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Primal Mind                    

 

TEIL I

Arthur Janov:  Primärtheorie und Primärtherapie

TEIL II

Kritik an Arthur Janov und an der Praxis der Primärtherapie

    TEIL III       

Interview mit Dr. Arthur Janov

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TEIL I

Arthur Janov:  

Primärtheorie und Primärtherapie

 

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"Those who say we can't have feelings before birth and can't have memories until we have words with which to remember them are ignoring evidence to the contrary. The fetus is capable of registering, coding, and storing pain. Even before birth, between the seventh and twentieth week, the nerve tracts that carry pain signals from the spinal cord to the lower centers of the brain are almost fully developed. This means there is pain perception and storage at a most rudimentary level."

"Diejenigen, die sagen, dass wir vor der Geburt nichts fühlen können und solange keine Erinnerungen haben können, bis uns Worte zur Verfügung stehen, mit denen wir sie abrufen können, ignorieren den Beweis des Gegenteils. Der Fetus ist in der Lage, Schmerz zu registrieren, zu kodieren und zu speichern. Schon vor der Geburt, zwischen der siebenten und zwanzigsten Woche, sind die Nervenbahnen, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns befördern, beinahe voll entwickelt. Das bedeutet, es gibt Schmerzwahrnehmung und –speicherung auf einer äußerst rudimentären Ebene."

[Arthur Janov in Why You Get Sick and How You Get Well, Dove Books,1996, s. 37]

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"Obwohl sich überall in diesem Buch wissenschaftliche Quellenangaben und Zitate finden, sollten wir die alles überspannende Wahrheit nicht aus den Augen verlieren – Gefühle sind ihre eigene Validation. Wir können den ganzen lieben Tag lang anführen und zitieren, aber die Wahrheit liegt letztlich in der Erfahrung menschlicher Wesen. Ihre Gefühle erklären so viel, dass statistische Beweise irrelevant werden. Die kognitive Therapie sucht statistische Wahrheiten, um ihre Hypothesen und Theorien zu erhärten; diese Theorien sind allzu oft intellektuelle Konstrukte, die tatsächlich statistischer Validation bedürfen. Über mathematische Fakten hinaus sind wir hinter biologischen Wahrheiten her. Die Studien, die ich zitiere, beweisen nichts. Was sie machen, ist, dass sie eine Art von Universalität anzeigen, ein Kontinuum für alle Arten organischen Lebens. Diese Studien sind Folgesätze, keine separaten, unangetasteten Realitäten; eine Art intellektueller Kniefall vor dem linken Gehirn. Aber ohne Kontakt zum rechten Gehirn sind diese Realitäten auf das Intellektuelle beschränkt. Bei Statistiken kann alles wahr sein, weil sie biologische Realitäten ignorieren. Sie lassen sich auf jegliche Weise manipulieren. Alles das mag denen entgehen, die keinen Zutritt zum Rechtshirn-Unbewussten haben, wo Geschichte und Gefühle liegen. Tierforschung ist interessant, aber wir versuchen nicht, die Psyche von Ratten zu verstehen; wir müssen unsere eigene Psyche verstehen – durch Analogie oder Folgerung. Wer leidet, wer defekte Schleusen hat, hat eine Art unvollständigen Zugang zum Unbewussten. Bei unserer Arbeit haben wir ein Versuchslabor, wo wir das Unbewusste jeden Tag in unseren Patienten sehen. Wir brauchen keine statistischen Wahrheiten. Wir haben biologische."

[Übersetzt aus: Arthur Janov,  Primal Healing, NewPageBooks, NJ, 2007]

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"Wir Psychotherapeuten müssen den Status einer Wissenselite ablegen, die als Mittelpunkt aller psychologischen Erkenntnisse gilt. Der Patient ist der einzige, der Kenntnis von seinem Unbewussten hat. Therapeuten können darüber nur spekulieren. Wenn Therapeuten auf der Grundlage von Theorien arbeiten, die aus dem Unbewussten von Psychologen konstruiert worden sind, anstatt auf der inneren Realität des Patienten zu gründen, werden sie zu pfuschenden Mechanikern, die ihre Techniken eher nach Lust und Laune ändern als auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse. Bis jetzt gibt es kein theoretisches Netz, das sowohl Psychologie als auch Neurologie umfasst, obgleich es Versuche gegeben hat, Psychoanalyse mit Neurologie zu verbinden. Im großen und Ganzen ist es eine Schrotflinten-Hochzeit, eine erzwungene Ehe. Es ist, als würde man eine alte, ausrangierte Auffassung auf eine neue Wissenschaft pflastern und hoffen, dass es halten wird. Wenn die Psychoanalyse zentrale innere Realitäten ignoriert, ist es bedeutungslos, wenn wir ihr gewisse neurologische Fakten anhängen. Es kann nicht funktionieren. Warum sollten wir eine Theorie nehmen, die 100 Jahre alt ist, und sie mit Forschung kombinieren, die vielleicht sechs Monate alt ist? Die Ehe kann nicht von Dauer sein; der Bräutigam ist viel zu alt für die Braut, die neue Ideen und neue Informationen hat. Die junge Frau versucht den alten Mann zu führen, aber der alte Mann ist zu schwach um mitzuhalten. Besser eine junge Theorie, die innerhalb neurologischer Prinzipien arbeitet."

[Übersetzt aus: Arthur Janov,  Primal Healing, NewPageBooks, NJ, 2007, s.261]

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Einleitung

Was ich hier wiedergebe, entspricht meinen eigenen Erfahrungen, meinem persönlichen Wissensstand und Verständnis,  und  es soll meine eigenen Überzeugungen dokumentieren. Vielleicht gibt es keine absoluten objektiven Wahrheiten, aber wenn die subjektiven Erfahrungen vieler Menschen übereinstimmen, dann wird man nicht umhin können, den erlebten und beschriebenen Phänomenen ein gewisses Recht auf Wahrheit zuzugestehen. Wenn einerseits eintausend Personen sich einer Primärtherapie unterziehen und achthundert von ihnen behaupten, sie hätten ihre Geburt wiedererlebt und es bestehe ein Zusammenhang zwischen ihrem Leiden und dem frühen Schmerz, der durch eine traumatische Geburt, durch Vernachlässigung und andere frühe Ereignisse entstanden sei, und wenn andererseits von eintausend Fachleuten, die keine Primärtherapie gemacht haben, achthundert behaupten, dies sei ausgeschlossen, weil das System des Fetus, des Neugeborenen und Kleinkinds keine frühen Ereignisse speichern könne, wer hat dann Recht?

Vielleicht ist das, wie Arthur Janov sagt, wirklich eine Frage des Zugangs und der Verknüpfung. Wenn jemand im Kopf gut abgeschottet ist gegen Gehirnbereiche, die Fühlen vermitteln und traumatische Erinnerungen beherbergen könnten, wenn die Schleusen dicht sind und die Person vorwiegend im linken Frontalhirn zuhause ist, dann ist es wenig wahrscheinlich, dass sie oder er die Vorstellung akzeptiert, es gebe tiefer drinnen im Gehirn ein Phänomen wie "Urschmerz" oder "eingeprägtes Trauma." Warum auch, wenn nichts weh tut? Wenn jemand allerdings nicht so"dicht" ist, wenn ständig frühes Material durch das Abwehrsystem sickert und der Mensch leidet und vielleicht in der Gegenwart schlecht funktioniert, dann ist die Verbindung nach 'weiter rechts,' 'weiter unten' und 'tiefer drinnen' noch nicht ganz abgebrochen und er oder sie fühlt die Existenz des Verborgenen. 

Es gibt in der Tat Experten in Sachen Urschmerz und Erinnerung, auf deren Urteil man vertrauen darf. Es sind dies die wenigen Menschen, die die Reise in die Tiefen des Unbewussten wirklich unternommen haben, bis hinab zu jenem primitiven Gehirn, in dem unsere frühesten Erfahrungen gespeichert sind. Wenn sie zurückgekehrt sind, kennen sie  "die Wahrheit," weil sie diese mit ihrem ganzen Körpersystem erfahren haben. Erinnerung kann  in allerletzter oder besser allererster, allerfrühester Instanz eine unglaublich rudimentäre Sache sein - ohne Worte, Bilder, Gefühle, Emotionen, Gerüche, ohne Würgen, Husten, Muskelkontraktionen oder andere körperliche Reaktionen -  vielleicht nicht mehr als eine  vage Körper-Empfindung. Aber nichtsdestotrotz ist auch das  eine Erinnerung - eine ganz frühe (pränatale) Erfahrung, die unser System aufgezeichnet hat.

 

Die Primärtheorie Arthur Janovs

"Every neurotic has a secret life because every neurotic has secret feelings."

                                                                                                                Arthur Janov

 

Frühe  Erfahrungen, die Organen und Teilsystemen des menschlichen Organismus ihren teils irreversiblen Stempel aufgedrückt haben, und eingravierte Erinnerungen, die scheinbar unauffindbar und unauslöschlich in den Tiefen des Gehirns ihre endlosen Kreise ziehen - können das Leben des Menschen auf vielfältige Weise prägen, leider allzu oft auch beeinträchtigen und im schlimmsten Fall dazu führen, dass das Sein zur tagtäglichen Qual wird. Niemand kommt so leicht auf die Idee, dass viele seiner oder ihrer Probleme in längst vergangenen Zeiten wurzeln könnte  - vielleicht sogar im Mutterleib ihren Anfang hatten - zumal oft selbst der bloße Gedanke, dass sich eine frühe Erfahrung, zum Beispiel bei der Geburt, mitsamt ihrer ursprünglichen Kraft noch immer im menschlichen System befinde und diesem die Chance nehme, einen harmonischeren Zustand anzunehmen, der Verdrängung unterliegt und völlig absurd erscheint. Je näher  jedoch jemand auf der breiten Skala menschlicher Probleme dem rotfarbigen Bereich kommt, in dem die Existenz zum permanenten Leidenszustand zu werden droht, umso leichter begreift und akzeptiert er oder sie wahrscheinlich, dass sich eine fremde Kraft in seinem oder ihrem System "eingenistet" hat, welche die Homöostasie - das innere Gleichgewicht - empfindlich stört.

Der  amerikanische Psychologe und Psychotherapeut  Arthur Janov (geb. 1924, Foto) bezeichnet diese Kraft als Primal Pain oder Urschmerz. In seinen Büchern (jüngste Werke: The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, Grand Delusions, Online-Buch, 2005,  Primal Healing, New Page Books, NJ, 2007 und The Janov Solution, SterlingHouse Books, Pittsburgh , 2007) beschreibt er, welche Umstände dem von ihm entdeckten Urschmerz in den unterschiedlichen Phasen des frühen Lebens - vorgeburtliche Zeit, Geburt, frühe und spätere Kindheit - ursächlich zugrunde liegen, und welche Auswirkungen er auf unsere geistig-psychische und körperliche Verfassung hat.

"Wie ich bereits gesagt habe, perlen all die Dinge, die uns in unserem Leben zustoßen, nicht wie Regentropfen von uns ab. Sie werden im Gehirn und Körper registriert und gespeichert. Ist ein Ereignis zu schmerzhaft, so wird es als Trauma registriert. Ein Trauma bedeutet, dass mehr Schmerz - körperlicher oder psychischer Art - vorhanden ist, als das System integrieren kann. Dadurch wird das System überlastet und versucht automatisch, sich gegen den Schmerz abzublocken. Zum Glück gibt es eine Reihe im Gehirn operierender Schleusen, die uns helfen, Schmerz abzublocken oder zu verdrängen. Wenn sich die Schleusen gegen ein Trauma verschließen, kommt es zu einer Spaltung oder zu einer Durchtrennung der Verknüpfung zwischen dem Affekt oder dem Gefühl der schmerzhaften Erfahrung einerseits und dem Wissen davon andererseits. Der unverknüpfte Schmerz bleibt als Rückkoppelungsschleife bestehen, die das System auf die eine oder andere Weise permanent beeinflußt." 

[A. Janov in: Janov/Holden, Primal Man, Das Neue Bewusstsein, Fischer, 1977, s. 369,370]   

 

Die von Janov entwickelte Primal Therapy - Primärtherapie - gründet auf seiner Entdeckung (1967) und stellt ein therapeutisches Verfahren dar, das dem Patienten  den Zugang zu tief eingegrabenen traumatischen Rückständen - auch zu den vorgeburtlichen Aspekten - in Gehirn und Körper ermöglichen soll. 

 

"Jedesmal, wenn wir einen neurotischen Patienten dazu bringen, sich aufzuschließen, stoßen wir auf Schmerz; wir machen immer wieder die Beobachtung, dass Schmerz ein zentraler Bestandteil von Neurosen ist......Das Paradigma ist wirklich äußerst einfach: Urschmerz erzeugt Neurosen und Psychosen, und das Wiedererleben des Schmerzes bedeutet deren Auflösung. Alles, was Sie an Theoretischem und Wissenschaftlichem lesen werden, kreist um dieses einfache Paradigma; in all den Jahren seit Bestehen der Primärtherapie hat sich das nicht geändert." 

[A. Janov in: Janov/Holden, Primal Man - Das Neue Bewusstsein, Fischer, 1977, s. 13]

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"Man muss den Menschen gestatten, sich nach und nach ihren eigenen Weg durch die Gehirnebenen hinab zu erarbeiten, um die tiefste Ebene des Unbewussten zu erreichen und mit ihr in Verbindung zu treten.......Eine einzige Auffassung, nämlich das Konzept der Prägung/Einprägung , würde meiner Einschätzung nach die Praxis der gegenwärtigen Psychotherapie verändern.......Wir haben zuviel Zeit darin investiert, gegenwärtige Quellen von Stress zu erforschen, um Erscheinungen wie Angst, Magenbeschwerden, hohen Blutdruck, Herzrasen, Depression usw. zu verstehen, weil wir den zentralen Bestandteil vieler Störungen ausgelassen haben - die Geschichte....den eingeprägten Schmerz". 

[übersetzt aus Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, s. 16/17]

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"In der Kosmologie stellen wir die Fragen „Wie begann das alles? Was hat es entstehen lassen? Wie beschaffen ist das Universum? Wie geschah der Urknall?“ Wir müssen nur dieselben Fragen über uns selbst stellen. In der Primärtherapie suchen wir die Jahre mit unseren Eltern wieder auf, eilen zurück zu den Zeiten unserer Großeltern und begeben uns von da (über Monate oder Jahre) hinab zu unseren Primaten-Vorfahren. Von dort reisen wir zu niedrigeren Tierformen – der Salamander wiederum. Und dann zurück zu den Elementen, aus denen wir gemacht sind: die Atome und Moleküle des Sternenstaubs. Natürlich gehen wir nicht bis zu diesem Punkt zurück, aber Patienten gelangen zu dem Salamander-Gehirn, wo sie sich schlängeln und sinusförmige Bewegungen machen, wo es kein Weinen, keine Tränen und gewiss keine Worte gibt, um Feelings zu verdecken. Wir können das. Wir haben diese primitive Sprache erlernt und durch sie erschließen wir unseren Patienten das Unbewusste, vertiefen ihre Identität und erweitern ihren Bezugsrahmen, damit sie sich selbst, ihr inneres Universum und ihr gegenwärtiges Verhalten verstehen."

[übersetzt aus Janov, Primal Healing, New Page Books, 2007, s. 17]

Primärtherapie ist somit ein Prozess, der es dem Patienten gestatten soll, den eingeprägten frühen Schmerz - die Summe seiner traumatischen Erfahrungen- und dessen nachteilige psychophysische Wirkungen erheblich zu reduzieren oder im günstigsten aller Fälle vollständig aus dem System zu entfernen und sich somit dem postprimären Zustand anzunähern, einem Zustand, der auf psychisch-emotionaler Ebene durch verringerte Spannung, größere Ausgeglichenheit und größeres Wohlbefinden, erhöhte Liebesfähigkeit und intensiveres Fühlen, und auf der physiologischen Ebene durch herabgesetzte Stresshormonspiegel und beruhigten Stoffwechsel gekennzeichnet ist, der sich in einem ruhigeren Gesamtbild verschiedener Vitalfunktionen (Blutdruck, Herzfrequenz, Körpertemperatur, Gehirnwellenaktivität) artikuliert. 

Eine primärtheoretische Definition von Neurose ist folglich, dass es sich um einen hypermetabolen Zustand handelt Die Theorie besagt, dass das System des Menschen unter der Präsenz der eingeprägten traumatischen Repräsentationen  permanent und nicht nur in spezifischen Situationen zu viel Energie verbraucht. Diese Definition gilt auch für den Parasympathetiker, auch wenn dessen Vitalfunktionen oft einen stark reduzierten, "sparsamen" Stoffwechsel widerzuspiegeln scheinen. Aber auch in die Nervennetzwerke dieses zur parasympathischen Seite verschobenen Physiotypus sind teils hochenergetische Erinnerungen eingeprägt, die vielleicht ihren Tribut vom Stoffwechselhaushalt des Organismus fordern. 

"Wir sehen, dass Schmerz eine enorme Energie verbraucht........die einzige Art, das überhaupt zu erkennen, liegt in dem leichten Anstieg der vitalen Körperfunktionen, den die Mediziner inzwischen leider als normal bezeichnen. Es ist keineswegs so, dass der Körper nur dann Energie investiert, wenn die Gefühle im Aufsteigen begriffen sind; er tut es vielmehr unbemerkt und unbewusst permanent, um die Verdrängung der Gefühle aufrecht zu erhalten. Das ist ein vollautomatischer Prozess. Aber gerade dieser chronische Energieverbrauch macht uns letztlich fertig; er ist ein grundlegender und entscheidender Faktor im Prozess des Alterns." 

[A. Janov in: Janov/Holden, Primal Man - Das Neue Bewusstsein, Fischer, 1977, s. 374].

 

Der primärtheoretische Neurosenbegriff bezieht sich mehr auf den Gesamtzustand des menschlichen Organismus und ist nicht so sehr an spezifische Symptome oder Störungen des Denkens, Verhaltens, Fühlens oder spezielle psychosomatische Beschwerden ("Herzneurose") gebunden, wie es bei der üblichen Verwendung des Begriffs der Fall ist. 

"Janov hat seine Theorie der Entstehung und Therapie von Neurosen (und Psychosen)  zunächst vorwiegend psychologisch formuliert, später aber zunehmend physiologisch bzw. neurophysiologisch, d. h. Körper und Gehirn betreffend. Denn nach seiner Auffassung gibt es keine isolierten psychischen Erkrankungen, sondern eine Neurose oder Psychose betrifft ebenfalls Körper und Gehirn, ist somit immer eine gesamt-organismische Erkrankung. " 

[Bohnke/Gross, Der heilende Schmerz, Herder, 1988, s. 26]

 

Während die Begriffe "Neurose" und "Neurotiker" in Janovs früheren Büchern häufige Verwendung fanden, sind sie in seinem  Buch The Biology of Love kaum mehr anzutreffen und erscheinen nicht einmal im Stichwortverzeichnis. Man könnte mutmaßen, dass Janov an der deutlichen Unterscheidung der Gesellschaft zwischen primärtherapeutisch behandelten Individuen/ Primal Center einerseits und neurotischen Individuen /neurotischer Population andererseits nicht mehr so viel gelegen ist wie in vorhergehenden Werken. Schon in seinem Buch Der neue Urschrei [The New Primal Scream] relativiert er sein Menschenbild:

"Nicht jeder kann eine Primärtherapie machen. Nicht jeder braucht sie oder will sie auch nur. Eine große Population "kommt zurecht". Die Menschen sind gesund und können sich ihrer Umgebung anpassen. Sich bei einem engen Freund auszuweinen, wenn das Bedürfnis danach entsteht, ist wichtig...........Menschen können ohne die Therapie fühlen und taten das zweifelsohne schon lange vor der Existenz der Therapie. Wir sind nur deshalb gezwungen, Techniken zum Ausgraben von Gefühlen zu entwickeln, weil die Abwehrsysteme so labyrinthisch geworden sind....".

[Janov, Der neue Urschrei, Fischer, 1993, s.269,297]

 

Andererseits bringt er deutlich zum Ausdruck, was er als zentrale Komponenten neurotischer Gesellschaften ansieht: Schmerz, Verleugnung und Verdrängung.

"Über unsere Neurose scheint es eine stillschweigende Verschwörung zu geben. Die Hälfte der Werbspots im Fernsehen preist Schmerzmittel an. Niemand wagt der Öffentlichkeit zu sagen: "Ihr leidet." Dies wird unausgesprochen vorausgesetzt und sotto voce verkündet. Die Schmerztöter sind für Kopfschmerzen, Magenschmerzen oder Rückenschmerzen; die schlichte Tatsache ist, dass viele von uns leiden." 

[Janov, Der neue Urschrei, Fischer, 1993, s. 296]

 

Es scheint, dass Janov einiges von seiner früheren Radikalität und Kompromisslosigkeit verloren hat, obgleich er an seiner Überzeugung, dass Primärtherapie als System zur Reduzierung oder gänzlichen Extraktion eingespeicherten frühen Schmerzes die einzige sinnvolle und effektive Behandlung der meisten psychischen und physischen Leiden sei, unvermindert festhält.  Es sollte nicht vergessen werden, dass er nicht nur Wissenschaftler und Therapeut ist, sondern auch sein eigener Patient, der den Urschmerz, das Trauma und das Wiedererleben  eingeprägter sensorischer und emotionaler früher Ereignisse innerhalb eines natürlichen Prozesses am eigenen Organismus erfahren hat. Bohnke/Gross schreiben:

"Ohne Zweifel kennt er [Janov] Primals aus eigener Erfahrung. So berichtet er in "Revolution der Psyche" (1976, 225):

'Mein Vater ist vor kurzem gestorben. Ich musste mich ins Bett legen und hatte vier Tage lang ein Urerlebnis nach dem anderen. Ich möchte auf diese Urerlebnisse näher eingehen, weil sie Einsichten über das Wesen der Trauer vermitteln. Ich weinte über den Vater, den ich nie hatte. Ich weinte über mich. Das ist alles, was ein Neurotiker machen kann, wenn er von Schmerz erfüllt ist. Jeden Tag fühlte ich einen Gefühlskomplex, der jeweils von allen anderen Gefühlen losgelöst war. An einem Tag war es: 'Sei mein lieber Papi.' An einem anderen Tag: 'Sag, dass ich gut bin, bevor du stirbst.' Ein wieder anderes Urerlebnis lautete: 'Geh noch nicht fort, ich brauche dich noch.' "

[Bohnke/Gross, Der heilende Schmerz, Herder, 1988, s. 15]

 

Aus öffentlich gewordenen Äußerungen seines früheren Mitarbeiters, des Neurologen E. Michael Holden geht hervor, dass Janov in seinem persönlichen Primärprozess auch mit einem schweren Geburtstrauma konfrontiert war.

Janov sieht sich heute in größerem Einklang mit der wissenschaftlichen Welt:

"Es ist viel neue Studienarbeit über das Gehirn geleistet worden, die es ermöglicht, die Gebiete der Dynamischen Psychologie und der Neurologie zu verbinden. Wir können all die neue Forschung nutzen, um zu verstehen, warum wir nicht schlafen können, warum wir Albträume haben, warum wir so getrieben sind, warum wir oft weder mit anderen auskommen können noch Beziehungen halten können, warum wir Alkohol und Drogen nehmen und wie die sich auf das Gehirn auswirken, wo der Schmerz hingeht, nachdem wir ihn erfahren, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn sie in das Unterbewusstsein gezwungen werden, wie unsere Gefühle verdrängt werden, was im Unbewussten liegt und viele weitere Aspekte der conditio humana. Diese Entdeckungen sind nur dann von Bedeutung, wenn sie uns schließlich helfen, uns besser zu fühlen und ein annehmbares Leben zu führen."    

[Übersetzt aus: Janov, The Biology of Love, Prometheus 2000, s. 15]

"In den vergangenen dreißig Jahren habe ich unentwegt den Glauben an die Auswirkungen von vorgeburtlichen und geburtlichen traumatischen Erfahrungen auf das spätere Leben bewahrt. Jetzt zieht die Forschung nach. Es gibt Beweise, wo wir auch hinsehen." 

[Janov, ibid., s. 16]             

 

Und er legt großen Wert darauf, von der Fachwelt als seriöser Wissenschaftler und Repräsentant einer wissenschaftlich fundierten Theorie und Therapie anerkannt zu werden. Das Bemühen um Veröffentlichung seines jüngsten Werkes The Biology of Love im konservativen Prometheus-Verlag deutet ebenso in diese Richtung wie die plakative Publikmachung positiver Kommentare von Fachkollegen auf der Webseite des Primal Centers.

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Es ist nicht einfach, die aktuelle Situation der Primärtherapie zutreffend wiederzugeben. Am Primal Center in Venice, Kalifornien, sind derzeit schätzungsweise höchstens ein Dutzend Therapeuten beschäftigt, ein kleines Team zweifelsohne gut qualifizierter und trainierter Leute, die von Janov lizenziert sind, die Primärtherapie auszuüben. Die Anforderungen sind im Institut sehr hoch gesetzt. Alle Bewerber für den Therapeuten-Beruf müssen in ihrem eigenen Primärprozess fortgeschritten sein, bevor sie zur Behandlung anderer Personen zugelassen werden. Sie müssen gute theoretische Kenntnisse nachweisen. Zudem ist ein hohes Maß an Empathie erforderlich. Die Therapeuten müssen ein aufrichtiges Interesse glaubhaft machen können, anderen helfen zu wollen, und sie müssen die Fähigkeit besitzen, sich in andere einzufühlen. Sie dürfen nicht "abgewehrt" sein, das heißt, sie müssen in der Lage sein Fehler zuzugeben und Kritik seitens der Patienten zu akzeptieren. Zudem dürfen sie sich durch emotionale Projektionen, die vom Patienten kommen, nie dazu provozieren lassen, ein "Machtexempel zu statuieren", also dem Patienten zu zeigen, "wer hier der Stärkere ist". Wenn ein Patient zum Beispiel Wut auf den Therapeuten projiziert, dann muss der in der Lage sein, damit relativ ruhig und gelassen umzugehen, und er muss dem Patienten helfen, die Emotion in die korrekte Richtung zu lenken. In dem Artikel What is Proper Primal Therapy as Defined by Dr. Janov? werden die Anforderungen an einen "guten" Primärtherapeuten zusammengefasst. 

 Siehe auch  FAQs Primal Therapy auf  der Primal Center Website

Weltweit gibt es eine Vielzahl von Zentren und Einzeltherapeuten, die "Primärtherapie" anbieten. Es ist schwer, die Qualität dieser Angebote richtig einzuschätzen. Nach Janovs eigenen Angaben und Beobachtungen wird die Therapie außerhalb seines eigenen Instituts in den allermeisten Fällen als abreaktive Gefühlstherapie betrieben, die keinen wirklichen Zugang zu tieferen Bewusstseinsebenen schafft und kaum jemals zu echtem Wiedererleben eingeprägter Kindheits- oder Geburtstraumen führt. Die Patienten reagieren ab, monatelang, vielleicht jahrelang, ohne dass es zu einer Auflösung des Traumas kommt, das in ewig reverbierenden (resonierenden, zurückschwingenden) neuronalen Schaltkreisen seine Bahnen zieht. Dementsprechend ist bei Menschen, die nur abreagieren und sich in keinem echten Wiedererlebensprozess befinden, die Wahrscheinlichkeit, dass sich bestehende Störungen bessern oder aufgehoben werden, sehr gering.

Es ist kein Wunder, dass so viele Menschen, die Primärtherapie machen wollen, auf dem Abreaktionsgleis landen. Man darf nie vergessen, dass es sich bei frühen Traumen oft um Ereignisse auf Leben oder Tod handelt und dass es ein Abwehrsystem gibt, das den Menschen auch im Erwachsenenalter noch immer beschützt. Dieses Abwehrsystem lässt sich nicht so leicht beiseite schieben oder überwinden. Es ist zu bedenken, dass der menschliche Organismus Erfahrung mit der Abwehr, Integration und Verarbeitung von Schmerz hat, die sich auf einen Zeitraum von vielen Jahrmillionen erstreckt. Nach Janovs Theorie ist Schmerz ein Faktor, der wesentlich zur Evolution des menschlichen Gehirns beigetragen hat.* 

*Siehe hierzu auch meinen (schwer verdaulichen) Aufsatz "Gedanken zur Evolution der Menschheit auf Basis der Primärtheorie Arthur Janovs" unter primal-page.com  oder  Artikel und Buchauszüge.

Mit fortschreitender Evolution dürfte es immer seltener geschehen sein, dass eingeprägter Schmerz möglichst schnell wieder aus dem System hinausbefördert wurde. Wenn man sich den gewaltigen neokortikalen Überbau des menschlichen Gehirns ansieht, zu dessen Entstehung Schmerz und Trauma nach Janovs Theorie einen gewichtigen Beitrag leisteten, dann scheint es nicht weiter verwunderlich, dass ein unter diesem neokortikalen Deckel "eingelagertes" Trauma keinen Weg mehr aus dem System herausfindet. Das Trauma wird unter Verschluss gehalten - es ist zwar anwesend und lebendig, aber es beeinträchtigt das Funktionieren des Individuums in der Gegenwart nicht über ein akzeptables Maß hinaus, vorausgesetzt, die traumatische Gesamtlast ist nicht zu gewaltig und die Abwehr ist einigermaßen intakt. Diese "Methode" hat sich bewährt. Die Menschen können im Hier und Jetzt angemessen funktionieren, sie haben genügend Zeit, Nachkommen zu zeugen und für diese zu sorgen und auch sonst einen angemessenen Beitrag zum Fortbestand der Gesellschaft zu leisten. 

Es dauert in der Regel viele Jahrzehnte, bis die Wahrscheinlichkeit, dass die eingeprägten Traumen zu ernsthaften - oft katastrophalen - Störungen im Organismus führen, stark zunimmt. Als Beispiel, das auch Janov in seinen Büchern anführt, sei eine männliche Person genannt - oft eine Unternehmerpersönlichkeit - , die in der Gesellschaft sehr erfolgreich ist, viel gute Arbeit leistet, die auch anderen zugute kommt. Dieser Mensch scheint kerngesund, bis er schließlich Ende fünfzig oder Anfang sechzig - plötzlich und unerwartet - einen schweren Herzinfarkt erleidet. Alle Erklärungen konzentrieren sich dann auf die Gegenwart, kaum jemand kommt auf den Gedanken, dass der angesammelte Urschmerz bzw. dessen über Jahrzehnte andauernder Einfluss auf das System die Hauptschuld an dem Infarkt trägt.

Mit Janovs Entdeckung des Primal Pain taucht jetzt in der Geschichte der Menschheit eine ganz neue Option auf. Der frühe eingeprägte Schmerz lässt sich durch Regression und Wiedererleben (Primärtherapie) aus dem System herauslösen, aber diese Option setzt voraus, dass Patient und Therapeut in der Lage sind, das Abwehrsystem, das auf Millionen Jahre Erfahrung "zurückblicken" kann,  zeitweise außer Kraft zu setzen. Und genau das scheint der heikle Punkt zu sein, an dem die Therapie oft schiefläuft. Der Organismus stellt die Weichen automatisch auf "Abreaktion", während die Person denkt, sie löse ein frühes Trauma auf. Janov sagt sinngemäß, der Neokortex sei für sich allein betrachtet oft ein " Esel" der sich leicht täuschen lässt.

Primärtherapie ist keine leichte Übung. Im Vorfeld der Annäherung an ein schweres Trauma kann es sein, dass Menschen sich wirklich sehr schlecht fühlen.* Sie versinken vielleicht in rabenschwarze Hoffnungslosigkeit, erleben intensivste Angst, erfahren unheimliche physiologische Reaktionen (anhaltendes Herzjagen, etc.) und erleben vielleicht sogar eine suizidale Phase. Und auch wenn sie schließlich dieses Vorstadium hinter sich haben und voll in die frühe traumatische Erfahrung eintauchen (z. B. eine schwere Geburt, bei der sich das System der Mutter nicht richtig öffnete und es zu anhaltendem Sauerstoffmangel kam), stehen ihnen oft schwierige Phasen in der Therapie bevor. Janov sagt, es könne oft viele Monate dauern, bis ein schweres Trauma vollständig aufgelöst sei. Manchmal geht es nur langsam voran. In jeder Sitzung wird ein Teilaspekt des Traumas "verarbeitet", bis es schließlich ganz wiedererlebt ist.

"Die Skepsis derer, die nie gesehen haben, wie eine lange verdrängte Erfahrung wieder ins Bewusstsein aufsteigt, und das sogar nach Jahrzehnten, ist verständlich. Der Anblick dieses aufsteigenden Schmerzes, als ich ihn zum ersten Mal bei einem Patienten sah, ging weit über das hinaus, was ich in den siebzehn Jahren Praxis in der konventionellen Therapie jemals gesehen hatte. Der Schmerz kann so schwerwiegend sein, dass ein traumatisches Kindheitsereignis wie Inzest Hunderte Male wiedererlebt werden muss, um seine toxischen Auswirkungen endgültig aus dem Organismus zu eliminieren."

[Übersetzt aus: Janov, Why you get sick and how you get well, Dove Books, 1996, s. 26]

* Siehe hierzu auch: E. M. Holden in Janov/Holden, Das neue Bewusstsein-Primal Man, Kapitel V: "Was spielt sich bei einem Primal in Gehirn und Körper ab?", Fischer, 1977, s. 165-175;

Wenn jemand mehrere schwere frühe Traumata erlebt und überlebt hat, dann wird er oder sie in der Therapie die Erfahrung machen, dass zwischen dem Wiedererleben von Trauma 1 und Trauma 2 eine lange "Pufferzeit" liegt, eine Erholungs- und Aufbauphase, die einige Jahre umfassen kann. Wie Janov sagt, ist Primärtherapie ein selbststeuernder Prozess. Der Organismus würde es nie zulassen, dass zwei katastrophale frühe Ereignisse kurz hintereinander im  Wiedererlebensprozess zur Auflösung freigegeben werden, auch dann nicht, wenn die Ereignisse damals  tatsächlich kurz hintereinander auftraten.  Hier muss man bedenken, dass "Wiedererleben im Erwachsenenalter" oft in Wirklichkeit bedeutet, ein Trauma zum ersten Mal voll zu erleben und so zu verarbeiten, dass kein Rückstand bleibt. Man muss an diesem Punkt jedoch sagen, dass wahrscheinlich immer ein Rückstand bleiben wird. Wenn man bedenkt, das ein Trauma bereits im Mutterleib einsetzen kann und vielleicht hier schon die Sollwerte bestimmter Substanzen  oder sogar die Entfaltung der Gene beeinflusst, dann bleibt die völlige Auflösung oder das Ungeschehen-Machen eines sehr frühen Traumas ein Idealwert, dem man sich so gut wie möglich annähern kann. Es mag durchaus Veränderungen im Gefolge eines sehr frühen (pränatalen) Traumas geben, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen.

Das menschliche System ist ein intelligentes Konstrukt, das sehr gut weiß, wie viel Belastung es zu einem gegebenen Zeitpunkt verkraften kann. Der Fetus, das Neugeborene, das Kleinkind haben nur sehr eingeschränkte Mittel, mit überlastendem Input fertig zu werden. Es geht ums Überleben, und der Preis dafür ist die Einprägung oder der traumatische Rückstand -- eine Erinnerung, die es wirklich "in sich hat," zumal sie auch alle biochemischen und physiologischen - vielleicht bereits im Mutterleib eingeleiteten- Verschiebungen umfasst, die später zu vielfältigen  körperlichen  und psychischen Störungen führen können. Erwachsenen Menschen aber ist es nun möglich, diese eingravierten Traumen voll zu erleben und somit aufzulösen. Das aber ist anspruchsvoll und erfordert Zeit. Wenn in der Primärtherapie der Körper des Erwachsenen bereit ist, das nächste Trauma zu "integrieren," dann wird er das zu erkennen geben, und die Person spürt, dass ihr eine neue Wiedererlebens-Episode bevorsteht.

Wenn Primärtherapie richtig angewandt wird, vermag sie zweifelsohne sehr viel. Sie kann Leben retten, Leben verlängern, menschliches Leiden psychischer oder körperlicher Art lindern oder sogar ganz beseitigen, sie kann die Lebensqualität deutlich verbessern, sie nimmt den Druck aus dem System und erlaubt intensiveres Fühlen. Letztlich wird die Verbesserung des Fühlens und der Lebensqualität auch dazu führen, dass  Individuen sozial kompetenter werden und sich mehr um ihre Mitmenschen kümmern. Das ist keine Eigenschaft, die man jemandem mittels Glaubenslehre eintrichtern muss. Es ist eine ganz normale Funktion fühlender Menschen.

Um die Zukunft der Primärtherapie als eine wissenschaftliche Methode, die es Erwachsenen gestattet, in ihre Vergangenheit zurückzukehren, traumatische Rückstände aufzulösen  und dadurch ein besseres physiologisches  und biochemisches Gleichgewicht zu erreichen - z.B. durch Senkung des Blutdrucks, des Stresshormonspiegels, durch einen höheren Serotoninspiegel - muss man sich insofern Sorgen machen, als die Anforderungen, die die Therapie sowohl an die Therapeuten als auch an die Patienten stellt, sehr hoch sind. Erfolgreiche Primärtherapie setzt voraus, dass sich der Therapeut intensiv mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Er oder sie sollte aus eigener Erfahrung wissen, was es bedeutet, vorgeburtliche Erfahrungen, ein Geburtstrauma oder frühes Kindheitstrauma wiederzuerleben. Und Therapeuten müssen sich darüber im Klaren sein, dass sich dieses Verfahren nicht aus der Distanz, aus einer gesicherten, höher positionierten Abwehrstellung heraus praktizieren lässt, die so viele Psychotherapeuten einnehmen. Primärtherapie erfordert von Therapeuten ein hohes Maß an Empathie und Engagement, und das ist wahrscheinlich der Grund, dass der Beruf des Primärtherapeuten von hoher Fluktuation gekennzeichnet ist. Nach Janovs eigenen Aussagen ist es einfach nicht menschenmöglich, sich in der therapeutischen Praxis ein ganzes Arbeitsleben lang mit Urschmerz und Trauma zu befassen. Möglicherweise geht dieser Job geht an die Substanz und fordert seinen Tribut.......

Auch auf Seite der Patienten sind die Anforderungen hoch. Patienten müssen in der Lage sein, mit der Therapie relativ selbstständig und eigenverantworlich umzugehen. Primärtherapie ist keine Dienst- leistung, die man passiv über sich ergehen lässt. Wie Janov sagt, bekommen die Menschen Werkzeuge zur Hand, die sie befähigen, die Therapie erfolgreich fortzusetzen. Letztlich residiert das Trauma im System des Patienten selbst, und nicht in Gehirn und Körper eines Außenstehenden, und somit ist der Patient selbst der oberste und wichtigste Experte für die traumatischen Geschehnisse seiner eigenen Vergangen- heit. Dem Therapeuten kommt lediglich eine Assistentenrolle zu, und das umso mehr, je weiter die Therapie fortschreitet. In gewisser Hinsicht hat ein guter Primärtherapeut viel mit einer erfahrenen Hebamme gemein, die sich im Hintergrund haltend eine Hausgeburt begleitet und der Gebärenden die Hauptrolle überlässt. Ein Patient, der immer nur nach Anweisung des Therapeuten handelt oder fühlt, kann in der Primärtherapie keine Fortschritte machen. Das Gleiche gilt für Personen, die niemals zuhören können, wenn ihnen eine tiefere Bewusstseinsebene etwas mitteilen will. Sie lenken jede aufsteigende Botschaft automatisch in verwaschene Gefühlskanäle (Abreaktion) und vereiteln somit die notwendige Verknüpfung. Es ist im Grunde erstaunlich, wie wenig der moderne Homo sapiens in der Lage ist, mit tieferen Bereichen seines eigenen Gehirns zu kommunizieren, und das lässt darauf schließen, welches hohe Maß an Spaltung, Verdrängung und Schleusung in dem langen Zeitraum der menschlichen Evolution erforderlich war, um das Überleben der Spezies zu sichern. 

Zudem muss ein Primärpatient in der Lage sein, in bestimmten Phasen dem Wiedererleben eines frühen Traumas den Vorrang vor dem Funktionieren in der Gegenwart einzuräumen. Das kann durchaus bedeuten, dass jemand für Wochen oder Monate keiner Arbeit nachgehen kann. Kein leichtes Problem, wenn vom seinem oder ihrem Funktionieren  die Existenz der Familie abhängt, zumal das Verständnis für primärtherapeutische Aktivitäten in dieser neurotischen Gesellschaft nicht sonderlich ausgeprägt ist.

Aus all diesen Gründen scheint es sehr unwahrscheinlich, dass Primärtherapie jemals zu einem Massenphänomen in der Erwachsenenpopulation wird:

"Sicherlich hat die Primärtherapie Elemente einer Modetherapie. Die Zeiten, wo es chic war, gerade mal "auf Urschrei zu machen", bis es wieder etwas Neues gibt, sind allerdings vorbei. Glücklicherweise, muß man sagen. Denn ähnlich wie bei der Psychoanalyse besteht nach dem Modeboom jetzt die Chance, daß man der Primärtherapie unvoreingenommen gegenübertritt, sie weder euphorisch hochjubelt, noch sie diskreditiert oder verteufelt. So muß bezweifelt werden, daß eine primärtherapeutische Revolution die Welt verändern wird - genausowenig wie das die Psychoanalyse getan hat. Dafür erfordert die Primärtherapie, wenn sie seriös druchgeführt wird, zuviel unbedingte Bereitschaft zur schmerzhaften Selbsterforschung, und nicht zuletzt auch mehr Aufwand an Zeit und Geld, als die meisten Menschen aufbringen können und wollen. Mit Sicherheit aber wird die Primärtherapie weiterbestehen. Denn sie hat eine gute Substanz."

[Bohnke/Gross, Der heilende Schmerz, Herder, 1988, s. 153]

Die Therapie kann vielen Menschen helfen, die unter schweren seelischen oder körperlichen Symptomen leiden, und somit deren Lebensqualität erheblich verbessern. Aber die im Erwachsenenalter ansetzende nachträgliche Behandlung traumatisierter Menschen ist kein geeignetes Instrument, um "die Gesellschaft zu ändern." Die entscheidenden Schritte, um Veränderungen auf breiter Ebene herbeizuführen, werden am Lebensanfang getan:

"If we want to produce new human beings with a solid brain we need to change the birth practices in accordance with Drs. Leboyer and Odent. We need to take great care in prebirth and, of course, in the first months after birth. That is when the brain is forming new synapses and dendrites; its communication system is developing that will allow the child to be more than competent in many spheres, physical, artistic, and intellectual. I have seen children born to mothers who are very careful and loving in prebirth, birth, and afterward. These children are different. They are alert, smart physically advanced, not sick, not whiny, creative, warm, and cuddly. Who would want more than that? They have every chance in life, which is the reason for writing this book - to give society a chance to create a new kind of human being. It is not so difficult at all. It is the way to avoid later alcoholism and addiction, criminality and psychosis. It is a way to produce humans who care about their brothers and sisters in society." 

[Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, p. 323]

"Wenn wir neue menschliche Geschöpfe mit einem soliden Gehirn erzeugen wollen, müssen wir die Geburtspraktiken in Übereinstimmung mit den Drs. Leboyer und Odent ändern. Wir müssen in der vorgeburtlichen Phase und natürlich in den ersten Monaten nach der Geburt große Sorgfalt walten lassen. Das heißt, in einer Zeit, in der das Gehirn neue Synapsen und Dendriten bildet; sein Kommunikationssystem entwickelt sich, das dem Kind erlaubt, in vielen Bereichen - körperlich, künstlerisch und intellektuell - mehr als kompetent zu sein. Ich habe Kinder gesehen, die von Müttern geboren wurden, die vor, während und nach der Geburt sehr sorgfältig und liebevoll waren. Diese Kinder sind anders. Sie sind rege, klug, körperlich fortgeschritten, nicht krank, nicht weinerlich, sie sind kreativ, warmherzig und kuschelig. Wer wollte noch mehr? Sie haben alle Chancen im Leben, und aus diesem Grund wurde dieses Buch geschrieben - um der Gesellschaft die Chance zu geben, eine neue Art Mensch zu schaffen. Es ist gar nicht so schwierig. Es ist eine Methode, wie wir späteren Alkoholismus und spätere Sucht, Kriminalität und Psychose vermeiden. Es ist eine Methode, Menschen zu schaffen, die sich um ihre Brüder und Schwestern in der Gesellschaft kümmern." 

[Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, s. 323]

Es ist das große Verdienst Arthur Janovs, in aller Deutlichkeit aufgezeigt zu haben, dass der menschliche Organismus sehr sensibel auf frühe Erfahrungen im Mutterleib, bei der Geburt und in der Kindheit reagiert. In jeder Entwicklungsphase gibt es spezifische Bedürfnisse, die erfüllt werden müssen. Aber die Aufgabe dafür zu sorgen, dass Kinder am Lebensanfang und in der Kindheit möglichst wenig Überlastung und Schmerz erfahren, obliegt der gesamten "neurotischen" Gesellschaft und kann nicht nur Angelegenheit einer kleinen Minderheit von Personen sein, die  als Erwachsene auf primärtherapeutischem Weg ihre eigenen frühen Traumen reduziert oder aufgelöst haben. Es ist die "neurotische" Gesellschaft selbst, die die Transformation vollziehen muss. Es wird viele Generationen in Anspruch nehmen, bis es vollbracht ist. Aber es ist machbar.

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Literatur:

(1) Arthur Janov, Gesamtwerk, 1975 - 2012

(2) Bohnke/Gross, Der heilende Schmerz, Herder-Taschenbuch, 1988

(3) Tomas Videgard, Success and failure of Primal Therapy, Almqvist & Wiksell Internat.,1985

 

Links:

(1)  Dr. Janovs Blog

(2)  Dr. Janovs Primal Center

(3)  Artikel und Buchauszüge

(4)  Wikipedia (1) oder (2)

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