Aus
der unterirdischen Höhle frühen Schmerzes entspringt ein Glaubensbedürfnis,
dass etwas oder jemand vorbeikommen und unser Leben wandeln werde –
Linderung und Balsam mitbringen und schließlich ein quälendes
Unbekanntes auflösen werde. Die Quellen, welche die Saat des Glaubens
enthalten, haben mit Glauben nichts zu tun; es sind Bedürfnisse, die
sehr, sehr früh im Leben unbefriedigt blieben. Die tiefe
Hoffnungslosigkeit, jemals geliebt zu werden, veranlasst das Gehirn, die
Chemikalien der Hoffnung abzusondern. Kein tiefer Schmerz - keine übermäßige
Sekretion von Dopamin und Serotonin. Das System versucht immer, ein
Gleichgewicht herzustellen, eine Homöostasie, um Schmerz unter Kontrolle
zu halten. Stille Verzweiflung, zerbrochene Träume und erzwungene
Kompromisse sickern heraus und entfließen in der Suche nach Magie. Der
Kursus in Sachen Wunder eignet sich gut dafür; wir hoffen auf eine
wundersame Lösung für unsere Probleme, von deren Existenz wir nicht
einmal wissen, in der Hoffnung, etwas zu bekommen, das auch nicht
existiert – Mutterliebe, nachdem wir geboren worden waren.
Wir
brauchen eine schmerzlose Befreiung von unseren heimtückischen Wunden,
Wunden, die nicht bluten, dennoch aber schmerzen, – einen Führer,
der an Stelle eines emotional distanzierten Elternteils tritt, für
den/für die wir alles hergeben werden allein für das Versprechen von
Liebe, Schutz und Zuwendung. Der Führer wird das missbrauchen, wie er
oder sie das immer tut, aber das Bedürfnis ist so stark, dass der
Missbrauch wegen der Hoffnung, die der Anhänger hat, geduldet wird. Warum
wird der Führer die Macht missbrauchen? Weil er sie für sich selbst
innehat und nicht wegen irgendeiner Art von Nächstenliebe. Seine eigenen
Bedürfnisse stehen an erster Stelle. Vor vielen Jahren war der modus
operandi in dem als Synanon bekannten Drogenbehandlungszentrum und ebenso
in einem späteren Ableger namens EST (Erhard Seminar Training), dass man
die arme Seele brutal beleidigte. Er oder sie nahm es hin, weil das
Leitmotiv eine Art spätere Anerkennung und „Liebe“ seitens des
verehrten Führers war.
„Ich
zeige Ihnen, wie Sie sich wie ein Erfolgsmensch fühlen werden,“
„Lernen Sie, wie man ohne Anstrengung und Schmerz abnimmt,“ Lassen Sie
mich Ihnen beibringen, wie man Selbstvertrauen und Selbstachtung
wiedergewinnt.“ Wir werden mit Versprechungen bombardiert, dass uns
jemand zeigen wird, wie wir uns nicht so fühlen, wie wir uns wirklich fühlen.
Die Dr. Feelgoods, die auf dem lukrativen Ideen-Marktplatz der Gegenwart
operieren, wissen, wie man Ideologie so zurechtstutzt, dass sie den Bedürfnissen
der Bedürftigen entspricht. Paul Crouch, ein Televangelist, hat ein Vermögen
angehäuft, Privatjets, Villen - das
Leben als Genusssucht. Seine Anhänger kümmert das nicht wirklich, weil
seine Botschaft Liebe, Erleichterung und ein besseres Leben ist.
Glaubensvorstellungen verkaufen sich, und sie verkaufen sich gut. Die
Leute zahlen herzlich gerne für das bloße Versprechen auf Erfüllung,
auch wenn sie im nächsten Leben stattfinden soll. Wie soll man das überbieten
können? Der Führer muss in diesem Leben gar nichts hervorbringen; warte
einfach auf das nächste! Er verkauft warme Luft, einen Hauch flüchtiger
Erfüllung. Und die Anhänger brauchen nicht einmal einen Beweis. Das
Versprechen genügt. Diese Hoffnungs-Dealer kommen in einer beruhigenden, fürsorglichen
Tonart daher, umgeben von einer Aura des Selbstvertrauens und der Autorität;
sie verstehen es, Wärme zu vermitteln, sich selbst einzuladen in unsere
Bedürfnisse. Wir wollen zu jemand Vertrauen haben, der/die uns den Weg
zeigen wird. Höchstwahrscheinlich wollen wir das, wenn uns unsere Eltern
nie gelehrt oder geführt haben und wenn sie niemals Interesse an uns
hatten oder uns nie nach unseren Gefühlen und nach unserem Leben fragten.
Erstaunlicherweise können Eltern achtzehn Jahre lang an der Seite eines
Kindes leben und nichts von ihm wissen. Natürlich kann man dann später von
jemandem verführt werden, der oder die echtes Interesse zu haben scheint.
Einfache Sachen wie „Was hast du in der Schule gemacht?“, „Hast du
deine Lehrer gemocht?“, „Was waren deine besonderen Interessen?“,
„Wie fühlt sich das Leben für dich an?“, „Fühlst du dich oft
einsam?“ Wie sehr doch ein Kind das hören muss und wahrscheinlich nie
gehört hat. Narzisstische Eltern sind an sich selbst interessiert oder
daran, welches Licht ihre Kinder auf sie werfen. Und jetzt also haben wir
da einen Psychiater oder Guru, der sich eignet -
der nachfragt, welche Schulen wir besuchten; ob wir glücklich
waren? Hatten wir Freunde oder waren wir entfremdet und isoliert? Das fühlt
sich so gut an!
Wir
alle sind bis zu einem gewissen Grad darauf programmiert, die Stimme
unserer Gefühle zurückzuweisen und zu verleugnen. Das ist die Funktion
von Glaubenssystemen; das Gefühl zu besänftigen, dass es niemanden gibt,
der oder die für uns sorgt, uns beschützt, uns liebt, dass der „Sinn
des Lebens“ endloser Schmerz ist. Die Glaubensdroge betäubt uns; wir
werden später sehen, wie Sprache als Anästhetikum funktioniert. Wie ich
sagte, ist das der Grund, dass man Drogen und Alkohol aufgeben und einem
Glaubenssystem anheimfallen kann. Beide injizieren Schmerzkiller in das
System; erstere von außen, letzteres von innen.
Genauso
wie sich jemand, dem es an Zucker oder Eisen mangelt, automatisch die
Lebensmittel heraussucht, die er benötigt, bindet sich vielleicht ein
Mensch, der eingeprägten Schmerz mit sich herumträgt, automatisch an
Glaubenssysteme. Anstatt zu versuchen, die Leere zu fühlen, die in den
verborgenen Klüften des Unbewussten lauert, erhebt sich der Gläubige über
Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit und steigt ins „Seelenheil“
empor. Manchmal geht er so weit, dass er einen neuen Namen, eine neue
Identität annimmt. Susanne wird Saraswati, Robert wird Rama, als wolle
man sagen „ich bin nicht einmal mehr ich“ (das gequälte Ich), „ich
bin jemand anders.“ Wovon ist er erlöst worden? Von sich selbst. Eine
Patientin kam zu uns von einem Kult, dem sie wegen chronischer Magersucht
beigetreten war. Sie erlebte in unserer Therapie ein Gefühl wieder:
„Was hat Essen für einen Sinn, wenn mich niemand liebt oder will, dass
ich lebe?“ Der Führer versicherte ihr, dass er das wolle. Alles, was
sie tun musste, war, ihm ihr Auto zu geben und das Geld, das sie auf der
Bank hatte. Das machte sie. Weil er sagte, er wolle, dass sie gesund wird.
Er sagte ihr, dass er sie wolle. Das war unwiderstehlich.
Ein
Glaubenssystem befindet sich oft dort, wo der Schmerz hingeht. Lasst uns
nicht allein das Symptom behandeln – lasst uns die Ursache behandeln.
Ein einfaches Beispiel: Eine
Patientin konnte nicht alleine sein, ohne dass ein schreckliches Gefühl
in ihr aufwallte. Sie wurde nach der Geburt wochenlang allein gelassen und
dann wieder im Alter von sechs Monaten, als ihre Mutter wegen einer
Krebsbehandlung in die Klinik zurückkehren musste. Alleinsein und
schlechte Gefühle prägten sich ein. Jeder Ansatz, der das tiefsitzende
Gefühl in ihrem Gehirn ignorierte, war zum Scheitern verurteilt. Früher
war sie zur Psychoanalyse gegangen und lernte, dass sie in ihrer ganzen
Kindheit mit Babysittern allein gelassen wurde. Das stimmte, war aber nur
die oberste Ebene eines Nervennetzwerks, das sich bis zum Hirnstamm hinab
erstreckte. Glaubenssysteme sind in dieser Hinsicht wie Geschwüre oder
Migränen. Es gibt abgestufte Ursachen, die den verschiedenen
Bewusstseinsebenen entsprechen.
♦♦♦
Wie
ich sagte, ist es nicht der Inhalt eines Glaubenssystems, was zählt,
sondern was uns zu Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen hinzieht und
was diesen Glauben so wichtig und so beständig für uns macht. Ich werde
untersuchen, welche Rolle die Glaubensvorstellungen in unserer Psycho-Ökonomie
spielen, - im Zusammenspiel
der Nervenzellen in unserem Gehirn. Kurz gesagt, warum glauben wir?
Alle
Glaubenssysteme haben etwas gemeinsam. Sie sind Karten, die uns helfen,
effektiver durchs Leben zu navigieren. Und Glaubenssysteme gehen alle auf
ein nahezu universelles, fest verdrahtetes Bedürfnis ein. Es ist nicht
so, dass wir das Bedürfnis haben zu glauben; wir glauben, weil wir Bedürfnisse
haben. (Denken Sie bitte daran, dass ich Glaubenssysteme nur als
Abwehrmechanismen erörtere.) Der Glaube an sich, was auch immer er sein
mag, kommt später, wenn wir den Gedankenapparat für
Glaubensvorstellungen haben. Ein einjähriges Kind hat diese Möglichkeit
nicht. Das Bedürfnis/Gefühl verschwindet nicht; es beginnt sein
unterirdisches Leben.
Meine
Aufgabe besteht darin zu sehen, wie Gefühle sich in defensive Gedanken
wandeln, wenn sie blockiert und umgeleitet werden. Diese Gedanken haben
eine duale Rolle; frühere Erfahrung widerzuspiegeln und gleichzeitig dazu
zu dienen, deren Schmerz zu maskieren. Die Gedanken, die den Gefühlen
entfließen, bleiben symbolische Derivate dieser Gefühle; denn müsste
man die dahinter steckenden realen Gefühle empfinden, steckte man in großem
Schmerz. Ein Patient erlebte das Ersticken während der Geburt wieder. Er
wollte seine Frau verlassen, weil sie ihn „erstickte“ und ihm keinen
Atemraum ließ. Er fühlte sich „erwürgt.“ Das Erleben dieser Gefühle
rettete seine Ehe. Sicherlich ist es nicht immer eins-zu-eins, aber ich
hebe es hervor, weil es Schlüssel anbietet, um das Phänomen der Idée
fixe zu verstehen. Fixe Ideen sind Mägde des Fühlens.
Das
erste, was man über Gedanken wissen muss, ist, dass sie sich genau wie
unser Gehirn entwickeln. Wir fangen unser Leben nicht mit Gedanken an, und
die Menschheit begann ihre Reise von den Reptilien nicht mit der Fähigkeit
zu denken und Begriffe zu bilden. Es hat sich alles entwickelt. Genau das
geschieht im Gehirn. Wir beginnen mit dem tiefsten Gehirnteil, dem
Hirnstamm, der Instinkte und Grundbedürfnisse und die meisten Überlebensfunktionen
(Herzschlag, Körpertemperatur, Blutdruck) beherbergt und der sich zu
einem limbischen Gefühlssystem weiterentwickelt, das uns die Fähigkeit
zu fühlen bietet; und dann erzeugt das Gehirn den Neokortex, vor allem
seinen Vorderteil (präfrontal), der uns ermöglicht, mit Worten und
Gedanken zu denken. Vergessen Sie nicht, dass das Gehirn sich selbst
erschafft! Das ist vielleicht die wahre Bedeutung von Kreationismus; nicht
von Gott erschaffen sondern aus einer Dialektik heraus. Es gibt keine
Gottheit, die es macht, aber es befähigt uns nun, eine Gottheit
anzurufen, um unseren Schmerz zu unterdrücken. Und sieh da! Es
funktioniert.
Das Bedürfnis nach immer mehr Kortex
bedeutete, dass Gehirnzellen auf höhere Ebenen wandern mussten, um neue
Funktionen zu übernehmen. Diese Funktionen schlossen Glaubensvorstellungen
ein, die uns ermöglichten, vor Gefahr zu fliehen; nur war die Gefahr
diesmal innerlich. Wir konnten „in unsere Köpfe“ fliehen und weg von uns
selbst; weg von eingeprägtem Gefühl/Gefahr. In unserer persönlichen
Evolution entwickeln wir Gedanken aus unseren frühen Erfahrungen heraus,
die uns diktieren, wer wir sind und was wir glauben und denken. Gedanken
und Vorstellungen ragen nicht einfach so heraus,
darauf wartend, dass man sie korrigiere und verändere. Schmerz setzt sich
niemals nur als Gedanke fest; er ist eine Erfahrung, und genau diese
Erfahrung muss man wieder aufsuchen und wieder erleben, um den Ursprung
seiner Gedanken zu verstehen.
Wir
müssen zurückgehen, um die Sequenz zu beenden, die mit einem zornigen
Blick des Vaters begann, als das Baby laut in der Wiege schrie – müssen
diese Erfahrung noch einmal fühlen, nur dass wir diesmal das Bedürfnis fühlen,
das das Baby damals nicht auszudrücken wagte – nach Hilfe, Unterstützung
und Zuwendung zu schreien. Das öffnet das System wieder und das ist das
Wunder der Therapie. Ich kann mir keinen anderen Weg vorstellen, um das
System zu öffnen, ausgenommen vielleicht mit Drogen wie Ekstasy.
Drogen öffnen jedoch auf zufällige Weise, können zu früh zu
sehr öffnen und das Aufsteigen gefährlicher Gefühle außerhalb der
Reihenfolge provozieren. Alles Künstliche ist gefährlich. Ich habe viele
LSD-Konsumenten aus den 60ern behandelt. Sie haben ein spezifisches
Hirnwellenmuster, das auch noch Jahrzehnte später Störungen anzeigt. Oft
schlafen sie nicht gut und benutzen Marijuana als Einschlafhilfe. Sie
halten an allen möglichen bizarren Vorstellungen fest. Warum? Weil ihr
Schleusensystem auseinandergerissen wurde, brodeln Gefühle hoch, die nur
geringer zerebraler Kontrolle unterliegen.
Das
Bedürfnis bei Gläubigen und Depressiven (oftmals dasselbe) verschwindet
niemals einfach so; es liegt abgesondert unter einem Deckel aus
Resignation und Verzweiflung. Später wird daraus ein „Bedürfnis
nach;“ der Gedanke, dass jemand anders den Anforderungen entsprechen
kann, was nie zutrifft. Ein anderer kann verdecken aber nicht erfüllen.
Die einzige Erfüllung war zu jener Zeit möglich. Danach wird jede Erfüllung
symbolisch. Welche besseren Symbole als Worte könnte es geben – „Ich
liebe dich, wache über dich, führe und beschütze dich.“ Es sind nur Laute, aber Laute, die eine Bedeutung haben, und
diese Bedeutung ist Linderung, Erleichterung, Besänftigung. Laute, die
jetzt eine physiologische Basis haben.
Das
funktioniert auf so vielen Gebieten, besonders in der Politik. Manchmal
reagieren Leute nur auf Gefühle und votieren für politische Kandidaten,
die sie reflektieren. Aber oft stimmen sie für eine Idee, die ihre
zugrunde liegenden Bedürfnisse und Gefühle reflektiert, wie zum Beispiel: „Dieser
Mann wird Ihnen und unserem Land Sicherheit bringen.“
Wir können ignorieren, was er wirklich tut, weil seine Rhetorik
Ängste beschwichtigt und Befürchtungen salbt. Die Realität ist nie eine
Bedrohung für Erfüllungsversprechen. Aber natürlich muss der Führer zuerst
Angst installieren – der Feind plant geheime Angriffe. "Dann werde ich Sie
durch schwere Bewaffnung beschützen. Ja, ja, ich stimme für immer mehr
Waffen, so dass Sie sich sicher fühlen können.“ Allzu oft votieren
Individuen für ihre Gefühle in Verkleidung eines Gedankens. Je neurotischer
(schwer verdrängend) eine Person ist, je größer die Distanz ist
zwischen ihren Gedanken und Gefühlen – was ich als „Janovschen
Spalt“ bezeichne – umso symbolischer sind ihre Gedanken. Mit
Neurotiker meine ich jemand mit einem hohen Maß an eingeprägtem
blockierten Schmerz, der das Gesamtsystem körperlich und psychisch
verzerrt.
Es
ist nicht nur so, dass jemand absonderliche Ideen hat. Sie sind in ein größeres
System eingebunden. Sie haben ihre Anker in einer Persönlichkeit. Es sind
bestimmte Traumen in das System eingeprägt, die Verdrängung erfordern,
und das Zusammenspiel zwischen
diesen Faktoren ist das Zentrum der Neurose. Das Ergebnis dieser
Interaktion, die sich ergebenden Symptome, ist das, was wir allgemein als
Neurose bezeichnen. Glaubenssysteme sind einfach eine weitere Form von
Symptomen. Sie kommen nicht in voller Blüte aus der Luft. Es gibt
historische Ursachen. Wenn wir das verstanden haben, können wir sehen,
wie jemand Drogen und Besäufnis aufgeben kann und lieber wiedergeboren
wird; Vorstellungen ersticken den Schmerz genau so gut wie
Drogen, wenn nicht sogar besser. Deshalb tendieren Leute, die sich unwohl
fühlen, dazu, vorzeitig krank zu werden, weil sie von einer inneren
Realität geschwächt werden, deren sie sich nicht bewusst sind. Je
verzerrter die Gedanken sind, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass
die Person eine verzerrte Physiologie hat und umgekehrt. Wir haben es
nicht bloß mit Gedanken zu tun; es geht um einen ganzen Menschen, dessen
Gedanken seine vergrabenen Bedürfnisse und Gefühle widerspiegeln.
Verzerrte Gedanken und Glaubensvorstellungen lassen meiner Ansicht nach
eine kürzere Lebensspanne erahnen. Das System ist neurotisch, nicht nur
die Glaubensvorstellungen. In der Psychoanalyse und kognitiven Therapie
neigt man dazu, die Änderung von Gedanken zu unterstützen, ohne zu
erkennen, dass sie fester Bestandteil eines Menschen sind, und zwar eines
Menschen mit einer Geschichte. Und natürlich gibt es die verschiedenen
Fortschritts-Tests in der Therapie, in der Regel die verbale Variante, so
dass man als verbessert betrachtet wird, wenn man sagt, es gehe einem
besser. Oder man antwortet auf gewisse Fragen: „Fühlen Sie sich jetzt
besser nach der Therapie?“ Wir sehen, je abgewehrter eine Person ist und
je wohler sie sich dadurch fühlt, umso mehr Fortschritt hat sie nach
unserer Betrachtungsweise gemacht. Psychologische Schlüsselfaktoren führen
Leute in Glaubenssysteme, Kulte und selbstzerstörerische Situationen. Die
arabischen Selbstmord-Bomber, die Anhänger in Waco und Jonestown waren im
Griff einer Sache, die viel stärker und viel älter war als Vernunft und
gutes Urteilsvermögen. Zuerst einmal waren sie Opfer einer Kultur, die
den Tod und das Jenseits anpreiste. Das heißt: Wir sterben nicht; wir
leben einfach in anderer Form weiter. Somit ist der Tod ziemlich
bedeutungslos. Sie waren auch Opfer unerfüllter Grundbedürfnisse; Bedürfnisse,
die von ganz früh an Überleben bedeuteten. Eine Matrix unbewusster Gefühle
und nicht endender Bedürftigkeit trieb die Selbstmord-Attentäter, die
Mitglieder von People’s Temple und Heavens Gate und die Branch
Davidianer in die Suche nach dem, was ihnen in der Kindheit versagt worden
war, auch wenn sie größtenteils die Existenz solcher Bedürfnisse
vergessen hatten.
Ein
versagtes Kindheitsbedürfnis (das Bedürfnis, liebkost, besänftigt,
wertgeschätzt, geliebt zu werden) hatte sie in die Hände eines
gleichermaßen bedürftigen Demagogen getrieben, der ihnen Erfüllung
versprach; sie als Anhänger wiederum würden dem Führer folgen, ihn
bewundern und vergöttlichen. Jedes Kultmitglied ist so naiv, bedürftig
und verletzlich wie ein kleines Kind, das sich an seine Mutter wendet, um
Wärme, Nahrung, Schutz und Führung zu bekommen. Sie sehen wie Erwachsene
aus, sind aber im Grunde Babys. In der Zeitung steht eine Geschichte über
eine Astronautin, die eintausend Meilen gefahren ist, um eine
vermeintliche Rivalin um die Zuneigung eines anderen Astronauten zu
beseitigen. Sie hatte Windeln an, so dass sie nicht anhalten musste. Ihr
ganze erstaunliche Bildung und Brillanz konnten sie nicht davon abhalten,
etwas absolut Verrücktes zu tun. Sie konnte dieses Problem nicht
durchdenken und sich nicht für eine andere Handlungsweise entscheiden;
sie war gezwungen, ihren tiefen Gefühlen vergangener Zurückweisung
besinnungslos zu folgen. Könnte es ein besseres Beispiel geben für das
Nebeneinander von Vernunft und Unvernunft im Gehirn? In zerebralen
Begriffen sind es tiefe Gefühle der Zurückweisung in der rechten Hemisphäre
und im vorderen Oberhirn (das orbitofrontale Areal), welche dieses Gehirn
veranlassen, die Botschaft zum linken präfrontalen Gehirn zu senden und
zu sagen: „Beende die Zurückweisung mit allen möglichen Mitteln!“
Als Kind konnte sie es nicht tun – hilflos angesichts elterlicher
Vernachlässigung und Gleichgültigkeit – aber jetzt kann sie etwas
dagegen tun. Aber oh je, oh je, was sie getan hat, war absolut bescheuert.
Somit hat das linke fortgeschrittene Gehirn versucht, symbolische Lösungen
für ein altes eingeprägtes Problem zu finden, für das es nur eine Lösung
gab – die Liebe der Eltern damals oder nie. Hier haben wir also das
immerwährende Dilemma: Das linke Präfrontalhirn versucht immer, in der
Gegenwart Lösungen für alte
historische Probleme zu finden; und deshalb scheitert es immer. Und es
scheitert, weil es den Kontakt und Zugang zu Gefühlen verloren hat; Gefühle,
die uns leiten könnten.
Die
weiter oben erwähnte Suchende gibt alles auf im Austausch für die
Hoffnung, das zu bekommen, was ihr vor langer Zeit versagt worden war. Sie
wird zum verlängerten Arm des Führerwillens. Sie und die anderen Schüler
werden auf Geheiß des Führers andere oder sich selbst umbringen, ihm ihr
Geld übergeben, nach den willkürlichen Regeln leben, die er aufstellt,
Gedanken denken, die er in ihr Hirn hineinsteckt, das essen, was er ihnen
gestattet und wann er es ihnen erlaubt. Sie handeln wie treu ergebene
Kinder, und sein autoritäres Gebaren verstärkt diese Kindlichkeit.
Frauen werden dem Führer sogar ihre Körper übereignen, und ihre Ehemänner
werden es zulassen, weil sie Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten gelernt
haben. Diese Gehorsamkeit ist eine der gefährlichsten Facetten des
menschlichen Lebens. In ihrem Kielwasser folgen alle möglichen
Verbrechen. Faschistische Diktatoren können leicht Strolche finden, die
ihre mörderischen Befehle ausführen, weil diese Strolche gegenüber dem
Führer loyal und gehorsam sind. Leute im Krieg können töten, weil es
ihr Job ist; gewöhnlich töten sie nicht aus Wut. Es ist ein Job wie
jeder andere ohne jegliches Gefühl.
Weil
sie in einer Welt des Chaos dringend Ordnung, Hoffnung und Magie anstelle
von Verwirrung und Schmerz benötigen, schlucken sie die Ideologie, die
der Führer ausgibt, „mit Haken, Schnur und Senkblei“ hinunter. Erst hängen
sie am Haken und dann, um das Wortspiel zu vollziehen, werden sie
versenkt. Im Falle unserer einheimischen Kultführer werden sich Frauen
sogar den Launen des Führers unterwerfen und ihre Ehemänner und Kinder
verlassen, um ihm zu gefallen. Es läuft jedem menschlichen Instinkt
zuwider. Im Falle eines Kultführers nächtigten die Partner der Frauen
unten im Schlafsaal, während die Frauen selbst mit dem Guru schliefen.
Eltern waren mit der Vorliebe des Führers für ihre pubertierenden Töchter
einverstanden. Aber der Führer muss die Antwort haben! Und er muss seine
Vorstellungen mit Bestimmtheit und Kraft ausüben. Er muss ein
Elternersatz sein. Er gibt Liebe und kann sie denen wegnehmen, die nicht
gehorchen. Für Leute, die von ihrer Familie abgelehnt worden waren, ist
die erneute Ablehnung und der Hinauswurf durch die „neue Familie“
unerträglich. Einige ziehen den Tod diesem Schmerz vor. So hat der Führer
alle in der Hand. Die ursprüngliche Ablehnung ist eine Sache; aber sie
wieder zu erleiden ist unzulässig.
Glaube
ist Medizin für die Hoffnungslosen. Er lindert Verzweiflung, macht
Einsamkeit zunichte und löst Hilflosigkeit auf. Nicht unbedingt
Verzweiflung, die aus gegenwärtigen Umständen entsteht, sondern
Verzweiflung, die physiologisch und emotional in das Individuum eingeprägt
ist – die Verzweiflung eines Babys in der Wiege, das sich tagelang die
Augen ausweint in der Hoffnung, dass jemand kommt, um es zu füttern,
liebkosen und zu beruhigen. Die Verzweiflung eines Kindes, das sieht, wie
seine Mutter bei einem Autounfall stirbt, oder erlebt, dass sein Vater die
Familie für immer verlässt. Verzweiflung vor langer Zeit, welche die
Seele vergessen hat aber nicht der Körper, dem Unbewussten übergeben, überdeckt
von Schichten neu konstruierter Hoffnungen.....und das beste von allen, überdeckt
von der Hoffnung auf ein anderes und besseres Leben. Es ist kein Wunder,
dass dieser Mensch sich später radikalisiert, nach einer besseren Welt
sucht, Symbole seiner gegenwärtigen Welt zu zerstören versucht und zu
einem Utopisten wird, der das perfekte System oder den perfekten Ort
finden muss – und das alles, weil sein frühes Leben so eine Hölle und
so hoffnungslos war. Es ist die subtile Verzweiflung, jeden Tag mit Eltern
leben zu müssen, die nichts fühlen können, versteinert sind und ihrem
Kind nicht helfen können. Kinder spüren das schon ganz früh. Ich weiß,
ich habe es gefühlt, aber es blieb ein Gefühl, und erst viel später
konnte ich ihm Worte hinzufügen. Aber Worte sind nicht das Problem; sie
beschreiben es. Sie beschreiben Gefühle.
Ich sage es noch einmal, Worte sind keine Gefühle; unten in den
Gefühlszentren gibt es keine Worte.
Wir
brauchen mehr Hoffnung als Wahrheit. Hoffnung fühlt sich gut an, aber
Wahrheit tut oft weh. Die Wahrheit tut weh, weil das Gefühl, dass
„meine Eltern mich nicht mögen, mich nicht um sich haben wollen und
mich nie lieben werden,“ für ein Kind unerträglich ist.
Wenn
Ihre Wahl auf die Bibel fällt, können Sie wiedergeboren werden. Die
Medizin der Hoffnung vertreibt das Elend unseres Lebens vor der
Wiedergeburt. Die Versprechungen der Hoffnung schützen unsere Ohren vor
dem Kind, das unter der Oberfläche des Bewusstseins schreit. Das Kind
schreit, auch wenn die Person es erst hören kann, wenn wir sie in ihre
Kindheit zurückbringen, wo sie endlich schreien und weinen kann. Jetzt
weiß sie, was sie getrieben hat.
Glaubensvorstellungen
lenken uns von vergangenen Traumen und gegenwärtigen Schmerzen ab, weil
im Glaube Hoffnung liegt. Sie schirmt Pessimismus durch positives Denken
ab. Sie beruhigt unsere Furcht, verspricht unsere Ängste zu mildern, lässt
die Zukunft hell erstrahlen. Sie beschützt uns vor der Realität, erlaubt
uns, die Welt durch die rosarote Brille zu sehen.
Ein
Brieffreund von mir drückte es so aus: „Hoffnung ist die Kostümprobe für
eine Aufführung, die nie stattfinden wird. Hoffnung ist der dialektische
Fluss, ein hochenergetischer Zustand, der zwischen Individuum und Gruppe
oszilliert. Es ist nicht so, dass zwei Wunschdenker besser sind als einer.
Sie sind überzeugender als einer. Zwei gemeinsam wünschende Menschen
sind größer als die Summe ihrer Überzeugungen. Die Gesellschaft hat ein
ureigenes Interesse daran, Hoffnung zu nähren, weil die Kehrseite der
Hoffnung sicherlich kein psychologisches Honiglecken ist.“ Hoffnung
macht Unbehagen tragbar und Agonie ein bisschen erträglicher.
Im
Gegensatz dazu steht die Aufgabe der Hoffnung (wenn man von der Gruppe
ausgegrenzt wird). Der Mensch stürzt in Verzweiflung oder wird rebellisch
gegen die Gesellschaft und auch gegen seinen inneren Zustand. Deshalb ist
das Fühlen unserer eigenen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit oft das
Signal, dass eine innere Revolution unterwegs ist und dass die Depression
nachlässt.
Hoffnung
hält unsere persönliche neurotische Struktur aufrecht, und es ist
dieselbe Hoffnung, die eine gestörte Gesellschaft zusammenhält. Sehr oft
kann nur der Tod der irrealen Hoffnung endlich die reale Hoffnung auf Änderung
bringen. Ein Mensch findet den Weg, auf dem der Schmerz nachlässt und ablässt
erst, wenn er anerkennt, dass zu hoffen hoffnungslos ist, dass es an der
Zeit ist, die Hoffnung aufzugeben. Der Tod (irrealer) Hoffnung ist der
Beginn des Lebens.
Hoffnung
ist der Goldschatz am Ende des Regenbogens, das Licht am Ende des Tunnels,
„der Sinn des Lebens.“ Sie glitzert und funkelt und blendet uns,
sodass wir die Gitterstäbe unseres Glaubensgefängnisses nicht sehen. Und
dieses psychische Gefängnis ist aus chemischen Fesseln gemacht, die so
stark sind wie Stahl. Man kann sie nicht zerreissen;
Wenn
wir uns die Anhänger nicht Erwachsene vorstellen sondern als verletzte
Babys, dann wird ihr Verhalten klar. Sie sind durch ihr eigenes Bedürfnis
hypnotisiert worden, fasziniert von der eindrucksvollen Vorstellung des
Allmächtigen, so dass ihr gesamte Kritikfähigkeit wie bei Hypnose
eingelullt wurde – und das trotz all ihrer Intelligenz. Das ist so wegen
eines Primär-Axioms, dass niemand schlauer oder stärker ist als sein/ihr
Bedürfnis und dass niemand die Macht hat, sich über Bedürfnisse
hinwegzusetzen. Kurz gesagt sind wir alle auf die eine oder andere Weise
Opfer früher unerfüllter Bedürfnisse. Glaube nie, dass Intelligenz so
ein Verhalten verhindert. Ich habe eine College-Professorin behandelt,
eine Psychiaterin, die Teil der Baghwan – Gruppe in Indien war. Sie trug
sein Abzeichen und Bild auf ihrer Kleidung und verbeugte sich, wenn er mit
seinem Rolls-Royce vorbeifuhr; er behauptete, er habe achtzig Stück
davon. Es ist so merkwürdig, dass jemand weit weg, in Indien, die Antwort
auf unser Leben hat. Wir müssen nur hinfahren und zuhören.
Auf
der Grundlage früher Hoffnungslosigkeit, deren wir uns unbewusst sind,
suchen wir hier und dort nach Hoffnung. Nichts im Gegenwartsleben deutet
auf das Problem hin und auch nichts in der Kindheit schafft Klarheit. Aber
wenn wir in die ersten Lebenswochen eintauchen, können wir genug Ursachen
finden. Oft steckt die Hoffnung in einem neuen Projekt oder neuen Job. Sie
scheint realistisch genug zu sein, aber die Erwartungen können weit über
die Wirklichkeit hinausgehen, wenn sich Gefühle in die Gedanken-Arena drängen.
Kurz gesagt sieht man nicht mehr die Realität sondern vielmehr eine
Projektion des Bedürfnisses. Aber wenn die Deprivation früh genug und
schwer genug ist, kann die Hoffnung in einem Glaubenssystem liegen und in
einem Führer, der von der Alltagsrealität weit entfernt ist. Und je früher
der Zeitpunkt von Schmerz und Deprivation
liegt und je schwerer sie sind, umso unwahrscheinlicher ist, dass sie
bewusst sind. Dafür sorgt die Verdrängung. Jeder gravierende frühe
Schmerz erschafft seine gleich große Gegenkraft – die Verdrängung. Sie
hält uns garantiert unbewusst und gewährleistet, dass wir den Schmerz für
immer ausagieren, und dabei in ein schlechtes Geschäft nach dem anderen
investieren. Was ein Kult unter anderem zuerst tun muss, ist, die Person
jedem Einfluss der Familie und von Freunden zu entziehen; somit darf sich
keine Andeutung der Realität und keine Unterstützung in die
Auseinandersetzung einmischen. Und bei Schwindeleien muss der Betrüger
das Opfer überzeugen, so dass es Hinweise von andereren ignoriert. Kurz
gesagt ist das Opfer hypnotisiert worden; fixiert auf die Stimme des Betrügers,
so dass jeder äußere Input ignoriert wird.
So
viele Leute in unserer Gesellschaft sind verwirrt und verloren, und als
Resultat wachsen und gedeihen die Glaubenssysteme. Der Glaube kommt in
vielerlei Gestalt daher, vom Festhalten an den Dogmen einer
monotheistischen Religion bis hin zur Vorstellung des Psychotikers, dass
er von Marsianern verfolgt werde oder von hermaphroditischen
Undercover-Agenten. Man kann glauben, dass die Ampel nicht umschaltet oder
dass die Seife im Lebensmittelladen ausverkauft ist. Es gibt politische
Glaubensüberzeugungen, z.B. dass die Demokraten oder die Republikaner die
Wirtschaftsprobleme unserer Nation lösen können. Einige halten an
nationalistischen Glaubenssystemen fest: Mein Land ist besser als deins;
unser politisches System ist dem ihrigen überlegen. Oder
wissenschaftliche Glaubenssysteme, wie dass man durch die Analyse der
Zellen-Details den Menschen als Ganzes verstehen wird. Einige Leute
glauben an ihren Staat, ihre Region, Stadt, ihren Stadtteil, während
andere leidenschaftlich an die L.A. Dodgers oder die Chicago Bulls
glauben. Einige glauben an Geld und widmen sich seiner Anhäufung und
Ausgabe. Andere glauben, dass sie in der Lotterie gewinnen werden und dass
dadurch alle ihre Probleme gelöst werden. Jedoch brauchen sie immer mehr,
weil ihr Grundbedürfnis unberührt blieb. Das treibt sie dann an, und es
ist nie genug.
Gläubige
stehen auf Mystizismus, Magie, Schicksal („Es war so bestimmt“),
Karma, Fügung, spezielle Diäten, Gebet, Natur, Meditation, Vorsehung
(die alles „erklärt“). Extrapolation mögen sie sehr: Wenn zwei Dinge
zeitgleich geschehen, führen sie magische Ideen ins Feld
zur Erklärung, die weit darüber hinausgeht, dass zwei Dinge
einfach zugleich geschehen. Immer wird die Fügung hochgespielt; nichts
ist Zufall; besondere Mächte machen sich zu schaffen, damit es auf diese
Weise geschieht. Der frontale Kortex ihres Gehirns macht Überstunden, um
ausgefallene und fantastische Erklärungen auszuhecken für die banalsten
Ereignisse. Und dieser Kortex macht Überstunden, weil er von einer übermäßigen
Menge unbewussten Schmerzes getrieben wird, Schmerz, der von eben dieser
Ideenbildung überdeckt wird. Wenn die Person keine Ideen erfinden könnte
(ich nenne sie intervenierende Variable – Gedanken, die zwischen Realität
und Glaubensvorstellungen positioniert werden), dann stünde sie nackt vor
dem Schmerz. Wenn uns jemand beschimpft, schaffen wir sofort Begründungen
und Rationalisierungen dafür. Wir decken den Schmerz zu. Nun stellen Sie
sich eine ganze frühe Kindheit voller Beschimpfungen und Beleidigungen
vor und wie das ein Erbe hinterlässt, mit dem man sich befassen muss. Ich
erinnere mich an die Behandlung eines Kultmitglieds, einer Frau, die nach
vielen Monaten Therapie wiedererlebte, dass sie gleich nach der Geburt völlig
allein gelassen wurde, nachdem ihre Mutter krank geworden war und später
starb. Die Psyche der Gedanken und Philosophien weiß nicht, dass sie
benutzt wird; weiß nicht, dass sie als Barrikade dient gegen die Gefahr
des Fühlens, weil sie das Areal ist, das für kritisches Denken
verantwortlich ist. Sie hält sich selbst in Schwung als verstärktes
hermetisches Schloss gegen Schmerz.
Deshalb
kann niemand den Menschen von seinen Ideen abbringen. Sie dienen einem
Kernzweck und daran sollte man sich nicht zu schaffen machen. Leute können
sehr wütend und sogar mörderisch werden, wenn diese Ideen angezweifelt
werden. Wir machen uns an einer Überlebensfunktion zu schaffen. Keine
gute Idee. Der Kortex weiß nur dann, dass er benutzt wird, wenn eine gute
Verbindung besteht zwischen Einprägungen auf tieferer Ebene und ihren
gedanklichen Gegenstücken. Man will nicht mit einem Paranoiden streiten,
der in seine Wahnvorstellung fixiert ist.
Ein
zunehmend größerer Prozentsatz als noch vor einigen Jahren geht
heutzutage in die Kirche, und wenn man jemanden fragt, ob er an Gott
glaubt, wird er wahrscheinlich ohne Zögern mit dem Kopf nicken. Tatsächlich
glaubten 2009 dreiundachtzig Prozent, dass es zweifelsohne einen Gott
gebe, verglichen mit 72 Prozent in 2006. (1) Von diesen 83 Prozent, die
dem Harris Umfrageinstitut sagten, dass sie an Gott glauben, waren nicht
alle resolut in ihrem Glauben: Nur 59 Prozent waren „absolut sicher,“
dass es einen Gott gibt und nur 15 Prozent waren einigermaßen sicher.
„Die
Hälfte aller Amerikaner glauben, dass sie von Schutzengeln beschützt
werden, ein Fünftel sagt, sie haben Gott zu ihnen sprechen gehört, ein
Viertel sagt, sie seien Zeuge wundersamer Heilungen geworden, 16 Prozent
sagen, dass sie eine erfahren haben, und 8 Prozent sagen, dass sie in
fremden Zungen reden,“ gemäß einer Erhebung, die von der Baylor
Universität durchgeführt wurde. (2)
Das
steht im Kontrast zu einer 1993 veröffentlichten Umfrage, als 69 Prozent
der Amerikaner an die Existenz von Engeln glaubten und 46 Prozent
glaubten, sie hätten ihren eigenen Schutzengel. (3) Fünfundfünfzig
Prozent derer, die an Engel glaubten, gaben an, dass Engel von Gott
erschaffene höhere spirituelle Wesen seien, ausgestattet mit speziellen
Kräften, um als Seine Bevollmächtigte auf Erden zu handeln. Zweiunddreißig
Prozent der Befragten sagten, sie hätten in ihrem Leben persönlich die
Gegenwart eines Engels gespürt.
Gläubige
finden das nicht erstaunlich, ich jedoch schon. Aber wie ich wiederhole,
es tut nichts zur Sache, was für ein Glaube es ist, solange er existiert
und seine neurologische Funktion erfüllen kann.
In
den letzten Jahren ist der Glaube an einen christlichen Gott, Engel, die
Ankunft eines Messias und so fort durch zahllose andere Glaubenssysteme
erweitert worden. In den 60er Jahren
kamen die jungen Leute in diesem Land zum Entschluss, dass
organisierte Glaubenssysteme und politische Mainstream-Programme keine
Antworten parat hatten. Im Aufstand gegen eine starrsinnige Führung und
unfähig, die breite Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken oder
das „Establishment“ vom Krieg in Vietnam oder Irak abzubringen,
suchten sie nach neuen Glaubensüberzeugungen, welche die alten ersetzen
sollten. Einige setzten sich für soziale Gerechtigkeit ein. Andere, die
an der Änderung der Außenwelt verzweifelten, fingen an, nach innen zu
schauen. Doch viele hatten keine Hebel zur Verfügung, um Zugang zu ihrem
Innenleben zu erlangen, und so stiegen sie in den „magischen Bus“ ein,
nahmen Drogen und begannen, sich die Auffassung eines mystischen
Bewusstseins anzueignen. Sie setzten auf veränderte Bewusstseinszustände,
exotische Länder, Katmandu, östliche Philosophien. Die jungen Leute ließen
ihr Vertrauen in psychedelische Drogen fließen, in Zen, die Grateful
Dead, Pflanzen und Vitamine und auch in Che Guevara. Offenheit für neue
Ideen (gleich welchen Inhalts) regierte; alles wurde möglich. Sie wollten
ein besseres Leben, sie wollten es jetzt, und viele fügten sich selbst
bleibenden Schaden zu oder starben auf dieser sogenannten Suche nach dem
Seelenheil. LSD und magische Pilze führten niemanden ins Nirwana und auch
grandiose politische Theorien und Programme machten sich nicht bezahlt.
Globale Lösungen versagten; die ganze in der Luft liegende Verzweiflung
war im Weg. Verzweiflung wurde zum absoluten Muss und befähigte die
Existenzialisten, sie zur Grundlage ihrer Philosophie zu machen.
Die
Intellektuellen, die ihre Religion nicht akzeptieren konnten, wechselten
direkt zur „New Age“- Religion. Manchmal war diese Religion ein
psychotherapeutisches System, manchmal war es eine Philosophie. Buddismus,
EST, Ärobic, Yoga, Psychoanalyse, Handlesen: Welche Variante auch immer
es war, sie war ein Vehikel, um
die Welt vorhersagbarer und beherrschbarer zu machen.
„Wenn
sich von uns ausreichend viele innerlich ändern,“ lautete das Mantra,
„wird sich die Welt ändern.“ Es scheint wie ein Wunder, dass etwas so
Ungreifbares und Unsichtbares wie eine Idee die Macht hat, unser
biologisches System zu transformieren. Sie lässt uns sehen, was nicht
existiert, und manchmal nicht sehen, was existiert. Welche größere Macht
könnte es geben? Getäuscht zu werden bedeutet nicht nur, jemanden zu überzeugen,
das Falsche zu glauben, sondern auch andere so zu überzeugen, dass sie
nicht die Wahrheit glauben. Das ungeliebte Kind, das die schrecklichen Gefühle
der Hoffnungslosigkeit nicht ertragen kann, verschließt seine eigenen Gefühlszentren
und wird unempfindlich, nicht nur für seinen Schmerz sondern auch für
den Schmerz anderer. Später kann dieses Kind als Erwachsener ein Kind
anschauen und keinen depressiven sondern einfach einen ruhigen Buben
sehen, der niemanden bekümmert. So begeht er denselben Fehler, von dem er
selbst betroffen war, mit seinem Kind, und das macht er wegen der Art und
Weise, wie er von Anfang an Lieblosigkeit erfahren musste. Er kann seine
eigene Hoffnungslosigkeit oder die seines Kindes nicht sehen.
Neurose
verlangt Selbsttäuschung. Selbsttäuschung erfordert Verdrängung. Verdrängung
erfordert Serotonin/Endorphine. Sie lassen uns glauben, dass wir nicht
leiden, wenngleich wir es doch tun. Wir
können uns psychologisch selbst täuschen, aber der Körper handelt unabhängig
von dieser Täuschung. Er strudelt und siedet weiterhin vor Schmerz. Und
das Gehirn scheint wie eine Pharma-Fabrik, die sich angestrengt bemüht,
genug Chemikalien herzustellen, um der Anforderung zu begegnen. Manchmal
kann die Fabrik mit der Nachfrage nicht mithalten – mit der Anzahl
dringender Bestellungen, die der Schmerz aufgegeben hat.
Wer
nicht unter Schmerz steht, wird nicht Tag für Tag schmerztötende Drogen
nehmen oder seinen Schmerz jede Nacht in Alkohol ertränken, weil der Körper
das einfach nicht akzeptieren würde. Aber ein Mensch, der wirklich unter
Schmerz steht, ob wissend oder unwissend (und die meisten von uns sind
sich der Tiefe ihres Schmerzes nicht bewusst), wird rauchen und trinken
und tun, was er kann, um sich zu normalisieren. Das heißt, das
Schmerzniveau abzusenken, so dass er funktionieren kann.
Vor
einigen Jahren gab die American Humanist Association eine Liste der New
Age – Glaubenskategorien heraus:
-
„Raum-Zeit-Religionen“
wie UFOs, Astrologie, Scientology
-
„Psychische
Religionen“ wie extrasensorische Wahrnehmung (ESP)
-
„Okkulter
Glaube“ wie östliche Weisheit, Satanskulte, Reinkarnation
Nach
einer Gallup Umfrage glauben drei von vier Amerikanern an das Paranormale
– wenigstens an eines der folgenden Dinge: extrasensorische Wahrnehmung
(ESP), Spukhäuser, Gespenster, mentale Telepathie, Hellseherei,
Astrologie, Kommunikation mit den Toten, Hexen, Reinkarnation und
Channeling. (4) Einer von sechs kommunizierte mit Verstorbenen, und einer von
vier sagte, er/sie könne telepathisch kommunizieren (durch
Gedankenkraft). Einer von zehn behauptete, einen Geist gesehen zu haben
oder in seiner Gegenwart gewesen zu sein. Ein Siebtel der Befragten sagte,
sie hätten ein UFO gesehen. Ein Viertel glaubte an Astrologie und 50
Prozent glaubten an extrasensorische Wahrnehmung.
Die
Anzahl und die Art von Glaubenssystemen sind grenzenlos. Solange der
Glaube nicht einem selbst und in den eigenen Gefühlen verankert ist, kann
er abheben und alle möglichen wahnhaften Vorstellungen umfassen. Der
Kortex (oder das linke frontale Rationalgehirn der höheren Ebene) kann
sich uneingeschränkt in die Stratosphäre der Truggebilde aufschwingen,
wenn er von anderen Aspekten der Erinnerung getrennt worden ist (die
fehlende Verknüpfung). Das trifft auf die Intelligentesten von uns zu,
einschließlich Wissenschaftler, die zwar auf ihrem eigenen Fachgebiet
diszipliniert arbeiteten, aber abgetrennt von ihren Gefühlen an die
irrationalsten Philosophien und Psychotherapien glaubten, an Methoden und
Ansätze, die nicht ein Milligramm Beweis mitbringen.
Sobald
die Loslösung von Gefühlen erfolgt ist, ist alles möglich, und, um es
zu wiederholen, Intelligenz hat damit nichts zu tun. Wirkliche Intelligenz
ist eine Sache der Verknüpftheit – zu denken, was wir fühlen und zu fühlen,
was wir denken – und somit das Ende der Heuchelei. Intellektualität
involviert die linke vordere Hemisphäre auf ihrem eigenen Trip. Wirkliche
Intelligenz ermöglicht uns, ein gesundes Leben zu führen. Intellektuelle
können leicht ein ungesundes führen, weil sie den Schmerz töten müssen.
Die
Suche nach „höherem Bewusstsein“ ist als „Rückzug von der
Vernunft“ bezeichnet worden. Ich glaube, es repräsentiert den Rückzug
vom Schmerz. Es gibt keinen Grund, Vernunft zu meiden, wenn sie nicht weh
tut. Vernunft tut nicht weh; Schmerz schon. Und Schmerz erzeugt Gründe,
von denen wahre Vernunft nichts weiß.
Die
Leute wollen sich sofort besser fühlen und nicht in zwei Jahren. Das
Verlangen, Erlösung vom Schmerz zu finden, im Leben „Sinn“ zu finden,
ist ein völlig natürlicher Trieb. Leider ist er vergeblich. Der Suchende
schaut sich nach Formeln um, nach Gewissheiten, der Phrase oder dem
Mantra, das ihn für immer verändern wird, ohne zu wissen, warum er
gerettet werden muss oder vor was er gerettet werden muss; schlimmer noch,
ohne überhaupt zu wissen, dass er gerettet werden muss. Kurz gesagt
agiert man das Bedürfnis aus, gerettet zu werden, ohne sich des
Ausagierens bewusst zu sein. Ein Aspekt des Ausagierens ist der Glaube an
einen Erlöser.
Auch wenn sich der Suchende dessen
nicht bewusst ist, hilft ihm sein Forschen nach Sinn und Magie, den Blick
in den Kessel seiner inneren Realität zu vermeiden. So ein Pfad ist
tatsächlich eine Formel fürs Desaster, kein Nirwana, wie Waco und
Jonestown gezeigt haben, ganz zu schweigen von Irak oder Iran. Auch wenn
viele Suchende ein Glaubenssystem gefunden haben, das für sie zu
funktionieren scheint, werden sie über kurz oder lang sowohl körperlich
als auch psychisch zugrunde gehen an der inneren Realität, die sie bewusst
oder unbewusst ignorieren. Wenn sie keinen Selbstmord-Punsch trinken oder
ihrem Führer in ein Feuer oder in ein imaginäres Raumschiff folgen oder
sich eine Selbstmordbombe um die Hüften binden, dann werden sie krank
werden und vorzeitig wegen des Frevels
sterben, ihre persönlichen Wahrheiten übersehen zu haben. Sie werden von
ihrer eigenen Wirklichkeit niedergestreckt werden, die immer gnadenlos und
unerbittlich ist. Eine Lüge des Geistes ist ein Schmerz des Körpers; und
umgekehrt: Ein Schmerz im Körper bedeutet eine Lüge im Geist – wenn
dieser Schmerz so überwältigend ist, dass er nicht gefühlt wird. Es ist
nicht so, dass jemand nur eine verzerrte Sicht der Dinge hat; der Körper
zieht nach. Genauer gesagt ruft
der Körper, der sich bereits in Schieflage befindet, eine verzerrte Sicht
der Dinge hervor.
Das Leiden,
das uns fesselt und uns an Unsinn glauben lässt (nichts ist grenzenloser
als Unsinn) – Neurose – ist ungreifbar, heimtückisch und allmächtig. Es
ist eingesperrt in Zellen, die man weder sieht noch fühlt, Zellen, die die
Wahrheit unseres Lebens enthalten, uns aber daran hindern, sie zu
erfahren. Diese Neurose, zwischengeschaltet zwischen vollem Bewusstsein
und innerer Wahrheit, kerkert uns mit unsichtbaren Gitterstäben ein. Sie
hat so viele Manifestationen, dass sie den größten Teil des Lebens der
meisten Leute formt. Neurose und Psychose machen uns glauben, dass
Quarzkristalle eine kranke Person gesund machen können; dass wir durch
Selbstdemütigung und Selbstübergabe an eine höhere Macht den zwölf
Schritten zum Seelenheil folgen können; dass ein gieriger Scharlatan, der
weiße Gewänder trägt, die Schlüssel zur Weisheit besitzt; dass das
Gegeifer eines selbsternannten Messias Gottes Wahrheit ist. Solange die
Gefühle unzugänglich bleiben, bleiben wir Gefangene des Glaubens –
genauer gesagt, Gefangene des Schmerzes.
___________________
(1)
Barrick, Audrey, "Die meisten Amerikaner sagen, Gott existiert,
weniger sind 'absolut sicher' ", The Christian Post,
18.Dezember 2009
(2)
Duin, Julia, "Die Hälfte der Amerikaner glaubt an Engel,"
The Washington Times, 19. September 2008
(3)
Gibbs, Nancy, "Das neue Zeitalter der Engel," Time,
27 Dezember 1993
(4)
Moore, David W., "Drei von vier Amerikanern glauben an das
Paranormale," Gallup, 16. Juni 2005
Ende
des Kapitels
Artikel
und Buchauzüge
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