TEIL
I
Arthur
Janov: Primärtheorie und Primärtherapie
TEIL
II
Kritik
an Arthur Janov und an der Praxis der Primärtherapie
TEIL
III
Interview
mit Dr. Arthur Janov
_______________________________________________________________________________________________
TEIL
I
Arthur
Janov:
Primärtheorie
und Primärtherapie
______
"Those
who say we can't have feelings before birth and can't have
memories until we have words with which to remember them are
ignoring evidence to the contrary. The fetus is capable of
registering, coding, and storing pain. Even before birth,
between the seventh and twentieth week, the nerve tracts that
carry pain signals from the spinal cord to the lower centers of
the brain are almost fully developed. This means there is pain
perception and storage at a most rudimentary level."
"Diejenigen,
die sagen, dass wir vor der Geburt nichts fühlen können und
solange keine Erinnerungen haben können, bis uns Worte zur Verfügung
stehen, mit denen wir sie abrufen können, ignorieren den Beweis
des Gegenteils. Der Fetus ist in der Lage, Schmerz zu
registrieren, zu kodieren und zu speichern. Schon vor der
Geburt, zwischen der siebenten und zwanzigsten Woche, sind die
Nervenbahnen, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren
Zentren des Gehirns befördern, beinahe voll entwickelt. Das
bedeutet, es gibt Schmerzwahrnehmung und –speicherung auf
einer äußerst rudimentären Ebene."
[Arthur
Janov in Why You Get Sick and How You Get Well, Dove Books,1996,
s. 37]
___________
"Obwohl sich überall in diesem Buch
wissenschaftliche Quellenangaben und Zitate finden, sollten wir die alles überspannende
Wahrheit nicht aus den Augen verlieren – Gefühle sind ihre eigene Validation.
Wir können den ganzen lieben Tag lang anführen und zitieren, aber die Wahrheit
liegt letztlich in der Erfahrung menschlicher Wesen. Ihre Gefühle erklären so
viel, dass statistische Beweise irrelevant werden. Die kognitive Therapie sucht
statistische Wahrheiten, um ihre Hypothesen und Theorien zu erhärten; diese
Theorien sind allzu oft intellektuelle Konstrukte, die tatsächlich
statistischer Validation bedürfen. Über mathematische Fakten hinaus sind wir
hinter biologischen Wahrheiten her. Die Studien, die ich zitiere, beweisen
nichts. Was sie machen, ist, dass sie eine Art von Universalität anzeigen, ein
Kontinuum für alle Arten organischen Lebens. Diese Studien sind Folgesätze,
keine separaten, unangetasteten Realitäten; eine Art intellektueller Kniefall
vor dem linken Gehirn. Aber ohne Kontakt zum rechten Gehirn sind diese Realitäten
auf das Intellektuelle beschränkt. Bei Statistiken kann alles wahr sein, weil
sie biologische Realitäten ignorieren. Sie lassen sich auf jegliche Weise
manipulieren. Alles das mag denen entgehen, die keinen Zutritt zum
Rechtshirn-Unbewussten haben, wo Geschichte und Gefühle liegen. Tierforschung
ist interessant, aber wir versuchen nicht, die Psyche von Ratten zu verstehen;
wir müssen unsere eigene Psyche verstehen – durch Analogie oder Folgerung.
Wer leidet, wer defekte Schleusen hat, hat eine Art unvollständigen Zugang zum
Unbewussten. Bei unserer Arbeit haben wir ein Versuchslabor, wo wir das
Unbewusste jeden Tag in unseren Patienten sehen. Wir brauchen keine
statistischen Wahrheiten. Wir haben biologische."
[Übersetzt aus: Arthur
Janov, Primal Healing,
NewPageBooks, NJ, 2007]
____________
"Wir Psychotherapeuten müssen den Status einer Wissenselite ablegen, die
als
Mittelpunkt aller psychologischen Erkenntnisse gilt. Der Patient ist der einzige,
der Kenntnis von seinem Unbewussten hat. Therapeuten können darüber nur
spekulieren. Wenn Therapeuten auf der Grundlage von Theorien arbeiten, die aus
dem Unbewussten von Psychologen konstruiert worden sind, anstatt auf der inneren
Realität des Patienten zu gründen, werden sie zu pfuschenden Mechanikern, die
ihre Techniken eher nach Lust und Laune ändern als auf Basis wissenschaftlicher
Erkenntnisse. Bis jetzt gibt es kein theoretisches Netz, das sowohl Psychologie
als auch Neurologie umfasst, obgleich es Versuche gegeben hat, Psychoanalyse mit
Neurologie zu verbinden. Im großen und Ganzen ist es eine
Schrotflinten-Hochzeit, eine erzwungene Ehe. Es ist, als würde man eine alte,
ausrangierte Auffassung auf eine neue Wissenschaft pflastern und hoffen, dass es
halten wird. Wenn die Psychoanalyse zentrale innere Realitäten ignoriert, ist
es bedeutungslos, wenn wir ihr gewisse neurologische Fakten anhängen. Es kann
nicht funktionieren. Warum sollten wir eine Theorie nehmen, die 100 Jahre alt
ist, und sie mit Forschung kombinieren, die vielleicht sechs Monate alt ist? Die
Ehe kann nicht von Dauer sein; der Bräutigam ist viel zu alt für die Braut,
die neue Ideen und neue Informationen hat. Die junge Frau versucht den alten
Mann zu führen, aber der alte Mann ist zu schwach um mitzuhalten. Besser eine
junge Theorie, die innerhalb neurologischer Prinzipien arbeitet."
[Übersetzt aus: Arthur
Janov, Primal Healing,
NewPageBooks, NJ, 2007, s.261]
_________
|
Einleitung
Was
ich hier wiedergebe, entspricht meinen eigenen Erfahrungen,
meinem persönlichen Wissensstand und Verständnis, und
es soll meine eigenen Überzeugungen dokumentieren. Vielleicht
gibt es keine absoluten objektiven Wahrheiten, aber wenn die
subjektiven Erfahrungen vieler Menschen übereinstimmen, dann wird man nicht umhin können, den erlebten und
beschriebenen Phänomenen ein gewisses Recht auf Wahrheit
zuzugestehen. Wenn einerseits eintausend Personen sich einer
Primärtherapie unterziehen und achthundert von ihnen behaupten,
sie hätten ihre Geburt wiedererlebt und es bestehe ein
Zusammenhang zwischen ihrem Leiden und dem frühen Schmerz, der
durch eine traumatische Geburt, durch Vernachlässigung und
andere frühe Ereignisse entstanden sei, und wenn andererseits
von eintausend Fachleuten, die keine Primärtherapie gemacht
haben, achthundert behaupten, dies sei ausgeschlossen, weil das
System des Fetus, des Neugeborenen und Kleinkinds keine frühen
Ereignisse speichern könne, wer hat dann Recht?
Vielleicht
ist das, wie Arthur Janov sagt, wirklich eine Frage des Zugangs
und der Verknüpfung. Wenn jemand im Kopf gut abgeschottet ist
gegen Gehirnbereiche, die Fühlen vermitteln und traumatische
Erinnerungen beherbergen könnten, wenn die Schleusen dicht sind
und die Person vorwiegend im linken Frontalhirn zuhause ist,
dann ist es wenig wahrscheinlich, dass sie oder er die
Vorstellung akzeptiert, es gebe tiefer drinnen im Gehirn ein Phänomen
wie "Urschmerz" oder "eingeprägtes Trauma."
Warum auch, wenn nichts weh tut? Wenn jemand allerdings nicht
so"dicht" ist, wenn ständig frühes Material durch
das Abwehrsystem sickert und der Mensch leidet und vielleicht in
der Gegenwart schlecht funktioniert, dann ist die Verbindung
nach 'weiter rechts,' 'weiter unten' und 'tiefer drinnen' noch
nicht ganz abgebrochen und er oder sie fühlt die Existenz des
Verborgenen.
Es gibt in
der Tat Experten in Sachen Urschmerz und Erinnerung, auf deren
Urteil man vertrauen darf. Es sind dies die wenigen Menschen,
die die Reise in die Tiefen des Unbewussten wirklich unternommen
haben, bis hinab zu jenem primitiven Gehirn, in dem unsere frühesten
Erfahrungen gespeichert sind. Wenn sie zurückgekehrt sind,
kennen sie "die Wahrheit," weil sie diese mit
ihrem ganzen Körpersystem erfahren haben. Erinnerung kann
in allerletzter oder besser allererster, allerfrühester Instanz
eine unglaublich rudimentäre Sache sein - ohne Worte, Bilder,
Gefühle, Emotionen, Gerüche, ohne Würgen, Husten,
Muskelkontraktionen oder andere körperliche Reaktionen -
vielleicht nicht mehr als eine vage Körper-Empfindung.
Aber nichtsdestotrotz ist auch das eine Erinnerung - eine
ganz frühe (pränatale) Erfahrung, die unser System
aufgezeichnet hat.
|
Die
Primärtheorie Arthur Janovs
"Every
neurotic has a secret life because every neurotic has secret
feelings."
Arthur Janov
Frühe
Erfahrungen, die Organen und Teilsystemen des menschlichen
Organismus ihren teils irreversiblen Stempel aufgedrückt haben,
und eingravierte Erinnerungen, die scheinbar unauffindbar
und unauslöschlich in den Tiefen des Gehirns ihre endlosen
Kreise ziehen - können das Leben des Menschen auf vielfältige
Weise prägen, leider allzu oft auch beeinträchtigen und im
schlimmsten Fall dazu führen, dass das Sein zur tagtäglichen
Qual wird. Niemand kommt so leicht auf die Idee, dass viele seiner oder ihrer Probleme in längst vergangenen Zeiten wurzeln
könnte - vielleicht sogar im Mutterleib ihren Anfang
hatten - zumal oft selbst der bloße Gedanke, dass sich eine frühe
Erfahrung, zum Beispiel bei der Geburt, mitsamt ihrer ursprünglichen
Kraft noch immer im menschlichen System befinde und
diesem die Chance nehme, einen harmonischeren Zustand
anzunehmen, der Verdrängung unterliegt und völlig absurd
erscheint. Je näher jedoch jemand auf der breiten Skala
menschlicher Probleme dem rotfarbigen Bereich kommt, in dem die
Existenz zum permanenten Leidenszustand zu werden droht, umso
leichter begreift und akzeptiert er oder sie wahrscheinlich,
dass sich eine fremde Kraft in seinem oder ihrem System
"eingenistet" hat, welche die Homöostasie - das
innere Gleichgewicht - empfindlich stört.
Der
amerikanische Psychologe und Psychotherapeut Arthur Janov (geb.
1924, Foto) bezeichnet diese Kraft als Primal Pain oder Urschmerz.
In seinen Büchern (jüngste Werke: The Biology of Love,
Prometheus, New York, 2000, Grand Delusions,
Online-Buch, 2005, Primal Healing, New Page
Books, NJ, 2007 und The Janov Solution, SterlingHouse
Books, Pittsburgh , 2007) beschreibt er, welche Umstände dem von
ihm entdeckten Urschmerz in den unterschiedlichen Phasen des frühen
Lebens - vorgeburtliche Zeit, Geburt, frühe und spätere
Kindheit - ursächlich zugrunde liegen, und welche Auswirkungen
er auf unsere geistig-psychische und körperliche Verfassung
hat.
"Wie
ich bereits gesagt habe, perlen all die Dinge, die uns
in unserem Leben zustoßen, nicht wie Regentropfen von
uns ab. Sie werden im Gehirn und Körper registriert und
gespeichert. Ist ein Ereignis zu schmerzhaft, so wird es
als Trauma registriert. Ein Trauma bedeutet, dass mehr
Schmerz - körperlicher oder psychischer Art - vorhanden
ist, als das System integrieren kann. Dadurch wird das
System überlastet und versucht automatisch, sich gegen
den Schmerz abzublocken. Zum Glück gibt es eine Reihe
im Gehirn operierender Schleusen, die uns helfen,
Schmerz abzublocken oder zu verdrängen. Wenn sich die
Schleusen gegen ein Trauma verschließen, kommt es zu
einer Spaltung oder zu einer Durchtrennung der Verknüpfung
zwischen dem Affekt oder dem Gefühl der schmerzhaften
Erfahrung einerseits und dem Wissen davon andererseits.
Der unverknüpfte Schmerz bleibt als Rückkoppelungsschleife
bestehen, die das System auf die eine oder andere Weise
permanent beeinflußt."
[A.
Janov in: Janov/Holden, Primal Man, Das Neue
Bewusstsein, Fischer, 1977, s. 369,370]
|
|
Die
von Janov entwickelte Primal Therapy - Primärtherapie - gründet
auf seiner Entdeckung (1967) und stellt ein therapeutisches
Verfahren dar, das dem Patienten den Zugang zu tief
eingegrabenen traumatischen Rückständen
- auch zu den vorgeburtlichen Aspekten -
in Gehirn und Körper ermöglichen soll.
"Jedesmal,
wenn wir einen neurotischen Patienten dazu bringen, sich
aufzuschließen, stoßen wir auf Schmerz; wir machen
immer wieder die Beobachtung, dass Schmerz ein zentraler
Bestandteil von Neurosen ist......Das Paradigma ist
wirklich äußerst einfach: Urschmerz erzeugt Neurosen
und Psychosen, und das Wiedererleben des Schmerzes
bedeutet deren Auflösung. Alles, was Sie an
Theoretischem und Wissenschaftlichem lesen werden,
kreist um dieses einfache Paradigma; in all den Jahren
seit Bestehen der Primärtherapie hat sich das nicht geändert."
[A.
Janov in: Janov/Holden, Primal Man - Das Neue
Bewusstsein, Fischer, 1977, s. 13]
_________________
"Man
muss den Menschen gestatten, sich nach und nach ihren
eigenen Weg durch die Gehirnebenen hinab zu erarbeiten,
um die tiefste Ebene des Unbewussten zu erreichen und
mit ihr in Verbindung zu treten.......Eine einzige
Auffassung, nämlich das Konzept der Prägung/Einprägung
, würde meiner Einschätzung nach die Praxis der gegenwärtigen
Psychotherapie verändern.......Wir haben zuviel Zeit
darin investiert, gegenwärtige Quellen von Stress zu
erforschen, um Erscheinungen wie Angst,
Magenbeschwerden, hohen Blutdruck, Herzrasen, Depression
usw. zu verstehen, weil wir den zentralen Bestandteil
vieler Störungen ausgelassen haben - die
Geschichte....den eingeprägten Schmerz".
[übersetzt
aus Janov, The Biology of Love, Prometheus, New
York, s. 16/17]
____________________
"In
der Kosmologie stellen wir die Fragen „Wie begann das
alles? Was hat es entstehen lassen? Wie beschaffen ist
das Universum? Wie geschah der Urknall?“ Wir müssen
nur dieselben Fragen über uns selbst stellen. In der
Primärtherapie suchen wir die Jahre mit unseren Eltern
wieder auf, eilen zurück zu den Zeiten unserer Großeltern
und begeben uns von da (über Monate oder Jahre) hinab
zu unseren Primaten-Vorfahren. Von dort reisen wir zu
niedrigeren Tierformen – der Salamander wiederum. Und
dann zurück zu den Elementen, aus denen wir gemacht
sind: die Atome und Moleküle des Sternenstaubs. Natürlich
gehen wir nicht bis zu diesem Punkt zurück, aber
Patienten gelangen zu dem Salamander-Gehirn, wo sie sich
schlängeln und sinusförmige Bewegungen machen, wo es
kein Weinen, keine Tränen und gewiss keine Worte gibt,
um Feelings zu verdecken. Wir können das. Wir haben
diese primitive Sprache erlernt und durch sie erschließen
wir unseren Patienten das Unbewusste, vertiefen ihre
Identität und erweitern ihren Bezugsrahmen, damit sie
sich selbst, ihr inneres Universum und ihr gegenwärtiges
Verhalten verstehen."
[übersetzt
aus Janov, Primal Healing, New Page Books, 2007,
s. 17]
|
Primärtherapie
ist somit ein Prozess, der es dem Patienten gestatten soll, den
eingeprägten frühen Schmerz - die Summe seiner traumatischen
Erfahrungen- und dessen nachteilige psychophysische Wirkungen
erheblich zu reduzieren oder im günstigsten aller Fälle vollständig
aus dem System zu entfernen und sich somit dem postprimären
Zustand anzunähern, einem Zustand, der auf
psychisch-emotionaler Ebene durch verringerte Spannung, größere
Ausgeglichenheit und größeres Wohlbefinden, erhöhte Liebesfähigkeit
und intensiveres Fühlen, und auf der physiologischen Ebene
durch herabgesetzte Stresshormonspiegel und beruhigten
Stoffwechsel gekennzeichnet ist, der sich in einem ruhigeren
Gesamtbild verschiedener Vitalfunktionen (Blutdruck,
Herzfrequenz, Körpertemperatur, Gehirnwellenaktivität)
artikuliert.
Eine
primärtheoretische Definition
von Neurose ist folglich,
dass es sich um einen hypermetabolen Zustand
handelt Die Theorie besagt, dass das System des Menschen unter
der Präsenz der eingeprägten traumatischen Repräsentationen
permanent und nicht nur in spezifischen Situationen zu
viel Energie verbraucht. Diese Definition gilt auch für den Parasympathetiker,
auch wenn dessen Vitalfunktionen oft einen stark reduzierten,
"sparsamen" Stoffwechsel widerzuspiegeln scheinen.
Aber auch in die Nervennetzwerke dieses zur parasympathischen
Seite verschobenen Physiotypus sind
teils hochenergetische Erinnerungen eingeprägt,
die vielleicht ihren Tribut vom Stoffwechselhaushalt des Organismus
fordern.
"Wir
sehen, dass Schmerz eine enorme Energie
verbraucht........die einzige Art, das überhaupt zu
erkennen, liegt in dem leichten Anstieg der vitalen Körperfunktionen,
den die Mediziner inzwischen leider als normal
bezeichnen. Es ist keineswegs so, dass der Körper nur
dann Energie investiert, wenn die Gefühle im Aufsteigen
begriffen sind; er tut es vielmehr unbemerkt und
unbewusst permanent, um die Verdrängung der Gefühle
aufrecht zu erhalten. Das ist ein vollautomatischer
Prozess. Aber gerade dieser chronische Energieverbrauch
macht uns letztlich fertig; er ist ein grundlegender und
entscheidender Faktor im Prozess des Alterns."
[A.
Janov in: Janov/Holden, Primal Man - Das Neue
Bewusstsein, Fischer, 1977, s. 374].
|
Der
primärtheoretische Neurosenbegriff bezieht sich mehr auf den Gesamtzustand
des menschlichen Organismus und ist nicht so sehr an
spezifische Symptome oder Störungen des Denkens, Verhaltens, Fühlens
oder spezielle psychosomatische Beschwerden
("Herzneurose") gebunden, wie es bei der üblichen
Verwendung des Begriffs der Fall ist.
"Janov
hat seine Theorie der Entstehung und Therapie von
Neurosen (und Psychosen) zunächst vorwiegend
psychologisch formuliert, später aber zunehmend
physiologisch bzw. neurophysiologisch, d. h. Körper und
Gehirn betreffend. Denn nach seiner Auffassung gibt es
keine isolierten psychischen Erkrankungen, sondern eine
Neurose oder Psychose betrifft ebenfalls Körper und
Gehirn, ist somit immer eine gesamt-organismische Erkrankung.
"
[Bohnke/Gross,
Der heilende Schmerz, Herder, 1988, s. 26]
|
Während
die Begriffe "Neurose" und "Neurotiker" in
Janovs früheren Büchern häufige Verwendung fanden, sind sie
in seinem Buch The Biology
of Love kaum mehr anzutreffen und
erscheinen nicht einmal im Stichwortverzeichnis. Man könnte
mutmaßen, dass Janov an der deutlichen Unterscheidung der
Gesellschaft zwischen primärtherapeutisch behandelten
Individuen/ Primal Center einerseits und neurotischen Individuen
/neurotischer Population andererseits nicht mehr so viel gelegen
ist wie in vorhergehenden Werken. Schon in seinem Buch Der
neue Urschrei [The New Primal Scream] relativiert er
sein Menschenbild:
"Nicht
jeder kann eine Primärtherapie machen. Nicht jeder
braucht sie oder will sie auch nur. Eine große
Population "kommt zurecht". Die Menschen sind
gesund und können sich ihrer Umgebung anpassen. Sich
bei einem engen Freund auszuweinen, wenn das Bedürfnis
danach entsteht, ist wichtig...........Menschen können
ohne die Therapie fühlen und taten das zweifelsohne
schon lange vor der Existenz der Therapie. Wir sind nur
deshalb gezwungen, Techniken zum Ausgraben von Gefühlen
zu entwickeln, weil die Abwehrsysteme so labyrinthisch
geworden sind....".
[Janov,
Der neue Urschrei, Fischer, 1993, s.269,297]
|
Andererseits
bringt er deutlich zum Ausdruck, was er als zentrale Komponenten
neurotischer Gesellschaften ansieht: Schmerz, Verleugnung und
Verdrängung.
"Über
unsere Neurose scheint es eine stillschweigende Verschwörung
zu geben. Die Hälfte der Werbspots im Fernsehen preist
Schmerzmittel an. Niemand wagt der Öffentlichkeit zu
sagen: "Ihr leidet." Dies wird unausgesprochen
vorausgesetzt und sotto voce verkündet. Die
Schmerztöter sind für Kopfschmerzen, Magenschmerzen
oder Rückenschmerzen; die schlichte Tatsache ist, dass
viele von uns leiden."
[Janov,
Der neue Urschrei, Fischer, 1993, s. 296]
|
Es scheint, dass Janov
einiges von seiner früheren Radikalität und
Kompromisslosigkeit verloren hat, obgleich er an seiner Überzeugung,
dass Primärtherapie als System zur Reduzierung oder gänzlichen
Extraktion eingespeicherten frühen Schmerzes die einzige
sinnvolle und effektive Behandlung der meisten psychischen und
physischen Leiden sei, unvermindert festhält. Es sollte nicht
vergessen werden, dass er nicht nur Wissenschaftler und
Therapeut ist, sondern auch sein eigener Patient, der den
Urschmerz, das Trauma und das Wiedererleben eingeprägter
sensorischer und emotionaler früher Ereignisse innerhalb eines
natürlichen Prozesses am eigenen Organismus erfahren hat.
Bohnke/Gross schreiben:
"Ohne
Zweifel kennt er [Janov] Primals aus eigener Erfahrung.
So berichtet er in "Revolution der Psyche"
(1976, 225):
'Mein
Vater ist vor kurzem gestorben. Ich musste mich ins Bett
legen und hatte vier Tage lang ein Urerlebnis nach dem
anderen. Ich möchte auf diese Urerlebnisse näher
eingehen, weil sie Einsichten über das Wesen der Trauer
vermitteln. Ich weinte über den Vater, den ich nie
hatte. Ich weinte über mich. Das ist alles, was ein
Neurotiker machen kann, wenn er von Schmerz erfüllt
ist. Jeden Tag fühlte ich einen Gefühlskomplex, der
jeweils von allen anderen Gefühlen losgelöst war. An
einem Tag war es: 'Sei mein lieber Papi.' An einem
anderen Tag: 'Sag, dass ich gut bin, bevor du stirbst.'
Ein wieder anderes Urerlebnis lautete: 'Geh noch nicht
fort, ich brauche dich noch.' "
[Bohnke/Gross,
Der heilende Schmerz, Herder, 1988, s. 15]
|
Aus
öffentlich gewordenen Äußerungen seines früheren
Mitarbeiters, des Neurologen E. Michael Holden geht hervor, dass
Janov in seinem persönlichen Primärprozess auch mit einem
schweren Geburtstrauma konfrontiert war.
Janov
sieht sich heute in größerem Einklang mit der
wissenschaftlichen Welt:
"Es
ist viel neue Studienarbeit über das Gehirn geleistet
worden, die es ermöglicht, die Gebiete der Dynamischen
Psychologie und der Neurologie zu verbinden. Wir können
all die neue Forschung nutzen, um zu verstehen, warum
wir nicht schlafen können, warum wir Albträume haben,
warum wir so getrieben sind, warum wir oft weder mit
anderen auskommen können noch Beziehungen halten können,
warum wir Alkohol und Drogen nehmen und wie die sich auf
das Gehirn auswirken, wo der Schmerz hingeht, nachdem
wir ihn erfahren, was mit unseren Gefühlen geschieht,
wenn sie in das Unterbewusstsein gezwungen werden, wie
unsere Gefühle verdrängt werden, was im Unbewussten
liegt und viele weitere Aspekte der conditio humana.
Diese Entdeckungen sind nur dann von Bedeutung, wenn sie
uns schließlich helfen, uns besser zu fühlen und ein
annehmbares Leben zu führen."
[Übersetzt
aus: Janov, The Biology of Love, Prometheus 2000, s.
15]
"In
den vergangenen dreißig Jahren habe ich unentwegt den
Glauben an die Auswirkungen von vorgeburtlichen und
geburtlichen traumatischen Erfahrungen auf das spätere
Leben bewahrt. Jetzt zieht die Forschung nach. Es gibt
Beweise, wo wir auch hinsehen."
[Janov,
ibid., s. 16]
|
Und er legt großen
Wert darauf, von der Fachwelt als seriöser Wissenschaftler und
Repräsentant einer wissenschaftlich fundierten Theorie und
Therapie anerkannt zu werden. Das Bemühen um Veröffentlichung
seines jüngsten Werkes The Biology of Love im
konservativen Prometheus-Verlag deutet ebenso in diese Richtung
wie die plakative Publikmachung positiver Kommentare von
Fachkollegen auf der Webseite des Primal
Centers.
__________
Es
ist nicht einfach, die aktuelle Situation der Primärtherapie
zutreffend wiederzugeben. Am Primal Center in Venice,
Kalifornien, sind derzeit schätzungsweise höchstens ein
Dutzend Therapeuten beschäftigt, ein kleines Team zweifelsohne gut
qualifizierter und trainierter Leute, die von Janov lizenziert
sind, die Primärtherapie auszuüben. Die Anforderungen sind im
Institut sehr hoch gesetzt. Alle Bewerber für den
Therapeuten-Beruf müssen in ihrem eigenen Primärprozess
fortgeschritten sein, bevor sie zur Behandlung anderer Personen
zugelassen werden. Sie müssen gute theoretische Kenntnisse
nachweisen. Zudem ist ein hohes Maß an Empathie
erforderlich. Die Therapeuten müssen ein aufrichtiges Interesse
glaubhaft machen können, anderen helfen zu wollen, und sie müssen
die Fähigkeit besitzen, sich in andere einzufühlen. Sie dürfen
nicht "abgewehrt" sein, das heißt, sie müssen in der
Lage sein Fehler zuzugeben und Kritik seitens der Patienten zu
akzeptieren. Zudem dürfen sie sich durch emotionale
Projektionen, die vom Patienten kommen, nie dazu provozieren
lassen, ein "Machtexempel zu statuieren", also dem
Patienten zu zeigen, "wer hier der Stärkere ist".
Wenn ein Patient zum Beispiel Wut auf den Therapeuten
projiziert, dann muss der in der Lage sein, damit relativ ruhig
und gelassen umzugehen, und er muss dem Patienten helfen, die
Emotion in die korrekte Richtung zu lenken. In dem Artikel What
is Proper Primal Therapy as Defined by Dr. Janov? werden die Anforderungen an einen "guten" Primärtherapeuten
zusammengefasst.
Siehe auch
FAQs
Primal Therapy
auf der Primal Center Website
Weltweit
gibt es eine Vielzahl von Zentren und Einzeltherapeuten, die
"Primärtherapie" anbieten. Es ist schwer, die Qualität
dieser Angebote richtig einzuschätzen. Nach Janovs eigenen
Angaben und Beobachtungen wird die Therapie außerhalb seines
eigenen Instituts in den allermeisten Fällen als abreaktive
Gefühlstherapie betrieben, die keinen wirklichen Zugang
zu tieferen Bewusstseinsebenen schafft und kaum jemals zu echtem
Wiedererleben eingeprägter Kindheits- oder
Geburtstraumen führt. Die Patienten reagieren ab, monatelang,
vielleicht jahrelang, ohne dass es zu einer Auflösung
des Traumas kommt, das in ewig reverbierenden (resonierenden,
zurückschwingenden) neuronalen Schaltkreisen seine
Bahnen zieht. Dementsprechend ist bei Menschen, die nur
abreagieren und sich in keinem echten Wiedererlebensprozess
befinden, die Wahrscheinlichkeit, dass sich bestehende Störungen
bessern oder aufgehoben werden, sehr gering.
Es ist kein
Wunder, dass so viele Menschen, die Primärtherapie machen
wollen, auf dem Abreaktionsgleis landen. Man darf nie vergessen,
dass es sich bei frühen Traumen oft um Ereignisse auf
Leben oder Tod handelt und dass es ein Abwehrsystem
gibt, das den Menschen auch im Erwachsenenalter noch immer beschützt.
Dieses Abwehrsystem lässt sich nicht so leicht beiseite
schieben oder überwinden. Es ist zu bedenken, dass der
menschliche Organismus Erfahrung mit der Abwehr, Integration und
Verarbeitung von Schmerz hat, die sich auf einen Zeitraum
von vielen Jahrmillionen erstreckt. Nach Janovs Theorie ist
Schmerz ein Faktor, der wesentlich zur Evolution des
menschlichen Gehirns beigetragen hat.*
*Siehe
hierzu auch meinen (schwer verdaulichen) Aufsatz "Gedanken
zur Evolution der Menschheit auf Basis der Primärtheorie Arthur
Janovs" unter primal-page.com
oder
Artikel und Buchauszüge.
Mit
fortschreitender Evolution dürfte es immer seltener geschehen
sein, dass eingeprägter Schmerz möglichst schnell
wieder aus dem System hinausbefördert wurde. Wenn man sich den
gewaltigen neokortikalen Überbau des menschlichen
Gehirns ansieht, zu dessen Entstehung Schmerz und Trauma
nach Janovs Theorie einen gewichtigen Beitrag leisteten, dann
scheint es nicht weiter verwunderlich, dass ein unter diesem
neokortikalen Deckel "eingelagertes" Trauma keinen Weg
mehr aus dem System herausfindet. Das Trauma wird unter
Verschluss gehalten - es ist zwar anwesend und lebendig, aber es
beeinträchtigt das Funktionieren des Individuums in der
Gegenwart nicht über ein akzeptables Maß hinaus,
vorausgesetzt, die traumatische Gesamtlast ist nicht zu
gewaltig und die Abwehr ist einigermaßen intakt. Diese
"Methode" hat sich bewährt. Die Menschen können im
Hier und Jetzt angemessen funktionieren, sie haben genügend
Zeit, Nachkommen zu zeugen und für diese zu sorgen und auch
sonst einen angemessenen Beitrag zum Fortbestand der
Gesellschaft zu leisten.
Es dauert in
der Regel viele Jahrzehnte, bis die Wahrscheinlichkeit, dass die
eingeprägten Traumen zu ernsthaften - oft katastrophalen
- Störungen im Organismus führen, stark zunimmt. Als Beispiel,
das auch Janov in seinen Büchern anführt, sei eine männliche
Person genannt - oft eine Unternehmerpersönlichkeit - , die in
der Gesellschaft sehr erfolgreich ist, viel gute Arbeit leistet,
die auch anderen zugute kommt. Dieser Mensch scheint kerngesund,
bis er schließlich Ende fünfzig oder Anfang sechzig - plötzlich
und unerwartet - einen schweren Herzinfarkt erleidet. Alle Erklärungen
konzentrieren sich dann auf die Gegenwart, kaum jemand kommt auf
den Gedanken, dass der angesammelte Urschmerz bzw. dessen
über Jahrzehnte andauernder Einfluss auf das System die
Hauptschuld an dem Infarkt trägt.
Mit Janovs
Entdeckung des Primal Pain taucht jetzt in der Geschichte
der Menschheit eine ganz neue Option auf. Der frühe eingeprägte
Schmerz lässt sich durch Regression und Wiedererleben
(Primärtherapie) aus dem System
herauslösen, aber diese Option setzt voraus, dass Patient und
Therapeut in der Lage sind, das Abwehrsystem, das auf
Millionen Jahre Erfahrung "zurückblicken" kann,
zeitweise außer Kraft zu setzen. Und genau das scheint
der heikle Punkt zu sein, an dem die Therapie oft schiefläuft.
Der Organismus stellt die Weichen automatisch auf "Abreaktion",
während die Person denkt, sie löse ein frühes Trauma auf.
Janov sagt sinngemäß, der Neokortex sei für sich allein
betrachtet oft ein " Esel" der sich leicht täuschen lässt.
Primärtherapie
ist keine leichte Übung. Im Vorfeld der Annäherung an ein
schweres Trauma kann es sein, dass Menschen sich wirklich sehr
schlecht fühlen.* Sie
versinken vielleicht in rabenschwarze Hoffnungslosigkeit,
erleben intensivste Angst, erfahren unheimliche physiologische
Reaktionen (anhaltendes Herzjagen, etc.) und erleben vielleicht
sogar eine suizidale Phase. Und auch wenn sie schließlich
dieses Vorstadium hinter sich haben und voll in die frühe
traumatische Erfahrung eintauchen (z. B. eine schwere
Geburt, bei der sich das System der Mutter nicht richtig öffnete
und es zu anhaltendem Sauerstoffmangel kam), stehen ihnen
oft schwierige Phasen in der Therapie bevor. Janov sagt, es könne
oft viele Monate dauern, bis ein schweres Trauma vollständig
aufgelöst sei. Manchmal geht es nur langsam voran. In jeder
Sitzung wird ein Teilaspekt des Traumas "verarbeitet",
bis es schließlich ganz wiedererlebt ist.
"Die
Skepsis derer, die nie gesehen haben, wie eine lange
verdrängte Erfahrung wieder ins Bewusstsein
aufsteigt, und das sogar nach Jahrzehnten, ist verständlich.
Der Anblick dieses aufsteigenden Schmerzes, als ich
ihn zum ersten Mal bei einem Patienten sah, ging weit
über das hinaus, was ich in den siebzehn Jahren
Praxis in der konventionellen Therapie jemals gesehen
hatte. Der Schmerz kann so schwerwiegend sein, dass
ein traumatisches Kindheitsereignis wie Inzest
Hunderte Male wiedererlebt werden muss, um seine
toxischen Auswirkungen endgültig aus dem Organismus
zu eliminieren."
[Übersetzt
aus: Janov, Why you get sick and how you get well,
Dove Books, 1996, s. 26]
|
* Siehe
hierzu auch: E. M. Holden in Janov/Holden, Das neue
Bewusstsein-Primal Man, Kapitel V: "Was
spielt sich bei einem Primal in Gehirn und Körper ab?",
Fischer, 1977, s. 165-175;
Wenn jemand mehrere
schwere frühe Traumata erlebt und überlebt hat, dann wird er
oder sie in der Therapie die Erfahrung machen, dass zwischen dem
Wiedererleben von Trauma 1 und Trauma 2 eine lange "Pufferzeit"
liegt, eine Erholungs- und Aufbauphase, die einige Jahre
umfassen kann. Wie Janov sagt, ist Primärtherapie ein selbststeuernder
Prozess. Der Organismus würde es nie zulassen, dass zwei katastrophale
frühe Ereignisse kurz hintereinander im
Wiedererlebensprozess zur Auflösung freigegeben werden, auch
dann nicht, wenn die Ereignisse damals tatsächlich kurz
hintereinander auftraten. Hier muss man bedenken, dass
"Wiedererleben im Erwachsenenalter" oft in
Wirklichkeit bedeutet, ein Trauma zum ersten Mal voll zu
erleben und so zu verarbeiten, dass kein Rückstand bleibt.
Man muss an diesem Punkt jedoch sagen, dass wahrscheinlich immer
ein Rückstand bleiben wird. Wenn man bedenkt, das ein Trauma
bereits im Mutterleib einsetzen kann und vielleicht hier schon
die Sollwerte bestimmter Substanzen oder sogar die
Entfaltung der Gene beeinflusst, dann bleibt die völlige
Auflösung oder das Ungeschehen-Machen eines sehr frühen
Traumas ein Idealwert, dem man sich so gut wie möglich
annähern kann. Es mag durchaus Veränderungen im Gefolge eines
sehr frühen (pränatalen) Traumas geben, die sich nicht mehr
rückgängig machen lassen.
Das menschliche System ist ein intelligentes Konstrukt, das sehr
gut weiß, wie viel Belastung es zu einem gegebenen Zeitpunkt
verkraften kann. Der Fetus, das Neugeborene, das Kleinkind haben
nur sehr eingeschränkte Mittel, mit überlastendem Input fertig
zu werden. Es geht ums Überleben, und der Preis dafür ist die Einprägung
oder der traumatische Rückstand -- eine Erinnerung, die
es wirklich "in sich hat," zumal sie auch alle
biochemischen und physiologischen - vielleicht bereits im
Mutterleib eingeleiteten- Verschiebungen umfasst, die später zu
vielfältigen körperlichen und psychischen Störungen führen
können. Erwachsenen Menschen aber ist es nun möglich,
diese eingravierten Traumen voll zu erleben und somit
aufzulösen. Das aber ist anspruchsvoll und erfordert Zeit. Wenn
in der Primärtherapie der Körper des Erwachsenen bereit ist,
das nächste Trauma zu "integrieren," dann wird er das
zu erkennen geben, und die Person spürt, dass ihr eine neue Wiedererlebens-Episode
bevorsteht.
Wenn Primärtherapie
richtig angewandt wird, vermag sie zweifelsohne sehr viel. Sie
kann Leben retten, Leben verlängern, menschliches Leiden
psychischer oder körperlicher Art lindern oder sogar ganz
beseitigen, sie kann die Lebensqualität deutlich verbessern,
sie nimmt den Druck aus dem System und erlaubt intensiveres Fühlen.
Letztlich wird die Verbesserung des Fühlens und der
Lebensqualität auch dazu führen, dass Individuen sozial
kompetenter werden und sich mehr um ihre Mitmenschen kümmern.
Das ist keine Eigenschaft, die man jemandem mittels
Glaubenslehre eintrichtern muss. Es ist eine ganz normale
Funktion fühlender Menschen.
Um die
Zukunft der Primärtherapie als eine wissenschaftliche
Methode, die es Erwachsenen gestattet, in ihre Vergangenheit
zurückzukehren, traumatische Rückstände aufzulösen
und dadurch ein besseres physiologisches und biochemisches
Gleichgewicht zu erreichen - z.B. durch Senkung des Blutdrucks,
des Stresshormonspiegels, durch einen höheren Serotoninspiegel
- muss man sich insofern Sorgen machen, als die
Anforderungen, die die Therapie sowohl an die Therapeuten als
auch an die Patienten stellt, sehr hoch sind. Erfolgreiche Primärtherapie
setzt voraus, dass sich der Therapeut intensiv mit
seiner eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt
hat. Er oder sie sollte aus eigener Erfahrung wissen, was
es bedeutet, vorgeburtliche Erfahrungen, ein Geburtstrauma oder frühes Kindheitstrauma
wiederzuerleben. Und Therapeuten müssen sich darüber im Klaren
sein, dass sich dieses Verfahren nicht aus der Distanz, aus
einer gesicherten, höher positionierten Abwehrstellung heraus
praktizieren lässt, die so viele Psychotherapeuten einnehmen.
Primärtherapie erfordert von Therapeuten ein hohes Maß an Empathie
und Engagement, und das ist wahrscheinlich der Grund, dass
der Beruf des Primärtherapeuten von hoher Fluktuation
gekennzeichnet ist. Nach Janovs eigenen Aussagen ist es einfach
nicht menschenmöglich, sich in der therapeutischen Praxis ein
ganzes Arbeitsleben lang mit Urschmerz und Trauma zu befassen. Möglicherweise
geht dieser Job geht an die Substanz und fordert seinen
Tribut.......
Auch auf
Seite der Patienten sind die Anforderungen hoch. Patienten müssen
in der Lage sein, mit der Therapie relativ selbstständig und
eigenverantworlich umzugehen. Primärtherapie ist keine
Dienst- leistung, die man passiv über sich ergehen lässt. Wie
Janov sagt, bekommen die Menschen Werkzeuge zur Hand, die
sie befähigen, die Therapie erfolgreich fortzusetzen. Letztlich
residiert das Trauma im System des Patienten selbst, und nicht
in Gehirn und Körper eines Außenstehenden, und somit ist der
Patient selbst der oberste und wichtigste Experte für
die traumatischen Geschehnisse seiner eigenen Vergangen-
heit. Dem Therapeuten kommt lediglich eine Assistentenrolle zu,
und das umso mehr, je weiter die Therapie fortschreitet. In
gewisser Hinsicht hat ein guter Primärtherapeut viel mit einer
erfahrenen Hebamme gemein, die sich im Hintergrund
haltend eine Hausgeburt begleitet und der Gebärenden die
Hauptrolle überlässt. Ein Patient, der immer nur nach
Anweisung des Therapeuten handelt oder fühlt, kann in der
Primärtherapie keine Fortschritte machen. Das Gleiche gilt für
Personen, die niemals zuhören können, wenn ihnen eine tiefere
Bewusstseinsebene etwas mitteilen will. Sie lenken jede
aufsteigende Botschaft automatisch in verwaschene Gefühlskanäle
(Abreaktion) und vereiteln somit die notwendige Verknüpfung.
Es ist im Grunde erstaunlich, wie wenig der moderne Homo
sapiens in der Lage ist, mit tieferen Bereichen seines
eigenen Gehirns zu kommunizieren, und das lässt darauf
schließen, welches hohe Maß an Spaltung, Verdrängung und
Schleusung in dem langen Zeitraum der menschlichen Evolution
erforderlich war, um das Überleben
der Spezies zu sichern.
Zudem muss
ein Primärpatient in der Lage sein, in bestimmten Phasen dem
Wiedererleben eines frühen Traumas den Vorrang vor dem
Funktionieren in der Gegenwart einzuräumen. Das kann durchaus
bedeuten, dass jemand für Wochen oder Monate keiner Arbeit
nachgehen kann. Kein leichtes Problem, wenn vom seinem oder
ihrem Funktionieren die Existenz der Familie abhängt,
zumal das Verständnis für primärtherapeutische Aktivitäten
in dieser neurotischen Gesellschaft nicht sonderlich ausgeprägt
ist.
Aus
all diesen Gründen scheint es sehr unwahrscheinlich,
dass Primärtherapie jemals zu einem Massenphänomen in
der Erwachsenenpopulation wird:
"Sicherlich
hat die Primärtherapie Elemente einer Modetherapie.
Die Zeiten, wo es chic war, gerade mal "auf
Urschrei zu machen", bis es wieder etwas Neues
gibt, sind allerdings vorbei. Glücklicherweise, muß
man sagen. Denn ähnlich wie bei der Psychoanalyse
besteht nach dem Modeboom jetzt die Chance, daß man
der Primärtherapie unvoreingenommen gegenübertritt,
sie weder euphorisch hochjubelt, noch sie
diskreditiert oder verteufelt. So muß bezweifelt
werden, daß eine primärtherapeutische Revolution die
Welt verändern wird - genausowenig wie das die
Psychoanalyse getan hat. Dafür erfordert die Primärtherapie,
wenn sie seriös druchgeführt wird, zuviel unbedingte
Bereitschaft zur schmerzhaften Selbsterforschung, und
nicht zuletzt auch mehr Aufwand an Zeit und Geld, als
die meisten Menschen aufbringen können und wollen.
Mit Sicherheit aber wird die Primärtherapie
weiterbestehen. Denn sie hat eine gute Substanz."
[Bohnke/Gross,
Der heilende Schmerz, Herder, 1988, s. 153]
|
Die Therapie
kann vielen Menschen helfen, die unter schweren seelischen oder
körperlichen Symptomen leiden, und somit deren Lebensqualität
erheblich verbessern. Aber die im Erwachsenenalter ansetzende
nachträgliche Behandlung traumatisierter Menschen ist kein
geeignetes Instrument, um "die Gesellschaft zu ändern."
Die entscheidenden Schritte, um Veränderungen auf breiter Ebene
herbeizuführen, werden am Lebensanfang getan:
"If
we want to produce new human beings with a solid brain
we need to change the birth practices in accordance
with Drs. Leboyer and Odent. We need to take great
care in prebirth and, of course, in the first months
after birth. That is when the brain is forming new
synapses and dendrites; its communication system is
developing that will allow the child to be more than
competent in many spheres, physical, artistic, and
intellectual. I have seen children born to mothers who
are very careful and loving in prebirth, birth, and
afterward. These children are different. They are
alert, smart physically advanced, not sick, not whiny,
creative, warm, and cuddly. Who would want more than
that? They have every chance in life, which is the
reason for writing this book - to give society a
chance to create a new kind of human being. It is not
so difficult at all. It is the way to avoid later
alcoholism and addiction, criminality and psychosis.
It is a way to produce humans who care about their
brothers and sisters in society."
[Janov,
The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, p.
323]
"Wenn
wir neue menschliche Geschöpfe mit einem soliden
Gehirn erzeugen wollen, müssen wir die
Geburtspraktiken in Übereinstimmung mit den Drs.
Leboyer und Odent ändern. Wir müssen in der
vorgeburtlichen Phase und natürlich in den ersten
Monaten nach der Geburt große Sorgfalt walten lassen.
Das heißt, in einer Zeit, in der das Gehirn neue
Synapsen und Dendriten bildet; sein
Kommunikationssystem entwickelt sich, das dem Kind
erlaubt, in vielen Bereichen - körperlich, künstlerisch
und intellektuell - mehr als kompetent zu sein. Ich
habe Kinder gesehen, die von Müttern geboren wurden,
die vor, während und nach der Geburt sehr sorgfältig
und liebevoll waren. Diese Kinder sind anders. Sie
sind rege, klug, körperlich fortgeschritten, nicht
krank, nicht weinerlich, sie sind kreativ, warmherzig
und kuschelig. Wer wollte noch mehr? Sie haben alle
Chancen im Leben, und aus diesem Grund wurde dieses
Buch geschrieben - um der Gesellschaft die Chance zu
geben, eine neue Art Mensch zu schaffen. Es ist gar
nicht so schwierig. Es ist eine Methode, wie wir späteren
Alkoholismus und spätere Sucht, Kriminalität und
Psychose vermeiden. Es ist eine Methode, Menschen zu
schaffen, die sich um ihre Brüder und Schwestern in
der Gesellschaft kümmern."
[Janov,
The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, s.
323]
|
Es ist das
große Verdienst Arthur Janovs, in aller Deutlichkeit aufgezeigt
zu haben, dass der menschliche Organismus sehr sensibel auf frühe
Erfahrungen im Mutterleib, bei der Geburt und in der Kindheit
reagiert. In jeder Entwicklungsphase gibt es spezifische Bedürfnisse,
die erfüllt werden müssen. Aber die Aufgabe dafür zu sorgen,
dass Kinder am Lebensanfang und in der Kindheit möglichst wenig
Überlastung und Schmerz erfahren, obliegt der gesamten
"neurotischen" Gesellschaft und kann nicht nur
Angelegenheit einer kleinen Minderheit von Personen sein,
die als Erwachsene auf primärtherapeutischem Weg ihre
eigenen frühen Traumen reduziert oder aufgelöst haben. Es
ist die "neurotische" Gesellschaft selbst, die die
Transformation vollziehen muss. Es wird viele Generationen in
Anspruch nehmen, bis es vollbracht ist. Aber es ist machbar.
____________________
Literatur:
(1)
Arthur Janov, Gesamtwerk, 1975 - 2012
(2)
Bohnke/Gross, Der heilende Schmerz, Herder-Taschenbuch, 1988
(3)
Tomas Videgard, Success and failure of Primal Therapy, Almqvist
& Wiksell Internat.,1985
Links:
(1)
Dr. Janovs Blog
(2)
Dr. Janovs Primal Center
(3)
Artikel
und Buchauszüge
(4)
Wikipedia
(1) oder (2)
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