Artikel u. Buchausz.

Buchübersetzungen

 
   

DR. ARTHUR JANOV

 

WHY YOU GET SICK - HOW YOU GET WELL

WARUM SIE KRANK WERDEN UND WIE SIE

GESUND WERDEN

DIE HEILENDE KRAFT DER GEFÜHLE

DOVE BOOKS, WEST HOLLYWOOD, CA, 1996

Aus dem Amerikanischen von Ferdinand Wagner


TEIL II

 

KAPITEL 9

UNDICHTE SCHLEUSEN: WENN DIE VERDRÄNGUNG VERSAGT



Ein Junge ist bekümmert und unglücklich. er teilt dieser seiner Mutter mit, indem er sich über etwas beklagt. Sie macht ihm klar, dass "heute ein wundervoller Tag ist", und sagt ihm, er solle mit seiner Nörgelei aufhören. Vielleicht erinnert sie ihn daran, wie gut sein Leben ist, verglichen damit, wie es wäre, wenn er behindert oder ein Hunger leidendes Kind in Afrika wäre. Falls man ihm das oft genug sagt und er sieht, dass seine Mutter ihn freundlicher behandelt, wenn er aufhört, sich zu beklagen, lernt der Junge, nicht zu jammern oder sogar mit seinem Gesichtsausdruck zu verbergen, dass er innerlich leidet. Er verschließt sich mit Hilfe seines Schleusensystems. Letztendlich hat dann das, was er denkt, wenig oder gar keine Beziehung zu dem, was er tief im Inneren fühlt.

Wenn jemandem früh im Leben ein Trauma widerfahren ist, wie ständig von den Eltern ignoriert zu werden oder sogar verlassen zu werden, manifestiert sich dieses Feeling normalerweise nach außen hin: das verzerrte Gesicht, die flehenden Gesten, das qualvolle Weinen. Es manifestiert sich auch im Inneren als Wunde, die ausdrückt: "Mama liebt mich nicht." Zusammen bilden sie eine vollständige Reaktion auf das Ereignis. Aber wenn der Schmerz zu groß ist, geschieht etwas Seltsames: Er verwandelt sich in 'kein Schmerz'. Es gibt ein bestimmtes Maß an Schmerz, oberhalb dessen die Agonie zurückgeht, ein unerträgliches Niveau, das die Verdrängung in Gang setzt. Die Reaktivität vermindert sich, und der Schmerz lässt nach.

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Das Feeling wird im Speicher abgelegt. Es gibt keine Grimasse mehr und keinen Hilfeschrei. Das Aussehen mag sogar glücklich, quirlig wirken. Die Person steht unter Qual, weiß es aber nicht. Die unteren Ebenen "wissen es", teilen es aber nicht mit. Jeder Aspekt des Feelings kann von der Verdrängung weggeschlossen werden. Der Gesichtsausdruck, der Affekt, das gedankliche Abbild - alles kann von dem Feeling selbst abgetrennt werden.

Wie in Kapitel 4 erörtert, verhindert in der Regel der Schleusungsprozess, der durch unsere intern produzierten Opiate vermittelt wird, dass Sie spüren, was im Inneren Ihres Körpers abläuft, sodass Sie nicht leiden müssen. Deshalb funktioniert Verdrängung eigentlich in dem Sinne, dass es den Kortex davor beschützt, Zugang zu Urschmerz zu haben. Aber bei vielen funktioniert die Verdrängung nicht. Sie haben, was ich als undichte Schleusentore bezeichne, ein Zustand, bei dem die Verdrängungsmechanismen den Schmerz in ihrem Inneren nicht in den Griff bekommen. Das Resultat kann Angst oder Hyperaktivität sein, Anorexie oder Bulimie, Zwänge und Obsessionen, Phobie, Schlafprobleme, Albträume, Paranoia, Psychose oder auch Selbstmord. Das alles sind Methoden der Psyche, den Schmerz in der Gegenwart zu "rationalisieren" und das Individuum davor zu bewahren, von seiner Vergangenheit überwältigt zu werden. Ein Leck in den Schleusen erfordert oftmals Verstärkung in Form von Drogen oder Alkohol.

Die Verdrängung kann aus einer Vielzahl von Gründen nicht ausreichen, um den Schmerz gänzlich unten zu halten. Zum einen kann eingeprägter Schmerz schmerztötende chemische Substanzen aufbrauchen. Zum anderen kann ein frühes Trauma die Fähigkeit des Systems beeinträchtigen, hemmende Neurotransmitter herzustellen. James W. Prescott, vormals Leiter des National Institute of Child Health and Human Development, hat ganz entschieden dargelegt, dass sensorische Deprivation in den prägenden Perioden des Gehirns das Endorphinsystem schädigt. In Hooper und Teresis Buch The Three-Pound Universe sagt Prescott, dass Deprivation die dendritischen Verzweigungen der Gehirnzellen verkümmern lässt und und den normalen Wechselverkehr von Emotionen zwischen dem Kleinhirn und dem Vorderhirn reduziert. Andere Traumen haben wahrscheinlich den gleichen Effekt.

Markku Linnoila von den Natinal Institutes of Health fand sehr niedrige Spiegel des Neurotranmitters Serotonin in der Rückenmarksflüssigkeit von Mördern und anderen wegen Gewaltdelikten inhaftierten Personen. Wie die Los Angeles Times berichtete, liefert Linnoilas Forschung überwältigende Beweise, das diejenigen, deren Serotoninspiegel niedrig sind, weniger Hemmungsfähigkeiten haben, und dass jene mit

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den geringsten Mengen impulsiv und gewalttätig sind. Die Resultate dieser Studie veranlassten Forscher, nach dem Gewalt-Gen zu suchen, aber sie übersahen die Möglichkeit, dass der Serotoninausstoß aufgrund eines frühen Traumas reduziert sein kann.

Meinen Beobachtungen zufolge besteht der Grund für Impulsivität bei Individuen mit niedrigem Serotononspiegel darin, dass der Kortex aufgrund des frühen Schadens niemals sein volles inhibitorisches Potential entwickelte. Es scheint, dass das frühe Trauma eventuell eine Rolle bei der Verminderung des Ausstoßes des Serotoninsystems spielt (es gibt zahlreiche hemmende Neurohormone), sodass wir danach nicht genug davon herstellen können. Das Resultat ist ein Durchsickern verdrängter Gefühle, die sich allmählich in Richtung vollständiges Bewusstsein [conscious-awareness] in Bewegung setzen. (Bewusstsein bedeutet das fließende Zusammenspiel aller drei Ebenen).

In einer Studie, die an der Yale-Universität und an der University of Texas durchgeführt wurde, manipulierten Forscher die Ernährung ihrer Versuchspersonen, um die Serotoninkonzentration zu senken. Sie fanden heraus, dass dies in den meisten Fällen gesteigertes aggressives Verhalten "verursachte." Sie fanden auch heraus, dass autistische Individuen, die einen verminderten Serotoninspiegel aufwiesen, aggressivere Symptome zeigten, während erhöhte Serotoninspiegel weniger Symptome erzeugten. Warum? Weil ein frühes Trauma, das die Serotoninspiegel senkt, wahrscheinlich mit der Entwicklung von Autismus assoziiert ist. Viele Experten glauben, dass zusätzlich zu einem möglichen organischen Gehirnschaden, der aus den Geburtsschwierigkeiten resultiert, das Trauma selbst den Serotoninausstoß schwächen und unter anderen Manifestationen für gesteigerte Gewalttätigkeit verantwortlich sein könnte.

Das Durchsickern von Schmerz durch die Verdrängungsmechanismen unterscheidet sich wirklich nicht von undichten Stellen in der Regierung: Information sickert in abgestumpfter verschlüsselter Form aus, und wenn wir die Information nicht entschlüsseln können, werden wir von ihr beherrscht. Das ist der Grund, warum Ermahnung, Bitten, Erziehung und Vorträge impulsive Individuen nicht unbedingt abhalten, Verbrechen zu begehen, und oft jemanden, der als Kind verlassen worden war, nicht dazu bringen, dass er sich als Erwachsener weniger abgelehnt fühlt. Die beste Hilfe, die wir anbieten können, besteht darin, dass frühe Trauma aufzulösen, sodass der Kortex schließlich erfolgreich seinen Hemmungsaufgaben nachgehen kann.

Die verschiedenen Ebenen des Bewusstseins haben unterschiedliche Kapazitäten

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für die Integration von Schmerz. In unserer Therapie sehen wir, dass Schmerzen der ersten Linie aufgrund der Tatsache, dass es bei ihnen um Leben oder Tod ging, einen enormen Ladungswert haben, der die integrativen und repressiven Kapazitäten des Systems schwer belastet. Wenn die erste Linie zum Beispiel eine Kapazität von fünfzig hat, aber die Schmerzen der ersten Linie sich auf siebzig belaufen, dann wird das Schleusensystem überwältigt und kann permanent geschwächt sein. Folglich wird der Schmerz der ersten Linie die normale Entwicklung und Integration der Persönlichkeit des Individuums verhindert haben. Wenn später der Kortex wirksamer arbeitet, ist es wahrscheinlicher, dass undichte Schleusen Abweichungen im Denken und psychosozialen Funktionieren hervorrufen. Wenn die Verdrängung versagt, kann der aufsteigende Schmerz die Gehirnaktivität enorm beschleunigen und das Funktionieren des Intellekts bedrohen. Wir erleben das vielleicht als "kribbeliges" Gefühl mit verminderter Konzentrationsfähigkeit.

Die Einprägung früher Traumen ist von Dauer und droht die Verdrängungskapazität eines Menschen ständig zu überfordern. Wenn die Verdrängung "standhält", wird die Person vielleicht einfach "tot und taub" oder "deprimiert". Wenn die Verdrängung ins Wanken gerät, leidet die Person. In beiden Fällen bleibt das Leiden bestehen. Der Unterschied liegt nur darin, wie effektiv die Schleusung ist.

Interessanterweise deuten Beobachtungen an einer Vielzahl von psychogenen Epileptikern darauf hin, dass sie an den Folgen früher Anoxie leiden. Bei einem epileptischen Anfall löst ein aktueller Stressor das Hervorquellen von Schmerz aus, wobei es zu einer ziellosen Entladung neuraler Energie kommt. Die Schleusen der Verdrängung können die eingeprägte Energie, die in Richtung Bewusstsein vorstößt, nicht aufhalten, und das Resultat ist die Überflutung und totale Auslöschung des Bewusstseins. Die Überlebenstrategie besteht darin, dass das Opfer unbewusst wird. Das Individuum verteidigt sich gegen das Bewusstsein durch Unbewusstheit. Entsprechend fallen einige Leute vor Schreck in Ohnmacht, wenn sie Zeuge eines katastrophalen Ereignisses werden. Anfälle ereignen sich, wenn die Verdrängung über zu lange Zeit zu effektiv war. An Stelle einer einzelnen impulsiven Handlung kommt es zu einer generellen amorphen Freisetzung.

BILLY: DIE OBERFLÄCHE DURCHBRECHEN

Am Anfang war nur der Mutterschoß, der Garten Eden, der Kosmos. Der goldene Schoß voller Nahrung und Fürsorge. Es war mein goldenes Zeitalter, ein

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Paradies, das ich nie vergessen habe. Dann kontrahierte sich ihr Leib und ich konnte nicht atmen, und später hatte ich Migränen.

Was geschah mit meiner Mutter? Sie sagte einmal, dass ihre Fruchtblase zuhause platzte. Ein anderes Mal sagte sie, dass sie sich mit ihren Wehen in einem anderen Raum aufhielt, um "deinen Vater nicht aufzuwecken." Sie zögerte, in die Klinik zu gehen, und fünfundvierig Minuten später wurde ich geboren. Sie gaben ihr eine Demerolspritze. Was immer geschah, es war total unpassend.

Ich bin mir fast sicher, dass ich im Geburtskanal eine Gehirnerschütterung erlitt. Zuerst verlief alles so glatt und rhythmisch, dann - wham! - wurde ihr Leib starr und schlug gegen meinen Kopf. Ich glaube, die Geburtsszene war mein prototypischer Anfall. Sie war wie die ersten Stufen zum Tod, ein Ergebnis hilfloser Anoxie.

Als Kind ließen sie mir die Botschaft zukommen, dass ich nicht um Hilfe flehen, mich nicht beklagen oder keine Anzeichen von Unvollkommenheit zeigen sollte. Wenn meine Mutter mir ins Angesicht schrie, konnte praktisch jede Antwort gefährlich sein. Als ich mich mit sieben Jahren mit dem Ellenbogen anstieß und nicht aufschreien konnte, hatte ich einen Anfall. Nachdem ich gefragt wurde, ob meine Brüder und ich in ein Waisenhaus gehen sollten, hatte ich regelmäßige Anfälle. Die Hunderte von Anfälle, die ich in meinem Leben hatte, waren nur unbewusste Versuche, auf den ursprünglichen tödlichen Horror voll zu reagieren, als man mir den Sauerstoff bei der Geburt entzog. Gnädige Unbewussstheit bewahrte mich davor, etwas zu wissen, das einfach zu viel war, als dass man es wissen und fühlen könnte.

In den letzten paar Wochen habe ich wiederholt gefühlt, dass ich das Bewusstsein wiedergewann, als ich halb aus dem Geburtskanal heraus war und zu atmen begann. In meinem Feeling schien alles Gewalt und Zwietracht zu sein. Ich schlürfte Luft in großen Schlücken. Ich wand mich, um meine Arme und Beine frei zu bekommen, aber meistens lag ich nur da und verschlang Luft. Meine Schreie kamen sporadisch als Keuchen und Wimmern heraus. Das elektrische Summen (wie ich glaube, mein erster Anfall) ereignete sich bei meiner Geburt. Als ich Luft einsaugte, kribbelte mein Körper (dasselbe Kribbeln, das ich bei meinen Anfällen bekomme) und verschmolz dann in Agonie und in Empfindungen von Ersticken und Erschütterung.

Mein ganzes Leben habe ich schlecht geschlafen. Meine Albträume waren voll von eben diesen frühen Empfindungen vom Ersticken (Träume vom Ertrinken und von riesigen Wellen, die mich nicht atmen ließen), und ich sehe, dass diese frühen Empfindungen immer damit zu tun hatten, herauskommen und frei sein zu wollen.

Das zentrale Thema meines Lebens war immer "keine Luft". Genau das sagte ich über meine Schullehrer und Eltern; sie ließen mir keine Luft. In meinen früheren Feelings fuchtelte ich in der Luft herum und bat meine Mutter, mich auf die Veranda hinausgehen zu lassen. Ich wollte, dass sie sich mit mir auf die Veranda setzte, um die Sonne und die frische Luft einzuatmen.

Meine Kopfschmerzen vergingen, als ich meine Geburt und den Sauerstoffmangel gefühlt hatte. Ich denke, ich hatte keine Möglichkeit, die angehäuften Giftstoffe zu entladen.

Jetzt bin ich in meinem Fühlen endlich lebendig. Die lebenslange Agonie hat ein Ende gefunden. Ich will leben, atmen, das Schöne sehen, frei von dem dunklen

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Morast, in dem ich all diese Jahre gelebt habe. Ich bin anfallfrei. Neunzehn Jahre sind jetzt vergangen. Ich primale noch, aber unregelmäßig. Ich neige dazu, es zu vermeiden, weil es nicht mehr wirklich sein muss, aber ich versuche, es einmal alle zwei Monate zu tun. Meine Interessen haben sich mehr auf die Erziehung meines eigenen Kindes verlagert.


Angst und Panikattacken

Einige sagen, wir leben in einem Zeitalter der Angst und dass die weitverbreitete Existenz der Angst auf den Druck zurückzuführen ist, der von der Welt um uns kommt: Verbrechen, Gefahr, berufliche Probleme, wirtschaftliche Unsicherheit, Umweltverschmutzung und so fort. Es ist wahr, dass unsere Gesellschaft in einem Zeitalter der Angst lebt, aber es ist auch ein Zeitalter des Schmerzes.

Erinnerungen, die dem Verdrängungssystem trotzen, neigen dazu, ins Bewusstsein einzudringen und sorgen dafür, dass die Person sich unwohl fühlt. Zum Beispiel wachen viele von uns manchmal am Morgen auf und fühlen sich deprimiert, ohne Enthusiasmus für den kommenden Tag, mit einem jähen Gefühl von Besorgnis, Leere oder Einsamkeit. Bezeichnenderweise ist uns die Ursache ein Rätsel. Aber es kann vielleicht sein, dass wir, wenn wir aus den tieferen Bewusstseinsebenen des Schlafs auftauchen, unserem Schmerz nahe sind, der auf der zweiten Linie residiert. Eigentlich wachen wir in einem beginnenden Primal auf, nur wissen wir es nicht. Wir trinken Kaffee, rauchen eine Zigarette, beschäftigen uns oder nehmen Tranquilizer, um das Feeling auf Distanz zu halten. Wenn wir wüssten, dass wir uns im Griff von Gefühlen befinden, die im Unterbewussten gründen, und uns zurücklegen und sie zulassen könnten, würden diese morgendlichen Attacken schließlich für immer weichen.

Das gilt auch für die Angst. Wenn unser Leiden spezifisch zu werden und ins vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] durchzubrechen droht, wird es als Furcht vor einer Erinnerung erlebt, die bis dahin unbekannt ist, und ist sowohl ein Fragment unserer Reaktion auf das ursprüngliche Trauma (viszeraler Terror und Panik) als auch ein Vorbote des aufsteigenden Schmerzes. Angst ist eine Reaktion auf das Leiden: Schmetterlinge im Bauch, Kurzatmigkeit, vielleicht ein Gefühl drohenden Verhängnisses. Angst ist ein diffuses Warnsystem, das den Organismus in Alarmbereitschaft versetzt, wenn die gewaltige Leidensfracht ins Bewusstsein aufsteigt.

In seiner dualen Rolle ist Angst auch ein Fragment unserer Reaktion auf das ursprüngliche Trauma, eine Warnung, dass etwas in der Gegenwart

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mit einer eingeprägten Erinnerung aus der Vergangenheit resoniert. Der schnelle Herzschlag ist Teil der alten Erinnerung. Er ist deshalb ein Überlebensmechanismus, der uns wachsam macht, um das Leiden zu vermindern und die dritte Linie intakt zu halten. Mit ihrer impliziten Bedeutung von Dringlichkeit ist sie wie eine Handlungsvollmacht: "Ich muss was tun, gleich was, um diese Qual zu beenden, jetzt und sofort!" Die Angst sagt, dass es an der Zeit ist, ein paar Drinks zu nehmen, sich unter Drogen zu setzen, ein Ticket zu buchen, um irgendwohin zu fahren, positiv zu denken, sich dem Mystizismus hinzugeben, oder das zu tun, was immer Sie tun müssen, um den Schmerz aus dem Bewusstsein herauszuhalten.

Es gibt Leute. die sich ständig über ihre Arbeit beklagen: "Hier gibt's keinen Platz für mich. Der Druck ist zu groß. Ich ersticke in diesem Job." Das kann alles stimmen, aber es kann auch eine frühe Prägung reflektiern, wenn die Person bei der Geburt in der Tat stranguliert und zusammengedrückt wurde. Nur ein Primal wird uns das erzählen. Denken Sie daran, es ist der Job des Neokortex, die auf einer tieferen Ebene eingeprägte und ins Bewusstsein vordringende Energie so zu übersetzen, dass sie leicht zu handhaben ist. Wenn sich die dritte Linie mit einer massiven und gefährlichen Informationsüberlastung befassen muss - wie es bei der Erinnerung an den Sauerstoffentzug der Fall ist -, hat sie keine andere Wahl, als das Feeling zu rationalisieren. Und so glaubt die Person, der Job stranguliere sie. Die Schleusung hat den Zusammenhang mit dem frühen Trauma blockiert, reicht aber nicht aus, um das Leiden vom vollständigen Bewusstsein fernzuhalten.

Den meisten von uns würde es sehr schwer fallen, die Verbindung zwischen einem Ereignis herzustellen, das 45 Jahre in der Vergangenheit zurückliegt, und der negativen Einstellung zur Arbeit in der Gegenwart. Dieselbe Prägung kann von einem Ehegefährten ausgelöst werden, der "mir keinen Raum lässt", und dazu führen, dass die "gefangene" Reaktion in keinem Verhältnis zu dem Eheproblem an sich steht. Eine solche Person wünscht vielleicht eine Scheidung wegen Empfindungen und Gefühlen, die Jahrzehnte zurückliegen.

Wenn die Schleusen ständigen Angriffen ausgesetzt sind, kann es manchmal zu Panikattacken kommen. Panik ist ein Zeichen, dass die erste Linie des Bewusstseins dabei ist, ins vollständige Bewusstsein [conscious awareness] durchzubrechen, und signalisiert eine plötzlich entstandene Lücke im Abwehrsystem. Eine Person mit der ursprünglichen Geburtseinprägung von "Ich muss da raus, um mein Leben zu retten" lebt mit einer eingravierten Verzweiflung. Wenn sie ins vollständige Bewusstsein  aufsteigt, wird nur der Panikaspekt, der physiologische Aufruhr, sichtbar. Es fühlt sich wie plötzlicher Terror an, und das ist es auch.

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Der Terror ist tiefliegende Energie, die plötzlich ihre Stimme wiedergefunden hat.

Panikattacken sind zurückverfolgbar und behandelbar. Sobald eine Pause eintritt, ein Mangel an Bewegung oder Fortschritt, kann es zur Panik kommen. Also begibt sich jemand ständig auf Reisen, vielleicht indem er einen Beruf findet, in dem er dauernd unterwegs ist. So eine Person leidet vielleicht, wenn sie nicht reisen kann. Aber ohne Zugang zur Vergangenheit muss sie dieses Leiden auf die Gegenwart konzentrieren: "Ich werde unruhig, wenn ich zu lange zuhause bin." Das wirkliche Feeling aus dem Geburtstrauma mag sein: "Ich bin völlig verängstigt, wenn ich hilflos bin und mich nicht bewegen kann!" Weil die Vergangenheit allgegenwärtig ist, weil es einen Kortex braucht, um sich der Zeit bewusst zu sein, scheint es, als lauere das Verhängnis immer gleich hinter dem Horizont.

JULIE, DIE WANDERIN

Als ich in Los Angeles war, konnte ich es nicht erwarten, aus der Stadt herauszukommen. Ich fühlte mich von meiner Arbeit und meinem Privatleben überwältigt. Ich dachte nur noch daran, endlich rauszukommen und mich auf den Weg zu machen. Aber als ich schließlich losfuhr, hatte ich ständig das Gefühl, raus zu müssen, egal wo ich war, genau das Gefühl, das ich in Los Angeles gehabt hatte. Zuerst kam es immer zu einem Gefühl der Erleichterung, wenn ich irgenwo ankam, weil ich ja in der Tat das Feeling ausagiert hatte und weggekommen war. Aber nachdem ich kurze Zeit dort gewesen war, kam das Feeling wieder auf, und alles, woran ich denken konnte, war der Wunsch, wegzufahren. So fuhr ich zum nächsten Ort, und nach kurzer Zeit kam das Feeling wieder hoch, und ich wollte mich wieder in Bewegung setzen. Das Gefühl ist dasselbe, das ich bei der Geburt hatte, nämlich " Ich muss hier raus!" Es ist ein schreckliches, unwiderstehliches Gefühl, das mich antreibt. Ich will einfach von Ort zu Ort fahren, um von diesem schlechten Feeling loszukommen.

Es ist dasselbe mit jeder Art von Routinejob; deswegen habe ich immer alles vermieden, das Routine war. Es gibt keine Bewegung in der Routine. Für mich war "keine Bewegung" immer die große Gefahr. Das Dumme an der Sache ist, wenn du von etwas fortläufst, ist es immer wieder da, wenn du zurückkommst. Je mehr ich herumziehe, umso mehr zieht das Feeling mit mir herum. Ich bin mir sicher, wenn ich weiter so getrieben gewesen wäre, wäre ich als junge Frau mit einer Herzattacke zusammengebrochen

Der Druck ist wirklich eine physische Empfindung. Ich bin wahrscheinlich in mancherlei Hinsicht unbewusst, aber ich bin mir sicherlich des Drucks bewusst. Es ist, als ob du

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in deinem eigenen Körper angetrieben wirst; das ist der Grund, warum ich nie stillsitzen kann. Ich muss immer etwas tun. Ich stehe auf, tue dies, tue das, bin immer in Bewegung. Ich vermute, Bewegung bedeutete Leben für mich; es bedeutete Überleben.

Das Schreckliche an meiner Lage ist, dass ich Frieden nicht ausstehen kann. Frieden ist immer wie Routine. In mir ist so viel Turbulenz, dass ich hinaus und irgendwo hinfahren muss, um meinen Frieden zu bekommen. Der einzige Frieden, den ich zu kennen scheine, liegt in der Bewegung, und so kann ich mich nie entspannen und einfach ausruhen.

Obwohl Forscher an der Havard University's School of Public Health kürzlich berichteten, dass Angst zu einem der stärksten Risikofaktoren für den plötzlichen Tod durch Herzstillstand wird, denken sie nicht darüber nach, was die Ursache dieser Angst sein könnte. Jüngste Forschungen haben ergeben, dass Männer, die über chronische Angst klagen, im Vergleich zu angstfreien Personen eine sechsfach erhöhte Wahrscheinlichkeit haben, am plötzlichen Herztod zu sterben. Angst ist ganz zweifelsohne physiologisch; das Herz pumpt in rasender Flucht. Aber wovor? Schmerz. Schließlich löst der konstante Stress vielleicht Spasmen in den Herzkranzgefäßen und eine Herzattacke aus. Der Beweis? Wenn Patient um Patient seinen oder ihren frühen Schmerz fühlt (der der äußerste Stressor ist), verschwindet die Angst. Und die Anfangsphase der meisten Primals ist tatsächlich eine Angstattacke, einschließlich radikaler Anstiege der Körpertemperatur, des Blutdrucks und der Herzfrequenz.

Medikamente, die die Schleusen unterstützen, reduzieren in der Regel das Herzrasen. Es ist nicht so, dass der Grund der Aufregung nicht mehr da ist; folgendes ist geschehen: die Reaktivität auf die Prägung ist blockiert worden - ein sehr wichtiger Unterschied. Die meisten Tranquilizer gewährleisten, dass die Versorgung mit Serotonin und Endorphinen angemessen ist. Genau das leistet Prozac. In letzter Zeit ist soviel über die magischen Kräfte solcher Medikamente geschrieben worden, aber in beinahe keinem Fall ändern sie wirklich die Persönlichkeit. Was sie bewirken, ist, dass sie die Verdrängung unterstützen, um den Schmerz aus dem Bewusstsein zu halten. Drogen wie Prozac erreichen vorübergehend, was eine präfrontale Lobotomie auf Dauer zustandebringt: Erstere blockiert Feelings auf tieferen Ebenen und verhindert, dass sie sich in offenes Leiden verwandeln, während eine Lobotomie die tieferen Gefühlszentren physisch von den auswertenden höheren Arealen abtrennt. Der Schmerz ist noch immer da, nur bekümmert er das Individuum

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nicht mehr. Einige Medikamente, die von Psychiatern heutzutage verschrieben werden, wirken auf bestimmte Katecholamine (eine Klasse von Neurotransmittern) und 'elektrifizieren' das System, das heißt, sie geben uns mehr Energie und eine größere Fähigkeit, Stress zu widerstehen.

Wenn eine Person undichte Schleusen hat und von Schmerz überflutet wird, wird Konzentration schwierig; sie ist unfähig, ihre Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Thema zu zentrieren. Das kommt daher, dass das Individuum die diversen Impulse, die aus einer Vielzahl früher Traumen auf sein Bewusstsein einwirken, nicht unterdrücken kann. Die Person fühlt die einströmenden Impulse nicht als das, was sie sind. Alles, was sie weiß, ist, dass sie sich wegen des "Lärms" in ihrem Kopf nicht konzentrieren kann. Solche Individuen sind notorisch schlechte Schläfer. Wenn man einschlafen will, erfordert dies die fortschreitende Unterdrückung von Bewusstseinsebenen, angefangen mit dem Kortex auf der dritten Linie, dann abwärts die Traumebene oder zweite Linie durchquerend und schließlich weiter zum Tiefschlaf auf der ersten Linie. Die Verdrängung funktioniert nicht, wenn die Schleusen beschädigt sind. Die ständige Einnahme von Schlaftabletten repressiven Typs kann erforderlich sein, um das Gehirn in Schlaf zu versetzen. Man mag das als "Sucht" bezeichnen, aber es geht nur darum, ein reales Defizit an intern produzierten Verdrängern auszugleichen, das von frühen Traumen verursacht wurde. Beachten Sie, dass Tranquilizer auf tiefere Zentren wirken, um Obsessionen in höheren Zentren zu blockieren.

Individuen, die bei der Geburt an Sauerstoffmangel litten, haben später im Leben Schwierigkeiten, etwas zu planen und ebenso darin, an ihren Plänen festzuhalten. Da es ihnen an Selbstdisziplin mangelt, finden sie es äußerst schwierig, systematisch zu studieren, einen Job zu finden und zu behalten und Beziehungen aufrecht zu erhalten, weil sie keine zusammenhängende dritte Linie haben, die sie über die weitreichenden Konsequenzen ihrer Handlungen aufklären würde. Sie brauchen große Freiheit und "Raum zum Atmen". Sie agieren aus, bis sie auf die eine oder andere Weise von externen Kräften in die Schranken gewiesen werden. Wenn sie zum Beispiel zu viel reden, muss sie jemand anderer stoppen, weil sie ihre inneren Grenzen verloren haben. Solche Leute brauchen Unterbrechungen ihrer Routinearbeit, wie z. B. ständige Telefongespräche. Wenn solche Ablenkungen nicht existieren, schaffen sie sich welche. Sie brauchen genau das, was mit ihnen ursprünglich geschehen war: Abweichungen von ihrem Ziel.

All das oben Angeführte - schlechte Konzentration, leichte Ablenkbarkeit, zielloses Verhalten und Aufmerksamkeitsmangel-Störungen - sind Fehlfunktionen der dritten Linie und sollten nicht als separates Problem klassifiziert werden. Das geschieht mit den meisten "undichten Schleusern", die den akkumulierten Schmerz eines ganzen Lebens, der ständig zum vollständigen Bewusstsein  unterwegs ist, nicht aussperren können. Unglücklicherweise schreitet das Schleusensystem ein und blockiert das Bewusstsein, bevor er dort ankommt.

Wenn die Verdrängung eisenhart ist, wenn es relativ wenig Ventile für Gefühle gibt und die ganze Energie sich im Inneren staut, baut der Druck sich auf, und der Blutdruck steigt und kann lebensbedrohlich werden. Dieser nicht freigesetzte Druck, der vielleicht in der Kindheit chronische Erkältung oder Asthma verursacht hat, kann schließlich zu chronischen Gesundheitsproblemen im Erwachsenenalter führen, von denen Krebs nicht das unbedeutendste sein dürfte.

DANNY: ANOXIE, ANGST UND ASTHMA

Es stimmt nicht, dass es einem Menschen, der furchtsam ist, unbedingt an Mut mangelt. In meinem Fall ist es ganz im Gegenteil fair zu sagen, dass ich immer eine mutige Person gewesen bin. Dennoch wurde ich von einer Angst gequält, die mich schwer behindert hat. Ich bin anscheinend am ruhigsten, wenn es zu einer äußeren Krise kommt, worin ein Paradox zu liegen scheint. Es ist, als würden die beunruhigenden Umstände in der Außenwelt in ihrer Wertigkeit meinem inneren Aufruhr entsprechen und eine Balance oder subjektive Erfahrung von Ruhe erzeugen.

In meiner Erfahrung sowohl als Patient in der Psychotherapie als auch als Schulpsychologe bin ich, wenn überhaupt, wenigen Leuten begegnet, die Angst genauso wie ich erleben. Dennoch bin ich mir sicher, dass die folgende Beschreibung denjenigen, die unter Angst leiden, nicht unvertraut ist. Meine Angst präsentiert sich in sozialen Situationen, wenn genug Zeit ist, dass sich ein Vorgefühl aufbauen kann und wenn ein gewisses Leistungsniveau verlangt wird. In solchen Situationen habe ich alle Symptome einer Krise des sympathetischen Nervensystems - Verstehen Sie, das alte Kampf-oder-Flucht-Syndrom. Subjektiv fühlt sich mein Körper kalt und fröstelnd an. Die Kohärenz des Denkprozesses geht verloren, da mein bewusstes Gehirn in der vergeblichen Anstrengung dahinrast, die Stellung gegen eine Flut aufwallenden Schmerzes zu halten. Ich bin zittrig, meine Beine versagen, nichts stützt mich noch. Dieser plötzlich ansteigende Schmerz kommt eindeutig aus einer Zeit und von einem Ort, bevor die motorische Entwicklung gereift war. Kein tiefes Atmen, kein Versuch der Muskelentspannung und kein Gedanke, keine Glaubensvorstellung oder Idee kann solchen Schmerz im Zaum halten.

Lange bevor ich mit der Primärtheorie vertraut wurde, interessiert ich mich sehr für die Ähnlichkeit in den subjektiven Empfindungen einer Panikattacke und eines

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Asthmaanfalls. Jetzt ist mir klar, dass drei der Leiden, die ich in meinem Leben gehabt habe, nämlich Asthma, Kreuzprobleme und Panik in mehr als einer zufälligen Beziehung stehen. Der gemeinsame Faden ist ihr Ursprung, der, wie ich jetzt glaube, auf Sauerstoffdeprivation bei oder um die Zeit der Geburt zurückgeht. Diese Überzeugung basiert auf meiner Erfahrung als Student an Dr. Janovs Primal Center und leitet sich auch aus Dr. John Sarnos Diskussion der Sauerstoffdeprivation in seinem Buch Healing Back Pain) ab.

Ich bin jemand, der meistens über den Intellekt und Verstand funktioniert. Dennoch ist er fragil, ständig unter Belagerung. Verstärkung in Form von Medikation, nämlich Urschmerzblockern, ist erforderlich, um der Flut Einhalt zu gebieten. Bei den Gelegenheiten, in denen ich in der Lage war, tief zu fühlen, kam dies zustande, weil die erste Linie ausreichend unterdrückt worden war. Plötzlich und ohne jede Anstrengung wird die zweite Linie in Form einer Welle von Traurigkeit zugänglich. Unglücklicherweise sind diese Gelegenheiten selten und ereignen sich nur in großen Intervallen. Die typischere Situation ist die, dass die allgegenwärtige erste Linie, auch wenn ich zu weinen anfange, die zweite Linie verschluckt und nur oberflächlichen Zugang zu Feelings und seichtes Weinen erlaubt.

Obsessionen und Zwänge

Manchmal erzeugen unbekannte Botschaften, die von unten hochwallen, zwanghafte Ideen und obsessive Handlungen. Obsessionen repräsentieren den Zusammenprall zwischen aufsteigenden Feelings, die auf tieferen Ebenen gespeichert werden, und kortikalen Kräften, die sie zurückdrängen. Der wiederkehrende ängstliche Gedanke Habe ich unten die Tür abgesperrt? steuert den Zwang, die Schlösser zwanzig Mal am Tag zu überprüfen. Furcht ist durch die defekten Schleusen hindurch zum präfrontalen Kortex gedriftet, wo obsessive Ideen organisiert werden. Der spezifische Inhalt - "Ich fühle mich nicht sicher!" - liegt noch immer im Untergrund. Die Obsession ist das Ausagieren eines Feelings der ersten und zweiten Linie, ein kortikaler Versuch, sich sicher zu fühlen, nachdem man in der ganzen Kindheit dazu gebracht worden war, sich unsicher zu fühlen. Man weiß nicht einmal, dass man sich zutiefst unsicher fühlt, und dennoch ist es genau dieses Gefühl, das den Kortex zu der Entscheidung bewegt, die Schlösser immer wieder zu prüfen. Deshalb lassen sich Obsessionen und Zwänge in unserer Therapie leicht behandeln; wir erlauben den unsicheren Gefühlen einfach, ins Bewusstsein aufzusteigen. Dann werden keine Zwänge mehr ‚zwangsverpflichtet', um sie zu verbergen.

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SYLVIA: DAS CHAOS IM INNEREN

Ich habe immer mit Listen gelebt. Ich habe eine allgemeine für den tagtäglichen Gebrauch und eine andere für die Wochenenden. Trotz dieser scheinbaren Organisation bin ich eine schlampige Person. Ich habe nie das Gefühl, "vertieft" zu sein oder alles beisammen zu haben. Meine Geldbörse ist mit "unentbehrlichen Dingen" vollgestopft, die ich so gut wie nie brauche aber von denen ich nicht lassen kann. Weil sich um mich als Kind niemand gekümmert hatte - mein Vater verließ uns und Mutter ging zur Arbeit - entwickelte ich niemals Vertrauen in mich selbst. Ich traue meinem Erinnerungsvermögen nicht und habe schreckliche Angst, einen Fehler zu machen, also stelle ich Liste um Liste zusammen. Listen beruhigen mich.

Ich bin durcheinander, wenn jemand zu früh oder unerwartet kommt. Es stört meine Routine. Ich kann mich Veränderungen nicht leicht anpassen. Ich brauche eine gewisse Vorwarnzeit. Ich brauche das Gefühl, dass ich jede Situation unter Kontrolle habe. Meine vorgefassten Gedanken haben Vorrang vor meinen Gefühlen. Ich brauche eine gewisse Reglementierung und muss mich an etwas klammern, gleich, wie unbequem und unbehaglich es sein mag. Ich hasse und liebe Regeln. Ich verabscheue unstrukturierte soziale Situationen, in denen ich Fremden begegnen könnte und nicht weiß, was ich sagen soll. Ich fürchte, dass ich nicht abschätzen kann, wie ich oder sie reagieren, und dann habe ich das Gefühl, festzustecken, wie ursprünglich bei der Geburt und später in meinem verrückten Elternhaus.

Meine ständige Sorge ist, dass ich nicht fähig bin, mich angemessen um die Dinge zu kümmern. Es ist Teil der Hilflosigkeit, die ich als Kind fühlte. In der Schule machte ich mir die ganze Zeit Sorgen - daüber, meine Bücher, Regenschirme, Schlüssel usw. zu verlieren. Ich brauchte meine Mutter. Sie hätte mir helfen und mir ein Gefühl von Sicherheit geben sollen, aber sie war fort in der Arbeit.

Wenn mein Lehrer mit etwas Nettes sagten, war ich verzweifelt; es war, als könne ich seine Worte nicht behalten. Also schrieb ich sie auf und bewahrte sie in meiner Geldbörse. Wochenlang musste ich den Zettel herausnehmen, ihn anschauen, - und ich fühlte mich gut. Es war jedesmal, als bekäme ich eine Liebesspritze. Offensichtlich wollte ich vermeiden, mich so schlecht mit mir selbst zu fühlen. Ich sehe jetzt, wie viele von den Hunderten an Ritualen darauf abzielten, diese schlechten Gefühle und meine Angst auf Distanz zu halten. Ich hatte zu Hause niemanden, der mir Sicherheit gab. Meine Rituale erfüllen wenigstens diese Funktion.

Wenn ich alleine bin, leistet mein Geist Überstunden, um meine jüngsten Pläne zur Verbesserung meines Lebens noch einmal durchzugehen. Es ist eine Lebensweise. Wenn jemand meine Gefühle verletzt, muss ich mich ständig damit befassen; was ich gesagt oder getan haben sollte, was ich sagen werde. Wieder und wieder beschäftige ich mich mit den Fehlern meines Chefs, und das ist identisch mit dem, was ich bei meiner Mutter gemacht habe.

Das klarste Beispiel dazu dreht sich um Romantik und Sex. Wenn ich mich in jemanden verknalle, verbringe ich meine wachen Stunden damit, an ihn zu denken,

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Und ich arbeite Hunderte von Fantasien aus, wie es sein wird, wenn wir zusammen sind (Blicke, Umarmungen, Küsse, Romantik und Sex). Ich sehe jetzt, dass diese Fantasien Gespinste des Verlangens meines Körpers nach Umarmung und Liebe sind. Es ist halb Vergnügen, halb Schmerz. Es geht auf das Bedürfnis zurück, das ich nach meiner Mutter hatte, als ich klein war. Wenn meine Bedürfnisse hochkommen, werde ich in meinen Gedanken immer zwanghafter. In diesen Zeiten flirte ich heftig. Ich fühle mich buchstäblich wie ein Tier in Hitze.

Ich brauchte die Liebe meiner Mutter mit jeder Zelle in meinem Körper; schon in der Wiege hatte ich dieses Bedürfnis gefühlt. Und nie kam jemand, um mich zu beruhigen. Ich muss jetzt Situationen kreieren, in denen ich das Gefühl des Verlangens, das ich nach meiner Mutter hatte, neu erschaffen kann, und deshalb flirte ich zwanghaft mit Männern. Jetzt ist mein Bedürfnis erotisch geworden. Je mehr ich mein frühes Bedürfnis fühle, umso schwächer wird der Zwang in meinem Leben, mich erotisch auf Männer einzulassen.

Ich sehe, wie chaotisch ich mich innerlich fühle. Wenn ich versuche, äußerlich eine gewisse Ordnung zu schaffen, beruhigt mich das. Ein Teil von mir fühlt sich so außer Kontrolle, dass ich alles kontrollieren muss. Ich habe das Gefühl, wenn ich nicht alles zusammenzuhalten versuche, fliege ich auseinander. Meine Geburt und mein Elternhaus war reines Chaos. Ich brauchte Stabilität und Routine; also schaffe ich sie mir, wohin auch immer ich gehe.

Der Grund, warum Tranquilizer gegen Zwangsideen wirken, besteht darin, dass sie den Schmerz aus der Tiefe unten halten, wodurch der Kortex geringerem Druck ausgesetzt ist. Ohne den Druck aus dem Untergrund muss der Kortex keine Zwangsvorstellungen und Sorgen mehr produzieren. Wenn der präfrontale Kortex überlastet oder beschädigt ist, können Gefühle nicht so leicht unterdrückt werden.. Dann nehmen formlose Ängste, Obsessionen und Zwänge automatisch Gestalt an. Die Angst kann in jeder einzelnen Minute neue Probleme erfinden. Die Person fürchtet sich vor ihrer Geschichte und bildet sich ein, die Angst liege in der Zukunft. Sie betrifft eine Katastrophe, die bereits geschehen ist.

In einem Buch mit dem Titel Over and Over Again diskutieren Fugen Neziroglu und J. A. Yaryura-Tobias obsessiv-zwanghafte Störungen (OCDS). Nach Diskussion aller Begleiterscheinungen der Störung wie Zweifel, Perfektionismus und so weiter versichern sie folgendes: "OCD ist unheilbar." Sie behaupten auch, es sei ein "nichtsinniges" [nonsensical] Symptom, und man müsse lernen, die Kontrolle aufzugeben, um es zu besiegen.

Das Problem hier ist dasselbe, ganz gleich, welches Buch welche Symptome diskutiert: Die Symptome werden für die Störung gehalten, während die Dialektik nicht erkannt wird - dass Symptome ein Versuch sind,

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eine wichtige Homöostase zu errichten, und nicht etwas, das mit dieser oder jener Methode überwunden werden muss. Obsessionen müssen nicht "überwunden" werden. Sie sind Teil der psychischen Ökonomie. Sie erfüllen eine wichtige Funktion als Teil des Verteidigungsmechanismus. Es geht nicht darum zu lernen, die Kontrolle aufzugeben. Es geht darum, diese Kontrolle beizubehalten, bis man den Terror erfahren hat, der diese Kontrolle im Sinne mentaler Stabilität erfordert. Ein Mensch, der verängstigt ist, muss sich diesen Terror vom Leib halten. Eine Möglichkeit, das zu tun, besteht darin, ihn in verschiedene Ängste, Zweifel, Befürchtungen aufzusplittern, die Obsessionen genannt werden. Das sind Versuche, den Terror fügsam zu machen.

Neziroglu und Yaryura-Tobias sagen des weiteren, dass "die Person nicht die Krankheit ist". Sie hat eine Krankheit." Ich stimme nicht zu. Die Person ist die Krankheit. Sie befindet sich in ihrer Physiologie, ihrem Gehirn und ihren Blutzellen. Sie behandeln es, als sei die Krankheit etwas, das vom Menschen abgetrennt ist, was nicht der Fall sein kann. Sie ist in das menschliche Wesen eingebettet. Die Symptome sind nicht "nichtsinnig" [nonsensical] . Sobald wir verstehen, was ihnen zugrunde liegt, sehen wir, dass Obsessionen und Zwänge einen perfekten Sinn ergeben. Wir sollten wissen, dass kein Symptom grundlos existiert. Es ist das Gegenstück einer anderen Sache. Das Problem in der Psychologie bestand bisher darin, dass man Symptome für etwas Lebensfähiges hält und sie behandelt, als hätten sie keine Wurzeln, insbesondere keine biologischen Wurzeln.

Die Autoren erörtern die Symptome als "Intrusionen". Und genau das sind sie: Das Eindringen von Einprägungen einer tieferen Ebene ins vollständige Bewusstsein.  Die Person wird sich jetzt der Intrusion bewusst, anstatt dessen, was eindringt. Ein kleiner Schritt weiter, und sie läge richtig. Es sind keine Gedanken, die eindringen; es sind Gefühle, die dann in dem Versuch, das Gefühl zu beherrschen, die Gedanken steuern.

KAL: VON DER DER ANGST ABLASSEN

Ich wurde in England geboren. Mein ganzes Leben geschahen seltsame Dinge mit mir. Als ich klein war, lag ich in meinem Bett und hatte das Gefühl, als würde der Raum über mir zusammenrücken und mich zerquetschen. Ich wurde immer von zwanghaften Gedanken und sonderbaren Träumen heimgesucht, ich dachte

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Immer, ich hätte Krebs oder irgendeine Krankheit und dachte, dass etwas in mir einfach nicht stimmte. Meine Mam' ist Alkoholikerin und mein Vater findet es so schwer, irgendwie Liebe oder Wärme oder was auch immer zu zeigen. Er hatte (hat) sogar Probleme, mich bei meinem Namen zu nennen. Anstatt "Kal" zu sagen, sagt er "Uih, du!" Aber ich wuchs mit dem Gedanken auf, all das sei total normal und so seien Familien eben - verrückte, betrunkene, zornige Leute. In vielen leidvollen Nächten lag ich zu Tode erschrocken in meinem Bett, wenn zwischen meinen Eltern der Streit ausbrach und die Hölle loszubrechen schien. Mir war, als könnten sie jeden Augenblick hereinkommen und mich töten. Ich war ständig am Kämpfen. Mit vierzehn fand ich zum Alkohol und mit fünfzehn zu den Drogen. Nach ein paar Jahren, in denen ich Dope rauchte, auf Speed war und stark trank, war ich sechzehn und befand mich im Haus eines Kusars, wo ich etwas Dope in ein Getränk mischte. Ich hatte das nie zuvor gemacht und hatte gehört, dass man wirklich high wird. Mein Kusar und ich tranken einen Hasch-Kaffee. Ich gab ein wenig zu viel von dem Zeug hinzu und etwa dreißig Minuten später begann ein Terror, eine Art von Terror, den ich nie zuvor gefühlt hatte. Ich fiel auf den Boden und spürte, das ich am Ersticken war und zusammengedrückt wurde. Ich nahm das alles bewusst war. Mein Körper wurde taub und ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Arme und Beine. Ich lag auf dem Bett und konnte nur noch unkontrolliert zucken. Zwei Stunden später kam ich allmählich zurück. Aber seit jenem Tag durchzuckten regelmäßig unheimliche Empfindungen meinen Körper, und ich lebte immer in der Angst, dass ich plötzlich den Erstickungstod sterbe. Ich hatte wenig Ahnung damals, dass das, was ich erlebte, eine Geburtserfahrung war, nur eine sehr chaotische wegen der Drogen, die mein Schleusensystem schrottreif machten.

Als ich mit meiner Therapie anfing, glaubte ich tief in meinem Inneren noch immer, dass ich etwas durchmache, das niemand verstehen könnte. Dann wachte ich eines Nachts voller Angst auf. Ich ließ mich in diese Angst gleiten und dann - Peng - konnte ich nur noch ein helles Licht sehen, ein Licht, das so weh tat, dass ich kaum hinsehen konnte. Es war eine entsetzliche Empfindung. Mein Körper zitterte wie ein Presslufthammer. Ich war gerade geboren worden. Ich spürte, wie eine Hand nach meinen Beinen griff und mich kopfüber über dem Boden hielt. Ich baumelte in der Luft und hatte schreckliche Angst. Dann schlug mir jemand mit der Hand auf den Rücken und ich spürte einen scharfen, brennenden Schmerz. In den nächsten zwei Wochen fühlte ich mich total menschlich und real. Ich war nicht ängstlich und es gab keinen Terror, der durchgesickert wäre. Ich war lebendig, und das war ich seit vielen, vielen Jahren nicht mehr.

Ich rief meine Mutter an und fragte sie, " Warum hast du zugelassen, dass sie mich kopfüber nach unten halten und mich auf den Rücken schlagen?", wovon sie mir nie jemals beiläufig erzählt hatte. Sie war total erschrocken, und ich denke, ich machte ihr Angst, weil ich so viel wusste und ihr sagte, wie sehr mein Rücken jahrelang schmerzte und dass er behandelt werden musste. Nach meinem Geburtserlebnis verschwand der Schmerz gänzlich,

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Und mein Rücken und mein Körper schienen wie angegossen zu passen. Was meinen Rücken schädigte, war der große Klaps, den ich gleich nach der Geburt erhielt.

Ich möchte erwähnen, dass ich noch eine weitere bedeutende Einsicht hatte. Als ich sehr klein war, hatte ich schreckliche Angst vor der "Hand". Ich dachte immer, eine Hand würde sich ihren Weg zu meinem Bett bahnen und nach mir greifen. Ich wickelte mich fest in meine Bettdecke ein, um die sogenannte Hand nicht hereinzulassen. Nun, jetzt weiß ich, woher sie kommt. Ich war in einem Feeling und plötzlich fing ich an, die Decken um meinen Körper straff zu ziehen. Mir war kalt, und ich hatte Angst, und dann kam sie zu mir. Mein Großpa' versuchte, mich unter der Decke zu berühren. Ich glaube nicht, dass er mich vergewaltigte, aber seine Hand tastete überall an mir herum.

Ich fühle mich jetzt nicht mehr so, als müsste ich verrückt werden. Ich bin ein verantwortungsbewussterer Mensch geworden. Ich habe noch einen weiten Weg zu gehen, aber ich mache sehr gute Fortschritte, und ich weiß, dass ich meine Geburt und andere Feelings wahrscheinlich für den Rest meines Lebens fühlen muss, aber es lohnt sich.

In ihrem Kriminalroman Original Sin  liefert die Autorin P. J. James ein Beispiel, wie eine furchterregende Geburt Ängste hervorruft, die täuschenderweise gegenwärtigen Umständen zu entstammen scheinen, aber in Wirklichkeit ein Widerhall der Vergangenheit sind:

"Es kam den Erwachsenen nie in den Sinn, dass sie den Fußgängertunnel furchteinflößend fand, und sie wäre eher gestorben, als dass sie es ihnen gesagt hätte. Sie hatte von ihrer frühen Kindheit an gewusst, dass ihr Vater Mut über alle Tugenden bewunderte. Sie pflegte zwischen ihnen zu gehen, hielt ihre Hände in Vortäuschung kindlicher Demut, versuchte ihre Finger nicht zu fest zu fassen, richtete ihre Augen nach unten, so dass sie nicht sehen konnten, dass sie sie fest geschlossen hatte. Sie roch den charakteristischen Tunnelgeruch, hörte das Echo ihrer Füße und malte sich über ihnen das gigantische Gewicht des schwappenden Wassers aus - furchtbar in seiner Gewalt -, das eines Morgens durch das Tunnelgewölbe brechen und allmählich durchsickern würde, zuerst in schweren Tropfen, wenn die Dachplatten barsten, und sie dann, ganz plötzlich, in einer donnernden schwarzen und teuflisch riechenden Welle von den Beinen fegen würde, wirbelnd und steigend, bis nichts mehr zwischen ihren kämpfenden Körpern und schreienden Mündern wäre als ein paar Zentimeter Raum und Luft. Und dann nicht einmal mehr das."

 

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Es gibt nur eine biologische Schlüsselverteidigung gegen Schmerz: Verdrängung. Wenn die Verdrängung schlecht funktioniert, kommen sekundäre Abwehrmechanismen ins Spiel. Drogen, Trinken, Rauchen, ständiges Reden, unablässige Bewegung, Überessen, Obsessionen, Zwänge und Phobien gehören allesamt zur sekundären Abwehr. Sie nehmen den Druckpunkt auf, absorbieren und entladen die frei gewordene Energie. Man kann zum Beispiel ständig sexuell aktiv sein, weil die Verdrängung alleine nicht ausreicht. Jemand kann mehrmals am Tag masturbieren, um den Druck zu erleichtern. Es ist diese ansteigende Spannung und das Bedürfnis nach Erleichterung, was der Abhängigkeit von schmerztötenden Medikamenten/Drogen zugrunde liegt. Wenn jemand in seiner Jugend von Drogen umgeben ist, können Drogen die Spur sein, der er folgt. Wenn jemand in einer Atmosphäre aufwächst, in der dicke Babys als gesund angesehen werden, dann kann Überessen das Symptom sein. Ob der Schmerz in Obsessionen, Phobien, Drogenmissbrauch oder Völlerei resultiert - es sind dies Zeichen unzulänglicher Schleusung und unterschiedlichen kulturellen Aufwachsens, keine separaten Krankheiten.

Aufmerksamkeitsmangel-Störung

Aufmerksamkeitsmangel-Störung (ADD) [Attention Deficit Disorder] ist ein Leiden, das bei Kindern häufig auftritt und durch Ablenkbarkeit, Impulsivität und Hyperaktivität gekennzeichnet ist. Kinder mit ADD können kaum stillsitzen und haben Probleme beim Lernen. Der Name Aufmerksamkeitsmangel-Störung beschreibt das Verhalten der Person, leistet aber keinen Beitrag zur Erklärung der Ursache. Wissenschaftler sind sich nicht sicher, was die Störung verursacht, aber sie wissen genau, dass ein Stimulans namens Ritalin hilft.

Die Symptome der Aufmerksamkeitsmangel-Störung deuten auf mangelhafte Hemmung hin. Ritalin aktiviert Gehirnstrukturen, die letztlich auf den Kortex wirken und die Hemmung unterstützen, was in langsamerer Bewegung, geringerer Hyperaktivität und konzentrierter Aufmerksamkeit resultiert. Ritalin hemmt auch das Leidenssystem, das in der Regel Störungen im Denkprozess und Ablenkbarkeit verursacht.

ADD kann wie viele andere Syndrome das Ergebnis eines anoxischen Schadens während der Geburt oder eines anderen schweren frühen Traumas sein. Dieser Schaden erzeugt defekte Schleusung, und das führt dazu, dass die abgespaltene Primärkraft im Untergrund ins Bewusstsein durchbricht. Die Person kann nicht lange bei einer Sache bleiben, weil zu viel

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Schmerz von unten nach oben drängt und die Gedanken zerstreut. Und einmal mehr wird es selten als Schmerz empfunden. Es ist einfach Agitation. Das Kind oder der Erwachsene können einfach nicht hemmen, weil ein frühes Trauma die Hemmungsfunktionen des Kortex beeinträchtigte. Wenn wir den Schmerzpegel in unseren Patienten reduzieren, klingen Obsessionen ab. Der Kortex muss keine Gefühle mehr zurückhalten. Vor Jahren noch wurde sowohl Epilepsie als auch Hyperaktivität bei Kindern mit Ritalin und anderen aktivierenden Medikamenten behandelt. Diese Medikamente "normalisieren" das Gehirn, indem sie die präfrontale Aktivität erhöhen. Ich erinnere mich an einen Therapeuten, der zu uns kam und sich an unserem Trainingsprogramm beteiligte. Schon ganz am Anfang, sagte er, fand er heraus, dass in der gleichen Minute, in der es zu einem Durchhänger in der Sitzung kam, die er leitete, es "Peng, zu einer Eruption kam und der alte Schmerz auf den Plan trat und mich wieder in einen hyperwachsamen Zustand versetzte." Sich zu entspannen hätte bedeutet, sich der Gefahr zu sterben aus der ursprünglichen Geburtsprägung auszusetzen. Sein System kämpfte dagegen an, indem es hyperwachsam vor der Gefahr war. Das Resultat war schlechte Therapie, da er die Patientin zu früh antrieb und ihr keine Zeit ließ, das zu fühlen, was gerade hochkam.

DARYL: AUF DER SUCHE NACH ERLEICHTERUNG

Ich wurde 1950 in Los Angeles geboren. Meine Mutter war Engländerin und begegnete meinem Vater während des Zweiten Weltkriegs, als er in England stationiert war. Er wurde in New York geboren und wuchs dort auf.

Meine Mutter ist eine eiskalte Lady, die es nicht ertragen kann, wenn andere Spaß haben. Sie ist von sich selbst eingenommen und fühlt sich nur gut, wenn andere leiden. Mein Vater war abwesend. Er war nie da, und heute erinnert er sich nicht mehr an meinen Namen. Keiner von beiden zeigte mir Wärme, alle waren sich selbst überlassen. Keiner berührte mich, spielte mit mir oder zeigte irgendeine Art von Aufmerksamkeit.

Als ich klein war, konnte ich nicht stillhalten. Ich liebte es herumzulaufen. Ich konnte mich nicht sehr gut konzentrieren, es sei denn, etwas war wirklich anregend oder ich war aktiv. Ich liebte das Fernsehen. Es konnte meine Aufmerksamkeit fesseln. Und meine Mutter hasste, mich vergnügt zu sehen, also ließ sie mich nicht spielen. Sie zwang mich, in der Ecke zu sitzen und mich im wahrsten Sinne des Wortes nicht zu bewegen.

Ich wuchs mit dem Gedanken auf, dass dies ganz normales Verhalten seitens meiner Eltern sei, dass etwas mit mir ganz und gar nicht stimmte und dass alles, was ich wollte, ein Defekt in mir sei. Man sagte mir ständig, dass ich ein

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fauler, nichtsnutziger Hurensohn bin, der es zu nichts bringen wird. Ich fühlte mich so schlecht, dass ich den Impuls verspürte, mich an meine Mutter zu kuscheln oder sie um irgendeine Art von Aufmerksamkeit zu bitten. Wenn ich es tat, stieß sie mich gewöhnlich weg. Ich hatte das Gefühl, dass schon etwas nicht mit mir stimmte, wenn nur ich dachte oder fühlte, dass ich ihre Berührung wollte.

Ich litt schrecklich unter Einsamkeit. Ich war unheilbar hyperaktiv. Alles, was ich tat, stieß auf Ärger und Bestrafung. So begann ich, mich selbst vor dem Schmerz und der Qual zu verschließen, und ich fing an, sie zu hassen. Ich begann, sie zu bestehlen und nahm, was sie am meisten schätzten: Geld. Ich wurde rebellisch, war in Raufereien in der Schule verwickelt und wurde zum Störenfried im Klassenzimmer.

Im Alter von sieben wurde bei mir fachärztlich eine Hyperaktivitäts-Störung diagnostiziert. Der Schulpsychologe sagte, ich sei emotional gestört.

Mit zwölf wurde ich wegen meines störerischen Verhaltens von der Junior-High-School verwiesen und auf ein Internat geschickt. Sie banden mich mit Seilen fest und steckten mich in Einzelarrest.

Meine Mutter sagte mir, ich sei ein paranoider Schizophrener, und mein Vater dachte nur noch daran, mich mit einem Feuerschürhaken zu jagen und ihn mir in den Rücken zu rammen. Es endete damit, dass ich sie hasste und alles, wofür sie standen. Das Problem war, dass ich mich umso einsamer fühlte, je mehr ich sie hasste. Ich beendete jeden Kontakt mit meinen Eltern, und bis zum heutigen Tag habe ich keinen Kontakt mehr mit ihnen.

Ich fing an, jede Droge zu nehmen, die ich in die Hände kriegen konnte: Pot, Downers, LSD, Opium und Uppers. Ich dachte, sie würden mir endlich etwas Erleichterung verschaffen. Was ich wirklich brauchte, war Aufmerksamkeit. Eines Nachts, nachdem ich mit einer Freundin LSD genommen hatte, lag ich neben ihr und fühlte, dass ich allmählich in meiner eigenen Magengrube versank. Ich fand mich selbst furchtbar weinend wieder und konnte nicht aufhören. Das Bild des Gesichts meiner Mutter erschien vor meinem geistigen Auge und ich weinte stundenlang, so schien es mir jedenfalls. All dieser Schmerz und diese Qual, die ich vergraben hatte, war zurückgekommen. Es war furchterregend und dennoch fühlte ich hinterher eine Erleichterung, die ich nie zuvor gekannt hatte. Ich hatte wenig Ahnung, dass ich gerade etwas erlebt hatte, das einem Primal sehr ähnlich war.

Etwa zwei Jahre später stieß ich zufällig auf ein Buch mit dem Titel The Primal Scream [Der Urschrei]. Ich las es und wusste sofort und augenblicklich, was ich partiell erlebt hatte, war ein Primal, und was ich tun musste, war, mich um eine Primärtherapie zu bemühen.

Als ich mit der Therapie begann, machte ich mir vor Angst fast in die Hosen, aber ich war entschlossen, alles zu tun, damit es funktionierte. Ich war mit allem gescheitert, was ich versucht hatte. Konventionelle Therapie funktionierte nicht, man hatte mich aus der Junior-High-School geschmissen, Beziehungen waren immer im Desaster geendet und Arbeitssituationen endeten immer im Desaster, weil ich entweder gefeuert wurde oder den Job einfach aufgab.

Beim Fühlen setzte ich mich selbst unter Druck. Das Problem war, je mehr ich mich selbst antrieb, je mehr

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Druck ich auf mich selbst ausübte, je aufgeregter ich wurde, umso weniger konnte ich fühlen. Ich wusste, wenn ich anfangen könnte zu weinen, könnte ich etwas von diesem inneren Druck loswerden, unter dem ich ständig stand. Aber wann immer ich weinen konnte, kam es hoch und war ganz schnell wieder vorbei.

Im Primal Center fand ich eine Therapeutin, der mir gegenüber echte Wärme zeigte. Ich war immer hyperwachsam gegenüber Leuten, die sich gönnerhaft gaben oder Warmherzigkeit vorgaben, und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich glaube, ich versuchte es auszutesten, indem ich sie wegstieß. Aber als ich allmählich Vertrauen fasste, dass sie meine Gefühle nicht gegen mich verwenden würde, begann meine Hyperwachsamkeit nachzulassen. Ich erlaubte ihr allmählich, näher zu kommen, in dem Sinne, dass ich allmählich in der Lage war, einige der Ängste und die Scham, die ich über mich selbst empfand, auszudrücken. Als ich damit begann, konnte ich spüren, wie ich bei jedem Schritt, mit dem ich dem Fühlen näher kam, Widerstand leistete. Mit jedem Schritt näher schien es eine andere beschämende Sache zu geben, die ich sagen musste, und schließlich brach der Damm, und ich lag in Agonie auf dem Boden und weinte in Erinnerung dessen, was mit mir geschehen war, wie ein Zweijähriger. Ich war jetzt zurück in der Ecke im Alter von fünf, flehte meine Mutter an, sie möge mir Aufmerksamkeit schenken und fühlte, dass ihre Reaktion äußerster Hass war, weil ich auch nur einen Muskel bewegt hatte. Die Worte, nach denen ich in den vergangenen Sitzungen so verzweifelt gesucht hatte und die nie kamen, kamen jetzt einfach von selbst. "Es tut mir Leid….. Es tut mir Leid, du hast mir weh getan… Es tut mir Leid, ich leide… Es tut mir Leid, ich brauche dich, weil du mir weh getan hast!"

Ich fand mich selbst wieder, wie ich mit meinem Kopf gegen die Wand des Therapieraums schlug, und hatte tatsächlich ein Gefühl von Erleichterung. Viel später fand ich heraus, dass ich während der Wehen immer wieder mit meinem Kopf gegen den Gebärmutterhals meiner Mutter stieß. Sie mussten mich mit der Zange herausziehen, und bei dieser Prozedur hatte der Arzt meinen Schädel gequetscht und die Blutgefäße um meine Augen herum verletzt, und ich wurde mit einem blutigen Kopf geboren. Ich hätte es nie gewusst und nie nachgefragt, wenn ich nicht das Feeling gehabt hätte.

In der Primärtherapie geht es nicht um Schmerz. Schmerz war schon immer da. In der Primärtherapie geht es in Wirklichkeit um Erleichterung. Die Erleichterung, die ich nach einem Primal fühle, ist der Grund, warum ich durch die Leidenskomponente des Feelings gehe. Sie macht es möglich, auszugehen und mit Leuten zusammen zu sein, in der Lage zu sein, Warmherzigkeit hereinzulassen und fähig zu sein, anderen Aufmerksamkeit zu schenken. Es geht darum, in der Nacht schlafen zu können, ohne sich hin- und herzuwälzen.

Aufmerksamkeitsmangel-Hyperaktivitäts-Störung ist eine perfekte Bezeichnung für die speziellen Symptome, an denen ich leide. Da ich von meinen Eltern keine Aufmerksamkeit erhielt, war ich gezwungen, mich auf jede mögliche Weise abzulenken, um nicht der schrecklichen Wahrheit ins Auge sehen zu müssen, dass sie mich hassten und mich nicht wollten und dass ich eine Last war. Das einzige Ventil, das mir zur Verfügung stand, war das einzige Ventil, über das ich

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während der Geburt verfügen konnte. Schwäche und Hilflosigkeit begannen während meines Kampfes, geboren zu werden, weil meine Mutter nicht aufmachte. Ich erreichte nichts und verlor den Kampf um meine Geburt, verlor den verfügbaren Sauerstoff in meinem Kampf, geboren zu werden. Ich weiß, dass es tatsächlich so war, aufgrund der Geburtsprimals die ich fühlen musste und aufgrund der Aussagen von Außenstehenden, die verifizierten, was während meiner Geburt geschah.

Über die Jahre habe ich verschiedene Mittel ausprobiert, um den inneren Druck in mir zu erleichtern. Sport, Drogen, Sex schlechte Beziehungen - nennen Sie es, wie Sie wollen - es war alles vergeblich. Die einzige Art, wie ich Erleichterung finden kann, ist die, wenn ich in einem Feeling bin und es mit der Erinnerung des Ereignisses selbst verknüpft ist. Nachher übt dieser schrecklich unangenehme Drang keinen Druck mehr aus, und es bleibt nur die Erinnerung an das, was geschah. Die Erinnerung hat keine Kraft mehr. Sie ist einfach, was sie ist, nicht mehr, nicht weniger. Ihr Trieb/Bedürfnis- Anteil ist als das gefühlt worden, was er ist; mein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, die nie kam, das Bedürfnis nach Liebe, die es nie gab, das Bedürfnis, zu atmen und sich zu bewegen, und schließlich eben diese Bedürfnisse auf einer Ebene, bevor es irgendwelche Worte gab, um sie zu beschreiben.

Was ist verrückt?

Jemand, der neurotisch ist, mag dann und wann sehr besorgt sein und sich von Zeit zu Zeit deprimiert fühlen, aber im Allgemeinen geht man davon aus, dass er/sie mehr oder weniger "normal" funktioniert in der Welt. Seine/ihre Probleme werden typischerweise nicht seiner/ihrer individuellen Geschichte angekreidet sondern gegenwärtigen Faktoren in der Umwelt und in Beziehungen. Wenn er/sie sich einer Behandlung unterzieht, werden seine/ihre Symptome nach dem Gesichtswert eingeschätzt und mit Medikamenten, "Gesprächstherapien", Stress-Reduktionstechniken und so fort behandelt. Was sie generiert, wird gewöhnlich ignoriert.

PSYCHOSE ALS DEFEKTE NEUROSE

Wenn die Neurose versagt, kann daraus Psychose resultieren. Psychose tritt ein, wenn die repressiven Schleusen ständig durchlässig sind. Psychotisch zu sein, bedeutet, den Anschein zu erwecken, "außer Berührung mit der Realität" oder "verrückt" zu sein. Psychotiker haben bizarre Ideen und legen ungewöhnliches Verhalten an den Tag, weil in ihrem Inneren zuviel Realität ist. Es ist ein verzweifelter letzter Versuch, überwältigenden Schmerz unter Verschluss zu halten. Betrachten Sie zwei sogenannte psychotische Wahnvorstellungen von zwei unterschiedlichen Patientinnen von mir:

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"Ich verursachte den Krieg. Sie töten einander wegen mir." "Welcher Krieg?", fragte ich. Sie antwortet: "Der Krieg."

"In England gibt es eine Frau, die Botschaften über das Fernsehen sendet, um meine Brüste abzuschneiden."

Beides sind psychotische Aussagen. Keine davon ist eine bloße Verzerrung der Realität; beide sind totale Erfindungen. In der Nähe von Schmerz nehmen viele Leute einen sozial sanktionierten unwirklichen Glauben an: "Ich bin gerettet. Gott wacht über mich." Manchmal ist es ein eher idiosynkratischer Glaube; man sieht sich selbst als jüngste Reinkarnation von Jesus Christus oder stellt fest, dass man mit Aliens aus dem All kommunizieren kann. Je bizarrer die Idee, umso größer der Belastungswert nicht integrierten Schmerzes aus der Kindheit.

Der Grad an Unwirklichkeit entspricht im Allgemeinen der Kraft der eingeprägten Realität, die auf das vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] einwirkt. Gewöhnlich verstärken ein größeres Unglück oder eine Reihe von Verlusten das frühe Trauma. Nach konventionellem Standard sind die zwei Patientinnen, die die oben genannten Wahnvorstellungen artikulierten, "verrückt". Man könnte sagen, dass sie "den Kontakt mit der Realität verloren haben". Ihr Denken ist "in die Irre gegangen." Aber Gedanken gehen nicht "in die Irre". Gedanken folgen dem Leitfaden von Feelings und biologischen Verzerrungen auf allen Ebenen des Bewusstseins.

Was also ist "verrückt"? "Verrückt" ist eine Verrückung der Funktion. Es ist ein Quantensprung über den Punkt hinaus, an dem man bloß neurotisch ist. Es ist der Unterschied zwischen der Idee, jemand, der Ihnen Hilfe anbietet, wolle andeuten, dass sie hilflos sind, und der Vorstellung, Sie seien die Ursache eines irgendwo stattfindenden Krieges.

In der Regel "wird man verrückt", weil die einzige Alternative darin besteht, das katastrophale Trauma zu fühlen, das gegen die dritte Linie anbrandet. Psychose ist die letzte Station, der letzte Zufluchtsort, bevor der nackte Schmerz den Durchbruch ins Bewusstsein schafft. Da wir gesehen haben, was Reaktivität auf nur moderaten Schmerz bedeutet, wissen wir, dass volle Reaktivität auf die Art von Schmerz, die in Psychotikern vergraben liegt, lebensbedrohlich sein kann. Zweifelsohne war der Schmerz lebensbedrohlich, als er geschah, und aus diesem Grund wurde er weggeschlossen. Später dann ist er bewusstseinsbedrohlich. Der Kortex wird gezwungenermaßen dazu herangezogen, die volle Bewusstwerdung abzuwenden. In diesem Sinn ist Psychose

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oft eine Verteidigung gegen den Tod, eine Alternative zum Tod. Das System scheint zu sagen: "Besser verrückt als tot!"

Wir sind Gefangene unserer zellularen Biologie, nicht deren Meister. Sie können einen Psychotiker nicht aus seinen Wahnideen herausreden. Der Versuch, einen Psychotiker zu bewegen, "der Realität ins Auge zu sehen" ist ein begrifflicher Widerspruch. Er ist verrückt, weil er ihr nicht ins Auge sehen kann. Er ist verrückt, weil die Realität ihn die ganze Zeit piesackt.

Jemand kann auf der ersten Linie und ebenso auf der zweiten Linie "verrückt" sein. Man kann die Straße hinuntergehen, mit sich selbst reden und immer wieder sonderbare Gebärden machen (zweite Linie), oder man kann total bewegungsunfähig sein, wie bei Katatonie (erste Linie). Diese Person ist ohne das Zutun von Ideen verrückt geworden, hat sich von der Welt zurückgezogen und lebt völlig in sich selbst. Es hängt alles von der früheren Persönlichkeitsstruktur ab. Ein zurückgezogener, wortkarger Parasympath kann in einer psychotischen Episode total bewegungsunfähig werden. Vor Jahren spielte ich in einer Band am Brentwood Neuropsychiatric Hospital mit, die sich ‚Die Psychopathischen Synkopierer' nannte. Eines der Mitglieder (alle Patienten) hatte, was als ‚wächserne Flexibilität' bezeichnet wurde. Man konnte seine Arme in eine aufrechte Position bringen, und sie blieben dort, als seien sie aus Wax. Das war eine parasympathetische Psychose der ersten Linie. Meistens war er nonverbal, aber er konnte Musik spielen. Ein anderer Patient mit einer Psychose der zweiten Linie hatte alle fünfzehn Minuten einen unechten Wutanfall, begann, auf die Wände einzuschlagen, aufzuschreien und hielt dann von selbst inne. Er hatte keine speziellen Wahnideen oder Halluzinationen; es waren außer Kontrolle geratene Emotionen. Man braucht keine Ideen, um verrückt zu sein.

Auf der dritten Linie kann "verrückt" sein Vorstellungen wie die der Frau einbeziehen, die glaubte, Botschaften würden durch das Fernsehen gesendet, um ihre Brüste abzuhacken. Manchmal ist der gegenwärtige Schmerz so groß, dass Ideen ihn nicht absorbieren können. Sagen wir, jemand hat seinen Job verloren, seine Frau verloren, ist völlig pleite und musste sein Haus der Bank übereignen. Diese erschütternden aktuellen Tiefschläge sind in Verbindung mit dem alten Schmerz zu viel für die dritte Linie, und es kommt zu einer ernsthaften Art des Ausagierens. Seine Emotionen brechen unkontrolliert durch, und er startet einen tödlichen Amoklauf, oder er beginnt einfach, jeden auf der Straße anzuschreien.

Es gibt ebenso viele Möglichkeiten verrückt zu werden, wie es Leute gibt, einfach

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weil man auf vielerlei Art neurotich sein kann. Die Art, wie man verrückt wird, wird weitgehend durch den Prototyp bestimmt, durch die am Anfang eingeprägte Überlebensreaktion gegen das überwältigende Trauma. Wenn jemand dazu tendiert, unter Stresss zu "implodieren", wird die Psychose eher vom schizoid-zurückgezogenen Typ sein. Die Emotion ist flach, es gibt keinen "Kontakt", keinen direkten Blick in die Augen, und kaum jemals verbalen Ausdruck. Die implizite Bedeutung ist, dass die Person nicht da ist: Niemand zu Hause. Wenn jemand wütend agiert, um Schmerz abzuwehren, wird die Psychose wahrscheinlich von der manischen Variante sein: Hyperaktivität, unkontrolliertes Verhalten mit Explosivität und Unbeständigkeit.

AUS DER VERGANGENHEIT

Normalerweise stellen wir uns "verrückt" als einen Zustand vor, in dem die Vergangenheit ganz zur Gegenwart geworden ist und in dem es keine Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt. Nehmen Sie die erste Wahnvorstellung, die ich vorher erwähnte: "Ich verursachte den Krieg. Sie töten einander wegen mir." Nach vielen Monaten des Fühlens in der Primärtherapie fühlte diese Patientin schließlich das entsetzliche Feeling, von dem diese Vorstellung stammte: "Ich war der Grund, dass meine Eltern auseinandergingen, als ich sechs Jahre alt war." Ihre Mutter hatte ihr das unmittelbar nach einem gewalttätigen Streit zwischen ihren Eltern gesagt. Ihr Vater stürzte wutentbrannt aus dem Haus und kam nie wieder, und ihr Leben änderte sich von Grund auf. Man gab ihr immer das Gefühl, es sei ihre Schuld. Nicht nur, dass sie ihren Vater verlor - dem sechsjährigen Mädchen wurde auch suggeriert, dass sie die Ursache sei. Zu allem Überfluss begann die Mutter zu trinken, vernachlässigte das Kind und wurde öfters gewalttätig. Das Kind entwickelte Verhaltensstörungen, wurde von der Schule geworfen, fing früh an zu trinken und Drogen zu nehmen, und offenbarte schließlich Wahnvorstellungen.

Sie hatte den Krieg zwischen ihren Eltern verursacht, und das war ein katastrophales Feeling. Später ging der ursprüngliche Kontext verloren, und er wurde zu einer Wahnidee: "Ich verursachte den Krieg." Die Vergangenheit wurde zur Gegenwart, weil keine ausreichenden Reserven der dritten Linie zur Verfügung standen, um einen Schritt zurückzutreten und zu sagen "Das ist verrückt". Sie dachte, ihre Vorstellung sei real, weil sie keine Ahnung hatte, dass da eine Vergangenheit war, die die Gegenwart speiste. Sie wurde für verrückt gehalten. Ihre Ideen waren real, nur aus dem Zusammenhang. Sobald sie sie in den richtigen Zusammenhang brachte, war sie nicht mehr psychotisch; sie

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stand unter schrecklichem Schmerz. Nachdem sie den Schmerz gefühlt hatte, wusste sie, wo der Ursprung ihrer Vorstellungen lag.

Meine andere Patientin, diejenige, die wahrnahm, dass jemand in Europa eine Botschaft durchs Fernsehen schickt, um ihre Brüste abzuschneiden, ergriff tatsächlich Maßnahmen gegen "die teuflischen Kräfte", die diese Botschaften sandten. Sie hängte sich Heiligenbildchen um ihren Hals, die sie nie abnahm, auch nicht unter der Dusche. Sie erklärte, dass sie sich " die ganze Zeit vergewissern musste, dass die Bildchen noch da waren." Warum brauchte sie sie? Um die teuflischen Mächte abzuwehren. "Wenn ich nicht geschützt wäre, würden sie mir meine Brüste wegnehmen." Nach zahlreichen Primals, die sich über eine Periode von mehreren Monaten erstreckten, gelangte die Patientin schließlich zu folgenden Feelings: "Ich fühle mich ungeliebt. Ich muss hässlich sein, dass man mich so ablehnt. Wenn meine Brüste ab sind, muss ich mich fühlen, wie ich mich fühle…..hässlich, ohne Hoffnung auf Liebe." Sie erklärte, dass es eine Macht außerhalb ihrer gebe ( die in Wirklichkeit die Macht ihrer Feelings in ihrem Inneren war), die sie hässlich und ungeliebt fühlen lassen könne. Die wirkliche Macht waren ihre Eltern, die sie ablehnten und ihr deshalb das Gefühl gaben, hässlich zu sein.

Was bedeuteten ihre Wahnvorstellungen? Ihre dritte Linie versuchte emsig, einen Halt zu finden, eine Rationalisierung, ein Verhalten, das sie vor der Hoffnungslosigkeit retten könnte. Sie schuf sich einen Glauben, der ihr half. Es gab Zeiten, da wusste sie, dass ihr Glaube und Verhalten "verrückt" war. Sie stand nur unter Zwang; sie konnte noch unterscheiden zwischen Sinn und Unsinn. Aber dann verwandelte sich ihr Zwang in eine Psychose, und schließlich war sie von der Realität ihres Glaubens überzeugt. Und der einzige Weg für sie, sie "nicht verrückt" zu machen, war, wiederzuerleben, wie hässlich und ungeliebt sie sich in Wirklichkeit fühlte.

"DENKSTÖRUNG" ODER "GEDANKEN IN UNORDNUNG"?

Wenn jemand paranoid und psychotisch wird, erfolgt ein Sprung in eine ander Art von Ideenbildung, die auf den ersten Blick "verrückt" scheint. Ein Patient sagte mir, dass General Manuel Noriega irgendwie das Fernsehen benutze, um Gedanken auf ihn zu lenken. Da findet ein Übergang statt von einfachem Argwohn ("Ich glaube nicht, dass dieser Bursche mich mag") zur Paranoia, die sich zum Beispiel in der Aussage ausdrückt: "Die Leute auf der Straße lachen hinter meinem Rücken." Es hängt davon ab, wie gut die Schleusen

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arbeiten (und wie hoch der Schmerzpegel ist), ob jemand obsessiv oder psychotisch wird. Bei Paranoia sind die Ideen bizarr, weil sich der Verstand auf der dritten Linie "dehnen" muss, um Gefühle zu rationalisieren, denen keine innewohnende Rationalität zueigen ist. Die Gefühle, die ein kleines Kind hat, wenn es ohne offensichtlichen Grund von zuhause fortgeschickt wird, oder die auf schwere anästhesiebedingte Sauerstoffnot bei der Geburt zurückgeht, hatten niemals Begriffe als Hülle zur Verfügung. Ersticken während der Geburt ist keine rationale Erfahrung, die wegerklärt werden kann; sie kann nur als das erfahren werden, was sie ist. Aber da die Person keine Ahnung hat, dass ein Trauma vorhanden ist, hat sie keine andere Wahl, als zu versuchen, die Erfahrung rational zu machen: "Sie wollen mich erwürgen. Der-und-der erstickt mich." Die Rationalisierung hört sich natürlich seltsam an, weil die Erfahrung vor der Fähigkeit stattfand, logisch zu sein.

Wenn jemand überzeugt ist, dass die Leute darauf aus sind, ihn zu ‚kriegen' - der Fensterputzer, der Pförtner, der Postbote, eine anonyme Person, an der er auf der Straße vorbeiläuft - ereignet sich die gefährliche Situation offensichtlich nicht konkret in der Gegenwart. Der Schaden war in der Vergangenheit angerichtet worden. Diejenigen, die in seiner Vorstellung jetzt versuchen, ihn zu verletzen, sind lediglich Symbole für diejenigen, die ihn damals verletzten. "Jemand ist drauf aus, mich zu kriegen" kann bedeuten, das man ihn als Kind ständig grundlos verletzt hat, und jetzt stellt er sich vor, es finde in der Gegenwart statt. Wenn Vater betrunken nach Hause kommt und die Kinder verprügelt, hat das nichts Logisches an sich. Aber diese Erfahrungen bestehen fort, und wenn genug Schmerz hinzukommt, können sie sich später verwandeln in: "Sie versuchen, mir weh zu tun." Es ist logisch, Verletzung zu erwarten, wenn Sie in ihrem gesamten frühen Leben verletzt worden sind.

Sie befinden sich in Nöten, wenn Sie nicht in der Lage sind, über Ihre Gedanken zu reflektieren. Es bedeutet, dass Ihr Denkprozess in seiner Gesamtheit Gefangener vergrabener Feelings ist, und dass es abseits dieser keine Unabhängigkeit des Denkens gibt. Sie sind sich nicht bewusst, dass Ihre Vorstellung verrückt ist, Marsmenschen würden Ihnen auf all Ihren Wegen folgen. Sie sind überzeugt, dass es stimmt und unternehmen ständig etwas, um ihnen zu entgehen. Freud beschrieb diesen Zustand dahingehend, dass jemand nicht genügend Ego übrig hat.

Die Patientin, die die Botschaften aus Europa erhielt, war nur dann in der Lage, ihre Ideenbildung als verrückt einzuschätzen, wenn der Schmerz besser verdrängt war. Sie wusste, wenn sie während ihrer neurotisch-

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besessenen Phase ihre Zwänge nicht beibehalten würde, dann würden die Wahnvorstellungen sich wieder melden und sie quälen. Sie erklärte: "Die Wahnvorstellungen saßen hinter den Zwängen, wie die Zwänge die Wahnvorstellungen zurückhielten." Der gesamte obsessive Apparat hielt sie davon ab, in Erfahrung zu bringen, dass es vergangener Schmerz war, mit dem sie es zu tun hatte. Das ist die Funktion unrealer Glaubensüberzeugungen: Sie absorbieren den Schmerz, so dass er unbewusst bleibt.

Ein Patient sagte zu einer unserer Therapeutinnen, sie trage an diesem Tag eine schwarzes Kleid, weil sie wisse, dass der Weltuntergang bevorsteht, und dass es ihre Art sei, den Patienten zu informieren, dass eine Katastrophe im Anmarsch ist. Die Katastrophe war im Anmarsch; sie bestand aus den Gefühlen des totalen Verhängnisses, die sich daraus ableiteten, dass er mit fünf Jahren in ein Pflegeheim geschickt wurde. Ein anderer Patient glaubte, dass der Therapeut ein Kissen in die Ecke legte, um ihm (dem Patienten) eine Nachricht zu senden, dass er ein hoffnungsloser Fall sei. "Es war ein Trick, um mich dazu zu bewegen, die Therapie zu verlassen", erklärte er. Die Mannigfaltigkeit unrealer Glaubensüberzeugungen ist endlos.

Wenn der Denkprozess eines Menschen durch keinerlei Ahnung der Realität abgemildert wird, ist dies allgemein als Denkstörung bekannt. Viele Psychosen fallen unter diese Rubrik. Aber es handelt sich nie einfach um Denkstörungen. Innerhalb der Wahnvorstellungen findet man die realen antreibenden Feelings, genau wie im Inneren einer verworrenen Traumgeschichte die realen Feelings liegen, die die Geschichte zum Leben erweckten. Wir schreiben schlechte Träume nicht einer "Bilder-Störung" zu. Die Bilder passen sich den Feelings an. "Verrücktheit" ist nicht einfach "mentale" Krankheit. Es ist ein totaler Zustand, eine Krankheit mit mentalen oder gedanklichen Manifestationen. Die Gedanken sind nicht die Krankheit. Sie sind das, was die Person mit der Einprägung macht. Es gibt nichts, das man als Gedankenstörung bezeichnen könnte, aber es gibt Gedanken in Unordnung, wenn Gefühle Druck ausüben und sie durcheinanderwerfen. Und die Medikamente, die man verwendet, um Psychose zu behandeln, wirken nicht nur auf Denkprozesse. Die Medikamente wirken auf tiefere Zentren und und unterstützen damit die Verdrängung.

Das Problem bei Psychose ist, dass das Abwehrsystem erschüttert worden ist. Es ist kein Zufall, dass ernsthaft gestörte Patienten die Geburt ausnahmslos in den ersten drei Wochen der Therapie wiedererleben. Der Schmerz sitzt ganz obenauf. In der Regel sind Tranquilizer erforderlich, um dem Patienten bei der Verdrängung zu helfen, bis ein Teil des

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Schmerzes ausgeräumt ist. Medikamente sind hier nicht die Behandlung; sie werden verwendet, damit die Behandlung stattfinden kann.

Halluzinogene Drogen wie LSD können die Abwehr erschüttern und zu Psychose führen. Manchmal passiert es Monate nach einem LSD-Trip, dass ein Mensch etwas entwickelt, was ich eine gutartige Psychose nenne. Er wird mystisch, glaubt vielleicht an UFOs oder "Channeling" oder an eine Hindu-Gottheit. Er hat sein Leben größtenteils im Griff und schafft es, als vernünftig zu erscheinen. Er hat einfach irrationale Ideen, die von Zeit zu Zeit aufwallen. Diese Portionen dosierter Verrücktheit sind Ablassventile, die dazu bestimmt sind, ihn "geistig gesund" zu halten - eine gutartige Psychose, um die geistige Gesundheit aufrecht zu erhalten. Die Halluzinogene, die jemandem sofortigen tiefen Zugang verschaffen, sind die gefährlichsten, weil ihre Wirkungen ein Leben lang andauern, insbesondere bei denen, die mehr als fünfzehn oder zwanzig LSD-Trips hatten. Eine Person, die zuviele Halluzinogene nimmt, wird zu einem schlechten Schläfer, kann sich nicht sammeln oder konzentrieren, ist zappelig und fahrig. Warum? Weil die Droge undichte Schleusen und ein defektes Serotoninsystem verursacht hat.

Wir dürfen den Inzest nicht übersehen, der besonders bei Frauen die Psychose in Gang setzt. Das Geburtstrauma plus Inzest ist für Frauen ein nahezu sicheres Rezept für eine spätere Psychose. Eine meiner Patientinnen sah überall gewalttätige und gefährliche Augen: von Mannequins in Schaufenstern, aus anderen Autos starrend, und so fort. Jahre später stellte sich während des Wiedererlebens des Inzests heraus, dass diese Augen ihrem Vater gehörten und nachts über ihr schwebten, als sie besinnungslos vor Angst im Bett lag.

Es gibt erhebliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Frage, ob Psychose zusammen mit Aufmerksamkeitsmangel-Störung, manischer Depression und Krebs genetisch bedingt ist. Es mag wohl sein, dass bei diesen und anderen Leiden ein genetischer Faktor im Spiel ist. Aber es ist eine Interaktion mit der Umwelt erforderlich - Traumen vom Zeitpunkt der Empfängnis an - um genetische Möglichkeiten manifest zu machen. Der Grund, dass Psychose so oft genetisch bestimmten biochemischen Faktoren zur Last gelegt wird, besteht darin, dass das Feld der Psychologie geburtliche und vorgeburtliche Ereignisse übersehen hat: neun potentiell traumatische Monate, denen ein Nervensystem ausgesetzt ist, das fragil und verwundbar ist und noch keine Abwehr entwickelt hat, das die Wucht des Schmerzes mildern könnte.

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Der Erfolg unserer Bemühungen, in unserer Therapie Psychotikern zu helfen, gesund zu werden, ist eine weitere Indikation für die Macht der Gefühle. Wenn traumatische Feelings ungefühlt bleiben, können sie Neurose in Psychose transformieren. Sie zu fühlen, kann jemanden von ‚psychotisch' nach ‚nur neurotisch' transformieren. Die Eliminierung des Schmerzes reduziert die Psychose und Neurose systematisch.

Schlaf und Träume

Das Gehirn unterliegt keiner Verwandlung, wenn wir schlafen. Jede Nacht im Schlaf suchen wir unsere alte Geschichte in umgekehrter Reihenfolge wieder auf, statten den Bewusstseinsebenen einen Besuch ab, die wir in der Regel am Tag meiden. Wenn wir einschlafen, ist die dritte Linie unterdrückt, sodass wir beginnen, auf tieferen Ebenen zu existieren. Oder umgekehrt müssen wir zuerst anfangen, das Bewusstsein der dritten Linie zu unterdrücken, um einschlafen zu können. Wir gleiten dann in den Traumschlaf (zweite Linie), dann in den Tiefschlaf (erste Linie), wobei wir uns immer weiter vom Bewusstsein fortbewegen. Wir reisen in die Zeit zu unseren Anfängen zurück, zur Morgendämmerung der Spezies, zum instinktiven Salamandergehirn der ersten Linie. Wir reisen in einer Art Koma zurück, in dem nur unsere Vitalfunktionen arbeiten. Wenn wir aus dem Tiefschlaf zurückkommen, folgen wir unserer evolutionären Entwicklung, indem wir über die Traumebenen nach oben zum Bewusstsein der dritten Linie und zur Wachheit zurückkehren.

Warum träumen wir? Weil unsere Gedanken und unser Verhalten wie alles andere im menschlichen Leben eine Überlebensfunktion erfüllen muss. Es ist keine Überraschung, dass einer der Agenten, die Schlaf erzeugen, Serotonin ist. Dieser Neurotransmitter unterdrückt Bewusstseinsebenen und hilft uns, unbewusst zu werden; das Gleiche geschieht mit Schmerz. Die neuen heißen Schlafdrogen sind Melatonin-Verstärker, die auch den Serotoninspiegel erhöhen. Träume kapseln aufsteigenden Schmerz der unteren Ebenen ein. Träume verkleiden den Schmerz und mildern seine Kraft, indem sie eine Geschichte um ihn schlingen, sodass wir weiterschlafen, gesunden und uns regenerieren können.

Wenn die Träume die Primärflut nicht länger zurückhalten können, hat man Albträume - die Psychose des Schlafs. Ganz tief liegende Einprägungen bewegen sich nach oben und drücken gegen die Bilder erzeugende (zweite Linie)

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und gedankliche (dritte Linie) Ebene. Die Geschichte taugt nicht, um Aufregung und Panik zurückzuhalten, und sie sprudeln heraus. "Ich werde von einer großen schwarzen Hand zerschmettert und erstickt; ich werde von einem Monster mit einer schwarzen Maske zerquetscht." Albträume haben diese bizarre Qualität, die Wachpsychosen mit ihren "verrückten Ideen" charakterisieren.

Die Story eines Albtraums ist gewöhnlich nicht sonderlich komplex. Stattdessen ist sie ein direkter Ableger einer frühen Empfindung: " Ich werde stranguliert…ich kann nicht atmen…ich sterbe." "Jemand ist hinter mir her….sie werden mich gleich schnappen…. Sie wollen mich töten." Ersteres spiegelt eine Erinnerung an Sauerstoff-Deprivation wider. Was letzteres betrifft, könnte dieser "Jemand" ein Elternteil sein. Jedesmal habe ich bei Albträumen erneut gesehen, wie direkt und unkompliziert die Ideenbildung ist.

Sowohl in Albträumen als auch in Wachpsychosen steigt der Schmerz direkt auf und hat eine zu große Kraft, als dass er der zweiten und dritten Linie erlauben würde, eine komplizierte Traumgeschichte zu formen. "Sie schicken Botschaften durchs Fernsehen, um mich zu töten" ist ein einfaches, direktes und offensichtliches Symbol eines sehr realen inneren Feelings. In Wirklichkeit sind Ihre Gefühle hinter Ihnen her, und wenn Sie sie fühlen, könnten Sie sterben. Die gedankliche Vorstellung für das Feeling, dass "ich steben könnte" wird zu "Sie sind hinter mir her und wollen mich töten." Die Gedankenbildung ist nur einen kleinen Schritt von der Realität entfernt. In unseren Albträumen befinden wir uns in etwas so Primitivem, Vernichtendem, dass es von einem anderen Planeten zu kommen scheint. Deshalb sind wir oft nicht in der Lage, sie zu verstehen.

Es trifft sich, dass unser tiefster Schlaf auf der Ebene stattfindet, auf der die zur ersten Linie gehörenden Traumen auf Leben und Tod liegen. Im Tiefschlaf helfen lange tiefe Hirnwellen, die Verdrängung auf dieser Ebene zu gewährleisten. Wir wachen aus unseren Albträumen auf, weil das System nicht das Risiko eingehen wird, dass unsere Dämonen sich aus dem Schlamm erheben, um uns zu verhexen. Wir wachen aus einem Albtraum ins vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] auf, um unbewusst zu bleiben; Das ist die Unterscheidung zwischen Bewusstsein [consciousness] und Bewusstheit [awareness]. Wir können ganz hellwach [aware] sein und ganz unbewusst . Der Kortex ist jetzt in Betrieb. Wir sind uns nun der äußeren Realität gewahr [aware] , damit wir die innere Realität nicht kennen lernen. Trifft das nicht auf so viele

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Intellektuelle zu? Sie entwickeln eine Bewusstheit von so vielen Dingen, um nichts über sich selbst erfahren zu müssen.

PAULO: DEN SCHRECKEN DER NACHT ÜBERWINDEN

Als ich zwölf war, sagte mir mein Bruder, hatte ich eine Zeit lang geschrieen, gebrüllt und meine Träume physisch ausagiert. Das ist die Zeit, als schwächende Schlafprobleme störend in meinem Leben auftauchten. Anderes als bei einigen Leuten, die denselben wiederkehrenden Traum haben, wurden meine Träume immer aufs Neue erschaffen, mit neuer Handlung, neuen Charakteren und neuem Inhalt.

Was mir widerfuhr, war nicht ein beständiges Bild, sondern eine beständige Reihe von Gefühlen, die ich bis zu fünfmal in einer Nacht erlebte. Ich fühlte immer Angst, Entsetzen, den drohenden Untergang, den bevorstehenden Tod und das Bedürfnis, davonzulaufen. In meinen Alpträumen befinde ich mich gewöhnlich in einer Situation auf Leben und Tod: Giftige Schlangen kriechen in mein Bett oder hängen über mir, bereit, mir die Zähne ins Gesicht zu schlagen; die Scherben zerbrochenen Glases fallen auf mich herab; eine riesige Kiinge wie in The Pit and the Pendulum saust herab und schneidet mir den Bauch durch. Manchmal habe ich einfach Angst vor etwas, das mich verletzen kann und mein Leben in Elend stürzen kann, wie vor Ratten in meinem Bett oder Mäusen, Eichhörnchen oder einem teuflischen Hund, der gerade zum Sprung ansetzt. Wie eine zusammengepresste Metallspirale, die über ihre Grenzen belastet wird, sprang ich dann aus dem Bett, um dem Objekt meiner Furcht zu entfliehen. In Alpträumen ist mein Körper physisch in den Traum verwickelt: Ich springe aus dem Bett oder laufe quer durch das Zimmer. Eines Nachts hechtete ich mit dem Kopf voran über den Flur, um unter einem Stacheldrahtzaun durchzukriechen, der mich in einem Konzentrationslager gefangen hielt, während die Wachposten versuchten, mich mit Maschinengewehrfeuer unter Beschuss zu nehmen. Seltsamerweise habe ich mir während eines Alptraum selten weh getan, auch nicht bei totaler Dunkelheit. Ich scheine genügend Kenntnis und Erinnerung meiner Umgebung zu haben, um über wirkliche Gegenstände in meiner Umwelt akkurat, sicher, aber unbewusst hinwegzuspringen oder zwischen ihnen durchzulaufen. Aber den "Konzentrationslager"-Albtraum beendete ich mit schmerzhaften Teppich- Brandmalen an mehreren Körperstellen.

Ich habe die Primärtherapie nicht angefangen, um meine Alpträume loszuwerden. Ich begann die Therapie, um mich mit den verdrängten Gefühlen, die sie verursachten, und mit all den anderen Problemen in meinem Leben zu befassen. Ich bin durch den Prozess nicht vollständig durch, aber ich kann meinen ständigen Fortschritt und den heilenden Pfad, auf dem ich mich befinde, klar erkennen.

Meine Alpträume haben sich weiterentwickelt. Noch etwa sechs Monate, bevor ich hierher kam, floh ich immer körperlich vor den Dingen, die ich in meinen Träumen fürchtete. Als ich in den sechs Monaten nach meinem Therapieaufnahme-Interview darauf wartete, dass meine dreiwöchige Intensivphase begann, änderten sich allmählich meine Traumzeit-Reaktionen auf die Dinge,

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die ich in meinen Träumen fürchtete. Anstatt vor den eingebildeten Dingen, die ich fürchtete, davonzulaufen oder zu fliehen, begann ich, mich ihnen zu stellen, indem ich zum Beispiel die "Schlange" oder die "Ratte" in meinem Bett buchstäblich aufrollte, um sie zu bändigen und bewegungsunfähig zu machen. Gewöhnlich machte ich dann das Licht an und ging zurück, um die Sache zu überprüfen. Ich brauchte nur wenige Augenblicke, bis mein Bewusstsein klar genug war und ich erkannte, dass ich gerade einen weiteren Alptraum hatte und dass da nichts war.

Tiere und Objekte wurden schließlich durch vage Eindrücke von individuellen Leuten ersetzt, die auf irgendeine Weise beabsichtigten, mich zu verletzen. Meine Reaktionen auf diese "Leute" waren, dass ich mich im Bett aufsetzte und mich ihnen von Angesicht zu Angesicht stellte, dass ich bereit saß oder stand, mich gegen ihn oder sie zu verteidigen, oder dass ich körperlich nach ihm oder ihr schlug, als sei er oder sie wirklich da. Manchmal schrie ich in die nebelhafte Dunkelheit: "Wer zur Hölle bist du?!"

Irgendwo und irgendwann in meinem Leben fand ich unbewusst heraus, dass der Traumschlaf ein Schmerzkiller für mich war. Jetzt stehe ich auf, wenn mein Schlaf in den "Traumschlaf" übergeht, es sei denn, ich habe ein verantwortliches Bedürfnis, früher aufzustehen. Ich kann das schwer erklären, aber es ist eine der signifikantesten Verknüpfungen, die ich in meiner Therapie hergestellt habe. Immer wenn ich "zusammenbreche" oder lange Zeit schlafe, gibt es einen Abschnitt in meinem Schlaf, in dem ich träume und träume und träume. Ich habe nie Drogen genommen, aber ich kann durch meine Erfahrungen mit dem "verträumten" Schlaf die Abhängigkeit verstehen und die Attraktion, die Drogen auf manche Leute ausüben.

Wenn ich im Traumschlaf bin, habe ich kein Verlangen aufzustehen. Ich möchte für immer ihn diesem träumerischen Zustand bleiben. Der Traumschlaf hält mich besonders dann fest, wenn mein Wachleben schmerzhafter ist, als ich zu fühlen bereit bin. Ich hätte deswegen beinahe meine Jobs verloren, weil ich so wenig Willenskraft habe, wenn ich mich im Traumschlaf befinde. Während des Traumschlafs hatte ich ein Gefühl und Verhalten wie "Was kümmert's mich", weil ich mich so gut fühlte und so weit weg von dem alten und auch gegenwärtigen Stress in meinem Leben. Wenn ich manchmal nicht rechtzeitig zur Arbeit aufstand, rief ich nicht an, um zu sagen, dass ich später kommen werde (weil ich nicht aufwachen wollte oder riskieren, dass ich aufwachte), und manchmal erschien ich überhaupt nicht zur Arbeit. Ein solches Ausagieren kann dein Leben wirklich vermasseln. Das war eine Form von passivem Selbstmord; ich machte mir nichts draus, wenn mein Leben zu Ende gehen sollte, solange ich mich in diesem Prozess gut fühlte. Im Lauf der Primärtherapie wurde ich zum ersten Mal bewusst, als ich allmählich aus dem Traumschlaf herauskam. Ich begriff, dass mein träumerischer Schlaf ein Narkotikum für mich war, und zum ersten Mal in meinem Leben verspürte ich ein wirkliches Gefühl von Engagement, Wahl und Kontrolle in meinem Schlaf- Gefühls- und Verdrängungsprozess. Vor diesem Tag hatte ich das Gefühl, keine Kontrolle über die zugrundliegenden Prozesse zu haben, die sich in mir abspielten und mich hinsichtlich meines Schlafs manisch-depressiv machten. Ich war fragmentiert, und die Fragmente, die "mich" zusammensetzten, waren alle voneinander getrennt. Ich funktionierte nicht als Einheit. An dem Morgen, als mir bewusst

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wurde, dass Traumschlaf für mich eine Droge war, wurde ich ein verknüpfter Mensch. Zum ersten Mal sah ich wirkliche Hoffnung, meine Schlafstörungen endlich korrigieren zu können. In diesem Augenblick stand ich an einer neu geschaffenen Schwelle: Ich konnte eine Entscheidung treffen, wohin ich von da an gehen wollte. Es war das erste Mal, dass ich eine wirkliche Wahl treffen konnte und das Gefühl hatte, ganz über mein Leben bestimmen zu können.

Depression

Nach dem Studium der entsprechenden Literatur ist der einzige Schluss, zu dem ich kommen kann, dass niemand sich sicher ist, was Depression ist. Ist es eine Reaktion auf Umstände, ein Seinszustand, eine Krankheit, eine Neurose oder Psychose? Ist sie ein Syndrom, eine Ansammlung kleiner Symptome, oder eine Ganzheit? Die meisten stimmen darin überein, dass entscheidend ist, wie die Person sich fühlt. Das DSM-IV listet die folgenden Symptome auf: beständige gedrückte Stimmung, markanter Verlust des Interesses und der Freude, Schlafstörungen, Energieverlust, Schuldgefühle, schlechte Konzentration und Selbstmordgedanken. Aber nahezu jede Kategorie der Neurose kann einige dieser Punkte beinhalten. Wie lange müssen sie suizidale Gedanken haben, um als depressiv klassifiziert zu werden?

Man kann den involvierten Zirkelschluss erkennen. Wenn man sich deprimiert fühlt und an Selbstmord denkt, dann ist man depressiv. Wenn man depressiv ist, ist man depressiv. Grundsätzlich gilt, dass die meisten Selbstmordversuche Depression einbeziehen. Auch wenn es zu einem plötzlich eintretenden Ereignis kommt -dem Verlust eines Ehepartners zum Beispiel - muss die grundlegende depressive Tendenz, der selbstzerstörerische Aspekt, bereits vorhanden sein. In Depression: An Integrative Approach berichten Herbst und Paykiel, dass 15 Prozent aller Depressiven letztlich an Selbstmord sterben. Die Autoren behaupten, dass die Häufigkeit von Selbstmord sich von der der Depression unterscheide. Fünfzig Prozent der Selbstmordversuche, behaupten sie, weisen einige depressive Symptome auf.

Dann gibt es da die berühmten "unipolaren und bipolaren Depressionen": Diejenigen, die nur depressiv sind, und jene, die voller innerer Unruhe sind und bei denen sich Manie mit Depression abwechselt. Manche behaupten, es handle sich um zwei verschiedene Krankheiten. Es gab eine Kategorie, die als "endogene Depression" bezeichnet wurde, eine Depression, die aus unbekannten Gründen von innen heraus ensteht. Sie ist durch

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"Melancholie" ersetzt worden. Ich bin mir nicht sicher, welchen Fortschritt das darstellen soll. "Neurotische Depression" ist vom DSM-IV entfernt worden. Unglücklicherweise ist "neurotische Depression" nicht aus der Physiologie des leidenden Menschen entfernt worden. Und meiner Ansicht nach bedeutet Depression de facto "Neurose", da sie einen höheren Grad an Verdrängung und Funktionsverlagerung erkennen lässt.

Es hat sich herausgestellt, dass der frühe Verlust der Mutter zwischen elf und siebzehn Jahren mit späterer Depression verbunden ist. Somit kommt jetzt Schmerz zur Gleichung hinzu, obwohl man in Abhandlungen über Depression selten das Wort Schmerz findet, wenn man die entsprechende Literatur durchsieht. Emotionaler Beistand ist für die Vermeidung schwerer suizidaler Depression ausschlaggebend, aber Depressive tun sich schwer, andere in ihrer Nähe zu halten. Sie tendieren dazu, ultrabedürftig, niedergeschlagen und abhängig zu sein, und sie wollen durch andere leben. Forschungen haben ergeben, dass diejenigen, die ein "neues Konzept" oder die Vorstellung von einem Neuanfang entwickeln, am besten in der Lage sind, über Depression hinwegzukommen.
(Absatz)
Viele Neurotiker haben hohe Stresshormon-Spiegel. Für den Depressiven besteht der Unterschied darin, dass der Stress nirgendwohin entweichen kann, dass es kein Freisetzungsventil gibt. Andere (ausagierende) Neurotiker finden Wege, um die Spannung freizusetzen. Der Depressive kann das nicht. Seine Verdrängung ist global aufgrund eines massiven frühen Traumas und eines unterdrückenden Elternhauses, das wenig Verhaltensfreiheit zuließ. Eltern von Depressiven neigen dazu, auf strenger Disziplin zu bestehen, und sie lassen keine Widerrede und Fehlverhalten ungestraft durchgehen. Der eine oder andere Elternteil ist den Kindern gegenüber emotional distanziert, sodass sie mit ihren Gefühlen nirgendwo hingehen können. In derartigen häuslichen Situationen verstärkt sich der Prototyp, und die Verdrängung nimmt zu.

Es ist nicht so überraschend, dass sich bei Leuten, die beruhigende Mittel einnehmen, die Depression tendenziell verschlimmert, während Menschen, die aufputschende Mittel nehmen, Erleichterung von ihr finden. Diejenigen, die Drogen wie z. B. Dopamin nehmen, das Schmerz abtötet aber auch auf das Erregungssystem wirkt, finden etwas Erleichterung von der Depression. Die globale Verdrängung lockert sich etwas, und es wird Energie zugeführt, die ihnen hilft, aus dem Bett und in die Gänge zu kommen. Wir könnten solche Mittel in der Anfangsphase der Therapie empfehlen, wenn ein Patient sich unterhalb der Primal-Zone befindet und überhaupt nichts fühlen kann.

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Wir setzen das Schmerzniveau ein wenig herab, um etwas Zugang zum Fühlen zu schaffen, bis die Person aus eigener Kraft fühlen kann. Andernfalls kommt es in der Therapie zu ständigen Bemühungen mit wenig Erfolg und zu einem Gefühl weiterer Hilflosigkeit. Die Forschung hat gezeigt, dass diejenigen, die Vorstufen von Serotonin (der inhibitorische Transmitter) einnahmen, eine gewisse Erleichterung von der Depression fanden. Obgleich es paradox scheinen mag, kann mehr Verdrängung durch Medikamente den auf dem System lastenden Druck, alles aus eigener Kraft bewältigen zu müssen, mindern und der Person helfen, etwas Erleichterung zu finden. Der Körper wird in seiner Schmerzabwehr "maximiert". Die Zugabe von Repressoren erleichtert die Last, die der Körper zu tragen hat, sodass die Person sich entspannen kann.

Viele der neueren Tranquilizer wie Paxil, Prozac und Zoloft enthalten auch Dopamin-Verstärker; was man also bekommt, sind Schmerzkiller und zusätzlich etwas, das das System ‚frisiert', indem es der Person mehr Energie verleiht. Dopamin reagiert in hohem Maße empfindlich auf Stress und wirkt dahingehend, dass es das System ‚elektrifiziert'. Die Schlüsselempfindung bei Depression ist Verdrängung. Das kommt daher, weil die Verdrängung geringfügig nachlässt und dann globale Verdrängung zum vollständigen Bewusstsein aufsteigt. Die Person "fühlt" die Verdrängung, diese schwere, mühsame Empfindung, die Schwierigkeit, tief zu atmen, oder auch nur den Arm zu bewegen, und nennt das Depression. Die meisten der neuen Antidepressiva spielen ihre Rolle, indem sie die Verdrängung unterstützen. Was manchmal auch hilft, ist eine Medikament, um die innere Unruhe zum Teil zu unterdrücken. Die Anti-Angst-Medikamente helfen hier. Wenn weniger Verdrängung stattfindet, fühlt die Person weniger Depression.

Depression ist das Ergebnis der von Anfang an stattfindenden Verdrängung vieler Feelings und Traumen. "Traurig" ist ein Gefühl. Depression ist das Ergebnis von Gefühlen, völlig erstarrt zu sein. Es ist eine normale Reaktion auf Lebensereignisse wie z. B. einem großen Verlust. Eine Depression besteht, wenn jemand keine Traurigkeit fühlen kann, sein Elend nicht hinausschreien kann, sich selbst nicht voll ausdrücken kann. Nach einer gewissen Zeit setzt die Depression ein. Das passt zu der Tatsache, dass Depression in hohem Maße ein von innerer Unruhe gekennzeichneter Zustand ist, auch wenn die Person die Agitation vielleicht nicht fühlt; vielmehr fühlt sie sich erstarrt und gelähmt. Es findet Agitation statt, und zwar aufgrund vieler nicht ausgedrückter Feelings, die unterhalb des vollen Bewusstseins [conscious-awareness] reverbieren [widerhallen, resonieren]. Warum gibt es keinen Auslass? Aus zwei Gründen: Der erste ist, dass es während des ursprünglichen Traumas, vielleicht um die Zeit der Geburt oder früher, keine alternativen

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Verhaltensmöglichkeiten gab, und das Fehlen von Alternativen prägte sich ein. Zweitens war die Kindheit dem Ausdruck von Gefühlen nicht förderlich. Jene, die "keine Alternativen" als Prägung eingraviert bekamen, werden auf ein repressives Elternhaus mit Unterwerfung reagieren und dadurch die Verdrängung verstärken.

In einer Studie, von der in Depression: An Integrative Approach berichtet wurde, behauptet Keith Hawton: "Von den Leuten, die sich selbst töten oder Selbstmord versuchten, suchten annähernd zwei Drittel ….. innerhalb des Monats zuvor Ärzte auf." Es scheint, dass sie nach Hilfe suchten. Die Frage ist, wie helfen Sie depressiven Menschen? Ihre Symptome sind in der Regel vage; sie sind sich bewusst, dass etwas nicht stimmt, wissen aber nicht, was genau. Ihnen ist einfach unwohl. Von denen, die sich schließlich umbringen, hat mehr als die Hälfte eine Vorgeschichte früherer Versuche. Der kürzliche Abbruch einer Beziehung ist von großer Bedeutung für die Vorhersage eines Selbtmordversuchs. Was Hawton berichtet, ist, dass "die Suizidprognose [vom] Grad der Hoffnungslosigkeit [abhängt], die der Patient erlebt." Er ist wichtiger als die Schwere der Depression. Meiner Ansicht nach ist der Grad an Hoffnungslosigkeit der Grad der Schwere der Depression. Wenn es keine Möglichkeit einer Veränderung gibt, dann besteht ein hohes Selbstmordrisiko. Wenn die Person glaubt, die Dinge könnten sich bessern, dann ist sie weniger gefährdet. Zu oft ist das Maß der Hoffnungslosigkeit so durchdringend und umfassend, dass die Person nur Hoffnungslosigkeit sieht, auch wenn es tatsächlich Hoffnung gibt. Etwa fünfzehn Prozent der Individuen, die einen Selbstmordversuch hinter sich haben, werden diesen Versuch innerhalb eines Jahres wiederholen. Die größte Gefahr, dass er gelingt, besteht innerhalb der ersten drei Monate nach dem ersten Versuch.

Die Tendenz zur Depression kann bei der Geburt beginnen. Die Feelings während eines Geburtstraumas - Hoffnungslosigkeit, Vergeblichkeit, Energielosigkeit und Lethargie - sind genau die Feelings, die mit dem frühen Trauma verbunden sind und dann zum Prototyp werden. Sie sind das Selbstmordrisiko. Der Sympathetiker wird nie aufgeben, oder wenn er es tut, dann nur, nachdem er jede mögliche Anstrengung unternommen hat. Der Parasympathetiker kann lediglich anfangen, schwache Anstrengungen zu unternehmen, bevor die Sinnlosigkeit einsetzt. Es ist übrigens der Sympathetiker, der den gewaltsameren Ausweg nehmen wird, zum Beispiel, indem er sich ein Gewehr an den Kopf setzt. Ein Patient, dessen Kopf

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bei der Geburt gequetscht wurde, stellte sich immer vor, aus dem Fenster zu springen und mit dem Kopf auf dem Pflaster aufzuschlagen.

Gemäß den Ausführungen von Willem Nolen und seiner Kollegen in ihrem Buch Refractory Depression scheinen die Aussagen in der allgemeinen Literatur darauf hinzudeuten, dass das Behandlungsergebnis für Depressive nicht allzu gut ist. Eine nach elf Jahren folgende Nachuntersuchung in Kanada "produzierte ein vergleichsweise schlechtes Ergebnis". Wenn Patienten mit Medikamenten wie Prozac weiterbehandelt werden, sind die Resultate besser, wenn auch nicht gerade fabelhaft. Die Elektroschock-Therapie wird wieder angewendet. Es hat sich herausgestellt, dass es Depressiven, die nur Anti-Angst-Medikamente nehmen, im Großen und Ganzen schlecht ergeht. Das kommt daher, dass man sich mit dem Aspekt der Agitation befasst hat aber nicht mit dem der Verdrängung. Dafür braucht man die Medikamente, die die Verdrängung verstärken, besonders die, welche die Wiederaufnahme von Serotonin blockieren und dadurch die Menge inhibitorischer Gehirnchemikalien im Kreislauf erhöhen. All das bedeutet, dass der Stresspegel die Verdrängung bis zur Bruchgrenze belastet. Wir sehen es auf unseren kartographischen Gehirndarstellungen und in unseren elektrophysiologischen Untersuchungen. Was wir letzten Endes machen, ist, dass wir das Schmerzniveau reduzieren, und das fühlt sich gut an, weil weniger Verdrängung erforderlich ist und das System danach diese Aufgabe selbst angemessen bewältigen kann. Nolen et al. haben herausgefunden, dass "nach fünf Jahren 75 Prozent der chronisch (depressiven) Patienten remittiert waren." Drei Viertel kehrten also zur Depression zurück. Kein guter Durchschnitt.

Für die Manisch-Depressiven, bei denen sich agitierte, hyperaktive Zustände und Depression abwechseln, ist die Standardbehandlung seit Jahren Lithium - ein Salz. Lithium unterstützt die Verdrängung, indem es die Übertragung von Nervenimpulsen und insbesondere von Schmerzimpulsen verlangsamt oder blockiert. Der Vorteil von Lithium ist, dass nur sehr kleine Dosierungen erforderlich sind, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. In der Primärtherapie scheinen wir das Feuern von Nervenimpulsen, die mit Schmerz zu tun haben, einfach deshalb zu blockieren, weil der Schmerz nicht mehr da ist. Die Gehirne unserer Patienten zeigen eine verringerte Amplitude, ein verringertes Feuern der Neuronen insgesamt und eine langsamere Feuergeschwindigkeit. Lithium ist eingehend untersucht worden, aber dennoch werden seine genauen physiologischen Mechanismen noch immer nicht voll verstanden. Es ist bekannt dass es die Natrium-Pumpe der Zelle verändert, sodass die Übertragung von Informationen sich ändert oder blockiert wird. In vielen Fällen verstärkt Lithium die synaptische Übertragung

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und beschleunigt die Weiterleitung der Information. Das Kalzium und Kalium der Zelle wird auch von Lithium beeinflusst, wodurch wiederum die Übertragung neuraler Nachrichten verändert und die schnelle Übertragung der Schmerzbotschaft oft verhindert wird, sodass das Leiden nicht mehr gefühlt wird. Lithium scheint zu helfen, alle diese chemischen Substanzen innerhalb und außerhalb der Zelle auszubalancieren, deren Ungleichgewicht meiner Ansicht nach im Wesentlichen von frühen Traumen verursacht wurde.

Andere Studien ergeben, dass Lithium Schwankungen in der Katecholaminrezeptor- Sensibilität verändert. Hier wird hypothetisiert, dass die Beendigung manischer Zustände mit einem fortschreitenden Abfall der Rezeptorsensibilität assoziiert ist. Man ist biochemisch weniger ‚auf Touren'. Es gibt endlose biochemische Erklärungen dafür, aber ich denke, dass es letzten Endes kein biochemisches Leiden ist; vielmehr folgt die Biochemie der Psychophysiologie, welche dem eingeprägten Trauma folgt. Zum Beispiel fand man heraus, dass Lithium an anderen Stellen die Bindungsaffinität für Opiatbindung erhöht. Eine Reihe von Autoren glaubt, dass Lithium die Schwankungen der Katecholaminrezeptoren stabilisiert und dadurch die Stimmung stabilisiert. Was es zu leisten scheint, ist, dass es hilft, die Folgen des Traumas auszugleichen, welches das Ungleichgewicht verursacht hat. Es kann auch ein genetisches Ungleichgewicht bestehen. Meine Beobachtungen hinsichtlich der Umkehrung dieses Leidens in unserer Therapie lassen mich jedoch an einer solchen Hypothese zweifeln.

In der Presse gab es alle möglichen Schreckensgeschichten über die Nebenwirkungen von vielen der neuen Antidepressiva. Wir haben nie eine schädliche Wirkung beobachtet. Ich glaube, die Antwort ist folgende: Einige dieser Medikamente können besseren Zugang zu Feelings bieten. Diejenigen, die von Feelings nichts wissen, haben keine andere Wahl als auszuagieren. Es gibt Berichte, die von Selbstmord über Alkoholexzesse bis zu Mord reichen. Es ist nicht das Medikament, das das anrichtet, sondern die Tatsache, dass die Person die Feelings nicht handhaben kann, zu denen sie jetzt Zugang hat. In der gleichen Minute, in der unsere Patienten aufgrund der Medikamente ein wenig Erleichterung erfahren und in die Primal-Feeling-Zone sinken, sind sie in der Lage, den Schmerz durch Primals zu lösen, und sie fühlen sich hinterher viel besser. Sie haben eine Alternative. Über Feelings nicht Bescheid zu wissen, ist gleichbedeutend damit, ihnen zum Opfer zu fallen.

Ein Patient von mir berichtete, dass er suizidale Gefühle hatte, während

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er ‚auf Prozac' war. Bevor er das Medikament nahm, fühlte er sich starr und leer. Mit der Droge hatte er Zugang zu seinen frühen Prägungen einschließlich einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das ihn wiederum suizidal machte. Als er die Hoffnungslosigkeit in der Primärtherapie fühlte anstatt darunter zu leiden, legten sich die suizidalen Gefühle. Wenn die Möglichkeit zu fühlen nicht besteht, ist Selbstmord eine reale Gefahr, weil Selbstmord Hoffnung bietet, einen Ausweg aus dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, auch wenn sich die Person der Gefühle unbewusst ist, in denen sie feststeckt.

Es ist kein Zufall, dass viele Depressive Schlafprobleme haben. Das Maß an zugrundeliegender Agitation, die Tatsache, dass sehr frühe Traumen der ersten Linie sich dem vollen Bewusstsein [conscious-awareness] nähern, bedeutet, dass der Kortex in Verteidigungsbereitschaft versetzt wird. Das Resultat ist ein überaktiver präfrontaler Kortex, der darauf hinarbeitet, frühe Schmerzen in Schach zu halten, was zu ungeheuerer Nervosität und Angstgefühlen führt. Unterdessen verschlingt dieser ganze Input, der einer tieferen Ebene entspringt, die Serotoninvorräte, sodass die Person etwas braucht, das den Schmerz der tieferen Ebene unterdrückt und gleichzeitig die Serotoninvorräte aufstockt. Wenn das Erfolg hat, ist die Person weniger depressiv und kann schlafen. Wir schaffen das, indem wir das Schmerzniveau permanent senken, sodass im Verlauf der Zeit immer weniger Verdrängung erforderlich wird. Wir senken das Schmerzniveau, indem wir kleine Stückchen gewaltiger Schmerzen nehmen und sie zur Verknüpfung ins Bewusstsein bringen. Wenn wir das tun, ändern wir die Konfiguration von Gehirnwellen-Mustern. Somit sind die Medikamente, die jemand früher brauchte, nicht länger notwendig. Patient um Patient berichtet mit fortschreitender Therapie, dass weniger Medikamente erforderlich sind. Der Schmerz ist jetzt aus dem System heraus; nur die ihrer Kraft beraubte Erinnerung bleibt. Da der Schmerz weg ist, kann das Verdrängungssystem pausieren und muss ihn nicht ständig im Unbewussten verbergen. Wenn der große Schmerz des Prototypen - die Erfahrung der Todesnähe um die Geburt - erst viele, viele Male wiedererlebt worden ist, verschwindet auch die dominierende Beschäftigung mit dem Tod als Lösungsmöglichkeit. Unsere biochemische Forschung zeigt, dass es zu signifikanten Veränderungen bei vielen Hormonen kommt, sobald diese Geburtsschmerzen wiedererlebt worden sind. Die Person hat viel mehr Energie und kann jetzt funktionieren. Etwas scheinbar so Harmloses wie Hypothyreoidismus kann sich nach der Therapie normalisieren, sodass die Person nicht mehr das Gefühl hat, vom Leben zermürbt zu werden. Damit in Zusammenhang steht die Tatsache, dass ein frühes

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Trauma mit einem verringerten Ausstoß der Schilddrüse verbunden sein kann, der vielleicht auch ständig eine Rolle bei späterer Depression spielt. Traumen in den ersten Monaten des Lebens im Mutterleib können einen "Hypo"- oder "Unten"-Zustand einprägen, in dem einige Hormone wie Thyroxin einen niedrigeren Sollwert erhalten. Das könnte mit größerer Wahrscheinlichkeit geschehen, wenn die Mutter während der Schwangerschaft ständig Beruhigungsmittel und Schlaftabletten einnimmt.

Die Selbstmordgefahr besteht, wenn der Schmerz aufsteigt. Solange die Verdrängung voll wirksam ist, steht der Mensch gefühlsmäßig am Nullpunkt und ist einfach verdrängt, aber er ist nicht suizidal. Er hat nicht genug Energie dafür. Ein bestimmtes Ereignis im Leben, der Verlust eines Gefährten oder engen Freundes, kann eine Krise heraufbeschwören, weil die Verdrängung auf eine schwere Probe gestellt wird und die empfindliche Balance der Abwehr gestört wird. Gefahr droht, wenn die Agitation beginnt, wenn alles düster und sinnlos scheint. Agitation bedeutet im Großen und Ganzen, dass die Einprägung auf dem Weg ins vollständige Bewusstsein [conscious-awareness] ist. Wenn sie ankommt und nicht als das gefühlt werden kann, was sie ist, ist die Person in Gefahr, das Feeling in selbstzerstörerischer Weise auszuagieren.

Ich schließe dieses Kapitel mit zwei Fallstudien. In ihren jeweiligen Kämpfen mit Depression und Bulimie beschreiben Harry und Denise, wie die Primärtherapie ihnen half, die Tür zu ihren vergangenen Traumen zu öffnen, ihnen mutig zu begegnen und wieder leben zu lernen.

HARRY: WAS ES BEDEUTET, LEBENDIG ZU SEIN

Ich wurde nach langen Wehen unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln geboren. Von Anfang an lief alles schief. Wie meine Mutter erzählte, war sie im neunten Monat zur Untersuchung beim Arzt gewesen, und als sie die Praxis verließ, fiel sie auf ihren Bauch und die Fruchtblase platzte und setzte die Wehen in Gang. Unter normalen Umständen sendet das Baby das Signal, das die Wehen auslöst, das sagt, es ist Zeit, anzufangen. Bei mir war das nicht so.

Sie versetzten sie für die Geburt sofort in einen Dämmerschlaf - halb wach, halb eingeschlafen. Das Erlebnis (ohne Worte oder Begriffe, um die Empfindungen zu verstehen) ist, dass alles plötzlich schlagartig in Bewegung gerät, wobei die Welt und ich nebeneinander herlaufen. Dann verschwindet die Welt, und ich bin allein. Die Wehen hören auf. Falsche Wehen, sagt der Arzt und schickt sie nach Hause.

Nun kämpfe ich innerlich, um mich zu bewegen, um in Gang zu kommen ohne die Hilfe, die ich brauche, um vorwärts zu kommen, und ich erreiche nichts. Stückchenweise beginne ich zu erstarren. Ich

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verliere die Empfindung für mich selbst. Meine Mutter konnte nicht fühlen, dass ich mich noch immer bewegte, um hinaus zu kommen. Der fetale Herzschlag hatte sich beinahe unmittelbar, nachdem die Kontraktionen aufhörten, verlangsamt, sodass es keinen feststellbaren fetalen Stress gab. Sie war einfach zu empfindungslos, um mich zu fühlen, durch die Medikamente zu betäubt, um sich um mich sorgen zu können.

Nachdem das etwa zwanzig Stunden so geht, beginnt das Medikament nachzulassen. Meine Mutter wacht auf, und die Wehen beginnen dieses Mal ganz ernst. Aber ich bin nicht da. Die Welt ist zu mir zurückgekehrt, aber ich bin verloren und sterbe und bin zu weit weg, um zu helfen. Dann geschieht es. Die Prägung der Spezies übernimmt wieder die Regie, und ich beginne, herkulesgleiche Anstrengungen zu unternehmen, um herauszukommen. Aber es ist nicht genug. Ich bin zu weit gegangen. Ich tue das Einzige, das ich kann: Ich gleite in Unbewusstheit.

Die erneuten Wehen sind kurz, und die Kontraktionen kommen schnell, ohne Zeit dazwischen. Ich komme heraus, und als der Kopf hervorspitzt, greift der Arzt mit der Zange ein und fasst mich oben an meinem Kopf und zieht, wobei er das winzige Köpfchen beinahe vollständig herumdreht. Sobald der Druck von meinen Lungen weg ist, beginne ich zu atmen. Ich atme, aber es gibt keinen Schrei. Der Arzt schneidet die Nabelschnur durch und löst damit eine noch angestrengtere Atmungsreaktion aus. Es ist nicht genug Luft zum Atmen da, nicht genug zum Weinen, nicht genug zum Kämpfen. Der Doktor stellt mich auf den Kopf, fasst mich zu hart an den Knöcheln und schlägt mich auf den Hintern. Ich schreie, und er setzt mich erfreut ab, wickelt mich ein und zeigt mich meiner Mutter. Dann werde ich auf die Säuglingsstation weggeschoben.

Ich bin allein. Als ich aus den Medikamenten rauszukommen beginne und mich selbst wieder spüre, beginnt mein Körper zu zittern. Ich fühle mich eingeengt und kämpfe erneut um mein Leben. Ich atme so heftig und schnell, wie ich kann. Wenn ich aufhöre, sterbe ich; das ist alles, was mir mein Körper sagen kann.

Ich war nie ein Selbststarter. Meine frühe Kindheit war dem Überleben zugeschrieben, und Überleben bedeutete, das Desaster meiner Geburt nicht wiederzuerschaffen. Ich wollte nie wieder einen Schritt zu weit gehen; das hatte sich als Wiedererlebnis der Flucht vor Anoxie und Tod hundertfach verstärkt. "Tue, was du tun musst und hebe dir deine Anstrengungen für den Fall auf, dass es keine Wahl gibt" wurde zur Parole meines Lebens.

Deswegen war ich ein gutes Baby. Ich weinte und beklagte mich nie. Ich hatte die Erinnerung meiner Geburt endlich verdrängt, aber nicht den extremen Schrecken, der die Reaktion auf Gefahr war. Der verstärkte sich durch einen Vater, der auf seine Söhne eifersüchtig war, weil ich ihm Mammi wegnahm. Wenn ich nach meiner Mutter schrie, war es genau so wahrscheinlich, dass er kam, wie dass sie kam, und er gab uns "einen Grund zum Weinen ". Wenn Mammi kam, waren wir zwei zusammen, wie es sein sollte; wenn er kam, war ich allein. Als sie wieder zur Arbeit ging und mein Vater nachts alleine auf uns aufpasste, hörte ich auf, um etwas zu bitten. Ich musste

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allein kämpfen, hatte niemanden, der mir half, und lebte in ständiger Panik. Mammi machte sich immer zur Arbeit fertig, während ich aus der Entfernung zusah und das „Gefühl“ für sie einsaugte – Elfenbeinseife und Glyzerin und Rosenwasser und parfürmierten Puder, Kunstseide, Baumwolle und Chiffon, Lippenstift und Haarspray. Ich hielt mich an ihre Berührung und ihren Geruch und Anblick, sodass ich nicht fühlen würde, wie allein ich war, wenn sie nicht da war.

  Mein Bruder und ich kämpften um Aufmerksamkeit, wo es wenig zu finden gab. Wir kämpften und brüllten ständig. Es schien, dass wir um Zuneigungungsbröckchen von unseren zunehmend distanzierten Eltern kämpften. Ich stotterte, und so wurde es sogar zu einer gewaltigen Aufgabe, um etwas zu bitten, und ich gab leicht auf. Ich hatte das Bedürfnis, dass man mir zuhört, konnte aber nicht sagen, was ich sagen wollte, und niemand nahm sich die Zeit, mir sagen zu lassen, was ich meinte. In einem sehr realen Sinn war ich der Verlierer in der Familie. Irgendjemand war immer größer, schneller, stärker. Ich begann, die anderen Mitglieder meiner Familie zur Tarnung zu imitieren, ein Zug, der mich manchmal nahe herankommen ließ, aber bedeutete, dass ich mich selbst verlor, indem ich ihnen gefällig war. Mein ältester Bruder war ein Künstler, also machte ich seine Zeichnungen nach, anstatt meine eigenen zu entwerfen; ein anderer Bruder war gut im Sport, also ahmte ich ihn nach. Ich konnte mich bewegen, wenn jemand anderer für mich da war. Mein Leben wurde zu einem Walzer, in dem ich folgte und andere führten. Bei meinen Eltern versuchte ich so zu sein, wie sie es wollten, aber es gelang mir nie. Ich glaubte, dass sie mich lieben würden, wenn ich irgendwie so sein könnte, wie sie mich haben wollten, und dann würde meine Mutter zu Hause bleiben, und mein Vater würde aufhören, mich wegen meiner Wünsche zu hassen. Ich wurde der gute Junge, immer hilfsbereit, immer gefällig.

  Je älter ich wurde, umso mehr spürte ich, dass ich auf mich selbst gestellt war. Als ich dreizehn war, trennten sich meine Eltern. Bis zu diesem Punkt hatte ich außer Haus hart gearbeitet, um mir ein Leben aufzubauen. Ich war ein kleines, dünnes, trottelhaftes Kind, das in einem schreckensgleichen Zustand lebte, traute mich nichts zu sagen, weil ich immer das Falsche sagte, war körperlich zurück, weil ich nicht die Energie aufbringen konnte, die erforderlich war, um mich irgendwo auszuzeichnen. Dennoch hatte ich langsam begonnen, mir Freunde zu machen und mich in der Welt zu bewegen. Wir hatten acht Jahre im selben Haus gelebt, hatten dieselben Nachbarn, dieselben Schulen. Ich wurde älter und hatte allmählich das Gefühl, als habe ich etwas, das mir gehörte, wenn auch außerhalb der Familie. Die Welt war stabil, obgleich es meine Familie nicht war. Plötzlich wurde mir diese Welt weggenommen, als meine Eltern auseinandergingen.

  Mein Bruder und ich lebten bei meiner Mutter, und meine besondere Art von Panik begann. Ich konnte nicht denken, konnte mich nicht bewegen, konnte nichts fühlen außer Terror und Verzweiflung.  Ich fühlte mich, als würde ich ertrinken und als würde sich die Welt immer weiter entfernen. Ich konnte mich nicht auf die Schularbeiten konzentrieren und war immer aus dem Gleichgewicht. Es gab niemanden, an den ich mich wenden konnte. Nach ungefähr sechs

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Monaten sagte uns meine Mutter, dass sie sich nicht mehr um uns kümmern könnte. Wir müssten gehen und bei unserem Vater leben. Es war wie ein Todesurteil. Ich erinnere mich an zwei Apartments und ein Haus, in dem wir in den nächsten eineinhalb Jahren lebten, aber sonst an wenig. Meine Mutter hatte die Wutausbrüche und Gewalttätigkeit meines Vaters immer ausgebremst. Ohne sie war er ohne Kontrolle. Meine Brüder und ich lebten in ständiger Angst um unser Leben. Ich konnte mich die meiste Zeit unsichtbar machen, aber es schien, dass einer von uns immer geschlagen oder angebrüllt oder bestraft wurde.

Ich wurde suizidal. Ich kroch öfters auf das Dach unseres Hauses und starrte auf dem Bauch liegend über die Kante auf die Autos auf der alten Route 40 hinab, sah mich gegen ihre Stoßstangen krachen. Der Gedanke machte mir schreckliche Angst, aber ich konnte es nicht ertragen, zurückzugehen und wieder mit meinem Vater zusammen zu sein. Die Welt fühlte sich gemein und verrückt an, und außer dem Tod hatte ich nichts zu erwarten. Ich blieb da draußen, bis mein älterer Bruder kam und mich anwies, ins Haus zurückzugehen, bevor ich Ärger bekäme. Als ich durch das Fenster zurückkroch, spürte ich, dass ich gestorben war. Ich sagte nichts, zeigte nichts, fühlte nichts.

Schließlich gingen wir zurück und lebten wieder bei meiner Mutter. Wir versuchten ihr mitzuteilen, was mit uns geschah, aber sie konnte nur von sich selbst reden und von dem, was Dad ihr angetan hatte und wie verletzt sie war. Auch nachdem mein Bruder zu Boden fiel und ein Primal hatte, in dem er sich die Hände über dem Kopf hielt und schrie "Tu mir nicht mehr weh, Daddy!", kapierte sie es noch immer nicht. Ich versuchte es nicht einmal. Sie sagte, sie liebe uns, liebe mich, aber die Worte waren nicht genug. Ich war sowieso unerreichbar. Ich schwebte in der Luft. Die Welt drehte sich ohne mich weiter.

Als ich mit achtzehn auszog, wiederholte sich das Muster meiner Geburt und Kindheit immer wieder. Beziehungen begannen und endeten, weil ich meine Feelings nicht ausdrücken konnte, es sei denn, man trieb mich zu weit, und dann explodierte ich und verstieß meine Geliebten. Ich ließ ihre Zärtlichkeit niemals zu, weil ich mich selbst nicht glauben lassen konnte, dass sie für mich existierte. Meine Jobs waren Sackgassen. Ich fing gut an, geriet nach einer Weile ins Straucheln, gab dann auf und ging schließlich.

Ich las den Urschrei 1970, begann mit der Therapie aber erst 1984, als jemand auf Veranlassung meines ältesten Bruders mir die Therapie anbot. In den nächsten paar Jahren setzte ich die Therapie fort, gewann meine Gefühle zurück, etwas Selbstbewusstsein und ein grundlegendes Verständnis, wie der Prozess funktionierte. Was fehlte, war die Verknüpfung zwischen dem, was in meinem Leben geschah, und meiner Geburtserinnerung, einer Geburt, die ich noch fühlen musste.

Wiederum auf Veranlassung eines anderen ging ich ans Primal Center in Venice, Kalifornien, als es 1988 aufmachte. Die ersten zwei Jahre setzte ich meine alten Muster fort und blieb zurückgezogen. Dann begann ich, meine Gefühle in mein Leben zurückzubringen und sie wieder mein eigen zu machen. Ich tat das, indem ich Stück um Stück fühlte, wie man mir mein Leben weggenommen hatte.

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Der Wendepunkt in meiner Therapie kam, als ich gegen meine Prägung anging. Wir waren auf einem Mini-Retreat [Nachbehandlung]. Ich musste andauernd an einen Artikel in Dr. Janovs Buch Der Neue Urschrei denken, in dem eine Frau jemanden beschrieb, der nackt vor einer anderen Gruppe stand. Dieses Bild hielt sich hartnäckig, bis ich davon besessen war. In dieser Nacht stand ich in der Gruppensitzung auf und redete davon, dass ich das Gefühl hatte, mich immer versteckt zu haben, nie mein reales Selbst gezeigt zu haben, und nie gezeigt zu haben, wer ich war oder was ich tun könnte. Ich sagte dann, dass ich nur einen Weg kenne, um zu zeigen, wie schwach ich wirklich war. Langsam zog ich mich aus, bis ich nackt war. Ich streckte meine Arme aus, drehte mich um, sah jedem ins Gesicht und sagte "Das ist alles, was ich bin. Das bin ich." Ich entblößte meine Seele, ließ jedem meine Schwäche sehen. Ich konnte und wollte mich nicht verbergen. Das war der letzte Versuch. Ich weinte mit allem, was mein Körper hergab und versuchte vergebens, mich zu verhüllen. Ich glaubte, zu weit gegangen zu sein, und dass nichts dabei herauskommen würde und dass ich wegkriechen und alleine sterben müsste. France Janov sagte sanft "Legt ihm eine Decke über," und jemand tat es, und ich konnte meinen Gefühlen endlich freien Lauf lassen.

Depression rettete mein Leben. Wenn ich nie in der Lage gewesen wäre, bei der Geburt abzuschalten, wäre ich entweder tot geboren worden oder innerhalb von Tagen, nachdem ich herausgekommen war, am plötzlichen Kindstod gestorben. Wenn ich mich nicht selbst von der Welt abgeschnitten hätte, wäre ich von der Verrücktheit zu Hause um mich herum in den Wahnsinn getrieben worden. Wenn ich nicht so leicht aufgegeben hätte, hätten mich die Drogen oder der Alkohol noch immer am Wickel. Was ich gemacht habe, war, mein Leben aufzugeben, um zu überleben. Aufgeben war der Preis fürs Überleben.

Indem ich fühle, versetze ich mich in meinem Leben zurück und schicke das Vergangene in die Vergangenheit zurück, wo es hingehört. Ich bin wie ein Baby, das nach der Krabbelphase entdeckt, dass es die Macht zu gehen hat, wenn auch nur versuchsweise. Die Teile von mir, die nie in Gebrauch waren, gehören jetzt auf eine Weise zu mir, wie ich sie mir vorher lediglich vorstellen konnte. Ich mag es, zu handeln, zu fühlen, zu sein, so angsterregend es manchmal auch ist, so schwer es manchmal auch ist, ich selbst zu sein. Ich weiß jetzt, was es bedeutet, lebendig zu sein.

DENISE: DER FEIND IM INNEREN

Ich begann, bulimisch zu werden, als ich mein Zuhause verließ, um ein College in einer anderen Stadt zu besuchen. Ich war auf mich selbst gestellt und fühlte mich elend. Eines Tages fing ich an, schnell alles aufzuessen, was gerade da war. Ich schämte mich, dass ich mich mit Essen vollstopfte. Dann zwang ich mich, mich zu übergeben, indem ich mir zwei Finger in den Hals steckte. Ich spürte ein wenig Erleichterung, und ich wusste, ich würde es wieder tun. An jenem Tag fand ich einen Weg für mich, meinen Schmerz zu unterdrücken.

Unglücklicherweise funktionierte es nach einer Weile nicht mehr so gut. Ich musste mehr essen und öfters erbrechen, und die Erleichterung hielt immer kürzere Zeit an. Am Ende

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hatte ich manchmal drei Krisen am Tag. Ich hasste es, es zu tun, konnte aber nicht aufhören. Mir wurde klar, dass ich so nicht weitermachen konnte. Ich brauchte Hilfe. Ich begann mit der Primärtherapie im Juli 1993. Ich war neunundzwanzig und seit elf Jahren bulimisch gewesen. Seitdem hatte ich keine Krise mehr.

Ich denke, die Spannung, die ich durch Essen und Erbrechen loszuwerden versuchte, ging weg, als ich begann, meinen Schmerz zu fühlen. Der einzige Unterschied zwischen Fühlen und Bulimie ist, dass im Fühlen eine wirkliche Lösung liegt. Wenn ich jetzt dieselbe Spannung hochkommen spüre, lege ich mich hin und fühle, was immer zu fühlen ist, anstatt zu essen. Ich muss den Schmerz nicht mehr bekämpfen und nicht länger versuchen, ihn zu verdrängen. Ich fühle ihn.

Nachdem ich Geburtsprimals gehabt habe, kann ich meine Geburt zu meiner Bulimie in Beziehung setzen. Es gibt zwei verschiedene Bestandteile bei meiner Geburt, die ich auf die zwei Bestandteile meiner Bulimie beziehen kann: Kämpfen während der Geburt und mich vollstopfen, und aufgeben während der Geburt und erbrechen.

Als ich im Geburtskanal feststeckte, geriet ich in wilde Aufregung, kämpfte um mein Leben. Daher kommt die Wut, die ich ich manchmal fühle. Wenn ich mich in einer Krise mit Essen vollstopfte, tat ich es mit derselben Aufregung. Was bei meiner Geburt nach dem Aufruhr geschah, war die Unfähigkeit, Luft zu bekommen. Ich konnte nicht atmen, und mein Körper verfiel in Krämpfe. Manchmal fühle ich in Primals, dass ich mich an diesem Punkt übergeben möchte. Ich scheine die Luftlosigkeit meiner Geburt durch das Erbrechen bei meiner Bulimie wiedererschaffen zu haben. Deshalb glaube ich immer, dass es keinen Sinn macht, eine Krise zu haben, ohne sich zu erbrechen - etwas würde fehlen. Immer wenn ich mir zwei Finger in den Hals steckte, konnte ich nicht atmen, und mein Körper krampfte und erbrach das ganze Essen, das ich in meinem Magen hatte, und dann konnte ich wieder atmen.

Noch etwas fällt mir auf: Das Feeling, das von der Geburtsempfindung kommt, ist: "Ich bin so allein, und niemand ist für mich da." Ich hätte keine Krise, wenn ich nicht auf mich selbst gestellt wäre. Wiederum gilt, in der Gegenwart erschaffe ich die Einsamkeit bei der Geburt aufs Neu.

Ich glaube, wenn ich unter großem Stress stand, fing ich an, entsprechend meiner Prägung zu reagieren, und Bulimie ist ein Weg, meine Geburt wiederzuerschaffen und somit meiner Einprägung nahe zu kommen. Warum "wählte" ich Bulimie? Sie scheint perfekt meiner Geburt zu entsprechen. Bei Bulimie ist der physische Körper involviert, und das bringt mich näher an die physischen Empfindungen der Geburt.

Die Bulimie beruhigte mich und ließ mich danach erschöpft zurück. Ich fühlte mich, als ob der Sturm vorüber war, und ich behielt einen brennenden Hals. Aber es verletzte mich wirklich physisch. Ich wurde schwächer und schwächer, weil ich Mineralien verlor, wenn ich mich erbrach; deshalb wurde ich leichter krank.

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Als ich mein erstes Geburtsprimal hatte, stellte ich einige Verknüpfungen zu meiner Bulimie her. Die Energie, die ich aufbrachte, als ich mich durch den Geburtskanal schob, war dieselbe Art von Energie, die ich spürte, wenn ich eine Krise hatte, das heißt, etwas, das ich nicht stoppen kann, das mich so stark antreibt. Nach einigen Jahren Primärtherapie hatte ich eine Sitzung, die mir mehr von meinem alten Ausagieren verstehen half. In der Sitzung fühlte ich Furcht und Widerwillen gegen jemanden in der Gegenwart. Die Furcht und der Ekel wandelten sich zu den physischen Bewegungen des Erbrechens. Die Empfindungen, die ich dann spürte, waren dieselben, die ich mit meiner Bulimie wieder erschuf. Das ließ mich erkennen, dass es für mich keinen Sinn ergeben hätte, zu essen ohne zu erbrechen. Nach dem Fühlen in meiner Sitzung war ich sehr friedvoll und entspannt. In dieser Sitzung spürte ich das Bedürfnis, meinem Körper freien Lauf zu lassen und die Empfindungen, die Tränen, den Ekel und die Angst geschehen zu lassen.

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WIE DIE ZELLEN VERRÜCKT WERDEN





Neurose beginnt in den Zellen. In gewissem Sinn sind wir einfach eine Ansammlung von Zellkolonien: Immunzellen, Nervenzellen, Muskelzellen, Zellen, die Erinnerungen speichern, Zellen, die Informationen über Schmerz und andere Empfindungen erhalten, Zellen, die daran beteiligt sind, die Vitalfunktionen des Körpers zu kontrollieren. Alle diese Zellen arbeiten in bemerkenswerter Harmonie zusammen. Aber wenn ein frühes Trauma dazwischentritt, kommt es zu biochemischen Veränderungen auf zellulärer Ebene. Neurose ersetzt Harmonie durch Disharmonie. Dieses Ungleichgewicht findet sich sowohl in physischen als auch psychischen Bereichen und bedeutet permanente Dysfunktion auf beiden Ebenen.

Das Kapitel "Wie die Zellen verrückt werden" gibt uns eine bessere Vorstellung davon, wie ein Individuum als Anhäufung von Zellen neurotisch oder psychotisch wird oder sogar Krebs entwickelt. In diesem Kapitel entwerfe ich ein Paradigma, wie ein frühes Trauma die Zellen beeinflusst und wie diese zelluläre Verrückung [dislocation] der Neurose entspricht, indem sie schweren Formen "mentaler" und physischer Krankheit zugrundeliegt.

Das Immunsystem: Wo die Seele dem Körper begegnet

In einem Experiment injizierte der UCLA-Forscher John Liebeskind Zellen aus Tumorgewebe in Ratten und setzte sie dann elektrischen Fußschocks aus.

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Die Ratten wurden hilflos und hoffnungslos. Nach einer Weile entwickelten sie Tumoren, die schließlich bösartig wurden. Offensichtlich übersetzte sich ihre Hilflosigkeit durch die herabgesetzte Immunfunktion in Krebs. Andere Forschungen mit Labortieren zeigen den gleichen Zusammenhang. Es gibt einige Krebsarten, die in hohem Maß mit der Funktion des Immunsystems verknüpft sind. Zum Beispiel ist das Auftreten von Krebs unter älteren Leuten, die vor kurzem den Ehepartner verloren, ungewöhnlich hoch. Leute, die wegen einer Depression klinisch behandelt werden, haben eine geschwächte Immunfunktion. Studien zeigen, dass Leute, die einsam sind, anfälliger für Krankheit sind als solche, die nicht einsam sind. Menschen in schlechten Ehen erfahren eine Unterdrückung des Immunsystems; die Forschung hat sogar aufgedeckt, dass das Immunsystem während und nach einem Streit vielleicht nicht so gut funktioniert, wie es vor der Auseinandersetzung der Fall war.

Wenn Sie psychisch in schlechter Verfassung sind, sind Sie für Krankheit anfällig - nicht einfach für stressbezogene Symptome, sondern für signifikante Veränderungen von Zellfunktionen. Die Tatsache, dass die Primärtherapie geholfen hat, Krankheiten von Epilepsie bis zu Asthma zu lindern und zu heilen, legt nahe, dass viele dieser Erkrankungen, von denen man oft annimmt, sie stünden mit Stress im Erwachsenenalter in Beziehung, das Endresultat einer langen Schmerzkette sein können, die bis zum Lebensanfang des Individuums zurückreicht.

Wenn eine Person einen Ehegefährten verliert, sich hoffnungslos einsam fühlt und bald darauf an Krebs stirbt, betrifft die maßgebliche Einsamkeit nicht einfach die Tatsache, dass man als Erwachsener allein gelassen wird. Vielmehr resoniert sie mit der Verlassenheit, die man fühlte und immer noch fühlt, als man früh im Leben von einem Elternteil im Stich gelassen wurde. Früher Schmerz - sei es im sogenannten emotionalen Trauma wie z.B. fehlender Liebe in der Kindheit, oder im sogenannten physischen Trauma, wenn man z.B. bei der Geburt blockiert wird, können Kinder sich so hilflos und hoffnungslos fühlen lassen und für Krankheiten verwundbar machen wie Liebeskinds Ratten. Die tiefe Verdrängung dieses schrecklichen Feelings kann eine Rolle bei späterem Krebs spielen.

Es geschieht in den Immunzellen, dass die Psyche (Seele) auf das Soma (Körper) trifft. Psychischer Schmerz wirkt direkt auf Immunzellen, die ganz in eigener Regie schmerztötende Substanzen herstellen. Hier

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ist der Ort, wo "psychologische" Ereignisse wie Kritik und Vernachlässigung in Form veränderter Immunzellenfunktion ihr somatisches Zuhause finden, Veränderungen, die letzlich Krankheit erzeugen.

In einer Überprüfung vieler Studien stellte sich heraus, dass der Umstand des Geschlagenseins und der Verzweiflung mit höherem Stresshormon-Ausstoß und herabgesetzter Immunfunktion assoziiert ist. Eine andere Studie zeigte, dass der Stress, dem eine schwangere Mutter ausgesetzt ist, die Immunkraft ihres Nachwuchses mindert. Dies wurde durch Tierexperimente erhärtet. Schmerz der Mutter kann den Nachwuchs anfällig für ernsthafte Krankheiten machen. Zum Beispiel prädisponiert eine Mutter, die raucht, ihren Fetus in einer Weise, die ihn verletzlich für Sauerstoffmangel macht, was wiederum die Wirkungen jeder Anoxie während des Geburtsprozesses verschlimmert. Es ist somit kein Wunder, dass einige Kinder mit Allergien und Asthma geboren werden. Was genetische Effekte zu sein scheinen, kann tatsächlich auf die chemische Interaktion zwischen Baby und Mutter zurückzuführen sein.

Nehmen wir an, eine schwangere Frau wird von ihrem Mann verlassen und hat kein Geld und niemanden, an den sie sich wenden könnte. Sie steht unter großem Stress. Es kommt zu einer massiven Ausschüttung von Stresshormonen, die den Fetus beeinflussen. Er kann nicht länger normal sein und muss seine Funktionen ändern, um sich an die neuen Umstände anzupassen. Weil der Fetus noch keine fest etablierten "normalen" Sollwerte für viele seiner physiologischen Funktionen wie Blutdruck und Hormonausstoß hat, können abweichende Sollwerte ihren Platz einnehmen. Das junge, verletzliche System ist in ein neues physiologisches System, in ein neurotisches, umgeformt worden. Einige Hormone können knapp sein, während andere vielleicht im Übermaß ausgeschüttet werden. Das bezieht vielleicht spätere Änderungen des Sexualhormonausstoßes (was eventuell zu Homosexualität führt) und der Schilddrüsenfunktion ein. Die biochemischen Veränderungen, die sich ereignen, wenn es im Mutterleib zu Schmerz und Verdrängung kommt, können die Ursache dafür sein, dass sich entwickelnde Organe leicht abnormal sind. Das Baby kann mit Ekzemen oder schweren Allergien zur Welt kommen.

Einmal mehr zieht man vielleicht das Erbgut in Betracht, wenn soziale Einflüsse im Mutterleib verantwortlich zu machen sind. Die Anomalien werden vielleicht erst manifest, wenn im Verlauf des Lebens weitere Traumen geschehen. Zum Beispiel hat sich herausgestellt, dass Leute, die am chronischen Erschöpfungssyndrom leiden,

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einen abnormalen Interleukin II-Ausstoß haben, eine Funktion, die vielleicht während des Geburtstraumas aus dem Gleichgewicht gebracht wurde und so geblieben ist. Des weiteren kann die Sekretion von Stresshormonen fetale Funktionen beeinträchtigen, wenn die Mutter unter beträchtlichem Stress steht, sodass das Baby vorzeitig zur Welt kommt. Desgleichen kann das Immunsystem noch vor der Geburt geschwächt werden, sodass vorgeburtliche Erfahrungen jemanden für ein breites Spektrum späterer Krankheiten prädisponieren können.

Da das System immer zuerst auf die Geschichte reagiert und erst dann auf die gegenwärtige Realität, kann eine Prägung zu Beginn des Lebens lebenslange Wirkungen auf die Physiologie eines Menschen haben. Deshalb kann eine Auseinandersetzung mit einem Freund im Alter von dreißig Jahren einen Asthmaanfall oder Migräne auslösen, Reaktionen, die ihren Ursprung ganz am Lebensanfang haben.

Im Immunsystem gibt es verschiedene Arten von Zellen mit unterschiedlichen Funktionen. Einige decken fremde Elemente wie Staub, Viren oder Pollen auf. Andere weisen mächtige Zellen, die als natürliche Killerzellen bekannt sind, an, potentielle Krebszellen "aufzufressen". Zusätzlich reagieren und befassen sich Immunzellen mit "emotionalem" Schmerz, indem sie dieselben Schmerzkiller ausstoßen, die das Gehirn gegen das Trauma produziert. Unsere Forschung in Verbindung mit dem Saint Bartholomew's Hospital, London, deutet darauf hin, dass Primärtherapie den Ausstoß natürlicher Killerzellen erhöht. Das Immunsystem erhält, registriert und kodiert Informationen, die auch psychische Verletzungen betreffen. Es versucht, mit diesen Verletzungen durch die Sekretion von Opiaten fertig zu werden, die der Unterdrückung von Schmerz dienen aber, indem sie sich an Immunzellen-Rezeptoren heften, diese weniger effektiv machen und das Immunsystem schwächen können. Der entscheidende Punkt ist, dass es nicht unbedingt das Gehirn ist, das die Nachricht an die Immunzelle schickt, sodass sie auf die Verletzung reagiert; die Immunzelle kann das alles von sich aus tun. Psychische Verletzung wird deshalb direkt in Änderungen der Immunzellen übersetzt, und die übersetzen sich dann vielleicht mit der Zeit in katastrophale Krankheit, sei es Arthritis oder Multiple Sklerose.

Eine der Funktionen des Immunsystems besteht darin, zu bestimmen, wer und was das Selbst ist, und, indem es das tut, die "Fremdheit"

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einer Sache aufzudecken. Wenn die Immunzellen richtig funktionieren, identifizieren sie unerwünschte Eindringlinge und löschen sie aus. Ein Impfstoff generiert im Immunsystem ein Langzeitgedächtnis, zum Beispiel bei Menschen, die nie zuvor eine spezifische Infektion hatten. Einige Zellen des Immunsystems absorbieren Bakterien und setzen im Gegenzug Toxine frei. Aber Trauma und Verdrängung transformieren den Organismus. Er ist nicht mehr er selbst; er ist aus seinem natürlichen Gleichgewicht geworfen worden. In gewissem Sinn ist er verwirrt; er weiß nicht mehr, wer er ist. Wenn "wir" nicht wissen, was wir tun sollen, muss es irgendwo eine entsprechende zelluläre Reaktion geben. Immunzellen erkennen vielleicht ihre Feinde nicht mehr und wissen nicht recht, was sie mit ihnen machen sollen. Das erhöht die Anfälligkeit des Menschen für eine Erkrankung. Es sind weniger natürliche Killerzellen und andere Immunzellen kampfbereit, und diejenigen, die übrig bleiben, scheinen nicht die Wirksamkeit zu haben, die sie haben sollten.

Es ist im Wesentlichen eingeprägter Langzeitstress, der die Immunfunktion schwächt. Stress kann das System schlagartig in Aktionsbereitschaft versetzen, aber ständige Wachsamkeit scheint das System zu ermüden. Wenn es ermüdet ist, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Immunschwächung, die nicht nur zur Tumorentwicklung führt sondern auch zu größeren und sich schneller entwickelnden Tumoren.

Sauerstoffdeprivation bei der Geburt und Krebs

Während einer schwierigen Geburt, bei der der Fetus von ausreichender Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wird (zum Beispiel, wenn die Nabelschnur sich um den Hals wickelt oder teilweise eingeklemmt wird oder wenn Tumoren den Ausgang blockieren), herrscht nicht "business as usual" [das übliche Geschäft, der normale Vorgang]. Der Organismus ist drauf und dran, an Sauerstoffmangel zu sterben. Das System muss sich anpassen; massive Verdrängung und Unbewusstheit werden erforderlich. Gerade dann, wenn die Sollwerte für die Homöostasie vitaler Körperfunktionen festgelegt werden, wenn die Hormone ihr normales Sekretionsmuster etablieren, müssen diese Funktionen im Dienst des Überlebens geändert werden. Die Zellen müssen sich an dieses sauerstoffreduzierte Milieu anpassen. Schließlich beginnen sie vielleicht, die Evolutionsleiter abwärts zum ursprünglichen Prototypen allen Lebens zu regredieren: Anaerobiose, oder sauerstoffarme Atmung. Indem sie das tun, können sie sich auf einen malignen Zustand zubewegen und auf dem Weg zu Krebs sein.

Der Grund, warum die Zellen vielleicht auf ihren Ursprung zurückgreifen, besteht darin, dass wir unter Stress zu unserer Orientierung zum Prototypen zurückkehren. Das System des Neugeborenen ist in Aufruhr, gleich, wie beschaffen das Trauma ist, das die Sauerstoffzufuhr bedroht. Der Aufruhr mindert die Sauerstoffreserven und verschlimmert dadurch das Problem. An einem bestimmten Punkt kann er, abhängig von der Schwere des Traumas, zu sofortiger Unbewusstheit führen, und jemanden der Bedrohung und Gefahr nicht gewahr werden lassen.

Asphyxie ist eine Störung, die das Atmungssystem aufgrund eines Sauerstoffmangels beeinträchtigt. Bei einem solchen Tauma kann es zu exzessiven Milchsäurewerten kommen. Das Neugeborene kann kaum atmen - genau das, was wir jeden Tag in unserer Therapie sehen, wenn Patienten eine traumatische Geburt wiedererleben. Viele Babys müssen bei der Geburt wiederbelebt werden. Das Ergebnis dieses Sauerstoffmangels besteht abgesehen davon, dass er Lernstörungen und psychische Abweichungen erzeugt, in leichten Läsionen des Gehirns, die oft unentdeckt bleiben. Sie mögen bei späterer Ungeschicklichkeit und allgemeinem Koordinationsmangel, bei schlechter Sehkraft, Verdauungsstörungen und ungeschickter Auge-Hand-Koordination eine Rolle spielen.

Im Allgemeinen spiegelt die Art, wie wir uns als Individuen entwickeln, die Entwicklung der Menschheit wider. Die ersten Mikroorganismen waren anaerobisch (fähig, ohne Sauerstoff zu funktionieren), aber die Evolution favorisierte die aerobe Atmung, da sie das Zehnfache an Energie der Anaerobiose produziert. Unter Stress oder widrigen Umständen regredieren Menschen zum Prototypen. Alle Zellen sind vielleicht in Gefahr, zu historischen Formen zurückzukehren, wenn sie attackiert werden, sei es durch Luftverschmutzung, schlechte Ernährung, Bakterien oder Kindheitsschmerz. Zum Beispiel müssen sich Lungenzellen an die Bedrohung verminderter Sauerstoffzufuhr anpassen, die durch schweres Rauchen verursacht wird; die Verbindung zwischen Rauchen und Lungenkrebs ist bekannt. Das Trauma kann eine lebenslange Auswirkung auf Moleküle innerhalb der Zellen haben. Es kann den Ausdruck der DNA - der Moleküle, die das Erbgut bestimmen, - in der Zelle verändern, der bestimmt, wie sich diese Zelle verhalten wird, oder sogar die DNA selbst verändern. Sobald der Ausdruck dieser genetischen Schablone einmal verändert ist, wird sich

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auch die Art von Proteinen ändern, die hergestellt werden, woraus sich Konsequenzen für die zelluläre Homöostasie und für den ganzen Organismus ergeben. Ich glaube, dass die verdrängte Anoxie-Erinnerung Anoxie verursacht, und zwar dadurch, dass die Einprägung der Anoxie lebenslang niedrige Sauerstoffspiegel verursachen kann, die vielleicht zu DNA-Schäden und Krebs führen.

Als Reaktion auf den Sauerstoffentzug bei der Geburt erzeugt das Trauma eine anoxische Prägung. Die anoxische Prägung kann unter anderem eine spätere Tendenz zu flacher Atmung schaffen. Diese prototypische Tendenz ermöglichte ursprünglich das Überleben der Zellen im sauerstoffarmen Milieu. Die eingeprägte Anoxie-Erinnerung sendet ständig die Nachricht aus, dass nicht genug Sauerstoff da ist, und die Zellen müssen auf einem suboptimalen Sauerstoffniveau funktionieren. Es ist die Veränderung in den Zellen, die den Organismus mit der Zeit in Gefahr bringt. Die Zellen wissen nicht, dass die Anoxie "vorüber" ist, weil diese Erinnerung eine allgegenwärtige Realität in diesen Zellen ist. Diese Realität weist die Zelle an, ihren Sauerstoffverbrauch abzuändern. Diese Zellen stecken in einer Zeitfalle; wenn Sie so wollen, sind sie ihrer Geschichte treu. Interessanterweise ist der hemmende Neurotransmitter Serotonin die Vorstufe von Melatonin, einem wirkungsvoll schützenden Antioxidationsmittel, aber Serotonin ist wahrscheinlich knapp, wo Anoxie herrscht.

Krebszellen sind durch ihren hohen Natriumgehalt charakterisiert, während normale Zellen viel Kalium enthalten und wenig Natrium. Meine Hypothese ist, dass sich das Gleichgewicht oder die Homöostase zwischen diesen Elementen durch ein anoxisches Geburtstrauma ändern kann, weil sauerstoffarme Bedingungen die Energieproduktion in den Zellen ändern, wodurch sich die Geschwindigkeit verringert, mit der die Ionenpumpe Natrium aus der Zelle entfernen kann. Sollten die sauerstoffarmen Bedingungen zu lange vorherrschen, entsteht allmählich eine Anfälligkeit für ernsthafte Erkrankungen. Vielleicht müssen solche Deformationen Jahrzehnte andauern, bevor die Zelle zusammenbricht und Krebs oder eine andere Krankheit daraus hervorgeht. In seinem Buch The Metabolism of Tumors berichtet Otto Wartburg von einer Studie, in der er herausfand, dass bösartiges Gewebe nicht länger auf die Wachstumsbeschränkungssignale des umgebenden normalen Gewebes reagiert, nachdem es metabolisch vom Normalzustand abgewichen ist. Man könnte sagen, dass das bösartige Gewebe "verrückt geworden ist."

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Wir können den veränderten zellulären Natriumgehalt, der mit Bösartigkeit assoziiert ist, problemlos messen. Es lässt sich leicht annehmen, dass ein Übermaß an Natrium Krebs "verursacht", aber wir müssen einen tieferen Blick darauf werfen, was den Natriumaustausch wirklich verändert hat. Nur in einem Primal können wir die darunter liegende Anoxie beobachten. Indem wir die anoxische Prägung aufdecken, machen wir ausfindig, was der wahre Grund katastrophaler Krankheit sein könnte.

Die Verdrängung kann den Schmerz nicht eliminieren. Sie unterbricht nur unseren direkten Kontakt mit ihm, sodass wir die Qual nicht fühlen, aber der Schaden schreitet fort. Wenn eine Patientin Krebs entwickelt, bezeichnen wir sie nicht als verrückt, dennoch kann man sich Krebs als die Psychose des Körpers vorstellen. Die Zellen haben sich über ihre Grenzen ausgebreitet und einen ungeordneten Zustand angenommen; sie sind, anders gesagt, "verrückt" (ge)worden. Dieselbe chronische Verdrängung, die an chronischen Schmerz geschmiedet ist und jemanden "verrückt" machen kann, kann vielleicht in Krebs resultieren.
(Absatz)
Im Gegensatz dazu kann aktives Leiden ein gutes Mittel gegen Krebs und andere schwere körperliche Krankheiten sein; wenn die Verdrängung nicht voll funktioniert, müssen die Zellen weniger Schmerz absorbieren. Wie ich in meinem Buch Der Neue Urschrei [The New Primal Scream] berichtet habe, lassen experimentelle Beweise darauf schließen, dass die Krebshäufigkeit bei Tieren zurückgeht, wenn die Endorphine wirkungslos gemacht werden, aber der offensichtliche Leidenszustand nimmt wahrscheinlich zu.

Es ist nicht allein Schmerz, was uns krank macht; es ist Schmerz plus Verdrängung. Es erscheint als wahrscheinlich, dass jegliche Art von Symptomen umgekehrt werden könnte, indem man einen Endorphin-Antagonisten wie Naloxon anwendet, eine Substanz, die Verdrängung reduziert, indem sie die Endorphinrezeptor-Stellen übernimmt. In Tierexperimenten zeigt sich immer wieder, dass Tiere, wenn sie unter Schmerz gesetzt werden und Naloxon verabreicht bekommen, weniger Symptome aufweisen als jene Tiere, denen man erlaubt zu verdrängen. Die Wahrheit ist, dass das, was wir nicht wissen, uns tatsächlich verletzt. Unter sonst gleichen Umständen werden Sie umso länger leben, je mehr Sie bewusst leiden - vielleicht nicht komfortabel, aber dafür lang.

Im Januar 1995 erteilte die U.S.-Regierung die Genehmigung für den Gebrauch von Naloxon bei alkoholkranken Patienten mit der Begründung, dass die Substanz morphinähnliche Wirkung habe. Alkohol selbst muss der am weitesten verbreitete Schmerzkiller aller Zeiten sein, und es ist offensichtlich, warum:

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Es fördert die Verdrängung. Eine schwache Verdrängung aufgrund bestimmter Wirkstoffe hilft jemandem vielleicht, Krebs zu vermeiden, aber Geisteskrankheit mag an seine Stelle treten.

Primärtrauma und "Geisteskrankheit"

Eine Reihe von Studien hat enthüllt oder lässt darauf schließen, dass traumatische Erfahrungen sowohl die Zellen als auch den ganzen Menschen "verrückt" machen können. Auf dem jüngsten Treffen der Society for Neuroscience in New Orleans berichtete Stefan Bracha, ein Neurologe aus Arkansas, dass er bei einer Anzahl von Schizophrenen etwas Gemeinsames gefunden hatte. Er studierte vierundzwanzig Zwillingspaare. Ein Zwilling von jedem Paar war schizophren. Bracha fand heraus, dass die schizophrenen Zwillinge Missbildungen der Hände aufwiesen. Ihre Daumen und Zeigefinger waren im Verhältnis zur gesamten Hand verkürzt, und sie waren kürzer als die ihres gesunden Zwillingsgeschwisters. Bracha schloss, die Ursache könne ein Trauma während des zweiten Trimesters der Schwangerschaft gewesen sein, in der sich die Hand bildet und die Gehirnentwicklung sich in einer entscheidenden Phase befindet. Als mögliche Ursachen zog er unter anderem Viren und Sauerstoffentzug in Erwägung. Der veränderte Daumen fungierte als Markierung für die zeitliche Datierung des Traumas.

Autopsien an Schizophrenen haben offengelegt, dass Zellen in der hippocampalen Region des limbischen Systems (wo Emotionen organisiert werden) in chaotischer Anordnung auftreten; einige hatten sich aus ihrer normalen Position weggedreht. Die Doktoren Joyce Kovelman und Arnold Scheibel vom UCLA Brain Research Institute glauben, dass die auf dem Kopf stehenden Neuronen wahrscheinlich schon vor der Geburt auftreten und "vielleicht Informationen entstellen, die an andere Teile des Gehirns gehen." Bei Schizophrenen und Psychotikern scheint die Anordnung der Gehirnzellen im wahrsten Sinne des Wortes verrückt (ge)worden zu sein! 

Es ist wahrscheinlich, dass diese Gehirnmissbildungen eine überzogene Anfälligkeit für spätere Geisteskrankheit schaffen. Wenn der Lebensstress die geschwächten emotionalen Zentren des Gehirns überwältigt, wird der Neokortex chaotisch überlastet und kann einen Zerrüttungsprozess verursachen. Ein Kind mit intakten hippocampalen Strukturen übersteht Geburt- und Kindheitstrauma vielleicht relativ unversehrt, während ein

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Kind mit Hippocampuszellen, die aufgrund eines Traumas im Mutterleib verdreht sind, vielleicht der Geisteskrankheit zum Opfer fällt.

Eine Studie, die von der Psychiaterin Nancy C. Andreasen und ihren Kollegen von der University of Iowa Hospitals and Clinics durchgeführt wurde und 1994 in der Science News erschien, verglich die Gehirngröße gesunder Männer mit der von Männern, bei denen Schizophrenie diagnostiziert worden war. Magnetresonanzaufnahmen des Gehirns zeigten, dass das durchschnittliche gesunde Gehirn größer war als das durchschnittliche schizophrene Gehirn. Weitere Vergleiche deckten auf, dass der Thalamus der durchschnittlichen männlichen schizophrenen Person beträchtlich kleiner war als der eines durchschnittlichen normalen Mannes, und legten auch Unterschiede in der Stärke der Signale vom Thalamus zum Kortex offen. Den Forschern fielen weitere Anomalien in der rechten Hemisphäre schizophrener Gehirne auf - der Seite, wo Fühlen überwiegend organisiert wird. Andreasen merkte an, dass eine Schwächung von durch den Thalamus verlaufenden Schaltkreisen, die vielleicht vor oder kurz nach der Geburt stattfindet, der Schizophrenie zugrunde liegen kann. Solche Veränderungen könnten das Resultat eines Traumas sein, das vor oder während der Geburt geschieht.

Eine andere Studie, von der 1986 in der Science News berichtet wurde, fand ein Übermaß an Interferon, einer krankheitsbekämpfenden Substanz, die von infizierten Zellen freigesetzt wird, im Blut von Schizophrenen. Ihr System reagierte, als wäre es mit einem Virus infiziert. Das ist der Grund, warum manche Ärzte glauben, ein Virus könne für Schizophrenie und andere psychotische "Denkstörungen" verantwortlich sein. Was ich sehe, ist, dass das gesamte System gegen den Schmerz mobil macht, und das Immunsystem behandelt bedrohliche Feelings, als wären sie eine virale Bedrohung. Bei Psychose unterscheidet der Körper nicht zwischen einem Feeling und einem Virus, und er benutzt jede verfügbare Waffe, wenn Feelings drohend bevorstehen. Diese Studien bestärken mich in meiner Überzeugung, dass frühe physische Faktoren sogenannten "psychischen" Problemen beim Erwachsenen zugrunde liegen; Soma und Psyche können nicht getrennt werden.

Ein Beispiel. Eine kurze Zeit behandelte ich eine schwere Psychotikerin. Unglücklicherweise hatten wir nicht die stationären Einrichtungen, die für ihre ganztägige Behandlung erforderlich gewesen wären. Weil diese Patientin im Alltagsleben nicht zurechtkam, mussten wir sie an eine psychiatrische Klinik überweisen. Dort wurde sie ein Jahr lang mit schweren Beruhigungsmitteln behandelt, entwickelte

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danach Krebs und starb innerhalb von Monaten. Sie starb an der Psychose des Körpers. Sie starb, weil sie früh im Leben zu verschiedenen Pflegeeltern geschickt wurde und misshandelt, missbraucht und vernachlässigt wurde. Sie starb an Urschmerz - der wirklichen Krankheit.


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DROGEN, TRINKEN UND GLAUBENSSYSTEME:
WENN UNSERE BEDÜRFNISSE UNS SÜCHTIG MACHEN

Warum lechzen Menschen nach Alkohol und Drogen? Weil sie sich besser fühlen wollen. Einige tun es, weil sie offen leiden und das Leiden wenigstens zeitweise beenden wollen. Andere fühlen sich einfach unwohl, gestresst, gehetzt und wollen sich entspannter fühlen. Wieder andere - wahrscheinlich die Mehrheit der Fälle - mögen einfach das Gefühl, das Drogen und Trinken ihnen gibt.

Alkoholismus ist als Krankheit bezeichnet worden. Es gibt Leute, die behaupten, es sei entweder eine genetische Störung, die auf einen Enzym-Mangel zurückzuführen ist, oder eine hormonelle Störung. Nachdem ich in der Primärtherapie viele Fälle von Alkoholismus umgekehrt habe, glaube ich, dass es in erster Linie das Symptom einer Krankheit ist, die frühe Vernachlässigung und einen Mangel an Fürsorge, Körperkontakt und Interesse einschließt.

Menschen, die intensiv von Alkohol und von legalen sowie illegalen Drogen Gebrauch machen, hatten oft eine schlechte Geburt oder andere Traumen der ersten Linie, die sich durch spätere Deprivation verschlimmerten. Ein sehr frühes Trauma beeinflusst Serotonin- und Endorphinsysteme. Was die Leute mit ihrem Drogengebrauch zu erreichen versuchen, ist, sich wieder "normal" zu fühlen, zu normalisieren, was durch frühen Schmerz aus der Bahn geworfen wurde. Es scheint logisch: Man steht unter Schmerz und man nimmt Schmerzkiller, um sich besser zu fühlen. Die meisten Straßendrogen wirken insofern wie Endorphine, als sie gute Blocker der ersten Linie sind.

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Kürzlich durchgeführte Gehirnforschung am Primal Center demonstrierte die Gehirnaktivität eines drogenabhängigen Patienten im Ruhezustand. Sein Gehirn raste mit beinahe dreifach höherer Geschwindigkeit als das eines normalen Individuums. Dies deutet darauf hin, dass Schmerzen tieferer Ebenen ins Bewusstsein eindringen, ein Gefühl ständigen Drucks erzeugen und dazu führen, dass der Patient sich andauernd unbehaglich fühlt. Die Verdrängungsmechanismen seiner unteren Ebenen waren defekt, und der Kortex war in seinem Kampf gegen die primären Einprägungen, die von einem frühen Trauma und einer lieblosen Kindheit stammen, beinahe allein. Er nahm Drogen, um die Schmerzen der unteren Ebenen unter Verschluss zu halten, sodass er sich wohl fühlen und die Empfindung, er sei "nicht in Ordnung", abmildern konnte.

Das versagte Bedürfnis und das "Bedürfnis nach"

Niemand hat ein Verlangen nach Schmerzkillern, es sei denn, es gibt einen Grund, und Leute, die Drogen nehmen, machen das, weil sie ein basaleres festverankertes unerfülltes Bedürfnis befriedigen müssen.

Wenn jemand Medikamente wegen eines aktuellen Schmerzes nimmt, dann dämpft er Urschmerz. Wenn ein Arzt zum Beispiel ein Medikament gegen Rückenschmerz verschreibt, wird der Patient, solange er Schmerzmittel gegen den Rückenschmerz einnimmt, nicht als abhängig betrachtet. Aber machmal, wenn die Rückenprobleme oder die akute Angst vorüber sind, hat die Person noch immer ein Verlangen nach Medikamenten. Warum? Weil sie noch immer unter Schmerz steht. Gäbe es diesen historischen Schmerz nicht, gäbe es kein Verlangen nach Schmerztötern. Nur ist es jetzt ein Schmerz, dessen sich weder der Patient, der Arzt oder irgendjemand anderer bewusst ist. Und weil man den Schmerz nicht sehen kann, wird der Patient jetzt als "Süchtiger" betrachtet. Aber die Medikamente und Drogen sind nicht die Krankheit; Drogen sind ein Symptom der realen Krankheit.

DEENA: DROGEN UND HOFFNUNG

Als ich dreizehn war, gab es einen kleinen Abschnitt in unserem Gesundheitsbuch in der Schule, der uns vor Drogengebrauch warnte. Ich fand das verlockend. Ich wusste damals, ich würde Drogen nehmen, sobald sich eine Gelegenheit bot.

Mit vierzehn und fünfzehn fing ich an, mit Straßenkindern herumzuhängen, obwohl

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ich eine gute Schülerin mit Plänen fürs College war. Ich begann auch, mit ihnen zu trinken und eine Menge rebellischen, antisozialen Verhaltens auszuagieren. Ich liebte die Erregung und die Gefahr. Mit sechzehn begann ich, Marijuana zu rauchen, und für den Rest der Highschool experimentierte ich mit Dexedrin, Barbituraten und Heroin. Als ich achtzehn war, wurde ich zweimal wegen drogenbezogener Anschuldigungen verhaftet. Glücklicherweise wurden die Anschuldigungen beide Male fallen gelassen.

Zu den Drogen und dem Lebensstil hatte ich eine innige Beziehung. Ich musste meinem Zuhause und meinen Eltern entkommen. Sie stritten ständig; für mich gab es da nichts zu holen. Ich konnte mich besser mit den Kindern auf der Straße identifizieren als mit den weißen Kindern in den akademischen Kursen. Die Rebellion und die Drogen gaben mir das Gefühl, anders und etwas Besonderes zu sein. Es war eine Methode, Aufmerksamkeit zu bekommen. Bis zehn war ich ein gutes Mädchen gewesen, und ich erreichte nie etwas damit. Ich war auch immer sehr scheu gewesen. Die Drogen und der Alkohol nahmen mir die Scheu, und gaben mir ein Gefühl von Zugehörigkeit, etwas, das ich von meiner Familie nie bekam. Mit Drogen bestand immer die Hoffnung, dass ich mich anders fühlte, besser fühlte, mich vielleicht gut fühlte, wenn ich Glück hatte.

Irgendwie überlebte ich und ging auf ein zwanzig Meilen entferntes Staatscollege. Die Studenten waren ziemlich konventionell. Ich war wieder gelangweilt, verängstigt und scheu. Ein Freund schickte mir etwas LSD. Es machte mir Angst, aber ich war auf die veränderte Wahrnehmung neugierig. Unfähig, mich auf die Leute um mich zu beziehen, durchlitt ich den Rest des Trips alleine in meinem Zimmer. Mein Verstand raste; ich hatte schreckliche Angst und dachte, es würde nie mehr aufhören. Danach hatte ich einige Probleme mit der Schule. Schließlich fand ich andere Leute, die mit Drogen hantierten, andere Künstler, und schloß mit ihnen Freundschaft.

Danach fiel ich auseinander. Meine Familie entzweite sich, mein Freund ging zur Navy, um die Einberufung nach Vietnam zu vermeiden, und ich landete in Boston, ohne feste Bindung und allein. Ich verlor völlig den Halt und wurde zu einem Teil der Drogen-Subkultur. Mein Leben drehte sich um den Drogenerwerb. Ich entdeckte das Fixen mit einer Nadel. Ich liebte es. Es war erotisch und befriedigend. Der Kick, als die Drogen in mein System drangen, war elektrifizierend, pure Ekstase. Gewöhnlich spritzte ich Crystal Meth [Methamphetamin] und manchmal Heroin. Ich hatte eine Menge Kopfschmerzen und begann, Angstsymptome zu zeigen.

Nach dem College ging ich durch eine Phase, in der ich Alkohol und Barbiturate zusammen einnahm. Als ich durch diese verschiedenen Perioden ging, nahm ich verschiedene Persönlichkeiten an. Irgendwas, um nicht ich selbst zu sein. Mein Selbst war ein kleines Mädchen, das verängstigt und allein war. Ich war eine Art Sally Bowles aus den Berlin Stories, die ein dekadentes Leben lebte. Ich konnte ausgehen und all die abenteuerlichen Dinge tun, die mein verängstigtes, scheues Ich nicht zu tun wagte. Ich hörte auf, als mir klar wurde, dass ich daran sterben konnte. Ich machte eine Periode durch, in der ich auf Rezept Valium

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und Darvon für die Angst und Kopfschmerzen nahm. Ich hörte schlagartig damit auf [I stopped cold turkey], als mir klar wurde, dass ich süchtig wurde.

Meinen letzten Versuch mit Drogen machte ich mit dreißig Jahren. Ich verbrachte einen Winter in Key West, Florida. Ich war auf Kokain und Quaaludes. Das waren die Drogen, die mir das beste Gefühl gaben. Ich hörte auf, als ich nach Norden zurückkehrte. Ich wollte erwachsen werden, wusste aber nicht, wie. Das ist eines der Dinge, die mich schließlich zur Therapie brachten.

In der Therapie geht beinahe jedes Feeling darauf zurück, dass ich voller Angst und allein bin. Ich glaube, ich wurde als Baby sehr viel allein gelassen. Ich habe nie gelernt, mit anderen Leuten Beziehungen aufzunehmen und mich bei ihnen wohl zu fühlen. Meine Mutter war angespannt, ängstlich und zornig.

Wenn die Gefühle von Entfremdung und Furcht aufsteigen, kann ich sie zum ersten Mal zulassen und wirklich fühlen. Ich muss nicht nach Drogen und dekadenten Freunden suchen, um die überwältigenden Emotionen und Empfindungen zu binden und zu rationalisieren. Ich sehe auch, dass die Leute, zu denen es mich hinzog, mich noch ängstlicher und noch verlassener fühlen ließen. Das Wichtigste von allem war, dass die Drogen Hoffnung repräsentierten. Jedes Mal gab es die Hoffnung, dass ich mich für eine Weile besser fühlen würde. Jetzt, da ich es endlich zulasse, die Hoffnungslosigkeit zu fühlen, komme ich endlich von dieser Acherbahn-Fahrt los. Ich kann verletzlich und real sein, und aus dem verschreckten und einsamen kleinen Mädchen, das meine Mutter verschmähte, kann endlich eine Erwachsene mit einem Leben in der gegenwärtigen Realität werden.

 

Ein Mädchen, das ich behandelte, kam aus einem Übergangshaus [halfway house] zur Primärtherapie. Seit dem Alter von fünfzehn hatte sie schwer getrunken, um von ihrem "leeren" Gefühl wegzukommen. Sie wurde auch promiskuitiv, und ihre Eltern konnten sie nicht kontrollieren. Das Gefühl, das sie hatte, war: "Wenn ein Mann in mir ist, fühle ich mich voll und nicht allein." Es ging um zwischenmenschliche Beziehung. Die harten Getränke und der Sex gaben ihr dieselbe Wärme. Ihre primären Feelings waren, alleine zu sein und von menschlichem (elterlichen) Kontakt entfremdet. Ihre Eltern konnten sie nicht kontrollieren, weil sie von einem Bedürfnis nach menschlichem Kontakt und menschlicher Wärme, das viel mächtiger war, kontrolliert wurde. Wenn sie ihr Bedürfnis nach Wärme und Nähe erfüllt hätten, hätten sie sich nicht darum sorgen müssen, sie unter Kontrolle zu halten.

Eine Frau gewöhnt sich vielleicht während der Zeit eines ehelichen Streits das Trinken an. Sie ist so angespannt und besorgt, dass sie jeden Abend ein paar Drinks nimmt, um zu "sich zu entspannen." Ihr Mann macht es

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seit Jahren so mit seinen Drinks, um nach der Arbeit "auszuspannen", und trinkt Wein zum Essen und Brandy nach dem Essen. Beide denken, es sei wegen dem, was in ihrem Leben los ist, wegen der Streitereien übers Geld, Problemen mit den Kindern, der schlechten Kommunikation zwischen ihnen beiden, vielleicht wegen ihres Wunsches, mehr "Erfüllung" im Leben zu finden, oder einfach eine Methode zu entspannen. Gewiss sind das stressgeladene Probleme, aber was ihre Trinkgewohnheit steuert, ist die Tatsache, dass ihr gegenwärtiger Stress mit eingeprägtem Schmerz aus ihrer Vergangenheit resoniert.

Dasselbe trifft auf diejenigen zu, die von harten Drogen abhängig werden. Das "Bedürfnis nach" Drogen ist nur ein Symbol für etwas tiefer Liegendes. Das Problem mit harter Drogensucht ist zum Teil ein soziales: die Verbrechen, die die Süchtigen begehen, und das Chaos, das sie schaffen. Weil ihr Hauptinteresse darauf gerichtet ist, den Schmerz abzutöten, werden sie alles tun, einschließlich lügen, betrügen und stehlen, um sich selbst zu behandeln. Man kann sich nie darauf verlassen, dass ein Süchtiger die Wahrheit sagt, aber sie lügen nicht wegen der Drogen. Sie lügen, um Schmerz zu vermeiden. Bei gewohnheitsmäßigen Drogen-Usern, die aufhören, kehrt der Schmerz oft mit doppelter Kraft zurück, wenn die Drogenwirkung nachlässt. In diesem Teufelskreis brauchen sie immer mehr Drogen, um sich weiter wohl zu fühlen. Der zurückkehrende Schmerz verursacht Entzugssymptome, die so schmerzvoll sind, dass Süchtige vor nichts zurückschrecken, um mehr zu bekommen.

Auch wenn ein Süchtiger es schafft, von den Drogen loszukommen, liegt das Elend noch immer in seinem Inneren. Vielleicht raucht er drei Päckchen Zigaretten am Tag, trinkt eine Tasse Kaffee nach der anderen und nimmt "legale" Tranquilizer, die denselben Zweck erfüllen, nur mit weniger Effektivität. Obwohl es einem Süchtigen momentan besser gehen kann, ist er oder sie in ständiger Gefahr, in die Abhängigkeit zurückzukehren. Ein Drogenproblem wird sich erst geben, wenn das Bedürfnis im Kontext mit dem ursprünglichen Schmerz gefühlt wird.

Ein Rockstar erklärte, dass er seine Alkohol- und Drogensucht überwunden habe. Er fügte jedoch hinzu, dass "der Drache in dir immer lebendig ist. Und es ist eine Krankheit, die niemals weggeht." Das ist fundamental dafür, wie man über das Problem denkt, und es gehört fest zur Philosophie der Zwölf-Schritte-Programme der Anonymen Alkoholiker und ebenso der meisten Behandlungszentren für den Substanz-Missbrauch. Diese Programme wissen, dass ihre Methoden

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niemanden "heilen". Alkoholismus oder jede andere Sucht ist unheilbar. Das Beste, das man erhoffen kann, ist, das Trinken oder den Drogenkonsum vorübergehend aufzuhalten.

Unterstützungsgruppen sind der Weg, den Millionen an Stelle von Drogen wählen. Leute mit "suchtgefährdeter Persönlichkeit" treffen sich regelmäßig mit anderen, die wie sie sind, und entwickeln eine Ideologie, die ständig wiederholt, dass Sie in Gegenwart der Sucht hilflos sind, dass es eine höhere Macht gibt, die über Sie wacht und Sie beschützt, dass Sie mit Ihrem Leiden nicht allein sind. Diese Ideen "funktionieren", solange Sie Ihnen fortlaufend infusioniert werden, weil sie den realen Gefühlen des Alleinseins direkt entgegenwirken. Diese Gruppen bieten Verteidigung gegen eine eingeprägte Realität an, die bedeutet: "Ich bin allein. Niemand kümmert sich um mich. Ich werde niemals Unterstützung oder Ermutigung bekommen. Es gibt keine höhere Macht (Eltern), die hilft."

Es ist schön, von anderen Unterstützung zu bekommen. Offensichtlich ist der Alkoholiker oder Süchtige ständig in Gefahr, zu seiner Gewohnheit zurückzukehren, und die Unterstützung hilft ihm zu widerstehen. Aber wenn er zu einer Gruppe geht, um seine Abhängigkeit einzugestehen, ein paar Tränen zu vergießen, um dann als aufrichtig und wundervoll gelobt zu werden, wie soll er jemals fühlen, was real ist?

DORIS: DAS VERMÄCHTNIS DES MISSBRAUCHS

Vom neunten Lebensmonat bis zum Alter von sechseinhalb Jahren lebte ich bei Pflegeeltern. In der zweiten Hälfte dieser Periode wurde ich täglich mit Schlägen, Erniedrigung und Deprivation vieler basaler physischer Bedürfnisse einschließlich Schlaf, Flüssigkeitsaufnahme und Zugang zum Badezimmer terrorisiert. In der letzten und schlimmsten Phase wurde ich vom Pflegevater sexuell missbraucht, während das Verhalten seiner Frau nicht nur vorsätzlich sondern - schlimmer noch - unvorhersagbar sadistisch war. Ich lernte, meinen Schmerz zu verbergen, Verletzung oder Furcht nicht zu zeigen, die nur weitere Gewalt provozierten.

Als ich zurückkam und wieder bei meiner Mutter und meinem Stiefvater lebte, manifestierte sich der verdrängte Terror zuerst in Wach-Gespenstern (Monster unter dem Bett und so weiter). Zwei Jahre später, als mein Halbbruder geboren wurde, jagte mir mein Stiefvater, dessen Verhalten zunehmend ernst und zeitweise sadistisch war, Angst und Schrecken ein. Meine Mutter schützte mich nicht, half nicht, tröstete nicht. Als ich ein Teenager war, verbesserte sich mein Verhältnis zu meinem Stiefvater nicht. In dieser Periode agierte ich auf verschiedene Weise "gefährliches Leben" aus (drauf-

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gängerische Heldentaten). Ich hatte auch wiederkehrende entsetzliche Alpträume, deren Hauptthemen Situationen auf Leben und Tod waren, überrumpelt zu werden, und die Gleichgültigkeit der ganzen Welt zu spüren.

Während meiner gesamten Kindheit brachte mich mein Versuch, Liebe zu bekommen, nahe an den Tod. Von dem Zeitpunkt, als ich als Vierjährige Bonbonpapier verschluckte, um zu sterben (aber in Wirklichkeit, um meine Mutter dazu zubringen, dass sie zu mir kommt), bis zu der Zeit , als ich als Fünfzehnjährige Äther nahm und mir selbst das Essen versagte, führte ich immer wieder dasselbe Szenario auf. Ich unternahm einen Selbstmordversuch und starb beinahe. Kurz nach diesem Versuch verließ ich mein Heim und meine Familie, da ich unfähig war, mit dem Druck zu Hause zurechtzukommen.

Zum ersten Mal nahm ich als Achtzehnjährige 1969 in London Drogen. Später fand ich mich in der Pariser "Gegenkultur" wieder, die durch extreme politische Einstellungen, Rock ‚n' Roll, sexuelle Freizügigkeit, Experimente mit "Bewusstseinserweiterung" durch Drogen und die Herausforderung aller "Establishment"-Werte charakterisiert war. Meine inneren Konflikte und Sehnsüchte spiegelten sich innig in der Stimmung und den Umständen jener Zeiten wider.

Mein anfänglicher Impuls zu den Drogen erfolgte aufgrund ihres verbotenen Statuses; mein Wunsch, meine persönliche Identität zu etablieren, erforderte ein Verhalten, das von dem meiner Eltern, der "Autoritätspersonen", radikal verschieden und für sie unakzeptabel war. Gleichzeitig war dies ein Mittel, um ein Band mit Gleichaltrigen zu knüpfen. Über einen Zeitraum von zwei Jahren nahm ich Marijuana und Haschisch mit einer Häufigkeit zwischen einem und fünf Joints je Tag, zuerst nur mit Freunden, später dann für mich allein. Das allererste Mal, als ich rauchte, wurde mir gewaltig schlecht. Ich spürte, wie sich mein Magen umdrehte. Die Heftigkeit meiner körperlichen Reaktion machte mir Angst. Ich legte mich hin und schaute meinen Freund an und begann zu halluzinieren; sein Gesicht verwandelte sich langsam in das eines pelzigen Monsters mit wildem und gefährlichem Aussehen.
Warum nahm ich angesichts solcher verstörenden Effekte weiterhin Drogen? Die Begründung erfordert, dass ich mehrere Jahre zurückgehe. Eine meiner stärksten Phantasien in meinen mittleren Teenagerjahren war der Wunsch, verrückt zu werden. Ich sah es wahrlich als zukünftiges Ziel an. Drogen könnten mich vielleicht verrückt machen und somit geliebt. Also machte ich weiter. Als ich tiefer unter den Einfluss der Droge geriet, kam es zu einer subtilen Veränderung. Zuerst genoss ich die Vorspiegelung des "Verrücktseins", indem ich meine Vorstellungskraft "verrückte" Visionen erzeugen ließ, die ich durch Willenskraft beenden konnte; ich experimentierte und machte die Welt glauben, ich sei verrückt. Aber bald begann ich, die Kontrolle zu verlieren. Eines Tages, als ich in meinem Bett lag, schaute ich auf den Boden und sah mich selbst in einer Blutlache liegen. Ich flippte völlig aus, weil ich nicht wusste, ob mein "Ich" das auf dem Bett war oder dasjenige, das auf dem Boden verblutete.

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Ein weiterer Effekt der Drogen waren psychotische Episoden. Glassscherben, Gabeln, Messer, Scheren, jeder spitze Gegenstand machte mir Angst, weil ich sie mit einem Eigenleben ausstattete und ihnen den Wunsch zuschrieb, mich zu verletzen. Ich hatte auch das Gefühl, dass meine Hände einen eigenen Willen hatten und ein Messer ergreifen und mich töten würden. Ich hatte Angst davor, schlafen zu gehen, da ich überzeugt war, mein Körper würde die Macht ergreifen, sich erheben und mich töten, während ich unbewusst und schutzlos war.

Ich ging mit Freunden nach Amsterdam, um die legale Freiheit, Drogen zu nehmen, zu genießen. Eines Nachts brachte einer von uns die Lieferung eines Fremden mit, und noch ehe ich es wusste, fand ich mich, anstatt Hasch zu rauchen, unter dem Einfluss von etwas ganz anderem wieder. Innerhalb von Sekunden spürte ich einen gewaltigen Schlag auf meinen Magen, und mein Herz fühlte sich an, als wollte es explodieren. Ich verbrachte die längste Nacht meines Lebens zusammengerollt auf einem Bett oder in einem Zustand erregter Agitation umhergehend, darum betend, dass mein Herz nicht berste, mein Körper die Kontrolle wiedererlange und diese alptraumhafte Erfahrung aufhöre. Nachdem die Wirkung der Droge nachgelassen hatte, schwor ich, nie wieder Drogen zu nehmen. Dieses Mal war die Schreckensseite der Droge zur mächtigsten Kraft geworden. Die tatsächliche Konfrontation mit der Todesangst hatte die Attraktion der Fantasien von Gefahr und von "des Messers Schneide" ausgelöscht.

Innerhalb vierundzwanzig Stunden nach dem Absetzen der Drogen erlebte ich zum ersten Mal, was ich meine Panikattacken nenne. Ich war voller Angst, aber anfänglich dachte ich, ich leide einfach unter Entzugssymptomen. Als die Monate und Jahre vergingen, fühlte sich die Panik immer mehr wie ein endloses Wiedererleben der Amsterdam-Episode an.

Bevor ich mit Primärtherapie begann, setzten sich die Panikattacken mit Unterbrechungen jahrelang fort; ihre Häufigkeit, Intensität und ihr Zeitpunkt war unkontrollierbar, ihr Ursprung ein totales Rätsel. Seit ich im Alter von siebenundzwanzig Jahren mit der Therapie begann, habe ich viele traumatische Episoden meines frühen Lebens wiedererlebt und sie zu den Mustern meiner Neurose in Beziehung gesetzt.

Nachdem ich als Teenager mein Elternhaus verließ, schuf ich mir ein ganzes Leben voller Gefahr: elternlos, heimatlos, pfenniglos, etc. . Mein Abwehrsystem war erschüttert. Dass ich instinktiv zu Drogen griff, um die Barrieren meiner Hemmungen (bezüglich sexueller Kontakte und emotionaler Nähe) zu durchbrechen, hatte die unvorhergesehene Konsequenz, mich für den "alten" Terror zu öffnen. Die Drogen hatten mein Schleusensystem zerstört, das in meinem Fall nie richtig entwickelt war. Durch Veränderungen in der Körperchemie, die den Nachrichtenfluss durch vorher verschlossene Kanäle zuließ, wurde der Schrecken der Kindheit plötzlich in Bewusstseinsnähe befördert. In dem Versuch, die Abwehr gegen den Schmerz aufrechtzuerhalten, erzeugte das Gehirn schaurige Szenen, die den Schrecken in symbolischer Form ausdrückten.

Das Feeling des Gespaltenseins scheint wie ein letzter verzweifelter Versuch zu verhindern,

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dass die in Gehirn und Körper eingeprägte Erinnerung das Bewusstsein erreicht. Der Eindruck, zwei Personen zugleich zu sein, entspricht dem realen Selbst, das sich zu erinnern versucht, während das neurotische Selbst, das Gefahr wittert, versucht, zu verdrängen und die Situation unter Kontrolle zu halten.

Diese Trennung zwischen dem Körper und der Psyche erzeugt die Panikattacken. Ich habe die Panikattacken als die perfekte Abwehr gegen den "alten" Terror identifiziert. Die Primärtherapie hat mir einen Weg gezeigt, wie ich gesund werden kann.

Die Behandlung von Drogensucht oder von Alkoholismus ist ein wichtiger erster Schritt, aber es ist erst der Anfang der Therapie, nicht das Ende. Es ist der Untergang der Anonymen Alkoholiker, dass Abhängige lediglich ein Symptom durch ein anderes ersetzen: sie gehen zu den AA anstatt zu trinken. Obwohl Zwölf-Schritt-Programme weniger destruktiv sind als Trinken, liegt unter der Oberfläche noch immer quälender Schmerz, und das bedeutet die Möglichkeit, dass jemand wieder trinkt. Das ist der Grund, warum diese Gruppen sagen: "Einmal ein Alkoholiker, immer ein Alkoholiker."

Das soll nicht heißen, dass ein Süchtiger keine Zügel braucht, wenn er in Therapie ist, vor allem in unserer Therapie, weil Trinken oder Drogen Abwehrmechanismen gegen losgelösten Schmerz sind. Süchtige im Genesungsprozess sind auf Übergangshäuser und Unterstützung angewiesen, bis die Anfangsphase der Therapie vorüber ist. Diese Phase unterscheidet sich von Individuum zu Individuum und hängt von der Last des zugrundeliegenden Schmerzes ab.

Wenn man Süchtige behandelt, ist es wichtig, bestimmte physiologische Messwerte wie Hirnwellenfrequenz, Herzschlag, Körpertemperatur und Stresshormon-Spiegel in Blut und Speichel zu überwachen. Alle diese Werte weisen auf die Ebene der Feelings und ihre Stärke hin und zeigen, wie gut die Verdrängung funktioniert. Vor kurzem hatten wir einen Patienten, der von fünfzig Tabletten Valium- insgesamt 250 Milligramm - pro Tag runterkam. Anfangs, als er zu uns kam, betrug die Amplitude seiner Alphawellen über 1000 Mikrovolt, was auf ein gewaltiges Ausmaß an Schmerz und Verdrängung hindeutete. Das soll nicht heißen, dass Valium den Schmerz nicht unten hielt; sein Gehirn arbeitete in der Tat verzweifelt, um das zu leisten. Als er seine alten Feelings auflöste, fiel seine Amplitude um zwei Drittel in den normalen Bereich. Der Druck gegen sein Bewusstsein war weniger geworden. Er war nicht mehr süchtig, und das spiegelte sich in verschiedenen physiologischen Messwerten wider.

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Je mehr Zugang Patienten zu Feelings haben, umso weniger beruhigende Drogen brauchen sie. Im Journal of Primal Therapy stelte Dr. Michael Holden fest, dass Primärpatienten mehr lokale Anästhetika benötigen, weil sie weniger verdrängen. Umgekehrt brauchen ihre Gehirne weniger systemische Anästhesie weil sie weniger aktivierte Gehirne haben, die weniger Beruhigung brauchen. Vor der Therapie herrscht soviel Aktivierung, dass Drogen das Gehirn nur leicht verlangsamen würden. Nach der Therapie muss das Gehirn nicht mehr die ganze Zeit auf der Hut sein. Dementsprechend können Leute, die vor der Therapie "ziemlich viel vertrugen", nachher ganz leicht betrunken sein, und diejenigen, die zum Essen Kaffee trinken konnten, sind vielleicht dazu nicht mehr im Stande. Wenn jemand weniger Abwehrmechanismen hat, beeinflussen eingenommene Substanzen das Bewusstsein viel leichter.

Abhängig von Vorstellungen

Wir hatten eine Patientin, die Alkoholikerin war. Sie hatte das Trinken aufgegeben und war eine fanatische Mystikerin geworden. Sie hatte die zwölf Stufen zum höheren Bewusstsein studiert und benutzte ein Mantra, um die Dämonen fern zu halten. Sie beschritt jeden verfügbaren mystischen Pfad, um irreal zu bleiben. Sie war noch immer abhängig, aber jetzt war sie von Vorstellungen abhängig. Mystizismus war ihr Überlebensmechanismus, ein Kunstgriff, um den Schmerz auf handliche Proportionen zu reduzieren und dem Bewusstsein fern zu halten. Es beschützte sie vor dem Schmerz, der damit zu tun hatte, dass sie von ihrer Mutter gleich nach der Geburt verlassen worden war. Was mit ihr nicht stimmte, waren nicht die mystischen Ideen oder die Mantras. Wie das Trinken waren sie lediglich Akte des Ausagierens. Was sie brauchte, war nicht die Entwöhnung von ihren Glaubensvorstellungen; sie musste sich mit ihrer inneren Realität befassen.

Bedenken Sie, diese Person war einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgeliefert. Ihr Leben war bedroht, aber die ursprüngliche Bedrohung war jetzt vergraben. Der Geheimkode, der die Details des Verbrechens enthielt, war verborgen. Wir mussten den Kode dechiffrieren und der Spur folgen , wohin auch immer sie führte. Wir wollten das Verbrechen nicht vertuschen. Das hatte sie bereits mit einem fünftel Liter Whisky am Tag versucht. Ihr Bedürfnis nach einer liebevollen Mutter wurde zu einem Bedürfnis nach einem Drink, der ihr das Gefühl innerer Wärme gab. Der Alkohol war

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verfügbar und wärmte, ganz anders als ihre Mutter, die ihr nicht zur Verfügung stand und kalt war. Ihr Umschalten von Alkohol zu Mystizismus war ihre psychische Methode, um das Verheimlichen fortzusetzen und sich davor zu schützen, dass sie sich zu schnell mit der Realität befassen musste, die für sie erschütternd hätte sein können. Wir halfen ihr, indem wir sie ermutigten, ihrer frühen Verlassenheit gegenüberzutreten und sie wiederzuerleben.

Wenn das System die Energie des Schmerzes nicht abschwächen kann, beginnt der Schmerz ins vollständige Bewusstsein aufzusteigen und der Mensch beginnt zu leiden. Deshalb nehmen Leute, die Drogen und Alkohol hinter sich lassen, oft Glaubenssysteme an. Es ist kein Zufall, dass so viele Leute, die "wiedergeboren" werden, Ex-Alkoholiker sind. Der Gott, der Guru oder die Ideologie nehmen den Platz der Drogen oder des Alkohols ein. Die Leidenschaft für das Glaubenssystem ist so stark wie die Sucht, weil sie demselben Zweck dient: im Gehirn schmerztötende Substanzen bereitzustellen. Der Süchtige kommt nicht über seine Sucht hinweg; er handelt nur das eine für das andere. Anstatt seine Drogen von außen zu bekommen, bekommt er sie von innen.

Ein Glaubenssystem entsteht automatisch aus überwältigenden unbefriedigten Bedürnissen oder aus Schmerz. Es zielt darauf ab, die Unversehrtheit des Bewusstseins zu beschützen, das von Erschütterung bedroht ist. Diesem Zweck dient es, indem es Sicherheit schafft und beruhigt. Das Glaubenssystem scheint dem Betrachter plötzlich glaubwürdig. Er ist überzeugt, dass Gott über ihn wacht oder dass er seinen Sorgen durch Meditation ein Ende setzen kann oder dass er in einem vergangenen Leben einer von Robin Hoods Kumpanen war. Es ist ohne Bedeutung, dass er ein College-Professor ist oder dass seine Glaubensüberzeugungen im Widerspruch zum Niveau seiner Intelligenz zu stehen scheinen. Was zählt, ist, dass er nicht mehr leidet.

Wenn ein Mensch mit früher Hoffnungslosigkeit belastet ist, geschieht die Sekretion von Endorphinen automatisch. Sie leistet zweierlei. Erstens tötet sie den Schmerz der Hoffnungslosigkeit ab, jemals geliebt zu werden. Zweitens verwandelt sie die Hoffnungslosigkeit in Hoffnung. Hope is dope, dope is hope. Jemand, der unter schrecklichem Urschmerz leidet, hat oft keine Hoffnung mehr. Wenn er ein wirkliches Suchtmittel wie Morphium nimmt, hat er Hoffnung - eine Zeit lang. Oder wenn es ihm unwillkürlich gelingt, an einen imaginären Erfüllungsagenten zu glauben, wird die interne Rauschmittelfabrik zu größeren Leistungen angespornt, und er hat Hoffnung.

Brustmilch ist reich an Endorphinen, und es gibt keinen

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zufriedeneren Blick als den eines wohlgenährten Babys. Ähnlich enthält Samenflüssigkeit Endorphine, die vielleicht zum sexuellen Vergnügen beitragen. Trinken und Drogen aktivieren unsere Verdrängungsrezeptoren auf verschiedenen Wegen und sorgen für vorübergehende Erleichterung vom Schmerz. Ein Glaubenssystem macht dasselbe, indem es unsere eigenen Endorphine verwendet. Jeder irrationale Glaube gründet auf Schmerz und Hoffnung.


JACK: UM DEN SCHMERZ HERUMWACHSEN

Als ich zehn war, traf ich meine Mutter an, wie sie aus dem Fenster bei den Apfelbäumen starrte. Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie schien ihre Umgebung nicht wahrzunehmen. Das war so um den Zeitpunkt, als sich der Tod meines Vaters zum zweiten Mal jährte, und ich war irgenwie intakt geblieben und hatte die Familie in der Zwischenzeit durch eine Willensanstrengung zusammengehalten. Aber in diesem Augenblick sah ich, dass es keine Hoffnung gab, sie zu erreichen, und ich drehte mich um und verließ, abgespalten von meinen Gefühlen, den Raum.
Es scheint, als hätte ich eintausend Primals über diese Szene gehabt, in denen ich all die Dinge sagte, die ich zu jener Zeit nicht sagen konnte. Ich bat, flehte, bettelte und forderte abwechselnd, sie möge mir helfen, mich wieder lieb haben, zu mir zurückkommen, und so fort. In diesen Feelings konnte ich ihre Hoffnungslosigkeit nicht akzeptieren, weil sonst alles verloren wäre, wie es der Fall war, als ich mich schweigend umdrehte und den Raum verließ.

Als ich in einer Videoaufzeichnung darauf hingewiesen wurde, dass ich in einer Sitzung die Hoffnungslosigkeit eines Patienten völlig ignoriert hatte und einem zweitrangigem Gefühl nachgegangen war, war ich geknickt. Zum ersten Mal tat ich in meiner Familienszene das Unfassbare. Ich ging auf die Seite meiner Mutter und starrte mit ihr aus dem Fenster, verzweifelt, hoffnungslos und untröstlich. Ich fiel in die Finsternis einer früheren Erfahrung, in der es keine Luft und kein Entkommen aus einem unerträglichen Druck gab. Die Finsternis schwappte über mich hinweg, als mir der Atem stockte. Als ich erschöpft aus dem Primal herauskam, wurden mir viele Dinge klar.

Ich begann die Geburt mit einer Steißlage. Als meine Hüften im Becken meiner Mutter gefangen waren, erhielt sie Chloroform, und die Ärzte führten eine externe Rotation durch, sie hoben und drehten mich, bis ich mit dem Kopf nach unten lag. Ich fühlte den Schrecken, als ich den Kontakt mit meiner Mutter verlor, und dann überwältigte mich die Finsternis. Aber sie war da, als ich zu mir kam, und ich "lernte", dass ich auf der anderen Seite der Finsternis mit meiner Mutter wieder vereint sein würde.

Jahre später braute ich in einer Chemiestunde einen Chloroformmix zusammen und wunderte mich über die Vertrautheit des Chloroform-Rausches. Mit vierzehn fand ich

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heraus, dass Alkohol mir dasselbe Gefühl gab, wenn ich genug trank. Ein paar Drinks ließen mich lebendig fühlen, aber dann trank ich weiter, bis ich praktisch besinnungslos war. Meine Freunde hatten meistens ähnliche Probleme, und so hielten wir es für normal, und wir alle zusammen tranken jahrelang schwer.

Je öfters ich fühlte, umso weniger verspürte ich das Verlangen zu trinken. Es ist ein Kennzeichen für Verhaltensweisen, die durch sehr frühe Feelings gesteuert werden, und die globale Natur der Auslöser - Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, existentielle Zweifel, hartnäckige Probleme - bestätigte dies. Gelegentliche schwere Trinkgelage und Kater schienen die Dinge im richtigen Verhältnis zu halten und bewahrten mich davor, von Hoffnungslosigkeit überwältigt zu werden.

Meine Gefühlserlebnisse machten mir klar, dass ich mein Leben damit verbracht habe, die Hoffnungslosigkeit zu meiden, die ich fühlte, als mein Vater starb und meine Mutter einen Nervenzusammenbruch hatte, und ursprünglich, als ich geboren wurde. Ich trank, wenn die Umstände mit diesem Erlebnis resonierten, weil ich entdeckte, dass die Dinge besser sein würden, nachdem die Finsternis vorüber war. Bei den Anonymen Alkoholikern hätte ich meine Hoffnungslosigkeit verleugnet, indem ich mein Schicksal in die Hände einer höheren Macht gelegt und Auslösesituationen vermieden hätte. Einer der kleinen praktischen Scherze der Primärtherapie besteht darin, dass man sich schlechter fühlt, wenn man "unten" ist, weil mehr Bewusstsein da ist, um zu leiden, und mehr Bewusstsein, dass man leidet.

Nach dem Alter von zehn Jahren verbrachte ich mein Leben damit, dass ich versuchte, meine Mutter nicht aus der Fassung zu bringen, sodass mir die Möglichkeit des Trosts blieb. Brüste waren magisch, sie waren im Stande, meinen Schmerz durch ihre bloße Form zu beschwichtigen, obwohl ich nicht wirklich wusste, was ich mit ihnen anfangen sollte, und ich war erstaunt, dass sie anderen nicht mehr bedeuteten. Je näher ich einem Mädchen kam, umso unwohler fühlte ich mich, so sehr, dass ich meine Jungfräulichkeit erst verlor, als ich neunzehn war. Brüste wurden erotisch, weil Sex bedeutet, jemandem so nahe zu kommen, wie es nur geht, und Sex liefert einen legitimen Brennpunkt und eine schmerzabsorbierende Belohnung. Ein Orgasmus erleichtert den Schmerz kurzzeitig. Meinen Schmerz zu erotisieren war so natürlich und unvermeidlich wie atmen, besonders weil ich keine Ahnung hatte, dass ich unter Schmerz stand, und weil Erotik sozial akzeptabel, sogar lobenswert ist. Jedes neue Mädchen war aufregend wegen der Möglichkeit der Erfüllung.

Ich hatte Schmerzen im unteren Rücken, die daher kamen, dass ich im Kinderbettchen unter Qualen meinen Rücken krümmte. Immer auf meiner linken Seite liegend, mit unmöglich weit geöffnetem Mund, bewege ich mich aufwärts, bis mein Kopf gegen die Ecke stößt, wie ich es notleidende Kinder habe tun sehen. Niemand kam, als mein Körper nach Wärme, Berührung und Nahrung schrie. Wenn dieser Schmerz nahe ist, wache ich am Morgen mit einer Menge verschluckter Luft und krampfendem Rücken auf. Ich bin mir sicher, dass meine Diabetes etwas damit zu tun hat, weil mein Blutzucker bei dieser Gelegenheit sehr hoch ist, und wenn ich zuviel Insulin nehme, sodass ich in der Nacht niedrigen Blutzucker habe, setzt es diese Erinnerung in Gang.

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Die ständige nächtliche Wiederholung des Hungertraumas muss meinem Blutzucker regulierenden Apparat eine massive Belastung aufgebürdet haben.

Das Unglaubliche ist, dass dieser in so kurzer Zeit verankerte Schmerz mein Leben umschreibt. Was ich amüsant, unterhaltsam, abwechslungsreich, interessant, ja möglich finde, stammt von diesem Erlebnis. Der Lauf meines Lebens wurde damals festgelegt, denn, was immer aus mir wurde, musste dieses Trauma beinhalten.
Ende der Fallgeschichte

Jack war in der Lage, seinen Schmerz zu durchbrechen, den Vorhang der Verleugnung zu teilen, den sein Alkoholmissbrauch zugezogen hatte. Ironischerweise war es Primärtherapie und nicht die Anonymen Alkoholiker oder konventionelle "Gesprächs"-Behandlungen, die ihm dabei half. Im nächsten Kapitel erforschen wir, warum die meisten traditionellen Therapien nicht heilen.

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WARUM DIE MEISTEN KONVENTIONELLEN BEHANDLUNGEN NICHT HEILEN

Die meisten Leute unterziehen sich heute entweder wegen emotionaler oder körperlicher Probleme einer Behandlung. Einige bemühen sich um die eine oder andere Art von Psychotherapie. Andere suchen wegen hohen Blutdrucks, Herzproblemen, Immunstörungen, Müdigkeit, Allergien, Asthma oder Migränen Ärzte auf. Einige machen beides. In vielen Fällen scheint die Behandlung endlos; sie zieht sich Woche um Woche, Monat um Monat, und kein Ende ist in Sicht. Viele Menschen probieren eine Methode nach der anderen aus, erhalten vielleicht von einigen ein gewisses Maß an Hilfe, aber fragen sich immer noch, was ihre Leiden heilen soll.

Warum ist die Krankheit so mächtig und die Behandlung so unzuverlässig? Weil diejenigen, die Krankheit behandeln, sich oft eher auf Manifestationen konzentrieren als auf Ursachen und nicht begreifen, dass Heilung nur an der Wunde erfolgen kann. Die meisten Psychotherapien und medizinischen Behandlungen spalten die Person zuerst in das physische und psychische Selbst, konzentrieren sich auf eines dieser zwei Selbst und engen dann den Brennpunkt auf einen einzelnen Bestandteil eines dieser zwei Selbst ein. Die Person wird seziert, bevor die Behandlung überhaupt beginnt.

Wir haben eine Nation von Symptomspezialisten geschaffen. Die Ärzte der heutigen Zeit betrachten Krankheiten wie Asthma, Migränen oder Geschwüre als separate Leiden, obgleich sie alle unterschiedliche Varianten ein und derselben Sache sein können. Drogensucht, Alkoholismus, Überessen und

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Promiskuität werden allesamt als einzelne Neurosen betrachtet und behandelt, während sie alle symbolische Versuche sein können, Wärme und Trost zu finden. Sie können jemanden nicht auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, ohne die ganze Person einzubeziehen.

Was bei kognitiver Therapie, Verhaltenstherapie, Gestalt, rational-emotiver Therapie, Biofeedback, Hypnotherapie, gelenktem Tagträumen und kreativem Visualisieren im Allgemeinen geschieht, ist, dass ihr Brennpunkt eher Erscheinungen betont als das Wesentliche. Ganz selten stellt der Spezialist die Frage: "Warum tritt das Symptom auf?" Das Word warum ist das in den Heilkünsten am meisten vernachlässigte.

In den Gestaltgruppen der sechziger und siebziger Jahre wurden wir ermuntert, uns wie Schimpansen und Gorillas aufzuführen, um uns "frei" zu fühlen. Aber wir haben nur einen Akt vorgetäuscht. Sie ändern sich nicht von außen nach innen. Das Innere des Gehirns wird das nicht zulassen. Kein Akt auf der Welt kann einen reverbierenden [widerhallenden, zurückschwingenden] Schaltkreis im limbischen System dauerhaft verändern. Sie sind nur so frei wie die Gefühle, die Sie binden; die Neurotransmitter, die unsere Schleusentore schließen, sind resistent. Sich wie befreit aufzuführen ist eine Falle. Lebendig und übermütig zu agieren kann die Erstarrung von Gefühlen nicht ändern, die zuviel sind, als dass man sie ertragen könnte.

In der Therapie nach dem "Warum?" zu fragen bedeutet, die gesamte Theorie und Behandlungsprozedur eines gegebenen therapeutischen Systems in Frage zu stellen. Anstatt Erinnerung in den Dienst der Heilung zu stellen, zielen Psychotherapien darauf ab, die Psyche zu kontrollieren and zu managen, als sei sie ein Geschäft. Aber die menschliche Psyche ist kein "Es" - sie ist ein Prozess. Sie ist kein Kopf ohne Verbindung zum Körper. Der Ausdruck "Psychotherapie" an sich sagt uns bereits, was falsch ist.

In der konventionellen Therapie wir der Patient lediglich ermutigt, über seine Vergangenheit zu reden, in der Hoffnung, daraus Einsichten zu gewinnen. Der Psychoanalytiker erkennt die Rolle von Kindheitsereignissen an (wenn auch nicht das Geburtstrauma oder Ereignisse im Mutterleib), zieht es aber vor, die Ereignisse zu diskutieren. Deshalb wir es als "Gesprächsbehandlung" bezeichnet. Wenn ein Patient anfängt, seine Probleme zu "verstehen", geht man davon aus, dass er Fortschritte macht. Unterdessen bleibt alles unberührt, was unterhalb liegt. Heilung hängt nie von Bewusstheit ab sondern von Bewusstsein. Das sollte die Auffassung von einer effektiven Einsichtstherapie zu Grabe tragen. "Effektive Einsicht" ist ein Oxymoron [zwei widersprüchliche Begriffe in einem]; eine Einsicht, die nicht dem tiefen Fühlen eines Patienten entströmt, ist eine Abwehr. Einsicht tut nichts, um die Verdrängung zu heben. Sie verstärkt sie stattdessen. Der Gebrauch von Elektroschocktherapie oder Antidepressiva leistet dasselbe. Elektroschocktherapie ist das offensichtlichste Beispiel unseres therapeutischen Versagens und unseres Bedürfnisses, den Schmerz der Patienten weiter zu unterdrücken.

Viele Psychotherapien operieren im Bereich des sogenannten Rationalen. Sie befassen sich mit "Fähigkeiten" wie Zielsetzung und Entscheidungsfindung; sie zielen darauf ab, die "Willenskraft" zu verstärken. Man bringt den Leuten bei, sich aus ihren Problemen herauszudenken. Einige Therapien involvieren, dass man vorsätzlich seine Denkmuster ändert. Sie basieren auf der Idee, dass man durch ständige Verstärkung und wiederholtes Üben eine neue Art erlernen kann, wie man bestimmte besorgniserregende Situationen interpretiert und auf sie reagiert; dadurch soll man in der Lage sein, im Leben besser zu funktionieren. Das könnte helfen, bestimmte praktische Probleme zu lösen; Sie können bestimmt lernen, wie man tief atmet und sich besänftigende Gedanken macht, um die Ungeduld zu mildern, während man in der Kassenschlange steht. Aber das sollte nicht mit Heilung verwechselt werden.

Solange eine Therapie jemandem nicht hilft, in die Tiefen der Hoffnungslosigkeit einzutauchen, als Kind geliebt zu werden, wird sie endlos und erfolglos sein, auch wenn es so aussieht, als würde sie helfen und der Patient schwört, dass er sich besser fühlt! Der Patient funktioniert besser, aber das ist nicht gleichbedeutend mit Gesundheit.

Nehmen wir zum Beispiel an, Sie bringen eine unter Anorexie leidende Frau dazu, allmählich ein wenig was zu essen. Man denkt dann, sie befinde sich auf dem Weg zur Gesundheit. Wenngleich es bestimmt wichtig ist, so bin ich mir nicht sicher, auf welchem Weg sie wirklich ist. Wir wissen von unserer Arbeit, dass es für die (Ein)prägungen tieferer Ebenen letztendlich keine Herausforderung darstellt, wenn man mit sich selbst redet, beschließt, sich zu ändern und sich sogar selbst zwingt, sich anders zu verhalten. Diese Ebenen kann man messen. Sie können den ganzen Tag lang Nahrung verstehen und trotzdem verhungern; Verstehen und Bedürfnis gehören in getrennte Welten. Sie können ihre unbewusten Emotionen nicht wirklich verstehen, bis Sie sie fühlen. Tatsächlich konstituiert der Versuch, ein Kindheitsbedürfnis zu verstehen, bevor es gefühlt wird, in der Regel eine intellektuelle Abwehr.

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Dieses Prinzip wird in weiten Kreisen falsch verstanden. Im November 1994 brachte die Los Angeles Times eine Titelstory über neue Ansätze bei Verbrechen und Kriminellen. Der sexuelle Missbrauch eines Kindes kann in Nordkalifornien zu einem nichtkriminellen Vergehen umgewandelt werden. Wenn der Täter an einer Belehrung für Kinderbelästiger teilnimmt, wird das Vergehen nicht in seinen Akten geführt. Jedoch hält wahrscheinlich kein noch so großes Verständnis für die Auswirkungen von Kindesmissbrauch jemanden auf, der aufgrund des Missbrauchs, den er oder sie als Kind erlitten hat, voller Impulse steckt. Es ist egal, wieviel Unterricht so jemand nimmt - er bleibt eine Gefahr. Wenn Wissen und Verständnis so hilfreich wären, warum misshandeln dann Eltern weiterhin Generation um Generation ihre Kinder?

Aus diesem Grund haben Crash-Diäten, Drogen-Rehabilitationsprogramme und Zwölf-Schritt-Methoden nur kurzlebige Wirkung. Die Person kann das Trinken lassen, aber gewöhnlich nur für eine bestimmte Zeit. Die neuen Ideen und das erlernte Verständnis und die gefassten Entschlüsse überlagern lediglich die noch immer vorhandenen Feelings und Bedürfnisse. Die eingeprägte Kraft dieser Feelings kann sich über nahezu jede erdenkliche Willenskraft hinwegsetzen. Keine Vorstellung eines Erwachsenen ist je so stark wie die Entfremdung, die ein Baby gleich nach der Geburt erleidet, wenn eine kranke Mutter zwei Monate von ihrem Kind entfernt wird. Die Annäherung an dieses Feeling der Isolation in der Therapie resultiert gewöhnlich in extrem hohen Messwerten der Vitalfunktionen. Das spätere Trinken und der Drogengebrauch der Person können Versuche sein, die sehr frühe Entfremdung und den frühen Verlust in den Griff zu kriegen. Der Alkohol ist nur die Methode, die jemand benutzt. Es könnte genau so leicht zwanghaftes Essen oder zwanghaftes Hungern sein. Es gibt lediglich eine Neurose, eine Unzahl von Manifestationen und nur einen Weg zur Heilung.

Auch wenn konventionelle Therapien die Existenz tieferer Bewusstseinsebenen und eingeprägter Traumen erkennen würden, so haben sie nicht die Technik, um den Patienten in sie einzutauchen, ganz zu schweigen davon, dass ihnen die Vernunftbegründung fehlt, warum sie es tun sollten. Ein Jahrhundert lang hat Freudsche Therapie diktiert, dass es unvorhersagbare Folgen hätte, wenn man die Geheimnisse des tiefen Unbewussten aufschlüsseln würde - ein Pandora-Krug voller Schattenmächte und Dämonen, an dem man sich nicht zu schaffen machen darf. In den meisten Psychotherapien ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung am Werk. Die Furcht, sich in das Unbewusste einzumischen, lässt dem Therapeuten

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keine andere Wahl, als eben die Kräfte zurückzuweisen, die den Patienten heilen können. Stattdessen müssen diese Kräfte zurückgeschlagen und mit den Waffen der Worte und Einsichten in Schach gehalten werden. Diese Auffassung überträgt die Dämonologie von der Religion auf die Psychologie; beide fürchten die "Psyche" als etwas Unbekanntes und möglicherweise Gefährliches und Teuflisches.

In den vergangenen Jahren haben Psychologen einen vermeintlichen Ausweg aus dem Problem gefunden, indem sie vergaßen, dass so etwas wie eine Psyche überhaupt existiert. In der Psychologie-Schule, die als Behaviorismus bekannt ist, wird zum Beispiel die Psyche gar nicht erwähnt; stattdessen gibt es ein einfaches Einprägen und Ausprägen von Verhaltensweisen, wodurch Menschen wie Pavlovs Hund behandelt werden. Der behavioristische Standardansatz, um eine Phobie zu heilen, ist zum Beispiel Desensibilisierung. Jemand, der Angst vor Aufzügen hat, wird ermutigt, sich dem Aufzug zu nähern oder an ihn zu denken, während er sich gleichzeitig angenehme Gedanken macht und sich unbedrohliche Bilder vor Augen führt. Vielleicht weist man ihn an, daran zu denken, wie sicher der Lift ist, oder sich vorzustellen, er schwebe auf einer Wolke. Der Therapeut drängt den Patienten, dem Betreten eines Aufzugs immer näher zu kommen und versucht ihm dadurch zu helfen, seine Ängste Stück um Stück zu überwinden. Der Therapeut kann nur den Aufzug und die Angst sehen. Die wirkliche Ursache des Problems sieht er nicht. So drängt er den Patienten, den Aufzug zu betreten, wenn der nichts so sehr will, als vor ihm davonzulaufen. Indem er ihn zwingt, sich auf diese Art von "Therapie" einzulassen, konfrontiert der Therapeut den Patienten wirklich mit seiner Vergangenheit. Der Körper des Patienten geht in den Überlebensmodus und sagt ihm, von etwas weg zu bleiben, das tiefen Schmerz und Schrecken hervorrufen kann. Aber der Patient weiß das nicht. Alles, was er weiß, ist, dass er schreckliche Angst hat. Sowohl der Therapeut als auch der Patient ist überzeugt, dass die Angst des Patienten ganz oder zum größten Teil mit der Gegenwart verknüpft ist. Sie ist es nicht. Die Stärke der bei der Phobie auftretenden viszeralen Reaktionen ist Beweis genug, um zu zeigen, dass er vielleicht nicht davor Angst hat, sich in einem Aufzug aufzuhalten, sondern davor, an Anoxie zu sterben, und oft beinhaltet die Phobie und Angst alle Arten von Atemproblemen.

Weil diese Phobie nichts mit Worten oder "negativen" Gedanken zu tun hat, kann sie nicht durch Worte oder neue Denkmuster geheilt werden, gleich, wie beruhigend sie sein mögen. Auch wenn der Therapeut dem Patienten sagt, woher die Angst kommt,

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würde das nichts bringen. Wenn man einem Phobiker im Aufzug die Hand hält und ihm zeigt, dass da nichts ist, wovor er Angst haben müsste, so ist das nicht viel mehr als eine "Halteaktion". Der Schrecken aus den Primärquellen ist immer noch da. Wenn man die Vorstellungen ändert, die jemand von seinen Ängsten hat, ist das nicht heilsam, sondern täuschend - selbsttäuschend. Zu sagen "Ich fürchte mich nicht", wenn weiter unten der Schrecken zirkuliert, bedeutet, sich selbst zu belügen. Es ist besser, den Schrecken zu fühlen.

Anoxie in Verbindung damit, dass man eingeschlossen oder gefangen ist, wie nach der Geburt in einem Inkubator, steckt hinter vielen Aufzugsphobien und anderen Formen von Klaustrophobie. Wenn die Desensibilisierungsmethode nicht funktioniert, wird die phobische Person vielleicht an einen Arzt überwiesen, der Tranquilizer anbietet. Der Doktor denkt vielleicht, dass er durch den Gebrauch von Anti-Angst-Medikamenten hilft, die Angst zu unterdrücken, aber damit unterdrückt er implizit auch die Schmerzerinnerung. Der Patient hat jetzt sogar noch weniger Zugang zu seiner Vergangenheit als vorher. Der Arzt, der ihm Pillen gibt, behandelt das Symptom, während er die Heilung außer Reichweite verlegt. Wie der Desensibilisierungstherapeut beobachtet er die Gegenwart, sieht aber in Wirklichkeit eine Reaktion, die Jahrzehnte zuvor angemessen war. Er kann das kleine verschreckte Kind in dem Erwachsenen, der zu ihm gekommen ist, nicht sehen. Also verabreicht er Pillen für ein gegenwärtiges Symptom, und die Pillen unterdrücken auch die Geschichte des Patienten und schaffen das Fundament für die Sucht. Je lebensbedrohlicher das ursprüngliche Trauma ist, umso lebensbedrohlicher ist wahrscheinlich die spätere Krankheit, weil der Druck auf die Zellen größer ist.

Ein wachsender Anteil der Gesellschaft ist in dem Bemühen, sich Erleichterung von ihrem Leiden zu verschaffen, einen von zwei Wegen gegangen. Der erste besteht aus Drogen - nette Drogen, legale Drogen, Drogen auf Rezept, aber nichtsdestotrotz Drogen. Die andere Route liegt in Glaubenssystemen: Astrologie, Reinkarnation, Gurus, Meditation, ‚Channeling', Kults und so fort. Es scheint, dass alle Straßen nach Rom führen. Wenn Sie die Gläubigen und die Mystiker und die Benutzer legaler und illegaler Drogen (einschließlich derer, die tonnenweise Aspirin und Tylenol konsumieren) ausschließen würden, blieben wenig Leute übrig. Also suchen wir endlos unsere Therapeuten auf, nehmen endlos unsere Antidepressiva und beten endlos zu unseren verschiedenen Göttern.

Der Grund, warum die meisten Therapien kein Ende zu finden scheinen, liegt darin, dass sie unbewusste Hoffnung einbeziehen. Der Therapeuten-Priester ist freundlich,

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aufmerksam und voller Einsicht. Er sorgt sich, ermahnt, moralisiert und bietet Rat. Er führt den Patienten zu klugen Erkenntnissen und Einsichten und leitet ihn an, auf der Suche nach deren Bedeutung über komplizierte Träume nachzudenken. Der Patient kooperiert, folgt den Anweisungen, versucht, Gefallen zu erregen. Das ist alles Teil des Kampfes, sich erwünscht und anerkannt zu fühlen. Im Wesentlichen treffen der Therapeut und der Patient eine gegenseitige unbewusste Vereinbarung, Schmerz zu vermeiden. Der Patient braucht Hoffnung, während der Therapeut sie implizit anbietet. Die gesamte Aufmachung des therapeutischen Sprechzimmers - gedämpfte Beleuchtung, Plüschmöbel, beruhigende Gemälde, ein sanfter und akzeptierender Umgangston - ist auf Hoffnung ausgerichtet. Diese Therapieform macht abhängig, weil Schmerztöter, ob chemisch oder psychologisch, dazu tendieren, süchtig zu machen. Es ist verlockend, sich in einen Stuhl zu setzen und jemanden bei sich zu haben, der Ihnen Stunde um Stunde zuhört und nur an Sie denkt, also das tut, was Ihre Eltern hätten tun sollen. Der Patient agiert seine Gefühle aus anstatt sie zu fühlen. Das ist "Übertragung": in der Gegenwart einem anderen gegenüber ein Verhalten zu zeigen, das auf Gefühlen basiert, die aus der Vergangenheit übriggeblieben sind. Diese Bedürfnisse und Gefühle bedürfen keiner Analyse. Man muss sie erfahren. Aber wer würde nicht nach Hoffnung als Alternative zum Leiden suchen?

Hoffnung liegt in den Pillen, die Menschen nehmen, in der Meditation, die sie praktizieren, in der Hypnose, der sie sich unterziehen, in den Unterstützungsgruppen, an denen sie teilnehmen, sogar in der Elektroschock-Therapie, in die sie einwilligen. Aber Heilung beinhaltet einen Entweder-Oder-Imperativ. Entweder Sie fühlen Ihre Hoffnungslosigkeit, dass Sie als Kind nie geliebt worden sind, oder Sie sind dazu verdammt, endlos darum zu kämpfen, sogar in der Psychotherapie.

Depression und Elektroschock-Therapie

Elektroschock-Therapie, oder elektrokonvulsive Therapie (ECT), feiert in der Prozac-Generation ein Comeback. Ein Leitartikel der New York Times von Gene Stone mit dem Titel "Wenn Prozac versagt, funktioniert die Elektroschock-Therapie" beginnt mit dem folgenden Statement: "ECT ist langsam und sehr ruhig, gewinnt wieder an Ansehen…….. Ein Havard Medical School Mental Health Letter zitierte Beweismaterial, dass ECT eine wichtige Methode zur Behandlung bestimmter schwerer Formen von Depression sei." In diesem Artikel

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wird geschätzt, dass gegenwärtig zwischen 50.000 und 100.000 Amerikaner eine ECT erhalten. Mittlerweile pflichtet der John Hopkins Medical Letter vom April 1994 dem bei, indem er feststellt, dass Elektroschock-Therapie eine "effektive Alternative für die Behandlung von Depression sei. Verfeinerungen haben (ECT) sicher, human und effektiv gemacht."

Außerdem zitiert der New York Times Magazine - Artikel Quellen, die glauben, dass Anfälle , die durch Elektroschock herbeigeführt werden, irgendwie sowohl bei Psychose als auch bei Depression zu helfen scheinen. Und eine Projektgruppe der American Psychiatric Association, die sich mit dem Thema befasste, verkündete kürzlich, dass "ECT oft die sicherste, schnellste und effektivste Behandlung für schwere Depression ist." Und was ist ein Anfall? Ein umgekehrtes Primal. Dieselbe ziellose massive Entladung elektrischer Energie ist involviert. Die eine ist verknüpft, die andere ist es nicht. Elektroschock-Therapie ist sowohl unnötig als auch unsicher. Sie ist unmenschlich, ineffektiv und kann Gehirnschäden verursachen. Die Wirkungen der Elektroschock-Therapie sind monströs.

Die oben erwähnten Quellen mögen solide sein, aber sie befürworten ECT, weil die Patienten schnell zu "funktionierenden" Mitgliedern der Gesellschaft werden. Sie können die emotionale Erstarrung der Patienten oder das Verflachen ihrer Affekte nicht sehen, noch können sie den fehlenden Zugang zu Gefühlen erkennen, weil Gefühle nicht mehr zu zählen scheinen. Im ganzen Artikel wird mit keinem Wort darauf eingegangen, "warum" die Depression existiert - ein entscheidendes Versäumnis, das widerspiegelt, was in der heutigen Psychotherapie vor sich geht. Depression wird als eine Art mysteriöser "Gegebenheit" hingenommen, und darauf stützt sich die Behandlung.

Was mich beunruhigt, ist die Tatsache, dass Psychotherapie jetzt eine Sache von Prozac und seiner Alternative, dem Elektroschock, ist. Psychotherapeuten sind darauf erpicht, die Gesprächstherapie zu übergehen, und versuchen, den Schmerz mit Drogen zu unterdrücken. Wenn diese Art der Verdrängung nicht funktioniert, probieren sie es mit einer stärkeren Unterdrückungsmethode. Verdrängung ist zum Inbegriff der Psychotherapie geworden. Wenn man nicht ins Unbewusste vordringt, gibt es keinen anderen Weg. Entweder lässt man Feelings hochkommen oder man drängt sie zurück.

Anfälle, die durch einen Elektroschock erzeugt werden, helfen tatsächlich, insbesonders weil es zu einer massiven Entladung latenter Primärenergie kommt, die entweichen muss. Elektroschock unterstützt diese Freisetzung, aber sie dauert

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gewöhnlich nicht länger als sechs Monate oder ein Jahr. Unterdessen ist der Schmerz noch immer da. An der Ein-Jahres-Marke erleiden fünfzig Prozent der Elektroschock-Patienten einen Rückfall mit erneuten depressiven und psychotischen Episoden.

Wir haben das Festhalten an der Schocktherapie dem Freudschen Vermächtnis zu verdanken. Die Freudianer kamen zu dem Schluss, dass es die Psyche zersetzen würde, wenn man tief ins Unbewusste eintaucht. Deshalb eliminierten sie die wichtigste Methode, um Patienten von tiefer Erstarrung zu befreien: erfahren, was sie verursacht hat.
Vor kurzem behandelten wir eine Frau, die nach zehn Monaten Therapie anfing, in jedem ihrer Primals auf sonderbare Weise zu krampfen. Wir dachten, es sei vielleicht eine Art Geburts-Wiedererlebnis, das wir noch nie zuvor gesehen hätten. Es stellte sich heraus, dass sie einen elektrischen Schock wiedererlebte. Wir fanden heraus, dass ihre Mutter im sechsten Monat der Schwangerschaft einen schrecklichen Schlag aus einer Steckdose erhalten hatte. Der Schock geschah in Europa, wo die Ausgangspannung 220 Volt beträgt. Das ist stark genug, um jemanden umzuwerfen und kann tödlich sein. In diesem Fall erhielt nicht nur die Mutter den Schlag, sondern auch das Baby, und dieser mächtige Input musste über viele Monate viele Male wiedererlebt werden. Man musste sich nur die schrecklichen Konvulsionen während der Primals ansehen, um zu erkennen, was in dieser speziellen Patientin ablief. Diese Überlastung hatte zu einem Verschließen geführt, zu demselben Verschließen, das durch Elektroschock-Therapie verursacht wird, die erwachsenen Depressiven verabreicht wird, demselben Verschließen, das durch massive Vernachlässigung in den frühesten Lebensjahren ausgelöst wird.

Ungeachtet der Quelle der Information, sei es sogenannter emotionaler Schmerz oder ein massiver physischer Angriff, ist alles, was das Gehirn weiß, dass ein überwältigendes Maß an Input vorliegt, mit dem es sich befassen muss. Die Tatsache, dass unsere Patientin den elektrischen Schlag wiedererlebte, bestätigte uns, wie sehr es auch für diejenigen, die sich einer Elektroschock-Therapie unterzogen haben, notwendig ist, ihren Schock wiederzuerleben. Die Tatsache, dass der Elektroschock jemandem verpasst wird, der bereits unbewusst ist, ändert nichts. Die Physiologie nimmt das Ereignis immer noch wahr.

Eine sechzigjährige Frau kam aus einer kleinen Stadt in England zu uns. Sie war schwer depressiv. "Wie fühlt sich die Depression

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an?", wurde sie gefragt. "Erstarrt….kann dem Leben nichts abgewinnen….bin verzweifelt," antwortete sie. Sie sagte uns, dass sie schon vor zwanzig Jahren einmal depressiv war. Sie hatte keine Ahnung, was die Depression zurückgebracht hatte.

Bald nachdem sie ihr Drei-Wochen-Intensiv in der Therapie begonnen hatte, wurde die Gegend um Los Angeles am 17. Januar 1994 von einem größeren Erdbeben erschüttert. Meine Patientin wurde in einem Bett, das sich quer durchs Zimmer bewegte, hin- und hergeschüttelt. Dieses Ereignis erweckte etwas zum Leben, das ihre Symptome und den Charakter ihrer Therapie veränderte. Sie berichtete von folgenden unbarmherzigen Symptomen: ein ständiges Zischen in ihren Ohren, Tag und Nacht; Taubheit im Gesicht; ein Fühlen von Elektrizität im ganzen Körper (sie zitterte und zuckte); und ein schreckliches Empfinden von Unwohlsein.

In den Sitzungen wurde ihr Gesicht taub. Sie verlor die motorische Kontrolle über ihre Beine. Wenn sie während der Sitzungen aufzustehen versuchte, brach sie zusammen. Dann begann sie, unkontrolliert zu zappeln. Ihre Agonie blieb ohne Worte. Sie hatte keine Ahnung, was sie durchmachte, hatte keine Ahnung, warum ihr Körper zitterte oder warum ihr Gesicht taub wurde, sie hatte keine Einsichten und schien völlig verdutzt. Sie war das Ebenbild eines auseinandergefallenen Menschen. Es stellte sich heraus, dass sie die Elektroschock-Behandlung wiedererlebte, der sie sich vor etwa zwanzig Jahren zwanzig Mal unterzogen hatte. Ihr Arzt hatte sie für ihre frühere depressive Attacke verschrieben.

Als wir gegen ihre Schläfen drückten (wo die Elektroden ursprünglich platziert waren), krümmte sie den Rücken und zappelte und zuckte genauso, als wäre sie wieder unter dem Elektroschock. Als ich meine Finger mehrmals auf ihre Schläfen setzte, wurde immer die rechte Seite ihres Gesichts taub, was zweifelsohne ursprünglich geschehen war. Außerdem berichtete sie, wenn ich kräftig gegen ihre rechte Wange klopfte, dass sie auf ihrer rechten Wange nur Druck fühlte aber keinen Schmerz,und das ist ein weiterer Hinweis auf Taubheit in der ursprünglichen Erfahrung. Als man ihr zum richtigen Zeitpunkt einen Bleistift in den Mund legte, biss sie so heftig zu, wie man es sich nur vorstellen kann, ihr Gesicht verzerrte sich unter Höllenqualen, und sie war wieder in dem Elektroschock-Erlebnis von damals. Sie erlebte den Zeitpunkt wieder, als man ihr ein Gummigerät in den Mund legte, um sie davor zu bewahren,

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sich während des Elektroschocks in die Zunge zu beißen oder sich ihre Zähne zu brechen.

Der Elektroschock ist wie jeder andere Schock. Er ist ein Trauma, das in seiner Ganzheit wiedererlebt werden muss. Was reingeht, muss wieder raus. Es ist eine Extrapolation der homöopathischen Auffassung, dass Sie, wenn Sie allergisch sind und ich Ihnen von Zeit zu Zeit ein wenig von dem Antigen injiziere, schließlich eine Abwehr dagegen aufbauen werden.

Was macht der Schock? Er macht, was jeder Schock oder jede Überlastung macht: Er erhöht den Serotoninspiegel, die inhibitorische Gehirnsubstanz, die die Verdrängung verstärkt. Er ändert auch eine Reihe anderer Transmitter. Deshalb macht er, was jeder Zustand verstärkter Verdrängung macht; er macht die Person ahistorisch, beraubt sie für einen Tag, eine Woche und manchmal länger ihrer emotionalen Erinnerung - ein Sich-Verschließen, sauber und einfach. Im Fall unserer weiblichen Patientin machte die gesamte Elektroschock-Erfahrung sie noch Jahrzehnte später unbewusst, indem sie die Erinnerung blockierte und tiefen Zugang verhinderte. Ich vermute, das war der Zweck der ursprünglichen Schocktherapie - tiefen inneren Zugang verhindern, um die Erinnerung auf der Stelle zu stoppen.

Ärzte greifen oft auf Elektroschock-Therapie zurück, wenn gewöhnliche Beruhigungspillen nicht mehr ausreichen, weil der zugrunde liegende Schmerz so groß ist, dass einfache Medikation ihn nicht unterdrücken kann. Die großen Kanonen des Elektroschocks werden hinzugezogen, um der Erinnerung das Lebenslicht auszublasen. In einer Gesellschaft, in der Ergebnisse das oberste Gebot sind, bietet der Elektroschock einen "Schnellschuss". Man kann sofortige Resultate sehen, die gewöhnlich für einige Monate von Dauer sind. Die Patienten bescheinigen seinen Nutzen und alle scheinen glücklich. Unterdessen brodelt unter der Oberfläche eben dieser Schock und richtet heimlich Schaden an. Die Person kehrt wieder zur Arbeit zurück, aber ein Teil von ihr ist im Schockraum der Klinik zurückgelassen worden. Elektroschock-Therapie hat ihr geholfen, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein, ein Roboter im Dienste der Resultate. Sie ist ihrer Lebenskraft und ihrer Gefühle beraubt, ausgehöhlt und entmenschlicht und hochproduktiv, während ihre realen Feelings in der Tiefe des Unbewussten zerrieben werden. Sie ist jetzt "superneurotisch". Man verabreichte ihr den Schock, weil ihre Neurose nicht funktionierte und sie ihren Feelings nahe war. Hinterher war sie weit von ihren Gefühlen entfernt, und ihre Neurose funktionierte wieder,

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ELLEN: ICH HABE DIE ELEKTRO-KONVULSIVE THERAPIE WIEDERERLEBT

Es ist gut zu wissen, dass es einen realen Grund dafür gab, dass ich mich unwohl fühlte. Ich hatte die Umarmungen sehr genossen, bevor ich die ECT hatte. Nach der ECT hatte ich noch immer das Bedürfnis nach Trost, konnte aber nicht einmal anfangen mich in Bewegung zu setzen, um zu versuchen, eine Umarmung zu bekommen. Geräusche und die Wirkung, die, wie ich fühle, meine Geräusche (meine Gegenwart) auf andere haben, sind weniger störend. Das Problem stammte aus sehr frühen Erinnerungen, und verstärkte sich mit den Jahren durch meinen Vater, der ein extrem scharfes Gehör und eine sehr niedrige Lärm-Toleranz hatte. Als ich die ECT wiedererlebte, schien mein ganzer Körper noch empfindlicher gegen Geräusche und Klangvibrationen. Mein Kopf fühlte sich wie ein Blechkübel an, in dem alles widerhallte. Ich hatte das Gefühl zu schreien, auch wenn ich nur leise redete, und meine Augen verloren ihre Fähigkeit, sich scharf zu stellen. Jetzt bin ich viel entspannter, und meine Schreckreaktion ist von mindestens zweihundert Prozent auf vielleicht fünf Prozent gefallen. Ich kann jetzt den Leuten länger als nur für den Bruchteil einer Sekunde direkt in die Augen schauen, weil ich spüre, dass sie hier drinnen jemanden sehen können (mich!) und nicht nur den leeren Behälter, als der ich mich fühlte.

Am Anfang der Therapie schien meine Erinnerung an Orte in England wie ausgelöscht. Ich fühlte mich dumm, weil ich nicht in der Lage war, mich an mein eigenes Land zu erinnern. Jetzt kann ich mich erinnern, und wenn ich nach der Gruppe mit den Leuten zum Kaffeetrinken gehe, kann ich hören und werde gehört, auch wenn die Jukebox spielt! Und der "Zirkus", den ich gewöhnlich verspürte, wenn sie untereinander ausmachten, wer mich zum Hotel zurückfahren würde, existiert nicht mehr; es sind einfach nette Leute, die mich sicher nach Hause bringen wollen und diskutieren, wie es gemacht werden sollte. Ich war innerlich immer so aufgewühlt, wenn ich Hilfe brauchte, weil es bedeutete, ein Ärgernis zu sein, wenn ich anderen meine Gegenwart spüren und meine Bedürfnisse offenkundig werden ließ.

Ich war vor der ECT immer so scheu, dass es weh tat, und hinterher ging es mir sogar aufgrund des Gedächtnisverlusts noch schlechter. Mein Gedächtnis bessert sich, aber ich habe noch immer einen großen blinden Fleck um mein fünfzehntes Lebensjahr herum. Was habe ich sonst noch verloren? Ich fühle mich sehr unsicher, wenn es darum geht, Freundschaften zu schließen - eine Art "Wer- bin- ich?"- Gefühl macht mich vorsichtig. Dennoch scheinen meine Geburtserinnerungen und Feelings sehr real und geben so vielem einen Sinn, das in meinem Leben keinen Sinn ergab. Ich spüre, dass ich jetzt die vielen Widersprüche in meiner Erziehung und die allgegenwärtige Traurigkeit, die über all den "glücklichen" Ereignissen schwebte, sehen und verstehen kann.

In vielen Sitzungen, die sich über einen Zeitraum von Wochen erstreckten, erlebte unsere sechzigjährige englische Patientin Teile ihrer Elektroschock-Behandlung wieder.

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Ihr Ladungswert verhüllte alles andere. Das langsame Wiedererleben des Schocks war erforderlich, bevor sie zu den erschreckenden Feelings gelangen konnte, die hinter ihrer Depression steckten. Solange das Ereignis den Kindheitsschmerz überlagerte, hatte es in der Wiedererlebens-Sequenz den Vorrang. Interessanterweise fing sie an, ihren Kopf zu schützen und die Bomben über London während des Luftkrieges im Zweiten Weltkrieg zu hören, als sie mehr und mehr von der Schocktherapie wiedererlebte. Danach begann sie, Traumen aus noch früheren Zeiten wiederzuerleben. Schließlich kam sie ganz tief unten an, bei den Einprägungen, die die Depression ursprünglich verursacht hatten, genau die Ereignisse und Feelings, die die Ärzte zu dem Entschluss gebracht hatten, sie brauche eine ECT: eine frühe lieblose Zeit ohne fürsorgliche Lebewesen.

Die Ärzte, die den Elektroschock verabreichten, redeten mit der Frau nicht über die möglichen Ursachen ihrer Depression, die den Patienten meistens unbekannt sind. Da sie beobachteten, dass sie die ganze Zeit weinte, schlossen sie, dass es keine andere Wahl gab, als sie zu schocken.

Die Elektroschock-Behandlung sprengte den Zusammenhalt der dritten Linie gerade soweit, dass die gesamte Bedeutung, die ihrer Depression zugrundelag, nicht ersichtlich wurde. Es war die Bedeutung, die katastrophal war! Und die Schocks verschleierten weiterhin diese Bedeutung. Das bedeutete Fragmentierung oder, dass sie nicht mit dem Inneren ihres Körpers verknüpft war - kurz gesagt, Neurose. Ihre Neurose zersplitterte ihre Denkmuster, verkürzte ihre Aufmerksamkeitsspanne und ruinierte die Konzentrationsfähigkeit. Diese Fragmentierung hielt sie davon ab, einen zusammenhängenden Sinn zu finden und zu der Katastrophe zu gelangen, die ihrer Depression zugrunde lag. Auf Grund unserer Erfahrung erwarteten wir bei dieser Frau keine ‚verknüpfte' Klarheit, bis ein Großteil der Elektroschock-Behandlung wiedererlebt war.

Das Problem mit Pseudo-Primärtherapie und "Rebirthing"

Einige Leute haben sich darauf verlegt, ins Unbewusste einzutauchen, ohne zu wissen, wie man es korrekt anstellt. Das passiert oft beim "Rebirthing" oder in der "Pseudo-Primärtherapie" (Sie verwenden den Namen unserer Therapie, gebrauchen aber die Techniken falsch). Praktizierende schaffen es, gegen die Verdrängung anzugehen, aber ohne die

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Kontrollen, die wir benutzen, Kontrollen, die sicher stellen, dass das System in der Lage ist, Schmerz nach und nach zu integrieren. Stattdessen werden die Patienten mit dem Angriff von Schmerz konfrontiert, der außerhalb der richtigen Sequenz freigesetzt wird. Das System wird dann zu verzweifelten Taktiken gezwungen, um dem Bewusstsein zu entgehen. Wenn das geschieht, muss der Kortex auf alle Arten überspannter bizarrer Vorstellungen, mystischer Ideen und paranoider Gedankenbildung zurückgreifen, um mit dem Schmerz fertig zu werden.

So finden Sie beim Rebirthing, wo Schmerzen der ersten Linie abrupt an die Oberfläche gebracht werden, Überflutung vor und dann wilde Gedankenflüge mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Oft werden Sie einem Rebirther begegnen, der davon erzählt, dass er an fernen Orten und in verflossenen Jahrhunderten ein vergangenes Leben lebte. Im mystischen Zeitgeist der Rebirther ist das alte Ägypten ein beliebter Kurort. Viele Leute entdecken wie durch einen Zauber, dass sie dort einstmals gelebt haben. Wirklich geschehen ist, dass die Person einen Sprung in die Irrealität gemacht hat, um sich vor der Realität zu schützen.

"Ägypten" wird zum Symbol, weil die reale Vergangenheit nicht gefühlt werden kann. Es kann nicht überraschen, wenn viele Leute entdecken, dass sie in ihrem vergangenen Leben Pharaos oder Prinzessinnen oder weise Priester waren. Leute, die sich machtlos fühlen, beschwören frühere Inkarnationen herbei, in denen sie mächtig waren; Leute, denen man nicht zuhörte oder die nicht respektiert wurden, als sie klein waren, greifen auf eine Zeit zurück, in der sie weise und wichtig waren und jeder hören wollte, was sie zu sagen hatten. Es geschieht unbewusst; die auftauchenden Symbole reflektieren die spezifischen unbefriedigten Bedürfnisse.

Da man dem Prinzip der Schmerzkette zuwidergehandelt hat, hat der Mensch, der vorzeitig ‚geöffnet' wurde, jetzt eine gutartige Psychose. Er funktioniert noch, aber mit einer Mischung aus Kohärenz und Inkohärenz. Er ist weiterhin fähig zu arbeiten, Probleme zu lösen, aber in weniger strukturierten Augenblicken übernehmen die mystischen Glaubensvorstellungen und die Wahnideen die Regie. Was geschah, ist, dass die schmerzvolle Information, die im alten Gehirn ‚residiert', abrupt zu Bewusstsein gebracht worden ist. Diese Information kann möglicherweise erst integriert werden, wenn die Einprägungen einer höheren Ebene über Monate oder Jahre erlebt worden sind.

In Wahrheit fand das vergangene Leben dieser Rebirther nicht im alten Ägypten statt, sondern kommt aus einem Gehirn, das um Millionen Jahre älter ist, aus einer Zeit, als Salamander eine der höchsten Spezies waren,

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die auf der Erde herumliefen. Der Patient mag nahe an die in diesem Gehirnteil gespeicherten Erinnerungen herangebracht worden sein, aber er hat die essentielle Verknüpfung nicht zustandegebracht, weil diese Erinnerungen einen zu hohen Ladungswert haben.

Der Therapeut glaubt vielleicht -wie viele Rebirther- an kosmische Vorstellungen und suggeriert sie eventuell auch dem Patienten. Der Patient wird im Namen der Therapie krank gemacht. Er wird verrückt und lässt sich seine Verrücktheit vom Arzt bestätigen. Der Kortex des Patienten ist zu Diensten gezwungen worden, um Unbewusstheit aufrecht zu erhalten, und das Ergebnis ist mehr und nicht weniger Unbewusstheit.

Das Wiedererleben der Geburt kann großen Schmerz und einen Kampf auf Leben und Tod bedeuten, und man braucht die Hilfe eines Experten, um etwas von dieser Größenordnung zu verknüpfen und zu integrieren. Dieser Geburtsschmerz kann und sollte nicht erfahren werden, bevor man sich mit vielen geringeren Schmerzen befasst hat. Käme es zu einem Geburtsprimal zur rechten Zeit, müsste niemand an einem bestimmten antiken heiligen Ort verweilen. Niemals in einem Vierteljahrhundert primärtherapeutischer Behandlung habe ich bei den Tausenden meiner Patienten ein vergangenes Leben gesehen. Nicht deshalb, weil ich nicht daran glaube, sondern deshalb, weil ich sorgfältig darauf achte, dass wirklich jeder Patient angemessen integriert wird, sodass es zu keiner Überflutung des Bewusstseins kommt.

Eine andere Praktik, zu der Pseudo-Primärtherapeuten oft ermutigen, ist das Hinausschreien des Schmerzes. Das erinnert uns an den Akt, den wir in der Gestalttherapie vorspiegeln sollen. Schreien an sich allein heilt nichts. In der Tat sollte Schreien nur aus der Verknüpfung heraus zustandekommen, nicht als Übung in und an sich selbst. Es könnte sogar ein wenig helfen, wenn man schreit und heftig gegen die Wand schlägt, wie es auf Anweisung einiger Therapeuten geschieht, aber es wird nie heilen. Tatsächlich vereitelt jede vom einem Therapeuten kommende Anweisung, was man fühlen soll, den therapeutischen Prozess. Einfach gesagt kommt die Entladung in einem realen Wiedererlebnis von innen, von der Ebene, auf der der Schmerz geschah, in der richtigen Reihenfolge und mit der Intensität der Reaktionen, die zurückgehalten wurden

Keine Ebene des Gehirngewebes kann die Arbeit einer anderen machen. Kein Netzwek kortikaler Zellen kann das Rätsel einer Einprägung lösen, die tief im Gehirn liegt. Viele neigen zu dem Glauben, dass ein "Wiedererlebnis" eine gewisse Art erwachsener Schauspielerei sei, bei der Erwachsene kindliches

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Verhalten simulieren. Das ist nicht das, was bei echter Primärtherapie geschieht. Erwachsene können Kindheitsverhalten simulieren, aber das kann keine dauerhafte Heilung zustandebringen.

Man befasst sich mit den Symptomen, nicht mit dem System

Eine achtunddreißigjährige Frau sucht einen Arzt auf, weil sie undeutliche physische Symptome aufweist. Sie behauptet, dass sie nicht unter Stress steht. Der Arzt sieht keinen Stress, also nimmt er die Patientin beim Wort. Er gibt vielleicht Vitamine und regt eine geeignete Diät an oder rät der Patientin zu mehr Bewegung oder zu mehr Ruhe. Diese Rezepte helfen vielleicht. Stress verbrennt tatsächlich Vitamin- und Mineralienvorräte. In der Tat können Diäten und Vitamine soweit helfen, dass vage Symptome verschwinden. Aber die Stresshormon-Spiegel können hoch bleiben, bestimmte Zellen des Immunsystems sind noch immer schwach oder knapp, und die Person braucht immer mehr von diesem oder jenem, um sich gegen die Auswirkungen des Schmerzes abzustützen.

Es ist sehr schwierig, Krankheitsursachen voll zu verstehen, indem man minutiös Symptome untersucht. Und zwar deshalb, weil die Ursachen nicht in den Symptomen liegen; sie liegen darunter. Es ist ersichtlich, warum der Arzt, der nach objektiven Indikatoren sucht, eine bestimmte Krankheit vielleicht nicht verstehen kann. Wie könnte der Blick durch ein Mikroskop drei Jahrzehnte nach einer traumatischen Geburt oder einem katastrophalen Verlust in der Kindheit jemanden wissen lassen, dass das Trauma, im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren in einem kalten, kahlen Pflegeheim leben zu müssen, dieses Leiden verursachte? Er kann Medikamente verschreiben, die den Blutdruck senken oder das Symptom lindern, das die Patientin gerade zu ihm geführt hat, aber wir können uns sicher sein, dass die Einprägung fortbesteht und andere Krankheiten erzeugt.

Wenn wir versuchen, unsere Biologie zu bezwingen, scheitern wir. So viele Therapien reden davon, dass wir unsere Probleme und Symptome bezwingen, unterwerfen, managen oder überwinden oder sie mit massiven elektrischen Schlägen auslöschen sollen. Wir können versuchen, hohen Blutdruck zu neutralisieren oder Depression mit antidepressiven Medikamenten zu bezwingen, aber der zu zahlende Preis schließt größeren zellularen Stress mit ein. Ebenso wenig können Sie jemanden an eine Hirnwellenmaschine hängen, seine Gehirnwellen mit Biofeedback normalisieren und erwarten, damit seine Depression

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dauerhaft aufzulösen. Die biologische Frage lautet: "Warum sind seine Hirnwellen abnormal?" Wir müssen nach dem zugrundeliegenden Schmerz forschen, um die Antwort zu finden. Somit kann gelenktes Tagträumen, bei dem man sich vorstellt, dass man die Krebszellen weghämmmert, helfen aber nicht heilen. Ich gebe zu bedenken, dass eine Heilbehandlung nur angeboten werden kann, wenn sie mit den verursachenden Quellen verbunden ist. Hypnose kann nicht heilen, und ebenso wenig kann das Akupunktur, Meditation oder Einsichtstherapie. Jede Behandlung, die einfach und ausschließlich die Symptome angreift - per Definition Therapien der äußeren Erscheinung - kann nicht heilsam sein. Das Problem ist, dass sie für den Konsumenten leicht und attraktiv sind.

Die Wunde heilen

Die meisten Therapien und Behandlungen sind lediglich Werkzeuge der Reform. Reform bedeutet, innerhalb der aktuellen Struktur zu arbeiten und sie verbessern zu versuchen. Reform ist besser, als nichts zu tun. Aber es ist keine Revolution; sie stürzt kein System ineinandergreifender Prozesse. Sie will dies oder das verändern und das System intakt halten, was bedeutet, die Neurose intakt zu halten, während die Fassade neu arrangiert wird.

Heilung ist möglich, wenn wir ihre Bedeutung nicht darauf ausrichten, dass wir nach der Therapie der wundervolle Mensch unserer Träume sein werden. Eine umsichtige Definition der Neurose gestattet uns, Heilung als Aufhebung der Verdrängung und Integration des Unbewussten zu erörtern; nicht mehr, nicht weniger.

Neurose ist eine Verletzung, die nach Heilung gemäß denselben Prinzipien verlangt, wie sie für die Heilung jeder physischen Verletzung gelten. Und sie ist in der Tat eine physische Wunde. Neurose ist eine Wunde, die solange nicht von selbst heilen kann, bis wir jene Kräfte mobilisieren, die in den Heilungsprozess involviert sind. Psychische Wunden, die viele körperliche Leiden verursachen können, werden geheilt, indem man die Verletzungen auf der Ebene angeht, auf der sie sich ereigneten, und nur auf dieser Ebene. Das bedeutet, wenn die Verletzung präverbal ist, gibt es keine Worte auf derWelt, die Heilung bewirken können. Sie können sich nicht aus einer Verbrennung herausreden, und Sie können sich nicht aus der Erfahrung totaler Vernachlässigung in den ersten Lebenswochen herausreden. Sie können eine Wunde, die Sie im Alter von einem Jahr in der Wiege erlitten, nicht mit

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Worten heilen. Niemand wird gesund ohne die bewusste Erfahrung der Verletzung selbst, denn es ist das Bewusstsein , das das Signal zur Heilung gibt.

Es ist nicht meine Absicht, die Bedeutung von Beratung, Bildung, Kindererziehung oder Familientherapie herunterzusetzen. Sie helfen und sind wichtig. Genau so wichtig sind Medikamente für hohen Blutdruck oder Herzkrankheiten. Sie können eine Herzattacke oder einen Schlaganfall verhindern helfen. Es ist nichts falsch daran, wenn man Hilfe will, aber wenn Sie Hilfe erhalten, während Sie Heilung erwarten, werden Sie enttäuscht sein.

Der Schluss ist unausweichlich: Psychotherapien, die den Zugang zu solchen Schmerzen nicht als ihr Endziel ansehen, können dem Patienten nicht helfen zu genesen und in realem Sinn gesund zu werden. Wenn man die Einprägung und eingravierte Erinnerung nicht erkennt, ist es leicht, bei der Behandlung von Krankheit in die Irre zu gehen. Und ich meine nicht einfach den Zugang zu irgendeinem beliebigen Schmerz. Ich meine systematischen Zugang zu Schmerz in der umgekehrten Reihenfolge, in der er im Nervensystem abgelegt wurde. Nur dieser Prozess, der der Struktur und den Reaktionen unseres Nervensystems innewohnt, kann zu dauerhaften Lösungen führen. Kurz gesagt ist es der Körper, der bestimmt, wieviel Schmerz hochkommt, in welcher Reihenfolge, und wann er unter Verschluss gehalten werden soll.

Wenn die reale Verletzung, die der Depression zugrunde liegt, im Alter von einem Jahr stattgefunden hat, weil Sie zornig weggestoßen wurden, als Sie Papas Beine festhielten, werden noch so viele verbale Prozesse, Einsichten, Spannungsentladungen oder Konditionierungsmethoden sie unberührt lassen. Sie müssen sich wieder festhalten (diesmal an den Beinen des Therapeuten) und den Schmerz der extremen Zurückweisung fühlen. Erinnern Sie sich an den Patienten, den ich am Anfang erwähnte, der in der Wiege nach seiner Mutter schrie, aber dessen wütender Vater stattdessen kam? Später im Leben sah der Patient überall um sich herum zornige Augen. Mein Patient wollte nicht mit seiner Mutter reden oder ihr vergeben oder sie analysieren; er wollte von ihr in die Arme genommen und getröstet werden. Es war ein physischer Schmerz, ein Schmerz, der in seinen Armen und Schultern verschlüsselt war. Er musste sein Bedürfnis nicht verstehen. Er musste es erleben.

Das zentrale Paradigma der Neurose und seiner Heilung ist, dass nichts hereinkommen kann, nichts aus der Vergangenheit erfüllt werden kann, solange die Verdrängung den Weg blockiert. Keine Einsicht, Ermahnung, kein Bitten, keine Medikation kann tiefgreifende Veränderung bewirken, weil

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die Verdrängung es nicht zulässt. Wichtiger noch ist, dass Elternliebe keinen uneingeschränkten Zugang zum System des Kindes findet, wenn die Verdrängung bereits am Platze ist.

Die Verdrängung aufzuheben, macht die Basis des Unterschieds zwischen Reform und Revolution aus. Je mehr jemand das fühlt, was zum Verschließen des Systems führte, umso offener wird er. Wenn Sie das System verändern, verändern Sie automatisch das Verhalten, das Gehirn und Immunsystem. Das nächste Kapitel erzählt von den Grundlagen, wie dies geschehen kann; dann werden wir uns in Kapitel 14 in die Primal-Zone vorwagen, um zu erforschen, wie die Demontage der Verdrängungsbarriere die Tür zur Heilung öffnet.