese Muskeln anzuspannen, um die Blockade von Angst, einer Reaktion der ersten Linie, zu unterstützen. Ein besonderer tiefer Schmerz stimuliert den Kortex auf diffuse Weise, sodass die Person sich aktiviert fühlt, ohne zu wissen warum. Es fühlt sich schlecht an, und wir nennen es Angst. Wenn unsere erwachsenen Patienten, die ein frühes Trauma der zweiten Linie wiedererleben, anfangen, wie ein Säugling zu weinen, tatsächlich als Säugling, -auf eine Weise, die willentlich unmöglich wäre, wenn sie es versuchten -, ist das ein klarer Hnweis, dass Erinnerungen aus unterschiedlichen Lebensphasen auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen residieren.

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  Die intellektuelle Ebene: Wie das Denken uns gegen das Fühlen verteidigt

Der Intellekt oder die dritte Linie des Bewusstseins beginnt etwa ab sechs Jahren eine aktive Rolle zu spielen und entwickelt sich etwa bis zum zwanzigsten Lebensjahr weiter. Die dritte Linie wird durch den Frontallappen vermittelt und organisiert die Dinge auf intellektuelle Art. Bewusstsein der dritten Linie integriert die unteren Ebenen, hilft Impulse und Gefühle zu hemmen, befasst sich mit der Außenwelt und steuert den Gefühlen die Bedeutung bei.

Not macht erfinderisch, besonders im Sinne der Gehirnfunktion. Vor langer Zeit, als  unsere Vorfahren  Schutz vor widrigen Umständen suchen mussten, verlieh ihnen die Wanderung der Gehirnzellen nach oben und nach außen, um den Neokortex zu bilden, einen evolutionären Vorteil. Dank dieser evolutionären Entwicklung haben wir die Fähigkeit zu sprechen und Sprache zu verstehen geerbt.  Der Neokortex befasst sich mit Logik, Rationalität, Konzepten, Berechnungen und Realitätsprüfung. Er kann Ehrgeiz und  Pläne für die Zukunft entwickeln, Einsichten haben, sozial und politisch bewusst sein und ein Zeitgefühl haben. Der Neokortex findet "Gründe", um das Verhalten anderer Leute zu erklären, und befähigt uns, Motive auf andere zu projizieren, falsche Wahrnehmungen zu machen und Logik so zu biegen, dass sie mit unseren inneren Wahrheiten übereinstimmt.

Mit Hilfe dieses neu entwickelten Kortexes waren wir nicht nur in der Lage,  Säbelzahntigern zu entkommen, sondern auch herauszufinden, wo wir Nahrung und Wärme finden konnten; wir hatten jetzt auch eine Möglichkeit, unserem schmerzbeladenen Selbst zu entfliehen. Die dritte Linie zaubert Ideen hervor, um Traumen der zweiten und auch der ersten Linie abzuwehren. Die Fähigkeit des Neokortex, Gefühle zu hemmen, gestattet uns, Pläne zu machen, Ziele zu setzen und zu verfolgen, und weiterhin zu funktionieren, obwohl da unten vielleicht ein siedender Kessel voller Schmerz brodelt. Diese Überlebensmechanismen erlauben vielen Leuten, die tief drinnen traumatisiert sind, "Gott zu finden", als eine Methode, sich gegen den Schmerz abzuschirmen; sie wissen nicht, dass ihr Glauben von verdrängtem Material geschaffen ist. Es ermöglicht ein und derselben Person, komplexe wissenschaftliche Informationen und höchst irrationale Vorstellungen nebeneinander zu stellen. Jemand kann total logisch sein, wenn er

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ein Problem in der Differenzialrechnung ausarbeitet, während er gleichzeitig an ein allmächtiges Wesen glaubt, das die Welt in sechs Tagen erschuf; ein Gehirnchirurg kann ein Anhänger der Moonsekte sein. Weil er von den Gefühlen abgeschirmt ist, die auf einer tieferen Bewusstseinsebene schmoren, kann der rationale Verstand die Widersprüche nicht analysieren, die in das Glaubenssystem involviert sind. Wenn wir aufwachsen, reift der Neokortex und entwickelt eine größere Verdrängungskapazität.

Schaden auf der einen Ebene wird sich nicht unbedingt auf eine andere Ebene auswirken. Zum Beispiel kann der Sprachbereich des Bewusstseins der dritten Linie beschädigt sein, aber die Person ist noch immer voll gefühlsfähig. Jemand kann geschwächte motorische Funktionen haben, aber eine kristallklare Wahrnehmung beibehalten. Menschen im Koma operieren auf der ersten Linie, wobei die zwei höheren Ebenen inaktiv sind. Sie können Monate oder Jahre in einem vegetativen Zustand weiterleben. Sie stellen keinen Kontakt her und ihr Verhalten fußt auf einer elementaren Ebene; sie haben sicherlich keine Vorstellung, was vor sich geht, aber sie "funktionieren". Diejenigen, die aus dem Koma erwacht sind, berichten, dass sie auf einer bestimmten Ebene Berührung und Beruhigung wahrgenommen hatten. Die Hand von jemandem zu halten, der unter Anästhesie steht, kann den Schmerz bis zu einem gewissen Grad lindern helfen. Die Person spürt diesen Kontakt, obwohl sie "unbewusst" ist oder sich auf einer anderen Bewusstseinsebene aufhält.

Jede Bewusstseinsebene trägt zu dem bei, was wir als Psyche bezeichnen. Bei einer normalen, gesunden Person funktionieren diese drei einzelnen Psychen als ein einziger psychischer Apparat. Sie arbeiten in Harmonie zum Wohl des Organismus und gestatten dem Menschen, ein fühlendes und denkendes Wesen mit gesunden emotionalen Reaktionen auf äußere Stimuli zu sein, mit der Fähigkeit, klar über diese Emotionen nachzudenken und sie als Richtschnur für sein Verhalten zu nutzen. Gesundheit erfordert optimale Kohärenz oder Verknüpftheit unter den Ebenen, ein harmonisches Funktionieren, das das Überleben sichert.

Ein Trauma stört diese Harmonie, indem es "Unbewusstheit" verursacht. Verdrängung verhindert den Zusammenschluss dieser drei Ebenen und bedingt globale Funktionsstörungen sowohl im Körper als auch im geistig-psychischen Bereich. Sie führt zu Über- oder Untersekretion von Organen, verzerrt die körperliche Entwicklung und verändert die Funktion von Blutgefäßen. Wenn Verdrängung und Neurose vorherrschen, können wir etwas Bestimmtes fühlen und etwas ganz Anderes denken. Wir können auf eine Weise reagieren, die

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eher mit einer Sache in Verbindung steht, die in der Vergangenheit geschah, als mit etwas, das in der Gegenwart vor uns liegt. Wir reagieren auf die Gegenwart durch den Filter der gespeicherten Erinnerungen.

Der Wissenschaftsredakteur der New York Times, Daniel Goleman, macht den verbreiteten Fehler, intellektuelles Abrufen mit Erinnerung zu verwechseln: "Gewisse Erkenntnisse legen nahe," schreibt er, "dass....Kleinkinder die Fähigkeit, sich an signifikante Episoden aus ihrem Leben zu erinnern, erst dann erwerben, wenn sie über sprachliche Fähigkeiten verfügen."  Des weiteren zitiert Goleman Wissenschaftler und bemerkt, dass die Sprache das Medium für Erinnerung und Wiederfinden sei. Solange wir nicht sprechen, so sagt er, können wir uns nicht erinnern. Die gesamte Auffassung einer präverbalen, emotionalen Erinnerung ist übersehen worden, ganz zu schweigen von der prä-emotionalen Erinnerung aus der Zeit vor der Geburt. Wir müssen klar hervorheben, dass Erinnerung mit ihren eigenen Begriffen, auf ihrer eigenen Ebene  und in  der ihr eigenen Art und Weise abgerufen wird; sie hat nichts mit Worten an sich zu tun.

Wenn die Eltern ihr Kind sehr früh verlassen, ist das Kind vielleicht noch nicht in der Lage, das Geschehen mit Begriffen zu beschreiben wie "Sie lieben mich nicht und wollen nicht bei mir sein". Aber die Botschaft existiert dennoch als Gefühl. Das fragile kindliche System kann nicht mehr normal reagieren und es selbst sein. Es muss sich verschließen und das Gefühl vergraben, um  durchzukommen. Emotionale Erinnerung kann eine große Traurigkeit und Leere ohne eine besondere Szene beinhalten; aber hier ist das Feeling die Erinnerung. Beim Erwachsenen nennen wir es Depression.

Die Mechanismen der Verdrängung

In der menschlichen Evolution klafft eine große Lücke zwischen der Entwicklung der ersten Linie und dem Auftreten des denkenden Kortex. Sie sind buchstäblich Welten auseinander, so dass ein tief im Nervensystem verankertes Trauma einen langen Weg gehen muss, bevor es zu vollem Bewusstsein kommt. Ein raffiniertes Schleusensystem zwischen den Ebenen kann seine Tore verschließen, wenn übermäßiger Schmerz eintritt. Ihr Zweck ist, die oberen Ebenen davor zu bewahren, von dem Geschehen im Untergrund überwältigt zu werden, und die Qualen des frühen Schmerzes vom Bewusstsein fern zu halten. Diese Schleusen halten die Kohärenz des vollständigen Bewusstsein [conscious-awareness] - der dritten Linie -  aufrecht. Ihr Zweck besteht auch darin,

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Hyperreaktivität zu dämpfen, die Sekretion von Stresshormonen niedrig zu halten und die Höhe des Blutdrucks und der Herzfrequenz zu kontrollieren. Die chemische Kraft, die die Schleusung vermittelt und uns unbewusst machen kann, ist das System der inhibitorischen Neurotransmitter, der natürlichen Körperopiate. Es gibt mehr als fünfzig von ihnen, und sie verhindern die Übertragung der Schmerzbotschaft, so dass sie nicht auf andere Schaltkreise des Gehirns übergreift; kurz gesagt halten sie uns unbewusst.

Zwanzig Jahre sind seit Entdeckung einer Vielzahl von Neurotransmittermolekülen vergangen. Forscher überlegten, dass wir, wenn der Körper so viele Rezeptoren für schmerztötende Drogen wie Morphin, ein Derivat der Mohnblume, besitzt, auch unsere eigenen Schmerzkiller produzieren müssen, weil es sonst keinen Grund für die Rezeptoren gäbe. Sie lernten auch, dass Drogen, die aus dem Opium der Mohnblume hergestellt werden, wirken, weil sie etwas nachahmen, was wir tatsächlich selber herstellen: die Endorphine. Diese repressiven Schmerzkiller sind in ihrer Molekularstruktur dem Morphin  ähnlich.

Einige der Endorphine, die der Körper herstellt, um  schwerem Schmerz zu begegnen und ihn zu blockieren, sind unglaublich wirkungsvoll, Hunderte Male stärker als Morphin. Die Tatsache, dass der Körper sich selbst gegen Schmerz anästhetisieren kann, erklärt, warum sich ein Fußballspieler mitten im Spiel verletzen kann, aber den Schmerz erst wahrnimmt, wenn das Spiel vorbei ist.

Wie ich erwähnt habe, kann Schleusung (Verdrängung) auf zweierlei Art hervorgerufen werden: wenn die Intensität eines einzelnen Ereignisses überwältigend ist, wie bei dem Schmerz, wenn man ihn ein Pflegeheim geschickt wird, oder wenn sich relativ milde Schmerzen zu einer Informationsüberlastung summieren. In beiden Fällen ist das Gefühl exzessiv, und die verdrängenden Neurosäfte gewährleisten, dass sie sich ins Gegenteil verkehren - kein Gefühl. Somit führt die Überlastung zu Stillstand und fehlender Reaktion, wenn das Gehirn übermäßig erregt wird, wie es auch bei elektrischer Stimulierung durch Elektroschock-Therapie geschieht. Das ist eindeutig in Experimenten an Katzen gezeigt worden, bei denen im Hirnstamm implantierte Elektroden die Produktion von Endorphinen anregten.Wenn Schmerz im Aufsteigen begriffen ist, steigt die Zufuhr an Endorphinen vorübergehend an; das führt dazu, dass Nervenzellen "still" werden und auf die überwältigende Informationsmenge nicht mehr reagieren können. Wir sind dann unempfindlich gegen Schmerz.

Schleusung ist wie eine unbewusste Verschwörung: Die unteren Ebenen

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teilen der höchsten Ebene nichts mit, weil sie nicht wollen, dass die dritte Ebene auseinander fällt. Und der Kortex sagt: "Erzähl' mir nicht zuviel, weil ich es nicht verkraften kann." Es gibt verschiedene Arten von Neurotransmittern mit unterschiedlicher Stärke. Wenn die übertragenden Neuronen oder die aussendenden Neuronen nicht feuern können, erfahren die höheren Ebenen nichts von der Botschaft, die von den tieferen Ebenen durchzudringen versucht. Die Reaktionen können auf körperliche Funktionen umgelenkt werden, sodass die Eingeweide durch die Botschaften aufgewühlt werden, die es nicht geschafft haben, ins vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] zu gelangen. Oder die Energie der Botschaft gelangt auf Umwegen zum Kortex, wo sie seltsame Ideen und Wahrnehmungen erzeugt. Das ist eine der Bedeutungen von Funktionsverlagerung [dislocation of function]. Die Nachricht befindet sich nicht mehr auf dem Weg zu ihrer eigentlichen Bestimmung - der Verknüpfung. Sie wird verschoben, so dass es zu keiner vollen Reaktion kommt. Der wesentliche Unterschied ist der Ort, wo die Schleusung stattfindet. Die Neurotransmitter scheinen wirkungsvoller zu werden, wenn wir die Bewusstseinsebenen im Gehirn hinabsteigen. Die höher gewichteten Schmerzen auf tiefen Ebenen erfordern die stärkste Schleusung.

Die Tore der Verdrängung sind wie ein System von Schleusen auf einem Fluss, das nur den Durchfluss einer bestimmten Menge Wasser je Zeiteinheit erlaubt. Je größer der Schmerz, umso mehr Neurosäfte werden sekretiert, um die Tore zu schließen. Interessanterweise entwickeln wir keine Toleranz gegen unsere eigenen natürlich erzeugten Opiate, im scharfen Gegensatz zu den Opiaten, die Süchtige benutzen, bei denen sich schnell eine Toleranz entwickelt.

Den Kontakt mit der Realität zu verlieren bedeutet zuerst, den Kontakt mit der inneren Realität zu verlieren, was dann die Wahrnehmung der äußeren Realität beeinflusst. Neurose ist die ständige Kollision zwischen den Einprägungen einer tieferen Ebene und kortikaler Hemmung. Die Neurosäfte beeinflussen nur die Schmerzwahrnehmung durch höhere Ebenen des vollständigen Bewusstseins [conscious-awareness] , nicht den Schmerz selbst. Ein Mensch kann in tropischen Gefilden sitzen und sich ganz sorglos der Betrachtung von Ebbe und Flut widmen, während gänzlich ohne sein Wissen ungewöhnlich große Mengen an Stresshormonen durch sein System branden, um Schmerz zu unterdrücken. Bald findet er heraus, dass er nicht stillsitzen und entspannen kann. Es kann eine große Diskrepanz bestehen zwischen der vermeintlichen Entspanntheit einer Person und den Werten, die sich durch Messung seines physiologischen Stressspiegels offenbaren.

Endorphine sind nicht die einzigen Neuroinhibitoren. Serotonin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) sind weitere. GABA hilft dem

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Kortex, erregende Nachrichten aus dem limbischen System zu hemmen. Wenn der Schmerz andauert, scheinen die GABA-Vorräte zur Neige zu gehen und dem Schmerz zu gestatten, ins Bewusstsein der dritten Ebene vorzudringen. Wenn er sich dem Kortex nähert, ruft er Angst hervor; eine Warnung, dass Gefahr im Verzug ist. Die Gefahr ist die volle Reaktion: Wenn der eingeprägte Schmerz dem vollständigen Bewusstsein näher kommt,, erreichen die vitalen Körperfunktionen  lebensbedrohliche Werte.

Die Geschichte dieser Agenten der Schleusung und Verdrängung reicht zu den mikroskopischen Protozoen und sogar noch weiter zu deren Vorläufern ins Pflanzenleben zurück. Wie anders könnten wir Gehirne besitzen, die auf ein Mohnderivat reagieren, wenn nicht die Evolution den Gebrauch all dessen begünstigt hätte, was über Millionen von Jahren dem Überleben diente? Solomon Snyder und andere haben beobachtet, dass es bei primitiven Fischen und beim Katzenhai genauso viel Opiatbindung gibt wie bei Affen und Menschen.

Die Endorphine sind der Ursprung des Unbewussten und in gewisser Hinsicht, glaube ich, sind sie das Fundament der Evolution und das Rückgrat der Zivilisation. Ich bezweifle, dass menschliches Leben ohne Verdrängung so weit gekommen wäre. Ich bezweifle, dass ohne Schleusen überhaupt ein denkender kortikaler Apparat existieren könnte. Schleusen sind wesentlich für die Gehirnfunktion, weil jede Ebene nur mit weniger Information als die tiefer gelegene klarkommen kann. Wenn unser vollständiges Bewusstsein [conscious-awareness] mit all den sensorischen Daten und Assoziationen konfrontiert wäre, die ständig nach oben strömen, würde es überwältigt werden. Und wenn die Verdrängung auf der dritten Linie defekt ist, wenn zuviel schmerzvolle Information hochbrandet, wird die Konzentration ebenso wie der Schlaf, die Aufmerksamkeitsspanne und die Kohärenz des Denkens beeinträchtigt.

Die Abkoppelung von exzessivem Schmerz war eine sine qua non für die menschliche Evolution.  Um zu überleben, benötigten wir ein funktionierendes vollständiges Bewusstsein, das uns durch den Tag lenken würde, ohne dass der Organsimus sich in unerledigten Geschäften verlor. Wir brauchten eine mentale Kraft, die uns das Leiden im Inneren vergessen lassen konnte. Die Entwicklung des Kortex erlaubte uns Menschen, uns selbst zu täuschen und die unteren Ebenen außer Sicht und außer Acht zu lassen. Selbsttäuschung war eine evolutionäre Notwendigkeit, und nichts ist so grenzenlos wie Selbsttäuschung.

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Was ist so gefährlich an aufsteigenden Gefühlen? Die Antwort ist ein geschwächtes Bewusstsein, die Entwicklung, die uns von allen anderen Tierformen unterscheidet. Bewusstsein beinhaltet nichts Geringeres als unsere Menschlichkeit. In seiner Bedeutung steht es gleich neben dem Leben an sich. Wenn wir es verlieren, wie bei schwerer Alzheimer Krankheit, vegetieren wir nur noch dahin. Wir erkennen unser Lebensgefährten nicht mehr, können keine Emotionen zeigen beim Tod uns lieber Menschen und können keine Freude zeigen.

Bewusstsein ruft volle Reaktionsfähigkeit hervor und ist zugleich ihr Bestandteil. Damit es nicht zuviel Schmerz ausgesetzt wurde, kam die Verdrängung ins Spiel. Wenn Schmerz da ist, müssen wir den Zugang zu Erinnerungen einschränken, die sich auf tieferen Ebenen befinden, auch wenn der Preis partielle Unbewusstheit ist. Beinahe jedes Verteidigungsmänöver, das wir unternehmen - wie Trinken oder Drogen, ständiges Reden, zwanghaftes Einkaufen, Besessenheit, unmäßiges Arbeiten -, ist ein Versuch, ein Übermaß an Energie abzuleiten, sodass das Bewusstsein der dritten Linie seinen Zusammenhang bewahren kann, auch wenn es ein neurotischer Zusammenhang ist.

Die meisten Tranquilizer gewährleisten, dass die Versorgung mit Neuroinhibitoren ausreichend ist, um Schmerz aus dem Bewusstsein auszusperren. Die nahezu einzige Funktion des weithin verkündeten Medikaments Prozac besteht darin, sicherzustellen, dass man gut mit Serotonin versorgt ist. Was stellt die Person ruhig? Den Schmerz. Und es ist dieser eingeprägte Schmerz, der die intern hergestellten Vorräte an repressiven Chemikalien erschöpft, so dass jemand versuchen muss, außerhalb seiner selbst  mehr davon zu bekommen. Es ist das frühe Trauma, das die Serotonin-Vorräte chronisch dezimiert. Wie sich herausstellte, haben Affen, die eine frühe Trennung von ihren Eltern erleben, einen niedrigen Serotoninspiegel.

Hypnose baut oft darauf, dass sie die Mechanismen der Verdrängung zu einer Gemeinschaftsaktion zusammenruft: "Hypnotische Suggestion" wird benutzt, um Kopfschmerz, Rückenschmerz und quälenden Krebsschmerz zu kontrollieren, ganz zu schweigen von seiner Verwendung in der Psychotherapie; alles zu dem Zweck, die Produktion von Neuroinhibitoren auszulösen. Viele in der "Verhaltensmedizin" verwendeten Strategien benutzen diese "Geist-Körper"-Verbindung. Biofeedback, progressive Entspannung, kreative Bildersprache und dergleichen hat sich gegen chronischen Schmerz und andere Leiden als wirksam erwiesen.

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Aber was geschah mit dem Schmerz? Nehmen Sie zum Beispiel ein Placebo (eine harmlose Zuckerpille). Der Patient weiß nicht, dass die Pille ein Placebo ist, aber ihm wird gesagt, dass sie ihn davor bewahre, während einer Zahnbehandlung Schmerz zu fühlen; und so ist es tatsächlich. Der Glaube erweist sich als stärker als die Empfindung des Bohrers, der einen Nerv berührt. Es bedeutet nicht, dass der Bohrer nicht weh tut, nur dass die Person es nicht fühlt. Ein mentaler Prozess (der zweifelsohne die Freisetzung von Neuroinhibitoren bewirkt) macht emotionalen Schmerz zunichte. Auf ähnliche Weise kann er bewirken, dass wir uns des emotionalen Schmerzes nicht bewusst sind. Und darum geht es bei Neurose: unempfindlich gegen realen Schmerz zu werden. Wir hören auf zu fühlen oder fühlen weniger. Die Verdrängung hat ihren Job erledigt. Ich habe mir oft gedacht, dass Anästhetika eine der größten Erfindungen aller Zeiten seien. Aber die Natur hatte sich bereits darum gekümmert - indem sie die Anästhesie von innen erfand.

Die Macht von Vorstellungen, Schmerz zu unterdrücken, ist auch der Grund, warum die Ideologie von Gruppen wie den Anonymen Alkoholikern für so viele Leute attraktiv ist. Bestandteil der Botschaft, die man in AA-Meetings erhält, ist: "Du bist nicht allein. Wir bleiben bei dir und helfen dir. Es wird immer Hilfe geben!" Das wirkt direkt dem Gefühl von "Ich bin allein, und es gibt niemanden, der mir hilft!" entgegen - ein Gefühl, das so viele von uns seit Beginn ihres Lebens tief im Inneren mit sich herumtragen. Es sind genau diese realen Gefühle, die uns gezwungen haben, zu Alkohol Zuflucht zu nehmen, um sie unterdrückt zu halten. Jemand sucht Hilfe bei einem Zwölf-Schritte-Programm, und das Erste, was man macht, ist, die Person mit einer Ideologie abzufüllen, die gegen die interne Realität anläuft. Die Ideologie wiederum hilft, eine gute Verteidigung aufzubauen, und obgleich sie hilfreich ist, ist sie keine Heilung.

Erinnerungen, die uns formen

Ein vernachlässigtes Baby, das in der Wiege Hunger leidet, wächst auf und verliert den Kontakt mit dieser Erfahrung. Als Erwachsene ist die Frau eine unersättliche Esserin, weil das ein symbolischer Weg ist, sich das frühe Hungergefühl vom Leib zu halten. Sie geht zu einem Verhaltenspsychologen, der ihr beizubringen versucht, dass es nur darum geht, ihre Essgewohnheiten zu ändern. Vielleicht funktioniert die neue Diät, aber nicht lange, weil die zugrunde liegende Ursache ihres Verhaltens nicht aufgedeckt worden ist.

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Die Tatsache, dass Verdrängung die Kommunikation unter den Bewusstseinsebenen abschneidet, erklärt, warum  vielen Leuten jämmerlich und verzweifelt zumute ist, obgleich ihr Leben an der Oberfläche den Anschein erweckt, als müssten sie zufrieden sein. Es erklärt auch, warum Erwachsene sagen können, sie fühlten sich wunderbar, wenngleich ein Kessel voller Schmerz im Untergrund brodelt. Wenn die Leidenskomponente eines Traumas vom Bewusstsein weggeleitet wird, besteht ein Spalt zwischen dem realen leidenden Selbst und dem Selbst, das sich dessen unbewusst ist. Danach befinden sich zwei getrennte Selbst im selben Körper im Widerstreit, üben Druck auf die verschiedenen Subsysteme aus verwenden wertvolle Energie darauf, das Leiden zu unterdrücken. Weil sie das vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] nicht erreicht hat und weil keine volle Reaktion zustande gekommen ist, beeinflusst die Einprägung weiterhin Verhalten und Physiologie der Person, als sei das Ereignis gegenwärtig.

Die Vorstellung von verborgenem Schmerz ist für uns aus einer Vielzahl von Gründen schwer zu akzeptieren:

Ÿ         Er tut nicht bewusst weh.

Ÿ         Er liegt so tief und so weit in der Vergangenheit, dass er weitgehend unzugänglich ist.

Ÿ         Die bloße Natur der Verdrängung bestimmt, dass der Schmerz nicht anerkannt werden kann.

Ÿ         Der Schmerz beginnt, lange bevor wir Worte haben, beeinflusst Organsysteme und physiologische Reaktionen, die uns neurotisch machen, bevor jemand (einschließlich uns selbst) unser Verhalten beobachten kann. Er lässt sich nur auf derselben Bewusstseinsebene wiederfinden, auf der er geschah, und auf dieselbe Weise, wie er abgelegt worden war.

Ÿ         Wir sind zu sehr gewöhnt, Neurose als Verhalten zu betrachten, und wir sind es nicht gewohnt, die Tatsache zu bedenken, dass Organe (wie das Gehirn) auf bestimmte Umstände reagieren und sich entsprechend ändern, und dass die Summe dieser Organe unser "Ich" ist.

Ungelöster Schmerz kann eine Kette von Ereignissen und falsch verstandenen Gefühlen in Gang setzen, die sich auf unser persönliches Leben und auf das Leben derer, die wir lieben, auswirken. Im nächsten Kapitel veranschauliche ich das mit der Geschichte von Sam, Patricia und Celia.

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DIE PERSÖNLICHKEIT UND DIE KETTE DER SCHMERZEN

 

Ich erzähle Ihnen gleich eine Geschichte über drei verschiedene Menschen: Sam, der aggressive Draufgänger; Patricia, die Depressive; und Celia, die Manisch-Depressive. Es sind sehr unterschiedliche Leute, weil sie unterschiedliche Geburten hatten. Sam, Patricia und Celia sind alle neurotisch, aber ihre Neurose manifestiert sich sehr unterschiedlich. Reden wir zuerst über Sam und Patricia.

Sam und Patricia: Der Sympath und die Parasympathin

Sams Mutter war frigide. Der Brennpunkt eines Großteils ihrer Spannung lag im unteren Mittelbereich ihres Körpers. Als sie gebar, öffnete sich ihr widerwilliges System schließlich doch. Sam kämpfte viele Stunden, um herauszukommen und hatte schließlich Erfolg.

Patricias Mutter war sehr verklemmt, konnte nicht viel Schmerz aushalten und wurde während des Geburtsprozesses schwer anästhetisiert. Patricia kämpfte kurzzeitig, bevor das Betäubungsmittel in ihren eigenen Körper drang und viele Schlüsselfunktionen stilllegte. Sie konnte nicht einmal darum kämpfen, herauszukommen, weil das Medikament, das ihrer Mutter verabreicht wurde, seinen Weg in ihren winzigen Körper fand und sie praktisch außer Gefecht setzte. Sie war ein 'blaues Baby' und musste geschlagen werden, um ins Leben zu finden.

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Ihr unterdrücktes Atmungssystem begann erst nach diesem Klaps zu funktionieren.

Während Patricia sehr früh den Kampf aufgeben musste und im passiven Modus auf die Welt kam, kam Sam im aktiven Modus und die ganze Zeit kämpfend auf die Welt. Sams Kampf brachte ihm schließlich Erfolg. Patricias Prägung war äußerste Machtlosigkeit - nicht genügend gerüstet zu sein, um ihr eigenes Leben zu retten. Dieser unterschiedliche Eintritt in die Welt prägte sich in ihre Systeme ein. Der eine wurde zu einem aktiven, vorandrängenden, aggressiven Individuum, die andere zu einem resignierenden, introvertierten und passiven Menschen.

Der Geburtsprozess und insbesonders die Art, wie wir geboren werden, wird als "Schnitt!-Ausdrucken!"-Erinnerung, die nie wieder verschwindet, in das Nervensystem eingestempelt. Diese Einprägung bestimmt den Modus unserer Persönlichkeit und liefert den Plan dafür, wie wir auf zukünftige Ereignisse reagieren werden. Darüber hinaus verschlimmern Geschehnisse in der Kindheit das Problem, weil jedes Individuum dazu neigt, auf neue Ereignisse im Sinne seines Geburtmodus zu reagieren.

In einer strengen, unterdrückenden elterlichen Atmosphäre war Patricia leicht die Unterlegene und zog sich noch weiter in sich selbst zurück. Sie war resigniert, sah keine Alternative oder Auswege aus Problemen. In derselben Atmosphäre war Sam rebellisch, kämpferisch und ungehorsam; ständig geriet er mit seinen Eltern in Konflikt und machte ihr Leben unerträglich. Sam gab sich niemals geschlagen; er rannte wie verrückt vor einer Hoffnunglosigkeit davon, die er selten bewusst wahrnahm.

Patricia war ruhig und nachdenklich. Sie hielt sich an sich selbst und tat nie etwas freiwillig. Sam war ein hyperaktiver Youngster, ein Rowdy, er war streitsüchtig und konnte in der Schule nicht still sitzen. Diese Verhaltensweisen leiten sich aus dem autonomen Nervensystem ab, das zwei Zweiglinien hat. Sam wurde jemand, der von seinem sympathischen Nervensystem dominiert wurde, ein "Sympath." Patricia war eine "Parasympathin", die von ihrem parasympathischen System dominiert wurde.

Das sympathische System steuert Energie verbrauchendes Verhalten wie die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Es mobilisiert uns, erhöht die Körpertemperatur und reduziert den peripheren Kreislauf (schafft dadurch Blutreserven für die Muskeln und bereitet auf  Kampf oder Flucht vor), so dass das Gesicht bleicher ist und die Hände und Füße vielleicht kalt. Es führt dazu, dass wir  häufig urinieren, nervös schwitzen, einen trockenen Mund haben und eine hohe

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Stimme. Im Gegensatz dazu kontrolliert der parasympathische Zweig des Nervensystems die Energie bewahrenden Prozesse von Ruhe, Schlaf und Erholung. Es erweitert die Blutgefäße, macht die Haut warm und fördert die Heilung. Wenn wir uns im parasympathischen Modus befinden - mit entspannterer Muskulatur, um Energie zu sparen - senkt sich unsere Stimme auf ein langsames, honigsüßes Timbre.

Eine gesunde Person bewahrt ein gutes Gleichgewicht zwischen den zwei Systemen. Idealerweise arbeiten die zwei harmonisch zusammen, sodass wir tagsüber mehr "sympathisch" und im Schlaf mehr "parasympathisch" sind und eine ausgeglichene Mischung dieser zwei Tendenzen besteht. Aber Traumen, die geschehen, bevor wir das Licht der Welt erblicken, können uns in die eine oder in die andere Richtung verschieben. Was Patricia betrifft, so versetzte sie ihre Prägung ein für allemal in den "Aufgebens"-Modus. Patricia war immer "in ihrem Selbst", introspektiv, verträumt, emotional weit weg. Sie musste sich von ihrem fühlenden Selbst entfernen, weil die emotionale Last, die das Trauma in sich barg, mehr war, als sie integrieren konnte.

Sam ist optimistisch, Patricia pessimistisch; ihre Einstellung gleicht sich dem Ergebnis ihres jeweiligen Geburtskampfes an. Patricia befindet sich für immer im apathischen Modus, sie verliert den Mut und gibt auf, wenn sie sich nur dem kleinsten Hindernis gegenüber sieht. "Was hat das für einen Zweck?" ist ihre Haltung, denn was hatte es ursprünglich für einen Zweck? Sam kennt keine Hindernisse, und so ist er wahrscheinlich erfolgreicher.

Solche dialektischen Kontraste gibt es im Überfluss. Entschlossenheit versus Resignation, zum Beispiel: Sam bäumte sich auf und hatte Erfolg, während Patricia sich schnell überwältigen ließ und nur mit dem Strom schwimmen konnte. Hartnäckigkeit versus Aufgeben: Sam lernte, dass Anstrengung lebensrettend war, während Patricia lernte, dass Beharrlichkeit gefährlich war. Sam muss jedes Projekt beenden, weil Beenden Leben bedeutet, wogegen Patricia ein Dutzend unerledigter Geschäfte hat, weil Beenden Unheil bedeutet. Sie schafft es nicht, sich zusammenzunehmen und die Dinge zu erledigen; ihre Lehrer nannten es mangelnde Motivation. Sam ist alles andere als unentschlossen; nichts kommt ihm in die Quere. Er ist ein Bursche, der gerne ausgeht, die Initiative ergreift und sich bemüht, Leute zu treffen. Patricia blickt nach innen, nachdem sie am Anfang in sich selbst zurückgetrieben worden war. Ihre Geburt lehrte sie, dass hinauszugehen nicht sicher ist, und so  ist Zurückhaltung ihr Leitmotiv. Man musste sie "herausziehen",

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und auch jetzt muss man "sie herausziehen", eine Wiedererschaffung ihres Prototypen, der ihr Leben definiert.

Patricia ist in vielerlei Hinsicht konservativ, Sam ist radikal. Weil das Verlassen des Mutterleibs für Patricia einer Katastrophe gleichkam, schuf sie sich später ihren kleinen Kokon und wollte in ihm bleiben. Deshalb wird ihr Veränderung gefährlich. Mit Routine ist sie glücklich, und sie will Führer, die versprechen, "traditionelle Werte" aufrecht zu erhalten. Sam rebellierte gegen seinen tyrannischen Vater, wie er gegen seine Mutter in ihrem Leib rebellierte. Leben bedeutet für ihn Rebellion und an die Grenzen zu gehen. Um all das zu begründen, behilft ersich mit seiner revolutionären Philosophie, die für ihn das Verlangen nach Rebellion rationalisiert.

Sam ist weniger sensibel als Patricia, weil er sich die Zeit nicht nimmt, um nachzudenken; er schaut in die Zukunft. Patricia schaut in die Vergangenheit, weil sie ständig auf eine Katastrophe reagiert, die bereits geschehen ist aber in ihrer Vorstellung erst bevorsteht. Bei Neurose sieht man die Gegenwart nur durch den Schleier der Vergangenheit, weil das System zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht unterscheiden kann.

Weil Sam bei der Geburt schnell lernen musste, lernt er auch jetzt schnell, und somit reagiert er gut in Notsituationen. Patricia gefriert in Notlagen. Sie braucht Zeit, um zu reagieren. Ihr Ansatz ist methodischer, ihre Art, die Dinge auszuführen, ist detaillierter. Sam sieht das große Bild, die globale Perspektive. Er ist kein Mann für Details. Er musste instinktiv handeln, lange bevor sich sein Kortex entwickelte, dessen Schlüsselfunktion Hemmung oder Verdrängung ist. Wenn Impulse aufsteigen, bahnt er sich seinen Weg.

Warum finden die Sams auf der Welt die Patricias? Warum verlieben wir uns in Menschen mit Neurosen, welche die unseren ergänzen? Es scheint, als suche jeder von uns nach der anderen Hälfte seines oder ihres Nervensystems - die Hälfte, die es gäbe, wenn das Trauma nicht dazwischen getreten wäre.

Patricia wird von den Ereignissen beherrscht und braucht Sam, damit er an ihrer Stelle handelt. Sie braucht jemanden, der sie führt und ihr sagt, was sie tun soll. Sam braucht einen passiven, nachgebenden Typ, der seine konfliktträchtige Art hinnimmt. Er braucht auch die Stabilität, die Patricia anbietet. Wäre Patricia wie Sam, würden die Funken fliegen, und wäre Sam wie Patricia, könnten beide in Depression versinken.

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Aber nachdem sie geheiratet haben, ist Sam von Patricia enttäuscht, weil sie nie irgendwo hingehen will, sondern damit zufrieden ist, zuhause zu bleiben und sich auf der Couch zu kringeln. Für Patricia läuft alles im Energiesparmodus ab, so wie es sein musste, damit sie ihre Geburt überleben konnte. Sam ist zwanghaft in Bewegung: aufstehen, herumlaufen, ein Projekt finden. Ruhig dazuliegen ruft die drohende Gefahr zu sterben wach, weil Passivität ursprünglich Tod bedeutete. Aber das ist keine zugängliche Erinnerung - er beginnt sich nur unwohl zu fühlen. Patricia ist unglücklich, weil Sam nicht stillsitzen kann, ständig unterwegs ist und keinen Urlaub nehmen kann, ohne sich zu überlegen, ob er nicht zur Arbeit zurückkehren soll. Sam ist unglücklich, dass Patricia nicht so quirlig ist wie andere Frauen. Sie verlor ihren Lebensfunken zu einer Zeit, die länger zurückliegt, als sich beide vorstellen können; aber sie ist sein stabilisierender Faktor, genau das, was ihn ursprünglich zu ihr hinzog.

Es ist acht Uhr morgens. Sam wacht im aktiven Modus auf, bereit für alles, was da kommen möge. Er springt aus dem Bett, zieht sich an, trinkt seinen Kaffee und ist für den Tag bereit. Er ist ein Tagmensch, voller Energie und marschbereit vom Augenblick des Erwachens an. Patricia ist träge, nahezu betäubt, kommt nur langsam zu vollem Bewusstsein. Matt und schlaff liegt sie bis zehn Uhr im Bett. Sie kann sich einfach nicht in Bewegung setzen. Sie hat nicht gut geschlafen mit den Albträumen vom Steckenbleiben, Ersticken in einer Höhle ohne Licht und Luft. Als sie aufwachte, schlug ihr Herz so schnell, dass sie dachte, sie müsse sterben - ihre Geburtsprägung  der Todesnähe. Ihr ganzes Leben hatte sie ständige Albträume. Sam kann sich nicht einmal an seine Träume erinnern. Er ist weit von seinen Gefühlen entfernt; sie steckt in den ihrigen fest. Patricia ist langsam. Ihr langsamer Stoffwechsel, ihre langsamen körperlichen Raktionen und besonnenen Gedankengänge machen sie zu einem sorgfältigeren Menschen. Sie macht weniger, aber sie macht es besser. Sie ist ein Nachtmensch, der erst nachts zu voller Wachheit und Aktivität findet, wenn Sam müde und reif fürs Bett ist.

Sam ist ungeduldig, wenn Patricia über ihre Depression und Verzweiflung beim Aufwachen klagt. Natürlich weiß er nicht, dass es ihr ursprüngliches Geburtsgefühl ist, das prototypische vage Gewahrsein des Todes. Sie ist sich sicher, das alles "zu Scheiße wird". Ihre Philosophie spiegelt unbewusst wider, was geschehen war: zuerst ging alles gut,

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und dann plötzlich wendete sich alles zum Schlechten. Sam konnte Depression nie verstehen.

In tagtäglicher Wiedererschaffung seiner Geburt erzeugt Sam eine Menge Druck, der ihn am Laufen hält. Viel zu tun, da und dort hin, überall mit dabei. Er ist ein extrovertierter Typ mit sehr wenig Phantasie. Patricia hasst Sams "Unwirklichkeit"; er hält nicht inne, um nachzudenken, weil er die negative Seite der Dinge nicht sehen kann. Sam stellt sich selbst nicht zuviele Fragen. Er handelt. Patricia grübelt ständig über ihre missliche Lage, ihr Leben, ihre Entscheidungen und ihre Orientierung. Sie ist sich nicht sicher, was sie tun soll, weil sie ursprünglich nichts tun konnte. Sam mag Patricias Pessimismus nicht. Ironischerweise glauben sowohl Sam als auch Patricia, er oder sie sei ein Realist. Beide sehen die Welt durch ihre Prägung und denken, es sei die Realität. Wenn sie  irgendwie einander trauen könnten, könnten sie ihre Wahrnehmungen kombinieren und das ganze Bild sehen.

Patricia malt seit neuestem, und sie macht das gut. Unwissentlich malt sie ihre Gefühle: knorrige Bäume, die Leute mit Masken der Angst umklammern, ihre Albtraum-Figuren, Variationen über Edvard Munchs Der Schrei. Sam hat keine Zeit für Kunst; in seinem Kopf sind Zahlen, keine Bilder: Verkaufszahlen, Hochrechnungen und so fort. Patricia versteht nichts vom Geschäft oder Geld, aber Sam ist darin hervorragend. Er läuft der Katastrophe davon; sie sieht die Katastrophe überall.

Sam ist ehrgeizig. Ständig prüft er, wie er die Dinge in Zukunft besser machen kann. Patricia ist kein Selbststarter; sie braucht Disziplin von außen, aber wenn sie einmal in ihrem Trott ist, könnten sie keine wilden Pferde da herausholen. Sie will keine Abwechslung in ihrem Leben. Weil sie bei der Geburt keine Alternativen hatte, sieht sie keinen Ausweg aus Schwierigkeiten. Sam hasst Disziplin. Er will in niemandens Hand sein, denn als er es war, hing sein Leben davon ab, und er verlor es beinahe. Er kann keine Regeln und Verordnungen ertragen, oder einen Boss über ihm. Er ist der klassische Elefant im Porzellanladen.

Sam mag keine Drogen. Er braucht jedoch Ruhephasen, da sein Motor auf Hochtouren läuft, aber wenn er sein Leben so arrangieren kann, dass es seinen hochdrehenden Motor rationalisiert, wird er kein Verlangen nach Tranquilizern spüren. Er denkt, er stehe unter all diesem Druck von außen, wenngleich er

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ebenso viel Druck von innen hat. Nie ist er glücklicher, als wenn er unter Termindruck steht. Aber er neigt dazu, zu sehr auf der Hut zu sein und hat Probleme beim Einschlafen. Gelegentlich braucht er etwas, das ihm schlafen hilft, das diesen Motor abstellt, der seit der Geburt permanent auf Hochtouren läuft. Patricias Drogen sind 'Uppers' [anregende, aufputschende Drogen]. Kaffee eröffnet den Tag, Alkohol inspiriert sie am Abend. Die Drogen, die sie beide nehmen, sind dann ein Versuch, normal zu werden; das System zu normalisieren, das zu Beginn des Lebens in Schieflage geraten war.

Sam kann Patricias Verhalten in Restaurants nicht ausstehen. Sie kann sich nie entscheiden, was sie essen soll, will immer wissen, was alle anderen bestellen wollen, bevor sie ihre Wahl trifft. Wenn sie mit ihrem Analytiker darüber redet, bietet er die Einsicht an, dass sie sich unsicher in ihrer Wahl sei. Aber man muss tiefer blicken, um zu finden, was jemanden wie Patricia unschlüssig macht. Es geht auf den Anfang zurück, als sie nicht wusste, was sie unternehmen sollte. Der tiefliegende Ursprung ihrer Unsicherheit war ihre unbewusste Furcht, dass jede Bewegung, die sie machte, unheilvolle Folgen haben würde. Nur indem sie dem Beispiel anderer folgte, konnte sie die "richtige"Bewegung erlernen.

Umgekehrt ist auch Patricia mit Sams brusker, fordernder, unmanierlicher Art in einem Restaurant unglücklich. Sam dirigiert die Show. Er wählt das Restaurant, die Essenszeit, wer eingeladen wird und wer nicht. Er muss den besten Tisch haben; sein Gefühl, dass er für seine Eltern nie wichtig war, treibt ihn, drauf zu bestehen, wie eine wichtige Person behandelt zu werden. Patricia ist eine Mitläuferin. Sie braucht Führung, und er muss der Führer sein.

Sam ist nicht so mitleidsvoll wie Patricia. Sie sieht mehr in den Leuten. Sie träumt von einem sensiblen Ehemann, der ihre Bedürfnisse erkennt. Leider wird es nie Wirklichkeit werden, weil sie Sam braucht als Ausgleich für das, was ihr fehlt. Und so ist Patricia unglücklich. Ihre Bedürfnisse sind widersprüchlich: sie will dominiert und geführt werden, und sie will einen stabilen, sensiblen Partner haben, der sie 'herauszieht'. Sam dominiert Patricia, ist aber unsensibel und gibt sich keinen nachdenklichen Diskussionen hin. Sie mag es nicht, akzeptiert es aber und wird damit dem Prototyp der Passivität gerecht.

Sam und Patricia haben ein Sexproblem. Weil Patricia tief verdrängt, kann sie keine Erregung erleben, ohne sich zu verschließen.

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Ihre Erregung geht bis zu einem gewissen Punkt, dann stirbt alles in ihr ab. Sam ist unglücklich, weil Patricia beim Sex einfach daliegt und nicht kreativ ist; ihm scheint, dass sie den Akt nur toleriert. Sie fühlt, dass er nicht zärtlich ist, dass er einfach auf sie draufspringt. Sie will Zärtlichkeit und Romantik. Sam leidet an vorzeitiger Ejakulation; seine Impulsivität und mangelnde Kontrolle machen jede Art von Erregung für ihn zu einer 'Alles-muss-raus'-Anstrengung. Als Kind erhielt er wenig Zuneigung, und es fällt ihm schwer, Liebe zu geben. Der Grund liegt zum Teil darin, dass er zu unruhig war und anderen nicht erlaubte, dass sie ihn im Arm hielten und herzten. Sein Geburtsschmerz und seine Kindheitsentbehrungen vereinigen sich und machen ihn sehr leicht erregt; er hat seinen Schmerz sexualisiert. Sex wird deshalb zu einer Spanungsabfuhr.

Sam weiß nicht, warum er sie geheiratet hat. Er hatte mehrere Affairen; ganz unbewusst versuchte er bei jeder, mütterliche Liebe zu finden. Patricia kümmert sich nicht darum; sie will einfach in Frieden gelassen werden und nicht ständig mit der Forderung nach Sex belästigt werden. Patricia denkt an Scheidung, hat aber nicht die Energie, etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Sie grübelt und fantasiert von einer Affäire. Aber sie hat nicht genug Energie, das in die Tat umzusetzen. Langsam gewinnen Träume die Oberhand über ihr Leben. Unterdessen denkt Sam nicht lange genug über seine Ehe nach, als dass er eine Scheidung in Erwägung ziehen könte, weil er sich nie die Zeit nehmen kann, um abzuwägen, wie er sich wirklich fühlt.

Sie macht sich nicht mehr viel daraus, ihre Freundinnen zu sehen. Es fällt ihr schwer, sich zu motivieren, und sie ist ein bisschen phobisch, wenn es darum geht, das Haus zu verlassen, weil einen sicheren Platz zu verlassen, zuvor eine Katastrophe bedeutete. Sam drängelt, sie solle ihrem Psychologen von ihrer Phobie erzählen, aber sie glaubt nicht, dass es eine Phobie ist; sie will einfach nicht ausgehen. Kann er das nicht verstehen?

Patricia beschließt, einen Kurs in Geschichte zu belegen. Bei der ersten Prüfung schneidet sie nicht gut ab und entschließt sich aufzuhören. Sam ist wütend und sagt "Du bist eine Drückebergerin. Was ist los mit dir?" Er kann ihre augenblickliche Mutlosigkeit nicht bgreifen. Er weiß nicht, dass die 'Drei' bei der Prüfung das Gefühl von Hoffnungslosigkeit auslöste, das bis zur Geburt zurückreicht, und dass sie prototypisch reagierte, indem sie nach einem Misserfolg aufgab. Sam ist ungemein neugierig und lernt gerne, weil er von Beginn an wissen musste,

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was los war, für den Fall, dass es ihm helfen könnte, sein Leben zu retten. Patricias Neugierde ist unterdrückt; sie will nichts wissen, weil wissen weh tut. Bei ihr ist es die massive Verdrängung, die notwendig ist, um die erschütternde Erinnerung unter Kontrolle zu halten, was ihr das Gefühl gibt, dass das Leben nicht lebenswert ist. Es ist alles so grau und langweilig und bedeutungslos, dass sie sich nicht einmal mehr Mühe geben will. Sam ist es leid, zu versuchen, "ihr Leben einzuhauchen", etwas, das er oft sagt, ohne zu wissen, was er wirklich meint.

Beim Sympath-und-Parasympath-Paradigma tendiert ersterer zum "Ausagieren", während letzterer "einagiert". Patricia sieht, dass Kampf zwecklos ist, und so gibt sie zu leicht auf. Sie ist chronisch deprimiert und glaubt, alles sei hoffnungslos. Ihre Energie wird  geschleust, richtet sich nach innen gegen Organe und Zellen und verursacht Symptome wie ihre Migräne. Vielleicht stirbt sie vorzeitig an Krebs, weil sich der Druck auf die Zellen über die Jahre so lange aufbaut, bis sie deformieren. Das ist nicht der Fall bei Sam, der "ausagiert", sich um die Erfüllung seiner Bedürfnisse bemüht. Sein Verhalten absorbiert seine unablässige Getriebenheit. Das Ausagieren setzt die Energie des Feelings frei. Die Energie, die sein Verhalten nicht absorbieren kann, wird sich gegen Organe richten, und er wird  vielleicht an Herzproblemen und Geschwüren leiden und vorzeitig an einer Herzattacke sterben.

Sam und Patricia haben heute einen geschäftigen Tag. Beide gehen zum Arzt, sie zu ihrem Hausarzt wegen ihrer Migräne, er zu seinem Kardiologen wegen seines Herzklopfens. Der Kardiologe fragt Sam, ob er in letzter Zeit unter Stress steht. "Nein", sagt er. "Sie sollten es ein bisschen langsamer angehen", rät der Doktor. "Ich gebe Ihnen ein Beruhigungsmittel." Aber Sam kann sich nicht beruhigen. Sein  Herzklopfen ist ein Teil der Erinnerung an die Geburt, bei der sein Herz beschleunigte, um ihn für die Anstrengungen zu rüsten.

Patricias Doktor gibt ihr Pillen, die als Vasokonstriktoren funktionieren, um der Erweiterung ihrer Blutgefäße im Kopf entgegen zu wirken. Der Doktor sagt ihr auch, dass Kaffee hilft und dass sie es mit zwei Tassen am Morgen probieren sollte, wenn sie die Kopfschmerzen bekommt; gewöhnlich trinkt sie fünf. Kaffee ist ein Vasokonstriktor; er bringt sie von ihrer Verzweiflung ab, weil er  ihr die Energie gibt, die ihr fehlt, und

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sie forttreibt von der Einprägung der Anoxie, die sie bei der Geburt erlitt.

Müsste man Patricia mit zwei Worten beschreiben, lauteten sie keine Energie. Das ist die Prägung; sie kann nicht kämpfen, und sie kann nicht davonlaufen - sie steckt fest. Die Vitaminspritzen für ihr chronisches Müdigkeitssyndrom helfen einigermaßen, aber ihr Arzt erkennt nicht, dass die Müdigkeit eine Erinnerung ist, die in der Gegenwart lebendig ist. Vitamine werden Patricia nicht heilen, weil die Quelle ihrer Müdigkeit eine physiologische Erinnerung ist mit Sekundäreffekten wie einem gesteigerten Bedarf an bestimmten Vitaminen und einem Immunsystem, das durch Sauerstoffdeprivation bei der Geburt geschwächt worden ist. Diese sekundären Auswirkungen müssen behandelt werden. Patricia braucht Immunverstärker und eine Vitaminpackung, die auf das Immunsystem wirkt und ihr mehr Energie verleiht. Mit diesen einfachen Vitaminspritzen stopft der Arzt nur die Löcher im Deich wie der kleine Holländer, während die primäre Urgewalt überzulaufen droht. Der Arzt kann den Stress nicht sehen, unter dem Patricia steht. Er kann nicht sehen, dass die Geburtsanoxie ihre Zellen geschwächt  und sie für spätere Krankheiten anfällig gemacht hat. Ihr Immunsystem ist aufgrund ihrer globalen Verdrängung träge. Falls Patricia nicht krank wird, wird sie jünger aussehen und länger leben als Sam, weil ihr Puls, ihre Körpertemperatur und ihr Blutdruck tendenziell niedrig sind. Aber sie wurde tatsächlich krank. Sie entwickelte Hypothyreoidismus, der von einem unteraktiven System verursacht wurde.

Celia, die Zyklische

Patricia hat eine Schwester namens Celia, die als manisch-depressiv diagnostiziert worden ist. Sie hat euphorische Hochphasen, denen gewaltige Tiefs folgen. Sie redet wie ein Wasserfall, schreibt ganze Romane, schläft wenig und fällt dann in  tagelange Depression.

Celias Geburt war nicht so wie die von Patricia. Sie begann normal, aber dann stellte sich heraus, dass ihre Mutter sich nicht genügend öffnete. Zuerst kam es zu einer gemeinsamen Anstrengung, zu einer maßvollen Reaktion, bei der Celia ihr Bestes tat, um sich herauszukämpfen. Das kulminierte in einem verzweifelten Versuch freizukommen. Dann setzten sie die Betäubungsmittel außer Gefecht und machten sie total passiv. Später erwachte sie wieder und begann erneut zu kämpfen. Sie versuchte es wieder und wieder, schaffte

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es jedesmal beinahe, und dann war ihr doch der Erfolg verwehrt. Dieser Zyklus von Kampf-Scheitern-Kampf prägte sich ein. Die Einprägung sollte später Celias Stimmungen und Verhalten lenken und die Voraussetzung für eine Psychose ganz besonderer Art schaffen: manische Depression, das lebenslängliche Echo auf Celias Geburtserfahrung. Das Trauma änderte auch die Sollwerte für einige ihrer Hormone. Später könnte ein Arzt vielleicht einen Hormonmangel feststellen, der mit ihrer manischen Depression in Zusammenhang steht, und glauben, dass dies die "Ursache" ihres Problems ist. Es ist eine "Wirkung".

Sam ist unglücklich, wenn Celia zu Besuch kommt. Wenn Celia in guter Stimmung ist, wird sie zum strahlenden Mittelpunkt der Party, ist sogar "besser drauf" als Sam. Sie ist irrsinnig extravagant, kauft alle möglichen exotischen Lebensmittel fürs Essen und unnütze Sachen fürs Haus. Ihr Enthusiasmus kennt keine Zügel, und sie kann achtzehn Stunden am Tag arbeiten, ohne müde zu werden. Aber diese manische Phase endet mit einer kurzen psychotischen Unterbrechung, auf die eine tiefe Depression folgt. Wenn sie "down" ist, lässt sie den Kopf hängen und begeistert sich für rein gar nichts.

Celia ist manisch-depressiv, weil diese Verhaltensabfolge, Manie gefolgt von Erschöpfung und Energielosigkeit, für ihr Überleben verantwortlich war. Ihre übermenschliche Arbeitsfähigkeit und ihre wahnwitzigen Kauforgien sind in Wirklichkeit ein Kampf ums Leben. Ihr System "erinnert sich" an seinen ersten großen Überlebenskampf und setzt diesen Kampf auf immer und ewig fort.

Depression folgt auf Manie wegen einer Prägung von Misslingen und äußerster Hoffnungslosigkeit gefolgt von einer letzten Anstrengung, die Erfolg hat. Das System erinnert sich an sein grundlegendes Scheitern nach einem manischen Kampf. Wenn Celia deprimiert ist, fühlt sie, was sie ursprünglich fühlte, obgleich sie es gedanklich nicht erfassen kann. In dieser Phase sehen wir die Analogie zu den ursprünglichen parasympathetischen Gefühlen von Hilflosigkeit und Lebensunwillen. Dann bäumt sich Celia in einem verzweifelten letzten Lebensversuch auf, und der Zyklus wiederholt sich.

Nach einer Periode der Normalität, in der sie immer mehr Verantwortung übernimmt und härter und länger arbeitet, gleitet Celia beinahe unmerklich in einen manischen Zustand, in der sie ganz in hektischer Aktivität aufgeht. Die Energie, die dieses Verhalten antreibt, ist die ursprüngliche Verzweiflung auf Leben und Tod aus der manischen Phase des Geburtskampfes. Die Speicher verborgener Energie werden angezapft, wenn die Geburtssequenz

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genau so abläuft, wie es ursprünglich war. Schließlich wird die Manie so intensiv, dass Celia die Kontrolle verliert. Es endet damit, dass sie sich mit ihrer Mutter streitet und danach beginnt, Klavier zu spielen, wobei sie es furios mit den Ellbogen behämmert und aus vollem Hals singt, in der Überzeugung, dass das Piano Botschaften an ihre Mutter sendet.

Celia landet in einer psychiatrischen Klinik. Ihre Diagnose lautet auf akute manisch-depressive Psychose mit einer Vorgeschichte von wechselweiser Manie und Depression. Um die hohen und niederen Energiepegel zu moderieren, die beide ihr normales Funktionieren beeinträchtigen, setzt sie der Arzt auf antipsychotische Medikamente wie Lithiumkarbonat. Aber die lindern nur und heilen nicht. Die Ärzte sind sich sicher, dass ihre zyklische Persönlichkeit genetisch bedingt ist, und führen ihre manisch-depressive Verkettung bis zu den Ur-Ur-Großeltern zurück. Wenn sich dieses Muster wiederholt und Celia wieder eingewiesen werden muss, werden sie wieder zu derselben Diagnose kommen, weil ihre Ausbildung die schädlichen Wirkungen des Geburtstraumas oder die Möglichkeit, dass diese vergangene Erfahrung auch der Schlüssel zur Heilung ist, nicht in Betracht zieht.

Wenn Celias manisch-depressives Muster nicht genetisch ist, wie erklärt sich dann dieses Muster von tiefer Depression gefolgt von übermenschlichen Anstrengungen, das im Erwachsenenalter immer wieder abläuft? Wenn man nicht zu glauben bereit ist, dass Millionen von Manisch-Depressiven mit demselben genetischen Defekt geboren wurden, der sie im Kreise laufen lässt, muss man in Erwägung ziehen, dass soziale Ereignisse die Ursache sein könnten. Ganze Heerscharen von Experten für geistig-psychische Gesundheit sehen Psychose als Anzeichen für Pathologie, wenn es doch einfach ein Versuch ist, die Unversehrtheit der Persönlichkeit zu bewahren.

Ursprünglich musste Celia wild und außer sich sein, um ihr Leben zu retten, und dann musste sie aufgeben, um ihr Leben zu retten. In der Primärtherapie haben wir das Rätsel der Psychose entwirrt und herausgefunden, dass sie durch die Prägung erklärt werden kann. Wenn unsere Celias dieses zyklische Trauma wiedererleben, lösen sie ihre manische Depression auf. Wenn das Wiedererleben von Geburtstraumen die Persönlichkeit so dramatisch verändern kann, weist das darauf hin, dass das ursprüngliche Trauma die Persönlichkeit ebenfalls verändert und gesteuert hat.

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Was ist eine gute Geburt?

Wenn das Geburtstrauma so wichtig für die Gestaltung der Persönlichkeit ist, dann trifft dies auch auf die gute Geburt zu. Die ideale Geburt, wie Dr. Frederick Leboyer gezeigt hat, ist mit einem belebende Maß an Anstrengung für den Fetus verbunden, sie ist von Erfolg gekrönt, und ihr folgt das Anlegen an die Brust. Eine solche Geburt bedeutet vor allem, der Mutter keine Betäubungsmittel zu verabreichen, wenn es sich vermeiden lässt. Diese Geburt schafft die Erwartung, dass sich nach der Anstrengung der Erfolg einstellt, was später zu einem optimistischen Aussehen führt. Diese Geburtsprägung erzeugt eine Physiologie des Optimismus. Im Alter von etwa neun Jahren stellten sich "Leboyer-Babys" als gut angepasst heraus, und sie waren in der Regel Ambidexter.

Natürlich stammt nicht jeder Prototyp von der Geburt. Er kann vor oder nach der Geburt zustande kommen, aber immer sehr früh im Leben, wenn grundlegende Reaktionstendenzen angelegt werden. Ein Baby, dessen Geburtserfahrung nicht traumatisch ist, das aber dann plötzlich von seiner Mutter entfernt wird und tagelang ohne Berührung in einem Inkubator allein gelassen wird, kann ein Leben lang schreckliche Angst vor dem Alleinsein haben. Jede Situation im Erwachsenenalter, die mit Alleinsein zu tun hat, löst das frühe prototypische Ereignis aus.

Wenn sich das nach dem Schuster anhört, der auf der Welt nur Schuhe sieht, dann denken Sie daran, dass die Persönlichkeit irgendwo beginnt. Natürlich gibt es die erbliche Komponente, die vielleicht zu einem schnell reagierenden oder zu einem trägen Nervensystem beiträgt. Dann stellt sich die Frage nach der Ernährung und Pflege im Mutterleib: War die Mutter anorexisch, rauchte sie, trank sie Alkohol in der Schwangerschaft? Wir wissen, dass diese Faktoren die Entwicklung des Fetus signifikant beeinflussen.

Bedeutet das, dass sich Menschen nach der Geburt ihr Leben lang nicht mehr verändern? Sie ändern sich, aber nicht tiefgreifend. Sie werden reifer, entwickeln Verstand und Intellekt, erlernen Berufe und so weiter, aber wahrscheinlich wird aus dem ruhigen Baby ein zurückhaltender Erwachsener und aus dem hyperaktiven ein aggressiver Erwachsener. Grundlegende Tendenzen werden durch die Prägung bestimmt, und diese Prägung wird durch den "Traumazug" zudiktiert. Hätte Patricia, ein willfähriges, gehorsames Kind, viel Liebe und Unterstützung erhalten und wäre sie ermutigt worden,

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hartnäckig zu sein, dann wäre ihre Prägung in Schach gehalten worden aber nicht ganz verschwunden. Die grundlegende Tendenz in ihr, sich zu fügen, wäre noch immer da. Ihre Prägung, nicht in der Lage zu sein, ums Überleben zu kämpfen, wird fortbestehen, und sobald ihr Kortex entsprechend ausgestattet ist, um die Einprägung in Logik zu übersetzen, wird sie als Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit in Begriffe gekleidet.

Die Bedeutung des sympathischen/parasympathischen Paradigmas besteht darin, dass es eine biologische Basis für das Verständnis unserer Persönlichkeit und unserer psychophysiologischen Entwicklung bereitstellt. Es befähigt uns, Abstraktion und Metapher hinter uns zu lassen und Spekulation durch die Präzision verifizierbarer Hypothesen zu ersetzen. Wir müssen nicht mehr von dem Willen zur Bedeutung, dem Ödipuskomplex, dem Es und anderen Konzepten reden, die von der Biologie abgerückt sind; wir können von der Persönlichkeit und der Biologie als einer Einheit reden. Wir können über die Art diskutieren, wie das Nervensystem auf Ereignisse in der Kindheit reagiert, und wie diese Ereignisse in physische und psychologische Leiden übersetzt werden. Das sympathische/parasympathische Paradigma verbindet Physiologie und Psychologie, lässt beweisbare Hypothesen entstehen und ebnet der Psychologie den Weg zur Wissenschaftlichkeit.

Sam, Patricia und Celia nach der Therapie

Sam, Patricia und Celia unterzogen sich einer Primärtherapie. Sam wäre nie zu einer Therapie gegangen, wenn Patricia nicht darauf bestanden hätte. Er ging nicht deshalb hin, weil er unter Leidensdruck gestanden hätte, sondern weil er überzeugt war, dass das Herzrasen ihn umbringen würde. Wie Patricia und Celia fand er heraus, dass er etwas tun konnte, um seine Psychologie und Physiologie zu normalisieren.

Sam hatte sich bitterlich über Patricias Sexualtrieb beklagt. Aber nachdem sie die Anoxie im Mutterleib voll erlebt hatte, begann sie, sexuell mehr zu fühlen. Nachdem sie sich selbst gestattete, auf die schreckliche Qual zu reagieren, konnte sie sehr viel mehr Erregung zulassen, ohne sich zu verschließen; sie konnte sich entspannen und es genießen. Mittlerweile sind ihre Migränen selten geworden, und die Auflösung ihrer Depression beseitigte auch ihre Schilddrüsenunterfunktion.

Sam lernte, dass seine Hypersexualität früher erotisierter Schmerz war.

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Er benutzte Patricia, um einen bodenlosen Schlund zu füllen. Als er seinen Schmerz wiedererlebt hatte, wurde er weniger aggressiv, und sein Testosteron-Spiegel normalisierte sich. Für ihn bedeutet das "viel weniger", für Patricia "viel mehr". Sam lernte auch, Herzklopfen als Zeichen zu identifizieren, dass etwas in ihm ausgelöst worden ist, das gefühlt werden muss.

Patricia lernte, dass sie wie alle Neurotiker die Vergangenheit in der Gegenwart wiedererschaffen hatte. Indem sie in erster Linie auf ihre Prägung reagierte, nämlich "Ich kann nicht, ich schaff's nicht, ich sterbe", stellte sie ihr Scheitern sicher. Ihre gegenwärtige Situation wurde zu ihrem alten Feeling. Als Patricia dieses Gefühl viele Male erlebt hatte, ergab sich daraus, dass aus Misserfolg schließlich Erfolg wurde, indem sie den Terror und die Hoffnungslosigkeit in den richtigen Zusammenhang stellte und nicht mehr falsch in die Gegenwart platzierte. Sie konnte endlich Vergangenheit und Gegenwart auseinanderhalten. Das ist der Schlüssel, um Neurose ungeschehen zu machen: das Vergangene in der Vergangenheit zu platzieren, sodass es die Gegenwart nicht lenken kann. Indem Patricia das tat, löste sie ihre Migränen auf - eine von mehreren positiven Veränderungen.

Wenn Patricia mit fünfunddreißig Jahren wieder die Schulbank drückt, gibt sie nicht auf, falls sie eine Drei bekommt, weil so eine Note den alten Terror und die alte Verzweiflung nicht wieder wachrufen kann. Sie wird nie so beharrlich sein wie Sam, der Beharrlichkeit seit seiner Geburt praktiziert, aber sie hat gelernt, dass durchzuhalten gleichbedeutend mit Erfolg ist. Und entsprechend wird Sam nie ein Künstler sein, weil sich seine prototypischen frühen Fähigkeiten nicht entwickeln konnten. Er kann nicht in Bildern denken, und sie interessiert sich nicht für Geld und Geschäft, aber sie können zurechtkommen. Sie lässt ihn nicht mehr warten, weil sie jetzt besser in die Gänge kommt. Er ist weniger unzufrieden und viel geduldiger mit ihr. Ihre Ehe ist kein Spielfeld mehr für ihre alten Gefühle.

Ihre Persönlichkeit ist im Grunde gleich geblieben, aber sie geht nicht mehr ins Extreme. Sam kann jetzt zuhause bleiben und entspannen, während Patricia weniger Angst hat auszugehen. Sie braucht sich von Sam kein "Leben" mehr "einhauchen" zu lassen, und er hat eine Zentriertheit und Stabilität gefunden, die er nie zuvor gekannt hatte. Beide sind zufriedener mit sich selbst.

Was Celia betrifft, hatte sie als Resultat des Gefühlsprozesses folgende Einsicht zu ihrem Zusammenbruch: "Wenn mein Verhalten nur verrückt genug würde, bekäme ich endlich die Aufmerksamkeit meiner Mutter, und sie würde mir geben, was ich zum Überleben bräuchte." In ihrer verzweifelten Anstrengung, leben zu dürfen,

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wünschte sie sich nichts so sehr wie jemanden, der sie begreifen und ihr helfen würde. Ihre Schreie waren laulos und ihr Schmerz war stumm. Der Streit mit ihrer Mutter war der letzte Strohhalm. Als sie ihr Feeling integriert hatte, verschwanden ihre Hochs und Tiefs ohne das Zutun von Medikamenten.

Für Sam, Patricia und Celia bedeutete die Verbesserung ihres gegenwärtigen Lebens, zurückzureisen, um die Konfrontation mit den Traumen ihrer Vergangenheit zu suchen. In den nächsten zwei Kapiteln konzentriere ich mich darauf, wie unsere Geschichte als Wegkarte zu unserer Gesundung dienen kann, und wie gegenwärtige Gefühle ein Startpunkt sein können, um tief verborgene unerfüllte Bedürfnisse zu entschlüsseln.


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UNSERE VERGANGENHEIT: AUF DER SUCHE NACH DEN ÜBERLEBENSSCHLÜSSELN




Als Antwort auf stressreiche Erfahrungen produziert der Körper große Mengen an Stresshormonen. Diese nämlichen Hormone spielen eine Rolle darin, die Erinnerungen des Systems an diese Erfahrungen (die Prägung) zu etablieren und zu verstärken. Der Schmerz und die Qual der Ereignisse lösen die Produktion der natürlichen Opiate aus, die die Agenten der Verdrängung sind. Solomon Snyder sowie die Forscher Mortimer Mishkin und Tim Appenzeller haben in einem Artikel im Scientific American festgestellt, dass Endorphine und andere Neuroinhibitoren besonders in den Arealen hergestellt werden, in denen Schmerz körperlicher als auch emotionaler Art verarbeitet wird. (Siehe Abbildung 1)

Wenn die Strukturen, die für Gefühle zuständig sind, auch repressive Neurohormone absondern, kontrollieren diese Strukturen den Zugang zu unseren Emotionen. Somit beeinflusst Schmerz nicht nur, was wir wahrnehmen und lernen, sondern auch, was wir verdrängen. Diesbezügliche Forschungen unterstützen diesen Gesichtspunkt. Zm Beispiel zeigen Experimente an Rattenjungen, dass Stresserfahrungen gleich nach der Geburt zu einer wesentlichen Weiterentwicklung des Schmerzrezeptorsystems der Ratten führt. Die Traumen änderten die Struktur des Gehirns, indem sie eine vorzeitige Entwicklung schmerzvermittelnder Zellen auslöste und einen höheren Spiegel an zirkulierenden Endorphinen verursachte, was einen höheren Grad an Verdrängung bedeutet.

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Abbildung 1: Solomon Snyder fand heraus, dass limbische Strukturen (schattiert) mit Endorphinrezeptoren überhäuft sind.

Auch zeigen Magnetresonanzstudien, dass Psychotiker ein Übermaß an Dopamin-Rezeptoren in den emotionalen Zentren des Gehirns haben. Im Umkehrschluss deutet diese erhöhte Menge an Schmerzrezeptoren auf die Existenz eines frühen Traumas hin. Die logische Vermutung geht dahin, dass die limbischen Gehirne dieser Personen von einem frühen Trauma überwältigt worden sind.

Wie Sie sehen können, reagieren wir, sobald der Schmerz da ist, für immer auf diesen Schmerz, und dadurch ändert sich die Art, wie wir die Welt sehen. Solange die Prägung da ist, werden bestimmte Situationen in der Gegenwart mit dem frühen Trauma resonieren. Deshalb sind viele von uns so oft angespannt und nervös. Es ist der Grund, warum einige Leute es als extrem quälend empfinden, wenn sie kritisiert werden; auch geringfügiger Tadel von anderen lässt ernste Zurechtweisung widerhallen, die sie von ihren Eltern bekommen hatten, als sie klein waren. deshalb fühlen sich viele Leute so zerstört, wenn der Freund oder die Freundin beschließt, die Beziehung zu beenden. Diese "Zurückweisung" resoniert mit der erschütternden Bedeutung, wenn jemand in der Kindheit verlassen wurde.

Darüber hinaus erklärt die Kette der Schmerzen, warum wir wahrscheinlich auf gegenwärtigen Stress nahezu genauso reagieren, wie wir angesichts des urprünglichen Stresses reagierten. Wenn das System mit einem Problem oder mit einer anderen Art von stressgeladenem Input konfrontiert wird,

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sucht es unbewusst nach einer prototypischen Reaktion. Einige Leute gehen Probleme sofort und direkt an. Andere versuchen sie zu ignorieren und hoffen offensichtlich, dass sie von alleine verschwinden. In schwierigen Momenten des Lebens handeln einige schnell, während andere langsam reagieren. Diese Muster, Teil der Schmerzkette, reflektieren, wie ein frühes Trauma das spätere Verhalten beeinflusst und wie es einen Großteil dessen bestimmt, was in unserem Leben und mit unserer Gesundheit geschieht.

Repräsentationen und Re-Repräsentationen

Obwohl wir mit nahezu allen Neuronen geboren werden, die wir je haben werden, beträgt die Gehirnmasse bei der Geburt nur etwa ein Viertel der Masse des erwachsenen Gehirns. Das Gehirn wird größer, da die Neuronen an Größe zunehmen. Das Gehirn wird zum Teil durch seine frühesten Erfahrungen geformt, und überlebenswichtige Information wird, wenn sie sich entwickelt, von der ersten Linie zur dritten Linie (Ebene) des Bewusstseins weitergeleitet (siehe Kapitel 4). Information darüber, was wir fürchten müssen (und das bedeutet Überleben), wird letzlich auf der kortikalen oder dritten Ebene präsentiert. Das Entsetzen im Mutterleib wird sich schließlich zum Kortex bewegen, wo jeder einengende Raum mit dem ursprünglichen Schrecken resoniert und die Person in Angst versetzt. Somit kehrt die Furcht zurück und wird auf verschiedenen Ebenen re-repräsentiert. Jede Ebene steuert eine andere Komponente bei: die erste Linie die Enge in der Brust (die Empfindungs-Ebene); die zweite Linie die Furcht vor geschlossenen Räumen (der emotionale Aspekt); und die dritte Linie den Namen und die Rationalisierung, warum die Furcht da ist (die intellektuelle Ebene). Es ist möglich, sich einer Phobie bewusst zu sein aber keine Ahnung von ihrem Ursprung zu haben. oder es ist möglich, eine Enge in der Brust zu spüren und dennoch keine Vorstellung zu haben, warum es geschieht. Die Kette der Schmerzen ist die Bezeichnung für diese Repräsentation und Re-Repräsentation, nur in umgekehrter Reihenfolge. In der Therapie muss man ganz oben anfangen und schließlich, vielleicht Monate später, zu den Ursprüngen hinabsteigen. Wenn man erst in ein Feeling eingeschlossen ist und sich tief hineinfallen lässt, beginnt automatisch der Abstieg zu den entferntesten Ursachen.

Repräsentation gibt dem Therapeuten und Patienten eine Wegkarte zur Hand.

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Wenn in der Gegenwart eine unangemessene Reaktion auftritt, kann man sicher sein, dass es sich um eine Re-Repräsentation eines frühen überwältigenden Ereignisses handelt. Neurologisch gesehen kann es gar nicht anders sein. Jemand, der sich sehr unwohl oder niedergeschlagen fühlt, wenn er allein ist, wird grundsätzlich ausagieren und andere um sich scharen, sodass er nicht allein ist. Der ursprüngliche Grund kann von der Zeit gleich nach der Geburt herrühren, als dem Kind nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wurde und es stundenlang allein gelassen wurde. Es mögen Stunden voller Angst gewesen sein, die als solche eingeprägt wurden. Die Angst verschlimmerte sich über die Kindheit durch Vernachlässigung und Gleichgültigkeit der Eltern, die dafür verantwortlich waren, dass sich ihr Kind immer mehr allein gelassen fühlte. Als Erwachsener allein zu sein, bringt all die ursprünglichen Gefühle von Verlassenheit hoch. Es gibt keinen Grund, furchtsam und deprimiert zu sein, wenn man allein ist, es sei denn, dieser Zustand resoniert mit einem Feeling der Verlassenheit
ganz früh im Leben.

Für die meisten von uns ist die Geburt die erste Erfahrung auf Leben und Tod. Unsere Reaktion darauf - sei es ein massiver von Erfolg gekrönter Kampf, oder ein kurzer Kampf, der von Medikamenten unterbunden wurde - wird für immer mit dem Ergebnis assoziiert sein. Letzten Endes überlebten wir, aber wenn wir uns später in einer bedrohlichen Situation befinden, werden wir auf die Weise reagieren, die uns ursprünglich am Leben erhielt. Vielleicht ist es das, was Leute wirklich meinen, wenn sie nach einem Erlebnis, das ihnen beinahe den Tod gebracht hätte, sagen, ihr "ganzes Leben lief an ihren Augen vorbei". Unter Todes-Stress, wenn man zum Beispiel drauf und dran ist zu ertrinken, scannt das Gehirn die persönliche Geschichte nach Überlebenschlüsseln. Schließlich hält die Suche bei dem Prototypen an: Was taten wir ursprünglich beim Geburtskampf, um unser Leben zu retten, oder wenn nicht beim Geburtskampf, was bei einem anderen frühen schweren Trauma?

Wenn also gelähmt und bewegungslos zu sein am Angang lebensrettend war, könnte jemand zu völliger Bewegungsunfähigkeit erstarren, wenn er Jahrzehnte später vor einer großen Gruppe eine Rede hält. Wie sonst ließe sich das erklären? Es ist eigentlich nichts schlimm daran, zu einer Gruppe von Menschen zu sprechen. Nur unsere Geschichte macht es dazu, wenn sie mit einer verheerenden Erinnerung resoniert. Deshalb sage ich, dass das frühe Trauma uns bis in alle Ewigkeit beeinflussen wird. Unsere Vergangenheit ist stärker als unser Gegenwart; sie ist immer bei uns, formt unsere Wahrnehmung und unser Verhalten.

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MARYANNE: "WAS HAT DAS FÜR EINEN ZWECK?"

Ich glaube, ich bin seit Beginn meines Lebens deprimiert. Ich wurde zurückgehalten, weil sie den Arzt nicht finden konnten, als ich gerade geboren wurde, und seitdem spüre ich die Vergeblichkeit allen Bemühens. Mein Puls war mein ganzes Leben lang extrem niedrig (ungefähr 45), und ich denke, das ist ein Teil meiner Energielosigkeit. Ich fand es ungeheuer anstrengend, irgendwo hinzugehen, so als würde ich meinen Körper mit herumschleppen. Ich glaube, das alles in mir zumachte, als ich nicht hinaus konnte, und irgendwie verfolgt mich seither die Erschöpfung, die ich im Geburtskampf spürte, In der Schule war ich immer zurückgezogen, hatte nie viele Freunde, konnte mich nie über irgendwas besonders freuen und hatte nie viel Energie. "Was hat das für einen Zweck?" war meine Titelmelodie.

Prototypische Prägungen können uns das Gefühl geben, dass wir in großer Gefahr sind, auch wenn wir es nicht sind. Betrachten Sie einen Menschen, der ängstlich wird, wenn er in der Abfertigungshalle eines Flughafens warten muss und nichts zu tun hat. Es käme ihm nie in den Sinn, dass seine Gefühle mit seiner Geburt in Verbindung stehen. Bei so einem Menschen führt ein gegenwärtiger Mangel an Aktivität dazu, dass das Gehirn in der Geschichte des Körpers herumsucht, nur um zu finden, dass ‚keine Bewegung' am Anfang des Lebens den Tod bedeutete. Der Grund, warum die Suche stattfindet und die Person nervös macht, besteht darin, dass plötzliches erzwungenes Nichtstun Unbehagen erzeugt und die prototypische Abwehr in Gang setzt: weiter aktiv sein. Er weiß nicht, warum er so unruhig ist. Er ist sich seiner wirklichen Motivation unbewusst, weil die wirkliche Quelle seines Verhaltens Hundert Millionen Evolutionsjahre von der Erfahrung entfernt ist, die sie beschreibt. Kein Wunder, dass die Vorstellung, dass das Geburtstrauma lebenslange Auswirkungen hat, so fernliegend scheint.

Hier sind zwei Ebenen der Realität am Werk. Wenn Sie Gehirnwellen, Elektrophysiologie, Blutdruck oder Stresshormone messen, sehen Sie, wie mächtig die unbewussten Kräfte sind. Gleichzeitig jedoch wissen die höheren Bewusstseinsebenen nicht, dass auf der tieferen Ebene ein Kampf stattfindet. Die Person sagt vielleicht zu sich selbst: "Ich hasse es, in der Schlange zu warten." Aber wenn Sie die unteren Ebenen mittels elektronischer Messung fragen, was los ist, sagen sie mit einem Blutdruck von 200 und einem Puls von 110:

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"Ich sterbe, wenn ich warten muss." Und das ist der Grund, warum der Körper in Aufruhr ist, ohne dass die Person es weiß. Und auf lange Sicht können Gedanken diese Impulse nicht effektiv bekämpfen. "Gesprächstherapien", die uns helfen, uns selbst besser zu "verstehen", können unsere Probleme wegen der ungeheuren physischen Kraft, die dahintersteckt, nicht endgültig lösen.

Hier ist ein anderes Beispiel, wie der Suchmechanismus funktioniert. Ein Professor kritisiert im Unterricht eine Studentin. Sie entwickelt eine schwere Angstattacke. Ihr Magen dreht sich. Ihr Hände beginnen zu schwitzen und ihr Herz schlägt laut. Sie bekommt keine Luft. Die Kritik hat eine alte Erinnerung wachgerufen. Überdies hat diese Erinnerung auf jeder Bewusstseinsebene eine Bedeutung. Ihr Verstand, der von der Einprägung abgeschnitten ist, sagt ihr etwas über die Gegenwart: "Versuch', ruhig zu bleiben.....Es ist alles zu viel..... Ich bin nicht gut....Ich werde in der Schule versagen." Das überlagert ein unbewusstes Kindheitsgefühl, das auf der zweiten Linie angesiedelt ist: "Es bedeutet, dass meine Eltern mich nicht lieben. Wenn sie mich nicht lieben, sterbe ich!" Vielleicht hatte ihr Kindheitsschmerz ihr Geburtstrauma verstärkt, das ihr sagte: "Ich schaffe es nicht hinaus. Ich sterbe." Das Gesamtgefühl - "Ich schaff' es nicht!" - ruft die Todesangst hervor. Diese drei Ebenen bilden die Schmerzkette, und alle drei haben Anteil an dem resultierenden Gefühl: ein aufgewühlter Magen und die Unfähigkeit zu atmen (erste Ebene), das Gefühl, dass "ich es nicht schaffe" (zweite Ebene) und der Gedanke, dass "ich versagen werde oder nicht gut bin." (dritte Ebene).

Wenn Sie dieser Person sagen, "Machen Sie keine Affaire aus dem bisschen Kritik. Sie hatte nichts zu bedeuten", wird es ihr nicht wirklich helfen. Weil sie etwas zu bedeuten hatte; sie bedeutet Leben oder Tod. Denken Sie daran, dass wir physiologisch eher auf die historische eingeprägte Realität reagieren als auf aktuelle Umstände. Unsere Erinneringen setzen sich über gegenwärtigen Input hinweg und diktieren die physiologischen Reaktionen.

Nehmen wir an, jemand, der ein hohes Maß an eingeprägtem Stress hat, erleidet eine Herzattacke. Wenn Sie ihm nach dem Anfall sagen "Lass es ruhig angehen", kann es sein, als würden Sie gegen eine Wand reden. Sein Körper reagiert logisch auf seine Vergangenheit und befindet sich ständig im Überlebensmodus. Die Prägung weiß nicht, dass hoher Blutdruck und ein schneller Herzschlag jemanden töten können.

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Die Person (Mann) weiß, dass sie sich nicht aufregen sollte, aber solange die Prägung ihn anstupst, gelingt es ihm nicht. Der Doktor sagt zu ihm "Sie dürfen sich nicht aufregen. Sie werden sterben, wenn Sie sich nicht entspannen!" Unterdessen sagt ihm sein Körper "Du darfst es nie ruhig angehen lassen. Du stirbst, wenn du es tust!" Das ganze System ist gegen den möglichen Tod bei der Geburt mobilisiert, und genau diese Mobilisierung führt jetzt wahrscheinlich zum Tod.

Phobien

Wie auch andere Angststörungen sind Phobien ein exzellentes Beispiel, wie die Vergangenheit über die Schmerzkette in die Gegenwart hineinspielt. Wenn ein Phobiker einen Aufzug betritt, scannt das Gehirn seine Geschichte, stößt auf das Ersticken in einer beengten räumlichen Umgebung bei der Geburt oder vielleicht in einem Inkubator und ordnet dieselbe verzweifelte Schreckreaktion an. Das eingehene Signal löst die alte Erinnerung aus, die das System schlagartig in Aktion versetzt. Die Angstattacke ist ein Rätsel, weil die Quelle dem kortikalen Blick verborgen bleibt. Die Phobie ist die genaue Antwort auf das ursprüngliche Ereignis und ist in diesem Zusammenhang logisch - eine Erinnerung, die die Vergangenheit zur Gegenwart macht. Jetzt ist es die Erinnerung, auf die der Mensch reagiert.

Das Gefühl drohenden Verhängnisses kommt manchmal paradoxerweise dann auf, wenn sich jemand gerade glücklich fühlt. Nehmen wir zum Beispiel an, Sie genießen gerade das perfekte Abendessen mit der perfekten Begleiterin, guter Musik und einem behaglichen Ambiente. Ganz plötzlich verspüren Sie ein vages Unwohlsein, ein Gefühl, dass Ihr Glück nicht von Dauer sein kann und etwas Schreckliches passieren wird. Wenn gute Gefühle ein gewisses Maß erreichen, kann ihre Intensität an sich andere Gefühle auslösen, gute oder schlechte, einschließlich der Erinnerung an ein Trauma. Die Person entwickelt ein Empfinden von Bedrohung und ist sich sicher, dass etwas dazwischenkommen und glückliche Gefühle in Unglück verwandeln wird. Das kann gleich nach dem Sex geschehen, nach der Geburt eines Kindes, nach einer Hochzeit, nachdem man einen neuen wunderbaren Menschen getroffen hat oder nachdem man eine Belohnung oder wundervolle Nachrichten erhalten hat.

Das ist der Grund, warum sich das System - perfekt, wie es ist, - verschwört und übermäßige Emotion unterdrückt, wenn intensive alte Erinnerungen herumliegen. Deshalb erlaubt es nur ein bestimmtes Maß an sexueller Erregung

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und nicht mehr; deshalb schaltet es am Punkt maximaler Intensität das Fühlen ab. Ein gewisses Niveau sexueller Erregung löst das Geburtstrauma aus, und Sex wird dann zum Vehikel für die Entladung dieses frühen Schmerzes. Wir können jemandens Sexleben beobachten und rückblickend erkennen, wie seine Geburt war. Es hat mit dem Erregungsniveau zu tun. Der Körper unterscheidet nicht zwischen Sex, einem Autounfall und einem Fussballspiel. Bei einem bestimmten Grad an Intensität kommt es zu einer automatischen Freisetzung des frühen Traumas, das dann von vorne bis hinten abläuft.

Viele Neurotiker sitzen automatisch auf allen ihren Gefühlen, um zu verhindern, dass die ursprünglichen schlechten Gefühle an die Oberfläche kommen. Besser kein Übermut, wenn man nicht auseinander fallen will. Der Körper erledigt das alles automatisch. In Kapitel 6 sahen wir es bei Patricia an ihrer energielosen, sich selbst schützenden Art und bei Celia an ihren manischen Phasen. Ontogenese - die persönliche Entwicklung eines Menschen - scheint die ständige Rekapitulation der primären Prägung zu sein. Im Gegensatz zu dem, was Freud dachte, müssen Sie keine Träume studieren als "Königsweg zum Unbewussten." Wenn Ihre Stimmungen zyklisch sind, suchen Sie bei der Geburt nach den Ursachen.

Migräne: Eine Manifestation des Prototypen?

Patricia, die in Kapitel 6 beschriebene Parasympathin, hatte chronische Migräne. Ihr Arzt verschrieb Vasokonstriktoren, um den Migräneprozess umzukehren. Laut konventioneller Weisheit ist migräneartiger Kopfschmerz das direkte Resultat von Kontraktion und Dilatation von Blutgefäßen im Kopf. Des weiteren sagen Kopfschmerz-Experten, dass Serotonin-Erschöpfung eine zugrunde liegende Ursache von Migräne ist. Zu den anderen Faktoren, die Migränen "auslösen" können, gehören Stress, Alkohol, Sex, der Nahrungszusatz Natrium-Glutamat (MSG) (Monosodium Glutamat] , Nitrite, Hypoglykämie, helle Lichter und laute Geräusche. Einige erweitern die Liste und schreiben der Migräne auch "psychosomatische" Faktoren zu. Weil bis zu siebzig Prozent aller Migränepatienten einen Elternteil haben, der auch Migräne hat, schließen Kopfschmerz-Experten daraus, dass dieser Umstand oft genetisch fundiert ist.

Man kann sich vielleicht vorstellen, dass ein psychologisches Ereignis wie ein Streit

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mit dem Ehepartner die physische Reaktion einer Migräne auslöst, aber meiner Ansicht nach ist die Meinungsverschiedenheit in der Ehe nicht der eigentliche Grund, und es ist nicht einfach ein "psychologisches Problem" oder ein genetisches. Die Psyche kam lange nach der "somatischen" Komponente, eine andere Art zu sagen, dass die Materie vor dem "Geist" war. Migränen befinden sich im Körper, nicht im Geist.

Migräne im Erwachsenenalter ist oft eine Reaktion auf die fortbestehende Erinnerung der Anoxie, und sie wird durch den Suchmechanismus ausgelöst. Aktueller Stress regt das Gehirn an, ausfindig zu machen, wie es sich verteidigen kann. Es schaut direkt auf den Prototypen. Im Falle des Erstickens bei der Geburt kann das bedeuten, mit wenig Sauerstoff auszukommen, und das kann die Vasokonstriktion involviert haben, um Sauerstoff zu sparen, was wiederum das ist, was in den frühen Phasen der Migräne geschieht. In der ersten Phase der Migräne reagieren die inneren Blutgefäße des Kopfes auf Hypoxie (verminderte Sauerstoffversorgung) durch Zusammenziehen und Verringerung der Sauerstofflieferung an die Zellen. An einem kritischen Punkt, wenn auch diese Reaktion nicht mehr ausreicht, kommt es zu massiver Vaodilatation, und mit ihr kommt die Migräne. Die Vasokonstriktion, der massive Vasodilatation folgt, ist der Überlebensmachanismus. Etwas in der Gegenwart löst den frühen Schmerz aus, und mit dreißig Jahren reagiert der Kopf, als werde er gerade geboren und leide an Sauerstoffmangel. Migräne ist ein Teil des Überlebens.

JOANNA: GEFANGEN IM TEUFELSKREIS

Neuerdings habe ich, wenn ich aufwache, binnen fünf Minuten, was ich "wütendes Kopfweh" nenne. Es befindet sich in meiner Schläfe, meinem Auge, Nacken und in meiner Schulter. Es ist ein Schmerz, ähnlich den Migränen, die ich auf meiner rechten Seite bekomme, aber ein bisschen weniger intensiv. Die ersten Gedanken, die mir in den Sinn kommen, sind: "Jetzt geht das schon wieder los, also kämpfen wir uns durch einen neuen Tag."

Ich fange langsam an (nach sechzehn Monaten Therapie), ein frühes Gefühl zu erleben, von dem ich glaube, dass es mein Leben regiert und die Basis meiner Neurose ist. Es ist ein Gefühl, dass ich ständig um mein Leben kämpfen muss, dass ich die ganze Zeit kämpfen muss, um am Leben zu bleiben. Gegenwärtig ist es für mich eine Realität, dass ich in meinem tagtäglichen Leben kämpfen muss, um einfach auf meinen eigenen zwei Beinen zu bleiben. Meine "natürliche" (ich sollte sagen neurotische) Neigung ist, einfach aufzugeben und nicht zu kämpfen. Der Kreis geht los: kämpfen, nichts erreichen, aufgeben, sterben wollen, nicht sterben wollen, beschließen, nicht zu sterben, und

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erneut kämpfen, nichts erreichen, und so fort. So ist es ständig mit mir gewesen.

Je mehr ich in der Gegenwart auf mich selbst achte, desto mehr fühle ich dieses Gefühl. Auf mich selbst zu achten, lässt mich fühlen, wie schwer mein Alleinsein ist, und wie da niemand ist, der hilft. Mein Leben zusammen zu bekommen, bedeutet, anzufangen, wirklich in der Gegenwart zu leben und das Gefühl, kämpfen zu müssen, um zu leben, als altes Gefühl zu fühlen.

Der fernste Punkt, zu dem ich zurückgehe, ist das Alter von einem Jahr (mit Ausnahme eines leichten Geburtsfeelings, über das ich später reden werde). Ich liege im Kinderbettchen und warte einfach auf meine Mutter. Ich warte und warte und warte, aber sie kommt nie. Und ich will sie so sehr bei mir. Nachdem ich eine Weile gewartet habe. fange ich zu würgen und husten an, ich atme schwer, und ich fühle mich, als würde ich sterben, wenn sie nicht zu mir kommt. Ich fühle mich so leer. Ich brauche meine Mutter. Jemand muss sich um mich kümmern. Ich erlebe dieses Feeling stückchenweise zu verschiedenen Zeiten. Oft geschieht es, wenn eine Migräne beginnt. Ein anderes Mal passiert es, nachdem ich einen Orgasmus habe. Je stärker der Orgasmus, um so stärker das Feeling. Es scheint, als ob Vergnügen sofortigen Schmerz bringt. Oft ertappe ich mich dabei, wie ich mich selbst vom vollen Genuss des Orgasmus zurückhalte, wegen des Schmerzes, den er so oft mit sich bringt.

Ich glaube noch immer nicht, dass mein Leben in ausreichend guter Verfassung ist, um den totalen Schmerz dieses Feelings zu fühlen. Der Migräne-Schmerz macht mir die meiste Zeit zu schaffen und sagt mir, dass Schmerz da ist. So ist die Phase, in der ich mich jetzt befinde, dass ich einfach sehr zornig darüber bin, dass ich es in meinem ganzen Leben so schwer gehabt habe. Ich bin noch zorniger, seitdem ich in der Karibik Urlaub machte und drei wundervolle Tage hatte, an denen ich nicht kämpfen musste. Ich lebte einfach. Und ich begriff, was ich mein ganzes Leben vermisst hatte. Ich denke, wenn ich erst einmal diese gewaltige Wut hinter mir habe, werde ich tiefer in dieses Feeling gehen und mich auf den Weg machen, es aufzulösen.

Unterhalb des Gefühls, dass ich kämpfen muss, um zu leben, liegt ein anderes Gefühl, das ich nur ansatzweise erlebt habe. Ich bin zu dem Gefühl des Feststeckens zurückgegangen, als ich gerade geboren werde. Ich muss mich aus dem Geburtskanal herauskämpfen. Schließlich ist mein Kopf draußen, aber der Rest von mir will nicht heraus. Das Feeling ist so eine Analogie zu meinem Leben: Mein Kopf ist draußen, aber der Rest von mir ist inaktiv. Mein Körper fühlt sich nicht verknüpft an. Ich lebe so oft in meinem Kopf, und erst vor kurzem fing ich an, meinen Körper als Teil von mir zu fühlen.

Zurück zu dem Geburtsgefühl: Ich habe das Gefühl, festzustecken, und mein Nacken tut weh. Er schmerzt sogar jetzt, wenn ich darüber schreibe. Es fühlt sich an, als ob jemand an meinem Nacken zieht, und es ist sehr schmerzhaft. Mein Kopf neigt sich von Seite zu Seite, und meine Stimme lässt kleine angstvolle Klagelaute heraus. Erneut kämpfe ich um mein Leben. Ich muss sogar aus eigener Kraft zur Welt kommen. Meine Mutter hilft mir nicht heraus. Das war ganz von Anfang an eine Konstante in meinem ganzen Leben - keine Hilfe, und allein kämpfen, ganz auf mich selbst gestellt.

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Wenn jemand Migräne mit Medikamenten unterdrückt, können dennoch aufgrund der Anoxie-Erinnerung in den Zellen die Voraussetzungen für spätere Erkrankung geschaffen sein. Es ist nicht so, dass Migräne zu Krebs führt, oder dass hoher Blutdruck als Krebs endet (was manchmal passiert), sondern dass dieselbe Einprägung beides verursachen kann. Woher wissen wir das alles? Wenn es nicht wahr wäre, hätten wir am Primal Center bei der Behandlung von Migräne in einer unterschiedlichen Patienten-Population nicht solchen Erfolg gehabt. Wenn Patient um Patient mit Migräne oder hohem Blutdruck hereinkommt und die Geburtsanoxie wiedererlebt, schwächt sich das Symptom entweder ab, oder es verschwindet.

Zufällig ist Sauerstoff eine der wichtigsten Behandlungen für Migräne und Cluster-Kopfschmerzen. Die primärtherapeutische Bahandlung für dasselbe Leiden besteht darin, den Mangel an Sauerstoff zu fühlen. Darin liegt der wichtige Unterschied zwischen Symptom- und Ursachenbehandlung. Therapie mit Sauerstoff hilft; dessen Mangel zu fühlen, heilt. Den Mangel zu fühlen, hebt die Verdrängung auf, legt Sauerstoffvorräte frei und macht die Migräne-Reaktionssequenz unnötig.

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NEUROTISCHES VERHALTEN: DAS AUSAGIEREN VERDRÄNGTER GEFÜHLE

Eine Patientin von mir hatte ihre Mutter in jungem Alter verloren. Sie hatte nie eine Chance, sich von ihr zu verabschieden. Dieser Verlust hinterließ eine tiefe Wunde. Ihr ganzes Leben verweilte sie über lange Zeitspannen am Telefon, weil sie nicht wusste, wie sie sich verabschieden sollte. Aus demselben Grund blieb sie auch in einer schlechten Ehe.

Viele Leute, die früh im Leben verlassen wurden, entweder in kurzen aber entscheidenden Zeitphasen, wenn man z. B. nach der Geburt in einen Inkubator gesteckt wird, oder für längere Zeit, wenn man z. B. in ein Pflegeheim gesteckt wird, mögen es nicht, alleine zu sein. Unbewusste Gefühle färben ihr ganzes Leben ein und treiben sie an, alles Notwendige zu tun, um in Gesellschaft zu sein. Eine solche Person wird zum Beispiel mit der Berufswahl, als Schriftsteller zu arbeiten, der jeden Tag allein für sich verbringt, nicht glücklich sein. Er zieht es vor, mit anderen zu arbeiten. Anstatt sich zu Hause mit einem Buch zu entspannen, geht er die ganze Zeit aus, um bei Freunden zu sein. Jedesmal, wenn ein Gefährte geht, fühlt er sich wahrscheinlich ängstlich, obwohl er nicht weiß, warum.

Eine Mutter schlägt oft ihr kleines Kind. Der körperliche Schmerz ist nicht groß; er allein würde nicht zu Urschmerz werden. Aber die Bedeutung hinter dem Klaps könnte zum Schmerz werden. Das Kind spürt, was die Eltern wirklich meinen, ist: "Ich mag dich nicht!" Diese

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Bedeutung ist unerträglich und wird weggeschlossen. Danach kämpft das Kind mit seinem Verhalten darum, geliebt zu werden. Es könnte sich auf eine ganze Serie von Beziehungen einlassen oder promiskuitiv werden. Sein Schmerz könnte mystische Glaubensüberzeugungen heraufbeschwören, und es könnte sich Gott hingeben, indem es in der Umarmung einer liebevollen Gottheit Erfüllung sucht.

Wie wir in früheren Kapiteln gesehen haben, ist Neurose nicht immer augenscheinlich. Etwas so Subtiles wie ausgedehnte Gespräche am Telefon und die Unfähigkeit, aufzuhängen und ‚Auf Wiedersehen' zu sagen, scheint nicht offensichtlich neurotisch, wird aber oft von Schmerz gesteuert. Wenn ein Trauma das fragile System eines Menschen bedroht, nimmt er oft Verhaltensweisen an, die darauf abzielen, ihn von der Wahrheit abzuschirmen. In dem Versuch, unbefriedigte Bedürfnisse symbolisch zu erfüllen, beginnt die Person auszuagieren. Es ist die Art, wie wir uns verhalten, um die Wahrheit unserer Gefühle zu leugnen. -*Ausagieren ist immer symbolisch, weil es ein Versuch in der Gegenwart ist, alte Kindheitsbedürfnisse zu erfüllen. Ausagieren ist eine willentliche Aktion und unterscheidet sich vom Einagieren, das eine automatische Aktion ist. Die Energie alter Bedürfnisse und Traumen richtet sich gegen Organsysteme, verursacht Asthma, Geschwüre, Migräne und Kolitis. Das Bedürfnis, auszuagieren, überträgt sich ins Erwachsenenalter, und wenn man tief gräbt, findet man innerhalb des Ausagierens immer die alten Gefühle.

Wenn wir nicht ausagieren könnten, würden wir mit dem Primärfeeling und dem qualvollen Schmerz konfrontiert. Ausagieren ist ein Teil des Abwehrsystems. Es kann so einfach sein, wie bei einer Person, die unaufhörlich redet, um Aufmerksamkeit zu bekommen, weil ihre Eltern ihr als Kind niemals zuhörten. Oder es kann komplexer sein; zum Beispiel eine Person, die pausenlos geschäftig ist und ihren Terminkalender mit unzähligen Verabredungen vollstopft. Das kann ein Kindheitsgefühl sein, das von einem gewalttätigen Elternhaus herrührt: "Wenn ich nichts unternehme, fühle ich mich total hilflos und sterbe." Jemand, der sich zu Hause machtlos fühlte, könnte später im Leben unbarmherzig nach Macht über andere streben. In einem anderen Beispiel ignoriert eine Mutter die Klagen des Kindes über den Inzest des Vaters, weil sie anzuerkennen bedeuten würde, dass sie vom Ehemann verlassen würde. Die Mutter selbst mag in jungem Alter allein gelassen worden sein. Es ist auch wahr, dass Mütter, die ihren Inzest in ihrer eigenen Kindheit verleugnen, nicht fähig sind,

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dem Inzest ihrer Kinder ins Auge zu sehen. Deshalb könnte jemand, der als Kind verlassen wurde, der Typ eines Erwachsenen sein, die/der sich an einen Partner klammert, den sie/er nicht wirklich liebt, auch wenn es bedeutet, dass sie/er ihrem/seinem Kind Schaden zufügt.

Jeder Neurotiker ist per Definition ein Kind - nicht wirklich ein Kind, aber jemand mit den Bedürfnissen eines Kindes. Für den Neurotiker ist das Leben eine Dublette der eigenen Kindheit, eine endlose Reihe von Verhaltensweisen, die vom Bedürfnis nach Liebe, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Akzeptanz, Sicherheit, nach einem Gefühl, zu jemandem zu gehören und wichtig zu sein, und so weiter, gesteuert werden. Im Alter von dreißig oder vierzig Jahren Hilflosigkeit auszuagieren und jemanden dazu bringen, dass er sich um Sie kümmert, ist ein gutes Beispiel. Ein weiteres ist, so zu agieren, als bräuchten Sie niemanden, der sich um Sie kümmert, und vorzugeben, Sie seien sich selbst völlig genug und hätten keine Bedürfnisse.

Eine fünfundzwanzigjährige primärtherapeutische Patientin von mir wies ein wiederkehrendes Muster in ihren Beziehungen zu Männern auf. Nach einer Reihe von Auseinandersetzungen mit ihrem Freund brachen beide die Beziehung ab. Zwei Monate vorher war er bei ihr eingezogen und begann, die Miete zu zahlen und den größten Teil ihrer Rechnungen. Er war rücksichtsvoll und freundlich, brachte ihr oft das Frühstück ans Bett, bevor er zur Arbeit ging. Er reparierte ihr Auto und brachte ihre schmutzige Wäsche in die Reinigung. Sie wurde ihm gegenüber aggressiv, fand Fehler und suchte Streit. Schließlich konnte er es nicht mehr ertragen und beschloss, zu gehen. Es ist das dritte Mal in ihrem Leben, dass so etwas passierte. Es ist ein Beispiel für ein Ausagieren, das sich ständig wiederholt und sich anscheinend ihrer Kontrolle entzieht.

In einer Therapiesitzung erzählte sie, wie ängstlich und gereizt sie war, als ihr der Freund das Frühstück ans Bett brachte. Langsam glitt sie in das Gefühl, das ihrem Unbehagen zugrunde lag, als sie so fürsorglich behandelt wurde. Es brachte sie in eine ganz frühe Zeit zu ihrer Mutter zurück, deren Fürsorglichkeit sie damals brauchte. Ihre Mutter kümmerte sich um sie, jedoch nur widerwillig. Zum Beispiel half ihr die Mutter bei den Hausaufgaben, war aber gereizt und ungeduldig. Das kleine Mädchen lernte bald, nicht um Hilfe zu bitten. Um Hilfe zu bitten, bedeutete, Ärger und Zurückweisung zu riskieren und keine Zuwendung zu bekommen.

Es war eine Zwickmühle [double bind]. Das Bedürfnis, dass man sich um sie kümmert, führte zu der ängstlichen Besorgnis, dass man sich nicht um sie kümmert, und darauf folgte die Zurückweisung des

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Bedürfnisses und die Abkehr von ihm. Unbewusst schloss das Kind, dass es besser sei, sich um sich selbst zu kümmern, als zu riskieren, Zuwendung zu bekommen und sie dann zu verlieren. Und das überlagerte in Form eines lebenslangen Verhaltensmusters die Gegenwart.

Bei mehreren Gelegenheiten hatte sie sich schnell in jemanden verliebt, von dem sie glaubte, er werde sich um sie kümmern. Aber sobald sich die Person tatsächlich um sie kümmerte, wurde sie ärgerlich, weil ihr die Erfahrung ihrer Vergangenheit sagte, dass die Aufmerksamkeit nicht von Dauer sei, und weil sie wusste, dass sie den Schmerz erneuter Zurückweisung nicht verkraften könnte. In der Tat erwartete sie die Zurückweisung, und es endete damit, dass sie genau das herbeiführte.

Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte ihr jüngster Freund nichts dagegen, sich um sie zu kümmern. Aber sie sah die Gegenwart durch den Filter ihres unbewussten Bedürfnisses. In ihrer Vorstellung war er genau wie ihre Mutter. Sie wurde wütend auf ihn, wenn er ihr nur half, das Glas Marmelade aufzuschrauben. Sie wusste nicht, warum sie diese Reaktion hatte. Sie konnte nur eine vage Angst ausmachen. Schließlich suchte sie Streit mit ihm und schaffte es, ihn aggressiv und ärgerlich zu stimmen. Dann dachte sie, das beweise ihren Standpunkt. Jetzt konnte sie sagen, dass er wie ihre Mutter ihr nicht wirklich helfen wollte. Sie machte es unvermeidbar, dass er sie schließlich ablehnen würde.

Warum wollte sie in derselben Minute davonlaufen, als sie zu fühlen anfing, dass sich jemand um sie kümmert? Weil die erhaltene Zuwendung die Furcht bedeutete, eine Last zu sein und zurückgewiesen zu werden. Die Männer in ihrem Leben waren Symbole eines realen Zusammenhangs. Mit ihnen agierte sie die Vergangenheit wieder und wieder aus. Das ist die unbewusste, sich selbst erfüllende Prophezeiung, die symbolisches Ausagieren immer wieder vollbringt.

Weil sie ihre Vergangenheit nicht fühlen oder nicht wissen konnte, dass ihr Verhalten ein Auswuchs ihrer war, konzentrierte sie ihre Gefühle auf die Gegenwart. Ihre Gefühle waren real, aber der Kontext war falsch. Das ist der Kern symbolischen Ausagierens. Die Vergangenheit ist unzugänglich und deshalb sickert sie in die Gegenwart ein, wo man die Vergangenheit wieder erschafft. Sie musste nicht einmal darüber nachdenken, dass sie Muttergefühle auf ihren Freund übertrug. In der Therapie gelangte meine Patientin zu dem zugrunde liegenden Gefühl, das lautete: "Wenn sie sich auf Dauer um mich kümmern, werde ich eine Last sein, und sie werden es mir verübeln, und dann

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werden sie mich verlassen!" Und so ruinierte sie wegen ihrer widerstreitenden Bedürfnisse die Beziehungen zu guten Menschen. In der Therapie wurde das Feeling bewusst. Jetzt, da sie gefühlt und integriert hat, was unter dem Muster ihres Ausagierens lag, muss sie es in der Gegenwart nicht mehr ausagieren.

Ein anderer Patient von mir reparierte an seinem Haus nie etwas, egal wie einfach es war. Er hatte das Bedürfnis, hilflos zu sein, bis sein Vater (oder eine Ersatzfigur in der Gegenwart) kam, um ihm zu helfen. So zu handeln, als könnte er es alleine erledigen, bedeutete unbewusst, dass er niemanden mehr brauchte, der ihn führte und unterstützte. Weil er das tatsächlich brauchte, noch immer brauchte, da er es in der Kindheit nie bekommen hatte, war er gezwungen, Hilflosigkeit auszuagieren.

Ganz früh in seinem Leben wollte er sich an seinen Vater wenden, aber erspürte, dass sein Vater nie eine Hilfe sein würde. Im Gegenteil, um Hilfe zu bitten, bedeutete, von seinem Vater möglicherweise wegen seiner Schwäche und Hilflosigkeit zurückgewiesen zu werden. Sein Vater war ein "Do-it-yourself"-Mann, und er erwartete Gleiches von seinem Sohn. Er wollte ein "nutzloses" Kind oder einen bedürftigen "Schwächling" nicht tolerieren. Es war wichtig, dass das Kind die Dinge selbst erledigte, ob es wusste , wie es geht, oder nicht. Das Kind saß in der Falle: Es brauchte Hilfe, hatte aber Angst, darum zu bitten. Das Ausagieren des Vaters - tough und unabhängig zu sein und völlig intolerant gegenüber der Schwäche eines anderen, sei es die seines Kindes oder seine eigene - führte dazu, dass sich die Bedürfnisse seines Kindes unterordnen mussten, mit lebenslänglichen negativen Folgen.

Diese Art von subtiler, unbewusster Kommunikation findet in den ersten Jahren des Lebens statt. Es muss einem nicht überlegt beigebracht werden. Kinder sind Gefühlsmaschinen. Sie sind empfänglich für den verstecktesten Fingerzeig. Sie können es nicht artikulieren, aber sie reagieren nichtsdestotrotz auf solche Andeutungen. Sie "wissen", dass sie ihren Eltern nicht trauen können, wissen, dass sie über ihre Ängste und Misserfolge nicht reden können, dass sie nicht weinen können, weil es nicht geduldet wird.

Das alte Feeling ist immer im Ausagieren enthalten und drückt sich in ihm aus. Was den Fall dieser Person betrifft, so sagte der Mann gleichsam jedesmal, wenn seine Frau ihn bat, den Sparbrenner im Ofen anzumachen und er behauptete, er wisse nicht, wie: "Hilf mir. Führe mich. Sei mein Lehrer!" Hätte er

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selbstständig gehandelt, wäre es gleichbedeutend damit gewesen, alle Hoffnung zu verlieren. Es hätte bedeutet, nie die Hilfe von seinem Vater zu bekommen, die er so verzweifelt brauchte. Obgleich er es nicht wusste, war er in einen Kampf verwickelt, in dem er eine subtile Überlebenstechnik einsetzte. Er kämpfte, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, er kämpfte um sein Leben.

Der Akt des Ausagierens als Überlebensstrategie

Wenn wir wissen wollen, warum Menschen nicht zu Rande kommen, warum Beziehungen in die Brüche gehen, warum Menschen keine Liebe finden können, warum sie keinen Job halten, ihren speziellen Zielen nicht konsequent nachgehen oder keine vernünftigen Entscheidungen treffen können, müssen wir auf das Ausagieren schauen, und über das Ausagieren hinaus auf unbefriedigte Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse können nicht ignoriert werden. Wie viele Neurotiker werden ängstlich, wenn Beziehungen intensiv werden, und beginnen dann, den Partner abzuweisen? Sie haben soviel Angst, die frühere Ablehnung als Kind zu erfahren, dass sie versuchen, Ereignisse und Menschen zu kontrollieren, um sicher zu stellen, dass es nicht wieder passieren wird.

Während einer Sitzung verspürte eine Patientin von mir den plötzlichen Impuls, den Raum zu verlassen. Es gab ihr ein Gefühl der Erleichterung, dass sie hinausgehen konnte. Das an sich war ein Akt des Ausagierens, eine reflexartige Möglichkeit, verdrängte Gefühle zu meiden. Und es passte zum Muster ihres lebenslangen Ausagierens: als Kind nicht zuhause bleiben wollen, ab acht Jahren von Zeit zu Zeit davonlaufen, als Erwachsener von einem Ort zum anderen ziehen. Schließlich erlebte sie wieder, wie sie im Kinderbettchen lag und sah, wie ihre Mutter die Laken über ihr so fest zusammenzog, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie fühlte sich total eingeschnürt.

Nach diesem Erlebnis und noch katastrophaleren Feelings, die auf ihre Geburt zurückgingen (allein sein im Dunkeln, nicht atmen können, kämpfen, ersticken, in Panik geraten, dem Tod nahe sein, sich nicht bewegen können, aber sich bewegen müssen, um den Tod zu vermeiden), hatte sie die Einsicht, dass sie die ganze Zeit das Bedürfnis gehabt hatte, "hinaus zu gelangen", "mein ganzes Leben lang in der Welt herumzulaufen, wie ein Komet, nie irgendwo wirklich zu bleiben, so dass ich nicht fühlen musste, dass mich niemand zuhause oder sonstwo auf der Welt liebte." Zum Beispiel packte sie ihre Koffer, wann immer ein Liebhaber oder Freund "Kontrolle

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über sie beanspruchte", und sie verließ die Männer, wenn sie befürchtete, dass die sie verlassen würden. Dieses Fliehen vor Menschen war impulsiv, weil sie nicht fähig gewesen war, es zu kontrollieren. Nach dem Anerkennen und Integrieren des Feelings, dass sie entkommen musste (als Säugling und in ihrer Kindheit), hatte sie nicht mehr das Gefühl, dass sie entkommen müsse (als Erwachsener in der Gegenwart). Das ist die Dialektik.

Jemand, den ich kannte, erstellte einen Computerausdruck von allen seinen täglichen Telefonanrufen. Es genügte nicht, den Anrufbeantworter anzuhören. Er musste die Liste "sehen", um beruhigt zu sein. Sie zeigte ihm, dass er erwünscht war. Das reale Gefühl: "Ich bin nicht erwünscht." Eine Liste von dreißig Anrufen bedeutete, dass er erwünscht war. Die Liste war Teil seines symbolischen Ausagierens. An jedem einzelnen Tag schuf er ein Symbol, um das reale Gefühl zu verdecken, weil dieses Gefühl an jedem einzelnen Tag direkt unter der Oberfläche lauerte.

Eine Frau, die ich in der Primärtherapie sah, zeigte ein sich wiederholendes Muster, das darin bestand, dass sie Männer fand, die sie nicht lieben konnten. Sie wollten nur Sex und replizierten damit ihr frühes Leben mit ihrem Vater, der sie nie liebte, sondern sie jahrelang sexuell missbrauchte. Das Feeling war: "Ich bin nur für ihre Bedürfnisse nützlich. Ich habe keinen anderen Wert. Ich bin nicht liebenswert wegen mir selbst." Nur das, was sie den Männern geben konnte, gab ihr das Gefühl, einigermaßen willkommen zu sein. Ihr Verhalten war extrem verführerisch. Die Sorte Männer, die sich in sie "verknallten", wollten nur das eine, weil das die Botschaft war, die sie aussandte. Dann war sie überrascht, wenn die keine Liebe für sie fühlten. Ihr Ausagieren war mit der Hoffnung verbunden, dass sie schließlich irgenjemand lieben und nicht nur gebrauchen und missbrauchen würde. Auf dem Grund der meisten ausagierenden Akte liegt Hoffnung vergraben. Das unbewusste Feeling trieb sie dazu, die alte Situation in der Gegenwart neu zu erschaffen, weil die vergangene Situation im Gehirn allgegenwärtig war. Wenn sie in der Gegenwart verführerisch agierte und ihre Bedürfnisse erfüllt bekam, musste sie die Deprivation der Vergangenheit nicht fühlen. Bevor sie in der Therapie ein gutes Stück vorangekommen war, war sie sich nie bewusst, dass sie als Kind sexuell missbraucht worden war.

Das Ausagieren muss nicht augenfällig sein. Den ganzen Tag nichts zu tun, ist ein Beispiel. Das Gefühl: "Warum soll ich zu den Leuten (zu meiner Mutter) gehen? Warum können sie nicht zu mir kommen, mich herausholen, mich umarmen, interessiert und besorgt sein?"

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Eine andere Art, wie Leute ausagieren, besteht darin, allen nützlich sein zu wollen. Für eine Frau bestand die einzige Möglichkeit, von ihrer depressiven Mutter Anerkennung zu bekommen, darin, dass sie viele Dinge für sie erledigte: dass sie sich nützlich machte. Das setzte sich bis ins Erwachsenenalter fort. Sie wusste, wenn sie nützlich war, war sie erwünscht. Als sie bei einer Freundin zum Essen eingeladen war, war sie es, die zur Gastgeberin wurde, den Tisch abräumte, das Geschirr spülte und so fort. Das wirkliche Gefühl war, dass sie nutzlos war und deshalb nicht der Liebe wert. Das Ausagieren hielt das wirkliche Feeling fern.

Übertriebener Leistungswille ist nicht immer ein Beispiel für Ausagieren, aber betrachten wir dennoch einen Mann, der immer seine Ziele energisch verfolgt und bekommen hat, was er sich wünschte: einen guten Job, eine Menge Geld, eine Familie, ein nettes Haus, Freizeit. Plötzlich fühlt er sich enttäuscht, deprimiert. Hoffnungslosigkeit setzt ein. Er hat alles erreicht, was sonst könnte er jetzt noch "bekommen"? Es gibt nichts mehr, worum er kämpfen könnte. Aber das zugrundeliegende Bedürfnis, etwas "bekommen" zu wollen, bleibt. Was er in der Gegenwart bekommen hat, ist nicht genau das, was er als Kind brauchte. So fühlt er sich enttäuscht, und diese Enttäuschung ist vielleicht nicht bewusst. Die Person richtet ihr Augenmerk einfach auf weitere hochgesteckte Ziele: mehr Geld, mehr Erfolg, größere Geschäfte, mehr Freiheit. Das hält den Kampf am Leben.

Jemand ist nahe daran, den Dingen einen guten Verlauf zu geben und macht dann etwas, das die Sache schieflaufen lässt. Das ist manchmal als selbstzerstörerisches Verhalten bekannt. Es kann bei der Geburt angefangen haben, als die Dinge plötzlich furchtbar schiefliefen - ein Tumor blockierte den Weg nach draußen, oder es kam zu einer Verzögerung, weil der Arzt nicht rechtzeitig eintraf. Im Erwachsenenleben erschafft die Person das frühe Trauma genau so wieder, indem sie zulässt, dass alles eine Weile gut läuft, und dann etwas tut, das alles ruiniert. Es befähigt die Person, Depression und Hoffnungslosigkeit zu vermeiden und bekräftigt nochmals die Erkenntnis, dass ein guter Verlauf in der Gegenwart nicht auflösen kann, was damals vor langer Zeit schiefgelaufen war.

Dieser Verhaltenstyp wird oft in Beziehungen ausagiert. Wir alle kennen Leute, die aus vielerlei Gründen heiraten, aber nach zwei Jahren gemeinsamen Weges entdecken sie, wer ihr Partner wirklich ist, und sie mögen ihn/sie nicht. Sie setzten so große Hoffnung auf die andere Person, dass sie sie nie als das sahen,

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was sie war. Sie agierten aus. Wer leidet am meisten? Die Kinder, die sie haben, weil sie Opfer der elterlichen Neurose sind. Leute ohne tiefen Schmerz wissen, auf wen sie sich einlassen. Wenn sie keine übergreifende Vergangenheit haben, die in die Gegenwart hineinragt, sind ihre Chancen auf eine anständige und dauerhafte Ehe und auf eine erfolgreiche Elternschaft besser.

Es ist niemandem neu, dass die meisten Probleme in Beziehungen vom Ausagieren unerfüllter Bedürfnisse stammen. Ein geliebtes Kind wird nicht zum Ausagieren getrieben. Erfüllung in der Kindheit gestattet uns, gereifte erwachsene Bedürfnisse und Beziehungen zu haben. Als Erwachsene können wir Liebe geben und nehmen, ohne den Partner als Symbol dafür zu benutzen, dass wir die "alte" Liebe bekommen. Wir brauchen keine ständige Vergewisserung, dass der Partner uns liebt. Wir müssen den Partner nicht als Mittel "besitzen", um jemanden (eine Mutter) ganz für uns selbst zu haben. Aber in einer Partnerschaft enstehen ernsthafte Probleme wegen der Übertragung unbefriedigter Bedürfnisse aus der Kindheit. Die Paare suchen vielleicht eine Eheberatung auf, aber nahezu alles, was sie tun, um die Situation zu verbessern, muss gegen das Bedürfnis, auszuagieren, ankämpfen.

Denken Sie daran, das Ausagieren basiert auf 'festverdrahteten', unantastbaren Bedürfnissen, die aus Überlebensgründen unbedingt erfüllt werden müssen. Eine Ehefrau, die über die Passivität ihres Partners unglücklich ist, verlangt vielleicht, dass er "Aktion macht", aber ihre Wünsche stehen gegen den Prototypen seiner Persönlichkeit an. Einem Gefährten zu sagen, "Hör auf, so hilflos zu agieren!", führt wahrscheinlich nicht zu den gewünschten Ergebnissen, wenn die Person verzweifelt Hilfe braucht (wie ein Kind). Es wird nicht viel bringen, wenn man sagt "Hör auf mit deinen Wutausbrüchen!", wenn direkt unter der Oberfläche ein Kessel voller Zorn brodelt. Sie können das Ausagieren am besten beenden, indem sie das Bedürfnis beenden.

Einer meiner Patienten schmiedete tatsächlich den Plan, seinen Tür-an-Tür-Nachbarn wegen eines Eigentumsstreits zu töten. Er kaufte ein Gewehr und beschloss, den Nachbarn und dann sich selbst zu töten. In dem Primal gelangte er zum Grund seiner Motivation: Er fühlte, dass er sich selbst töten müsse, denn wenn der andere Mann tot wäre, bliebe keine Hoffnung mehr. Der Nachbar war ein Double für seinen tyrannischen Vater. Er wollte auch ihn immer töten, aber wenn sein Vater einmal verschwunden wäre, gäbe es niemanden, der sich um ihn kümmern würde; es gäbe keine Hoffnung mehr.

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Die Umwandlung unbefriedigter Bedürfnisse in "Bedürfnisse nach"

Wenn unsere basalen Bedürfnisse am Anfang des Lebens nicht erfüllt werden, verwandeln sie sich später in "Bedürfnisse nach" - nach Hilfe, Stabilität, Sicherheit, Geld, Erfolg, Macht, Drogen, Trinken und so fort. Und wir verbringen einen Großteil unserer Zeit damit, ihnen nachzugehen. Aber es nie nur ein "Bedürfnis nach" Trinken, zum Beispiel. Es ist das Bedürfnis nach Liebe, das uns dazu treibt, unser Unbehagen bestmöglich zu mildern. Unser "Bedürfnis nach" Ruhm und Reichtum ist vielleicht ein symbolisches Bedürfnis an Stelle des realen, das nie erfüllt wurde; das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und danach, sich wichtig zu fühlen, als wir Kinder waren.

Solange Sie sich nicht mit der realen Krankheit anstatt dem "Bedürfnis nach" befassen, lässt sich das Problem nicht kurieren. Vielleicht helfen Sie jemandem, eine Weile von Drogen loszukommen. Das ist alles ganz gut, aber es ist keine Heilung. Die Person wird sich nie völlig wohl fühlen. Solange ihre frühen Erinnerungen und Gefühle verdrängt und unbewusst bleiben, werden die sie zu anderen symbolischen Akten des Ausagierens treiben, wie dem "Bedürfnis nach" Drogen.

Die Funktion des Ausagierens besteht darin, sich wohl zu fühlen und endlich seine Bedürfnisse erfüllt zu bekommen. Das senkt den Schmerzpegel vielleicht eine Zeit lang nach unten und bringt ein wenig Erleichterung. Aber das ist nur vorübergehend. Nur die Geschichte bringt die Lösung. Urschmerz kann abgelenkt, umgeleitet oder unterdrückt werden, aber er kann nicht ausgelöscht werden, weder durch Beratung, Einsicht, Willen, noch durch die Zwölf-Schritte-Ideologie oder durch psychotrope Medikation. Ist er erst in das System eingeprägt, kann man einen Berg an Willenskraft in den Dienst stellen, um das Bedürfnis unter Kontrolle zu halten, aber es ist ein vergebliches Unterfangen. Der einzige Weg, wie der Urschmerz und das Ausagieren, das er erzeugt, beseitigt werden kann, führt über das Erleben der traumatischen Erinnerung, sodass diese bewusst wird.

Eingangs des Kapitels erörterte ich den Fall der Patientin, deren Mutter gestorben war, als sie sehr klein war, und die nie ‚Auf Wiedersehen' sagen konnte. Die ganze Zeit seit dem Tod ihrer Mutter war sie, da sie nicht in der Lage war, das Feeling zu integrieren, unbewusst von der Hoffnung angetrieben worden, ihre Mutter werde zurückkommen. Den Schmerz über den Verlust ihrer Mutter zu fühlen, mitsamt seiner Agonie und Endgültigkeit, bedeutete, endgültig ‚Auf Wiedesehen' zu sagen. Es bedeutete, das Gefühl in den Zusammenhang zu stellen. Nur dadurch konnte die Heilung stattfinden und dem Ausagieren ein Ende gesetzt werden

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KITTY: HUNGERN NACH AUFMERKSAMKEIT

Ich bin annorexisch. In den vergangenen sieben Jahren habe ich systematisch gehungert. Meine Rationalisierung dafür, dass ich nahezu nie etwas aß, war, dass ich dünn sein wollte. Ich wollte schwindsüchtig aussehen, mit vorspringenden Hüftknochen und hohlen Wangen. Ich beneidete Leute, die so krank waren, dass sie intravenös ernährt werden mussten. Junge, auf diese Weise konnte man abnehmen! Ich war nie fett, aber ich war nie dünn genug. Noch mehr als das wollte ich immer leer sein. Ich wurde verrückt, wenn ich mich voll fühlte. Alles, was ich weiß, war, dass mein Völlegefühl gewiss mehr war als nur Besorgtheit, fett zu werden. Es war etwas tiefgreifend Systematisches. Wenn ich zuviel aß, wurde ich schwindelig, benommen und reizbar, und mein Nacken tat weh. Das übersetzte sich in ein dringendes Bedürfnis, mich zu übergeben. Erbrechen brachte ein Gefühl der Erleichterung.

Ich hasste diese Besessenheit mit Nahrungsmitteln, weil sie bedeutete, dass ich immer darüber nachdachte, was ich nicht essen sollte. Ich verstand nie den Grund für die bizarre Umkehrung von Körperreaktionen. Was trieb mich ständig dazu, leer zu bleiben? Allmählich verstehe ich es.

Die meisten Menschen, die früh im Leben Nahrung oder Liebe entbehren mussten, bleiben mit dieser Deprivation irgendwie in Berührung. Sie suchen nach irgendeiner Art von Erfüllung. Sie versuchen, Liebe zu bekommen, irgendwie, irgendwo. Aber bei anderen gehen die Entbehrungen über ihre Integrationsfähigkeit hinaus. Sie und ihre Körper verschließen sich einfach. Sie trennen sich sehr früh von ihren eigenen Bedürfnissen, weil der Schmerz einfach zuviel ist, als dass sie ihm die Stirn bieten könnten. Diese Leute - mich eingeschlossen - vermeiden später Wärme, weil sie sie daran erinnert, was sie nicht bekommen haben. Sie wollen nichts, dass ihre Pläne über den Haufen wirft. Sie glauben, es sei alles in Ordnung, so wie sie sind.

Dasselbe trifft auf das Essen zu. Ich vermied es, weil das Völlegefühl mich daran erinnerte, wie leer ich mich fühlte. Solange ich leer blieb, musste ich es nicht fühlen. Ich begann in der Therapie, ein bisschen was zu essen. Wie seltsam und wie offenkundig: Nahrung als Heilmittel für jemanden, der hungert. Ich fing mit dieser Nahrung an, einen großen Schmerz zu fühlen. Ich wachte nachts mit schrecklichem Rückenschmerz auf, als ob in meinem Kreuz eine Kurbel eingebaut wäre, die meine Beine und mein Rückgrat spannt. Das Atmen wurde schwierig. Ich wusste nicht, was nicht stimmte. Ich wusste nur, dass ich mich leer fühlte. Ich spürte auch, dass ich nicht wusste, was los war.

Plötzlich hatte ich ein Bild von mir als Baby, das in seinem Bettchen lag, die Augen weit offen, ganz steif und verspannt. Ich wusste, ich sollte nicht weinen und meine Mutter belästigen. Ich sollte nicht weinen oder Schmerz oder Bedürfnisse äußern. Lieber verspannte ich meinen ganzen Körper und ertrug es schweigend, als dass ich den Anblick ihrer wütenden Augen riskierte.

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Die Zeit schien in meinem Feeling für immer weiter zu laufen, Minute um Minute reinen Schmerzes, als ich darauf wartete, dass sie nach mir sieht.

Mein ganzes Leben wartete ich ruhig darauf, dass sie einen Blick auf mich warf, sah, dass ich litt. Ich erinnere mich, wie ich nach einem entsetzlichen Albtraum an ihrer Schlafzimmertür stand, sie schlafen sah und versuchte, das Wort "Mama" auszusprechen. Auf Zehenspitzen ging ich über den Flur auf mein Zimmer zurück und verbrachte die Nacht gelähmt vor Angst. Und dennoch dachte ich: "Vielleicht kommt sie".

Ich konnte nie direkt um das bitten, was ich wollte. Ich wurde angebrüllt und als Plage bezeichnet, wenn ich weinte. Es wurde leichter, es innerlich auszuhalten. Obgleich mein Körper Stress registrierte, hörte meine Psyche einfach auf, den Bedürfnisbotschaften Aufmerksamkeit zu zollen. Nach genügend langer Verleugnung seiner Bedürfnisse gab sich mein Körper nicht mehr damit ab, sie mitzuteilen. Es war wie ein endloser Schock. Steifheit wurde zu meinem Überlebensmodus.

Mich voll zu fühlen war wie eine riesige Lüge, und es machte mich verrückt. Ich wusste es nicht, aber mein Körper. Hungern war meine Art, den Schmerz in Schach zu halten. Wenn du in deinem Leben keine Wärme bekommst, musst du nicht fühlen, was dir gefehlt hat. Du bleibst einfach in deinem Iglu. Wenn ich dünn blieb, bestand immer die geringe Chance, dass meine Mutter bemerken würde, dass ich im Sterben lag, und sich um mich kümmerte.


SUSANNAH: 'RUNNING ON EMPTY'

Ich kann mich an keine Zeit in meiner Kindheit erinnern, in der ich glücklich und sorgenfrei und offen für die Welt war. Im Klassenzimmer und in Gesellschaft anderer Kinder war ich bis zum Punkt praktischer Stummheit zurückgezogen. Ich konnte keinerlei Interaktionen eingehen. So viele Ereignisse in meiner Kindheit machten mich zu einem stillen, niedergeschlagenen, heimatlosen Kind.

Es begann alles mit einer langen Geburt (achtundzwanzigstündige Wehen), bei der ich nichts tun konnte, um die Dinge zum Laufen zu bringen. Nach dieser schweren Prüfung wurde ich endlich einer Mutter geboren, die mir physisch überhaupt nicht zur Verfügung stand; nichts, was ich tat, konnte sie veranlassen, zu mir zu kommen und mich zu halten und zu beruhigen. Für mich ist Depression gleichbedeutend mit "keine Mutter". Mein Trübsinn beginnt sich jetzt zu lichten, da ich genau fühle, dass ich Mutter brauche und dass Mutter nicht da ist. Meine Mutter konnte für mich nicht da sein, egal wie sehr ich sie brauchte.

Meine Mutter liebte die Schwangerschaft. Für sie repräsentierte sie die völlige Vereinnahmung eines anderen Individuums, absoluten Besitz und Kontrolle. Vielleicht war es die einzige Zeit in ihrem Leben, in der sie fühlte, dass sie jemanden hatte. Natürlich wollte sie mich nicht aus sich herauslassen. Sie ließ sich erst erweichen, als der Arzt ihr schließlich sagte, er werde einen Kaiserschnitt machen. Wusch! Eine halbe Stunde, nachdem er ihr das sagte, war ich geboren.

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Ich kann mir nur vorstellen, dass ich verschreckt geboren wurde und verzweifelt Trost brauchte. Ich wurde von meiner Mutter getrennt und alle vier Stunden zum Füttern zu ihr gebracht. Dieses "Füttern" war zweifelsohne noch qualvoller für mich, weil es keine Milch gab, meine Mutter sich aber dennoch entschied, sich zum Besten des Klinikpersonals für drei oder vier Tage als stillende Mutter auszugeben. Die äußere Erscheinung war für sie immer sehr wichtig. Sie brauchte Leute, die dachten, sie sei das Vorbild einer Mutter. Es war ein totaler Akt, lächeln und posieren für die Kamera, für das Publikum. Ich war nur ein narzisstisches Objekt für meine Mutter. Hier haben Sie das Rezept für Depression: nicht eine Chance auf der Welt, etwas wegen meiner selbst zu bekommen; schiere Wertlosigkeit.

Fotos von mir als Kind zeigen eine sehr besorgte, ernste Miene. Ich glaubte nie, dass meine Eltern für mich da seien, weil sie es nicht waren. Man sagt, dass mein Vater die Klinik verließ, nach Hause kam und in der Bestürzung über mein unglückseliges Geschlecht den Rasen sprengte. Mein Vater war eine abwesende Randfigur. Sogar mein "Übergangsobjekt" - ein Stofftier namens Bowie - nahmen mir beide Eltern weg. Ich lernte sehr früh, dass ich kein Recht hatte, irgendjemanden oder irgenetwas zu brauchen.

Als kleines Mädchen wusste ich, dass meine Mutter völlig abwesend war, und versuchte deshalb, von meinem Vater etwas zu bekommen. Ich verehrte und bewunderte ihn, obwohl er mich von Anfang an hänselte und lächerlich machte. Wenigstens kam er nahe zu mir und brachte mir etwas über die Welt bei. Aber er lachte immer auf meine Kosten. Ich erinnere mich, wie ich in einem Alter, in dem ich nicht viel mehr tun konnte, als aufrecht zu sitzen, in meinem Laufstall saß. Er kam in mein Zimmer, stapelte mehrere Bücher über meinem Kopf und sagte: "Hier. Lies." Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging weg. Es war vernichtend.

Ich konnte mich nie an meinen Vater um Liebe wenden. Er war kalt und gefühllos. Gewöhnlich hob er mich mechanisch auf, um mich ins Auto zu setzen, und mein Herz schlug voller Hoffnung, dass mir seine Berührung etwas geben würde. Es geschah nie. Ich erinnere mich, dass ich verzweifelt versuchte, Aufgaben für meinen Vater auszuführen, wie meine Schuhe zu binden oder die Uhrzeit zu sagen, aber ich bekam es nicht gleich beim ersten Mal so hin, wie es erwartet wurde, und er wurde ärgerlich und wendete sich angewidert ab. Intimität oder bloße Nähe macht mich noch immer wahnsinnig. Ich fühle, dass ich tun muss, was ich nicht tun kann; dass ich etwas tun muss, auch wenn nichts zu tun ist. Nichts, was ich tun konnte, konnte meine Eltern dazu bringen, mich zu lieben.

Nach sechs Jahren Elend, in denen sich meine Eltern tagtäglich an die Gurgel gingen, holte mein Vater zum letzten Schlag aus, indem er das Haus verließ, ohne sich zu verabschieden. Sein Weggang brachte mich völlig um. Ich hatte niemanden mehr, um den ich mich bemühen konnte. Und wegen der endlosen Bitterkeit meiner Mutter und ihrer Unfähigkeit, mich zu akzeptieren,

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war es mir nie gestattet, mein Bedürfnis und meinen Verlust auszudrücken. Ich fühlte mich für den Weggang meines Vaters verantwortlich. Mit sechs Jahren war für mich alles vorbei. Ich würde nie geliebt werden. Und dennoch musste ich noch immer versuchen, Liebe zu bekommen, so sehr, wie ich versucht hatte, geboren zu werden. Depression fühlt sich an wie Hoffnungslosigkeit, die durch meinen ganzen Körper sickert.

Meine Geschichte machte mich zu einem Menschen, der sich nur wohlfühlt, wenn er alleine ist. Die Gegenwart einer anderen Person treibt mich in den Wahnsinn. Der Kontakt bringt alle meine alten Bedürfnisse sintflutartig hoch, ebenso wie die ganzen Verletzungen und Wunden, die sich in den Jahren seither ereigneten. Als ich ein Kind war, sperrte ich einmal die Katzen aus meinem Zimmer aus, anstatt ihnen zu erlauben, bei mir zu schlafen. Letztlich verweigerte ich in meinem Leben die Liebe. Ich konnte von keiner lebenden Kreatur mehr Trost bekommen, weil ich nie die Zuwendung erhielt, die ich so verzweifelt brauchte. Auch heute noch, mit einunddreißig, bin ich unfähig einzuschlafen, wenn jemand an meiner Seite liegt.

Das Maß an Schmerz, das mir widerfuhr, als ich versuchte, auf die Welt zu kommen, war enorm. Mein ganzer Körper war daran beteiligt, den Schmerz dieser Krise zu verdrängen. Ich begann die Therapie mit "Fall-tot-um"-Messwerten meiner Vitalfunktionen, die auf das Ausmaß der Verdrängung hindeuteten: ein Puls von vierzig und ein Blutdruck so niedrig, dass die Krankenschwestern, nachdem sie auf mein "Athletenherz" anspielten, mich immer fragten, ob ich Ohnmachtsanfälle hätte. Mein Körper ist geschwächt, weil ich in der Prägung feststecke, die mich die ganze Zeit mit leerer Batterie laufen lässt. Je müder ich werde, umso schwerer ist es für mich, langsamer zu tun, weil ich bei der Geburt, als die Wehen sich über einen Tag hinauszogen, zunehmend müde wurde und immer weniger Energie für die schwere Aufgabe des Geborenwerdens hatte. Erschöpfung signalisiert mir, dass ich weitermachen muss, dass ich noch härter arbeiten muss.

Man kümmerte sich nicht um mich, wenn ich krank war; nicht einmal, als als ich wegen einer Lungenentzündung im Delirium lag, nicht einmal, als ich mit zwei gebrochenen Knochen im Bein auf dem Boden lag. Meine Mutter ließ sich nicht dazu bewegen, mir zu helfen. Und ich wurde hilflos Zeuge der periodischen psychotischen Episoden meiner Mutter, in denen sie schreiend wie eine gestörte Geisteskranke im Haus herumtrampelte oder strauchelnd ihr Menstruationsblut über den Boden vergoss, wobei sie schrie: "Schau es dir an! Schau es dir an!" Meine Mutter war so aufdringlich in Ihren Posen und in ihrer überwältigenden Bedürftigkeit, dass für mich kein Platz blieb, um als Mensch existieren zu können. Alles, was ich von Anbeginn der Zeit tun konnte, war still zu liegen und alles in mir aufzunehmen. Und das hat die Depression definiert, so wie sie für mich in meinem Leben funktioniert hat. Hoffnungslosigkeit, Nutzlosigkeit.

Mein ganzes Leben war ich unfähig, mich auszuruhen und zu entspannen. Schlaflosigkeit quälte mich ein Leben lang. Keine noch so große Menge an Schlaftabletten, Wein, Antidepressiva kann mich ins Land der Träume schicken, wenn ich in diesem entnervten Zustand bin. Je

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erschöpfter ich bin, umso leidenschaftlicher widersetze ich mich dem Ausruhen, was, wie ich vermute, meiner Erfahrung bei der Geburt entspricht, es nicht geschafft zu haben. Die seltenen Gelegenheiten, wenn ich nachts tatsächlich gut schlafe, enden damit, dass ich mich ängstlich fühle, weil mich der gestiegene Energiepegel zum Anfang des Geburtsprozesses zurückwirft, zu der Phase, bevor ich feststeckte. Es ist klar, dass müde (down, deprimiert) zu sein buchstäblich meine Lebensart ist.

Jetzt, da ich eine liebevolle Beziehung habe, kommt soviel von dem Schmerz der Vergangenheit an die Oberfläche. Eine meiner jüngsten Einsichten ist, dass ich immer versuche, Liebe zu bekommen. Ich weiß nicht und ich kann nicht wissen, wie man es schafft, sich geliebt zu fühlen; ich weiß nur, wie man nach ihr sucht. Wenn man geliebt wird, bringt das eigentlich nur den Schmerz hoch, dass man überhaupt nie geliebt worden ist. In meinen Gefühlen mache ich mich auf die Suche nach dem Licht, den guten Dingen, dem Happyend. Es lässt sich nirgendwo finden, und alles, was ich tun kann, ist, sein Fehlen zu fühlen. Ich bin zu der Einsicht gekommen, dass mein Gefühl, es gebe keinen Platz für mich auf der Welt, davon herrührt, dass ich auf dem Körper meiner Mutter keinen Platz hatte, keinen Platz zusammen mit ihr.

Ich glaube wirklich an diese Therapie. Fühlen lässt mich lebendig werden. Meine Augen leuchten, mein Lachen ist unleugbar, meine Stimme voll und kräftig. Gewöhnlich war ich völlig verschlossen, ein umherstolpernder Beinahe-Zombie mit leerer Batterie und ohne die blasseste Ahnung, wie ich mich um mich selbst kümmern sollte, weil sich niemand je um mich gekümmert hatte. Ständig war ich besorgt, quälte mich ab und haderte mit mir selbst. Ich habe genug von meinem Schmerz gefühlt und einen Punkt erreicht, an dem ich tatsächlich Vorfreude wahrnehmen kann; anders gesagt kann ich mich auf kommende Ereignisse freuen, anstatt mich jeden Augenblick meiner Existenz zu fürchten. Ich habe noch immer die Tendenz, darum zu kämpfen, allen Leuten alles zu bedeuten, aber wenn ich innehalte und die zugrundeliegende Sinnlosigkeit fühle - dass meine Eltern nichts an mir so wollten, wie ich war - , verflüchtigt sich meine Depression im wahrsten Sinne des Wortes.

Übersetzung:  Ferdinand Wagner