Der
folgende Fall ist ein gutes Beispiel, wie jemand ausflippt, um sich
Psychose vom Leib zu halten. Das heißt, bizarre Vorstellungen
aufzugliedern und noch immer zu funktionieren. Wenn wir uns in der
Vergangenheit schlecht fühlten, konnten wir uns der konventionellen
Religion zuwenden. In weniger „modernen“ Gegenden der Erde und unter
traditionellen Kulturen erfüllt diese „Alte-Zeit-Religion“ noch immer
ihre uralten Funktionen: Bei den traditionellen Religionen besteht eine
fundamentale Aufgabe darin, den Leuten eine Pause von ihrem Schmerz
anzubieten. Religiöse Feiern und Glaube ersetzen zumindest zeitweise
Hoffnungslosigkeit durch Hoffnung. Man könnte sagen: „Was ist mit
wirklichem religiösen Glauben?“ Der fällt in der Therapie weg, ohne
dass je darüber diskutiert wird. Keiner von uns versucht, einen Patienten
von seinem Glauben abzubringen. Offensichtlich gibt es religiöse Überzeugungen,
die von der Erziehung früh im Leben herkommen; und sie sind von Dauer –
bis Gefühle dazwischentreten und die Person in Richtung Realität weisen.
Warum sonst sollte man an Irreales, an Gottheiten oder Heilsbringer
glauben? Aber diese Vorstellungen „kleben“ an uns, weil sie uns
vielleicht schon immer bei Bedürfnissen und Schmerz aus der Kindheit
geholfen haben. Je mehr ein Mensch den Schmerz fühlt, umso mehr scheint
sich der darauf gründende Glaube zu verflüchtigen. Auch auf diese Weise
erkennen wir, dass schmerzvolle Gefühle zu neurotischen
Glaubensvorstellungen führen.
KERRY
Mystizismus
war immer ein wichtiger Teil meines Lebens. Über einen Zeitraum von vier
Jahren wuchs er sich zu einem Bezugsrahmen aus, mit dem ich vieles, was
mit mir geschah, erklärte.
Die
Anfertigung meiner mystischen Orientierung war eigentlich ganz einfach.
Ich lebte einsam in der Wildnis, und ich musste mich selbst bestimmen und
die Erfahrung, die ich als Person hatte. Wie sich herausstellte, war das
einzige meiner Beschreibung entsprechende Etikett, das ich finden konnte,
das eines Mystikers.
Das Leben in der Wildnis trug zur Entwicklung meines Mystizimus bei, aber
jetzt weiß ich, dass seine Wurzeln in der Kindheit gelegt
wurden. Ich konnte im Umkreis meiner Eltern überhaupt keine
Emotionen ausdrücken, und irgendwie verlor ich meine ganze Lebendigkeit
und mein Selbstgefühl. Die Verdrängung baute starken inneren Druck in
mir auf und wandelte meine Psyche zu einem Ort, an dem sich
unidentifizierte Kräfte offenbaren konnten.
Mit achtzehn Jahren verließ ich die Schule, um Wildlife-Forschung in den
Wälder zu betreiben. Wochenlang blieb ich allein, sah nur Wälder, Berge
und Sumpfland. Diese Einsamkeits-Bedingungen wirkten auf mein Bewusstsein
ein. Ich fing an, subtile Wahrnehmungen von der Landschaft und mir selbst
zu haben und auf merkwürdige und unerklärliche Weise mit Tieren zu
interagieren. Zum Beispiel dachte ich, ich könne Magnetismus fühlen für
Säugetiere in den Wäldern – dass es möglich sei, gelegentlich zu spüren,
wie sie mich von hinten anschauten, und dass ich besser vorsichtig mit
meinen Augen sein sollte, wenn ich nahe zu ihnen kroch.
Eines Nachts wachte ich mit Kitzelempfindungen in meinem Nacken auf. Sie
waren wie sanfte elektrische Schläge, aber doch so aufwühlend, dass ich
sie beim ersten Auftreten als verwirrend und quälend empfand. Ich
brauchte einige Sekunden, um herauszufinden, was los war: Ein Hirsch ging
draußen vor dem Zelt vorbei, marschierte sanft über den Waldboden. Ich
hatte physische Hautreaktionen zu dem Geräusch, das meinen Körper traf.
Mit meinen Ohren konnte ich kaum etwas hören, wöhrend das Kitzeln in der
Haut sich wirklich mit dem
unsichtbaren Tier fortbewegte und eine präzise Richtung zu ihm anzeigte.
Ich hatte intensive Geräusch-Wahrnehmung ohne wirklich zu hören und war
erstaunt über diese Erkenntnis. Ich interpretierte diese und andere
Tiererfahrungen mystisch. Ich sah mich im Kontakt mit unsichtbaren
Kraftfeldern und mit einer längst vergessenen Kommunikationsebene. Durch
einfaches Leben war ich zu einem Zustand zurückgekehrt, der an Frühmenschen
erinnert. Ich hielt mich selbst für eine Inkarnation aus uralten Zeiten.
Bezeichnenderweise sprach ich mit niemand darüber, was mit mir geschah.
Zum einen war niemand da, an den ich mich wenden konnte, wenn diese
Geheimnisse auftraten. Außerdem hatte die wenigen Male, als ich in die
Stadt ging, keine engen Freunde, die ich treffen konnte. Was ich
vielleicht hätte hören sollen, war etwas Liebevolles über Deprivation
und die Nachteile der Einsamkeit für einen jungen Mann. Wenn das geschah,
ging ich einfach zurück, um mich noch mehr den Bedingungen der Wildnis
und ihren Stimmungen auszusetzen.
Bald war meine Grundhaltung die, dass die Natur ausführlich Mächte und
Einflüsse aus dem Jenseits manifestiere. Obwohl ich meine Arbeit vernünftig
durchführte, hörte ich Stimmen von jedem Ort, auf den ich meine
Aufmerksamkeit richtete. Ich hielt die Szenerie für einen lebenden
Organismus, der mit mir sprach in den stillen Stunden des Tages und der
Nacht. Die Botschaft war, dass ich die Leute verlassen und nachdenken
sollte über die geheimen Gesetze des Lebens und der Seele. Ich vermute,
es war meine eigene Psyche, die diese Botschaft ausheckte, und nicht die
Natur. Da ich nicht einmal zu dem Versuch in der Lage war, Menschen nahe
zu sein, musste ich zu Rationalisierungen Zuflucht nehmen und woanders
nach den guten Gefühlen suchen. Mystizismus füllte die Leere, weil er
Sekundenbruchteile der Erregung in mein stillgelegtes System brachte. Er
wurde zu einem angestrengten Versuch, zu fühlen und lebendig zu sein.
Nachdem die sonderbaren Natur-Ereignisse eine Zeit lang weitergegangen
waren, fing ich an, über Mystizismus zu lesen und ihn zu praktizieren.
Einerseits musste ich herausfinden, ob meine Erfahrungen von anderen
geteilt wurden oder nicht und andererseits wollte ich in der Lage sein,
mich nach Belieben in Trance und Ekstase zu versetzen.
Die Nachforschungen in dieser Sache erbrachten überraschende Ergebnisse.
In den Regalen einer Bücherei fand ich nicht nur ausgedehnte Literatur,
welche die Phänomene bestätigte, mit denen ich mich befasste, sondern
auch Erzählungen, die meinen Mystizismus als ziemlich blasse
Manifestation dessen erwiesen, was er sein könnte. Ich konnte nicht wie
Berichten zufolge einige Leute nachts meinen Körper verlassen und Glas
allein durch mentale Konzentration zerbrechen. Allerdings glaubte ich,
diese Dinge lernen zu können.
Als erster Schritt trat ich der Rosenkreutzer-Brüderschaft bei. Diese
Untergrund-Loge für spirituelle Läuterung schickte mir Instruktionen zum
Selbststudium und versprach eine Methode, um die geheimnisvollen Kräfte
des Geistes zu meistern. Auf Rat der Brüderschaft errichtete ich mein
eigenes kleines Allerheiligstes und brachte Kerzen in mein Zimmer.
Heute kann ich kaum glauben, was ich da hinter verschlossener Tür in den
lautlosen Stunden der Nacht machte. Ich hielt Ausschau nach der Aura der
Kerzen, und ich starrte in einen Spiegel, um ein Abbild meiner vergangenen
Inkarnationen zu sehen. Ich führte auf dem Boden symbolische Riten durch
und versuchte meine ganze schwache Konzentration zu sammeln, sodass ich über
weite Distanz Gedanken austauschen konnte mit anderen Studenten der
Rosenkreutzer-Lehre. Außerhalb meines Allerheiligsten war ich ein
distanzierter Philosoph, der gnädig seine Bücher und seine wertvollen
melancholischen Launen behütete. Ich gehörte der geheimen Brüderschaft
an, die diese Welt geküsst hatte und auf den Pfaden der Wahrheit und
Ewigkeit schritt.
Ein Mystiker meines Vaterlandes beeindruckte mich besonders. Für einige
Zeit war seine Biographie meine heilige Schrift voller Erzählungen über
bemerkenswerte Ereignisse. Ich konnte stundenlang vor einem Bild dieses
Mystikers sitzen und seinen Gesichtsausdruck studieren. Er schien mir ein
freundlicher Mensch zu sein, und ich wollte sein Grab sehen. Einmal in den
Sommerferien machte ich mich auf die Suche danach, inständig hoffend,
dass etwas Gutes geschehen möge. Ich fand sein Grab auf einem einsamen
Friedhof. Ich betete und weinte fast an seiner Grabstätte. Aber die
Himmel öffneten sich nicht und sandten keinen Donner.
Mit der Zeit wurde mir zunehmend bewusst, dass Mystizismus nicht die
Ekstase und das Wohlbefinden erzeugte, nach dem ich suchte. Ich zwang mich
weiterhin, meinen Geist zu trainieren, aber das machte keine Freude. Immer
mehr glitt ich ins Lesen ab anstatt zu praktizieren, sehnte mich nach dem
einen Buch mystischer Offenbarung, das mich gut fühlen ließ. Ich war überzeugt,
dass es irgendwo da draußen existierte und dass sich alles ändern würde,
sobald ich es fände.
So dehnte ich meine Suche nach Gesundheit ins Fachgebiet der Literatur
aus, besuchte Büchereien und Buchhandlungen, wo immer ich konnte. Immer
kam ich mit großen Hoffnungen an, ging aber in stiller Verzweiflung
hinaus, weil dort nichts meinen Bedürfnissen und Erwartungen entsprach.
In meinem letzten Frühling aktiven Mystizismuses geschahen einige erschütternde
Familien-Ereignisse, die mich sehr verstört und deprimiert zurückließen.
Es war schwer, das, was geschah, zu bewältigen, und ich machte nichts als
mich an meine Bücher zu klammern und an meiner Bestimmung festzuhalten,
mit der Wildnis Kontakt zu haben. Wiederum zog ich mich zurück, änderte
meine Schlafgewohnheiten, sodass ich in der Lage war, ab vier Uhr morgens
wach zu bleiben. Ich wollte in den frühen Tagesstunden am Fenster sitzen,
die Vögel singen hören, das Licht hereinsickern sehen und beobachten,
wie die Blumen sich öffnen.
Ich besuchte zu der Zeit einige Schulkurse, konnte aber nicht aktiv daran
teilnehmen. Im Klassenzimmer schlitterte ich ständig in Tagträume und
erfand im Geiste lange Geschichten über einen Mystiker, der aus den Wäldern
kam und die Zivilisation über ihre Verrücktheit aufklärte. Ich glaube,
dieser Zauberer war ich, der von seinem Schmerz erzählen wollte.
Frühere Gedanken über Reinkarnation kamen zurück. Dieses Mal war ich
nicht der primitive Naturmensch sondern eher ein neuerer Charakter aus der
Geschichte. Ich glaubte, ich sei ein Soldat im Russland des neunzehnten
Jahrhunderts, der auf den Großen Ebenen kämpfte. Immer, wenn ich in
diese Stimmung kam, schloss ich meine Augen und hörte den Zusammenprall
der Kavallerie in einer schrecklichen Kriegsszene. Ich konnte Schwärme
schwarzer Krähen auf dem Schlachtfeld sehen, auf dem überall tote Männer
lagen. Der Feind verbarg sich;bereit uns in einer zweiten Angriffswelle
auszulöschen.
Die Angst war so stark und die Empfindungen so real, dass ich in Trance
dasaß und das Klassenzimmer und die Leute vergaß. Ich zitterte innerlich
und war von jeder Kommunikation abgeschnitten. Nach Unterrichtsende lief
ich gewöhnlich hinaus, um mit mir selbst allein zu sein. Weil ich Angst
vor den Krähen in meiner Vision hatte, fürchtete ich mich immer, wenn
ich sie vorbeikommen sah. Ich wurde kreidebleich, als würden sie meine
Schlüsselerinnerung aus der anderen Zeit auslösen.
Ich war zweifellos auf dem Weg in den Wahnsinn. Weil ich meinen inneren
Druck nicht als das fühlen konnte, was er war, fielen mir alle möglichen
verdrehten Ideen ein. Ich wurde von Kräften überwältigt, die sich
fremdartig anfühlten, weil ich sie nicht mit ihrer wirklichen Quelle
verknüpfen konnte: mein verletztes Selbst.
Mit schizophrenen Geistezuständen musste ich keinen Riten mehr nachgehen,
um mich mystisch zu fühlen. Die spirituelle Suche brachte mich
nirgendwohin; ich war transzendental, weil ich einfach da war. Als ich
anfing, in der Psychologie nachzuforschen, um mich selbst zu erklären,
entleerte sich mein Mystizismus.
Die Primärtherapie half mir zu erkennen, inwieweit sich mein Mystizismus
aus der Verdrängung und aus dem Gefühlsmangel heraus entwickelte.
Zwanzig Jahre lang musste ich Freundschaften und Zuneigung entbehren, und
ich musste mein Leben nahezu völlig auf mich allein gestellt führen. Die
Einsamkeit verstärkte die Wut und den Schmerz, der nie ausgedrückt
werden konnte, - die starken Emotionen, die ich bei meinen Eltern nie
zeigen durfte. Die weggesperrte Spannung sickerte schließlich als
Mystizismus heraus. Durch den Mystizismus wollte ich leben und fühlen,
wenn die meisten anderen Ventile zwecklos oder blockiert schienen. Ich
habe ihn verwendet, um meiner Verdrängung einen Sinn zu geben und um mein
Gefühl des Ausgeschlossenseins zu erklären. Das spirituelle Verlangen,
das mich zur Suche zwang, war ein symbolischer Wunsch, im Hier-und-Jetzt
zu leben und sich innerlich gut zu fühlen. Die ganzen Dinge, die ich
unternahm in meinem Bemühen, emotionale Gesundheit wiederzuerlangen,
brachten mich von meinem wirklichen Selbst weg.
Mein früher Mystizismus in der Natur war gekennzeichnet durch Ereignisse,
die wahrscheinlich mit Begriffen der Biologie erklärt werden könnten.
Aber die einsamen Bedingungen fragmentierten auch meine Psyche genügend,
um Jenseitigkeit von der pathologischen Art zu begünstigen. Später
versuchte ich, ein wirklicher Mystiker zu werden, und ich verlor mich noch
mehr.
In der Therapie hatte ich keine besonderen auf Mystizismus an sich
bezogene Gefühle. Aber nachdem ich mich dem geöffnet habe, was vorher
abging, würde ich sagen, dass er für indirekte Verknüpfungen zwischen
meiner persönlichen Geschichte und seinem Inhalt gesorgt hat. Indem ich
Zorn, Schmerz und Kummer gegenüber meinen Eltern ausdrückte, die so
schlimm darin versagten, sich um mich zu kümmern, als ich klein war, habe
ich genau denselben Kräfte-Pool angezapft, der mich früher überwältigte
und mich glauben ließ, ich sei ein Mystiker. Als ich vor fünf Jahren in
mir einen gewaltigen Schrei hörte und dachte, ich würde im Russland des
19ten Jahrhunderts kämpfen, war es die Projektion eines zurückgehaltenen
Schreis, den ich an mein Umfeld hätte richten sollen, und zwar dafür,
dass ich in diesem Leben unfair behandelt werde. Ich drücke diesen Schrei
jetzt aus und richte ihn dorthin, wohin er wirklich gehört.
♦♦♦
Im
Bereich der Neurose hatten wir vor der Ausbreitung so vieler neuer
Glaubenssysteme nur eine enge Bandbreite an Taktiken, um mit eingeprägtem
Schmerz umzugehen. Damals in den 1940ern und 1950ern wurden Leute, die
einen einfachen „Nervenzusammenbruch“ hatten, eine Zeit lang aus dem
Verkehr gezogen und zweimal am Tag mit kalten Bädern behandelt, um sie da
„herauszuschocken;“ einschließlich meiner Mutter, die als eine Art
Schocktherapie jeden Tag im Ozean schwimmen musste. Die
Glaubensvorstellungen, die sie entwickelten, um ihre Einprägungen zu
symbolisieren, waren relativ unkompliziert, wenn auch ziemlich bizarr.
Jemand schickte ihm Botschaften
durch das Radio. „Sie“ befahlen ihm, diese oder jenes zu
denken und zu tun. (8) In der Nixon-Ära waren es die Kommunisten, die bereit
waren, einen Schalter umzulegen und das Hirn der Person zu sprengen. Wir
wissen jetzt, dass der Schalter einfach der Primär-Trigger ist, der ein
explosives Feeling auslösen könnte.
Zu jener Zeit sagte die
Freudsche Theorie, die das psychologische Denken dominierte, dass diese
Botschaften aus einer unbewussten Quelle kamen, die damals als das
„ES“ bekannt war. Die arme Seele litt ganz für sich selbst, einsam in
ihrem Schlafzimmer, in der Einsamkeit gequält von ihren persönlichen Dämonen;
kein Mensch hörte ihr zu, geschweige denn, glaubte ihr. Die Person ging
nie zum Flughafen runter und versuchte andere zu bekehren, noch versuchte
sie, irgendjemand von der Realität ihrer Einbildungen zu überzeugen. Der
Mensch glaubte einfach, und das war’s. Er war damit zufrieden, seine
Auffassungen für sich zu behalten, es sei denn, er wurde aufgerufen,
seine Handlungen zu rechtfertigen, zum Beispiel, warum er die Tür
seiner an das nächste Apartment grenzenden Wohnung zugenagelt hat oder
warum er das Radio zertrümmert hat.
¨¨¨
Die
New Age-„Religionen,“ Technologien und Glaubenssysteme vergrößern
die Bandbreite der defensiven Auswahl. Wir können auf Anhieb genau die
Art von Bewusstsein finden, die zu unserem Lebensstil, Geldbeutel und
unserer inneren Bedürftigkeit passt. Wir können unser bedürftiges
Selbst öffentlich übergeben an den Glauben an Astrologie,
Pyramiden-Power, Vegetarismus, Buddhismus, Astralprojektion, außerkörperliche
Erfahrung,Yoga und was auch immer. Wir leiden nicht mehr allein. Wir können
uns mit einer Auswahl gleichgesinnter Gläubiger verbinden, unsere
psychischen Abweichungen in einem System vereinigen, das nicht nur Schmerz
vernebelt sondern ein gewisses Maß an sozialer Seriosität erlangt. Gequälte
Seelen sind aus einsamen Schlafzimmern herausgekommen und zu einer sehr öffentlichen
Mainstream-Bewegung geworden. Man kann sie in jedem größeren Flughafen
in Amerika finden. Und der Paranoide von gestern kann heute eine Legion
von Schülern finden.
Wenn man die spirituelle Geographie des New Age aufzeichnet, zeigen
zahllose ideologische Karten gut gezeichnete Routen zum Seelenheil.
Anstatt den eigenen Weg durch die Schmerz-Wildnis zu finden kann der sich
krank fühlende Mensch jetzt zusammen mit ähnlich verblendeten Suchenden
einem eleganten Pfad unwirklicher Ideenbildung folgen und entlang des
Weges im Sprechchor Slogans und Litaneien verkünden. Er kann auf
Autobahnen zu „spirituellen Besinnungstagen“ in ländlichen Gemeinden
losschwirren und im Hyperschalljet über den Ozean zu Meditationszentren
im Himalaya fliegen. Und es macht nichts, dass der Guru Millionen von
Dollars von Leuten genommen hat, die es sich kaum leisten können. Frühe
Bedürfnisse führen sie dem zu, das sie zu bekommen glauben und nicht
dem, was der Guru bekommt. Wie ich sagte, die Leute können nicht über ihr Bedürfnisse
hinaussehen, noch kann das übrigens irgendjemand von uns.
Es tut nichts zur Sache, ob die Person an das „ES“ glaubt, an Gott,
Zen, an einen Wiedergeborenen aus Tibet oder an transzendentale
Meditation. Neuronen und das Schleusensystem kennen den Unterschied nicht
zwischen TM und EST oder Mantras aus einem Aschram. Aber alle schützenden
Glaubensvorstellungen müssen einen Kern aus Hoffnung in sich tragen. Es
ist die Emotion der Hoffnung, welche die neuroinhibitorischen Säfte zum
Fließen bringt und ebenso einige der mobilisierenden Säfte. Um es
korrekter auszudrücken: Es ist die eingebettete Hoffnungslosigkeit, die
ihr Gegenteil – Hoffnung- entstehen lässt und die sie begleitende
Biochemie der Hemmung oder Schleusung. Um noch präziser zu sein, es ist
das Auftauchen des Schmerzes im Umfeld der Hoffnungslosigkeit, was den von
Hoffnung umrankten Glauben und die damit einhergehende Sekretion von
Serotonin erzeugt.
Es gibt im Gehirn sogenannte Schleusen, die verhindern, dass die
Schmerzbotschaft nach oben wandert und vom präfrontalen kortikalen Areal
erkannt wird. Eine Kernmethode der Schleusenfunktion ist die Absonderung
von Serotonin, das für die Schmerzbotschaft eine chemische Barriere
errichtet. Der präfrontale Kortex unterscheidet nicht zwischen Allah und
Baba Ram Dass. Der Inhalt zählt nicht; ein Glaube zählt. Jeder schützende
Glaube dient derselben Funktion – Verdrängung, Absorbieren der
Schmerzenergie. Diese Energie, die jetzt „Hingabe“ genannt wird, ist
mit dem Glauben verschmolzen und wird in Inbrunst umgewandelt. Und wie
hingebungsvoll jemand ist, das wird zum Maß für den Schmerz. Wie John
Lennon es ausdrückte: „Gott ist eine Vorstellung, mit der wir unseren
Schmerz messen.“ Man kann einem Guru ergeben sein oder einem
Therapeuten, und aus denselben Gründen hat die Psychoanalyse so lange das
Fachgebiet dominiert, obwohl kaum Forschungsbeweise vorliegen.
Man kümmert sich um den Patient, sorgt für ihn, schützt ihn und redet
mit ihm – alles wunderbare Preise im Schmerz-Gewinnspiel. Stellen Sie
sich vor, dass sie alle drei Tage eine Autoritäts-Figur (Eltern-Ersatz)
bekommen, die ihre Aufmerksamkeit eine Stunde lang nur Ihnen widmet. Der
Patient bekommt symbolische Befriedigung.
Der atavistische Sprung von privater zu sozialer Verrücktheit, von
idiosynkratischen ideologischen Erfindungen zu sozialen Konstruktionen ist
ein Zeitsprung von den Jahrzehnten privater Kunsthandwerker, die
exzentrische Ansichten fabrizieren, zu einer Ära industriell gefertigter
Ideologien, die den wachsenden Markt verlorener Seelen bedienen. Der
mickrige Illusions- und Irrglaubens-Handwerker in der eigenen Garage ist
von Glaubensgroßhändlern verdrängt worden, die ihre Arbeit aus
glattpolierten Kommandozentralen heraus verrichten und dabei Technologien,
Medien und ausgeklügelte Verhaltens-Methodik handhaben. Es ist ein sehr
großer Sprung, wenn man - wie zuvor-
leidend in einem dunklen Zimmer liegt und jetzt in einem großen
Auditorium sitzt und im Einklang mit tausend anderen jemandem applaudiert,
der unseren gemeinsamen Irrsinn widerspiegelt. Noch besser ist, dass es
jetzt nicht einmal mehr Irrsinn oder Geistesstörung genannt wird. Jetzt
heißt es „Befreiung.“ Scientology ist das beste Beispiel, das ich mir
denken kann. Weil die Gläubigen nur auf Pseudowissen zurückgreifen
brauchen, sind sie zahlreich, lautstark und oft berühmt. Wenn man alles
hat und sich noch immer elend fühlt (auch unbewusst), dann braucht man
Magie.
Das ist keine moralisierende Position. Es kann durchaus besser sein, wenn
man ohne Schuld oder Schande irre oder wahnsinnig ist. Vorher hat man
gelitten, wurde verrückt gemacht und fühlte sich wie ein Ausgestoßener
wegen seines Irrsinns. Wenigstens ist man von dieser Bürde befreit. Jetzt
kann man in einer entspannten High-Tech-Atmosphäre mit reinem Gewissen
verrückt sein.
Ein ungeliebtes Kind ist ein potentieller zukünftiger Glaubensanhänger.
Nach meiner Erfahrung reflektiert die Unwirklichkeit des Glaubenssystems,
zu dem ein Individuum Zuflucht nimmt, oft die Tiefe seiner Deprivation (die
Intensität dessen, was ich eingeprägten Schmerz nenne) und den sehr frühen
Zeitpunkt ihres Auftretens. Deshalb ist es so schwierig, hartnäckigen
Glaubensvorstellungen auf den Grund zu kommen. Ihr Ursprung kann in den
ersten Wochen oder Monaten des Lebens liegen. Das ist keine Spekulation:
Patienten mit hartnäckigen Glaubensvorstellungen haben oft schrecklichen
und ganz frühen Schmerz. Wir werden sehen, wie die Gefühle im Gehirn
aufsteigen und zu den Gedanken bildenden Arealen wandern, wo sie
automatisch in Glaubensvorstellungen umgewandelt werden. Je bedürftiger
die Person ist, umso wahrscheinlicher akzeptiert sie einen Satz von
Glaubensvorstellungen, die einem Außenstehenden absolut harrsträubend
scheinen mögen: dass man Kommunikation mit höheren Mächten herstellt,
indem man sich eine kleine Pyramide auf den Kopf setzt; dass man den
Weltfrieden einleiten kann, indem man ein paar Handvoll Reis in ein
„heiliges Feuer“ wirft und dabei ein paar Worte auf Hindi wiederholt;
dass Armageddon gleich um die Ecke ist; dass Allah groß ist und verlangt,
dass man die Ungläubigen tötet. Es sind nicht unbedingt die Komponenten
des Glaubenssystems oder nicht einmal der Führer/Guru/Priester/Mullah,
die den Gläubigen verführen. Vielmehr ist es das Bedürfnis der
Person, das sie antreibt; das sie suchen lässt; das sie glauben macht,
sie habe „die Antwort“ gefunden oder wenigstens einen Ort, wo sie sich
vor dem Schmerz verstecken kann. Lassen Sie mich von vorneherein sagen,
dass niemand anders die Antwort zu den Fragen des Lebens hat als Sie
selbst. Wie Sie ihr Leben führen sollen, hängt von Ihnen ab und nicht
vom Rat Außenstehender. Wenn also jemand „die Antwort“ anbietet, dann
nehmen Sie sich in Acht! Jede Psychotherapie, die dazu beiträgt, Ihr
Leben zu lenken, gehört in dieselbe Kategorie. Deshalb geben wir
Patienten keine Anweisungen und teilen auch keine Weisheiten an sie aus.
Wir müssen sie nur in Kontakt mit sich selbst bringen; der Rest obliegt
ihnen selbst. Da draußen gibt es sogenannte Primärtherapeuten, die
glauben, einer meiner Fehler sei, dass ich keine Richtlinien anbiete, wie
man leben soll, sobald man seine Gefühlserlebnisse gehabt hat. Es ist
eine arrogante Position, wenn wir glauben, wir wüssten mehr als andere über
die richtige Lebensweise; außerdem gibt es nicht nur eine Weise. Es gibt
Myriaden Wege oder Weisen, und es obliegt dem jeweiligen Menschen, eine zu
ihm passende zu finden.
Alles, was der Patient lernen muss, liegt bereits in ihm. Der Patient kann
sich selbst voll bewusst machen. Niemand sonst kann das.
Glaubensvorstellungen unterdrücken und beruhigen. Wir werden süchtig
nach der Glaubensdroge. Glaubensvorstellungen müssen Hoffnung
einbeziehen; und „hope is the dope.“ Mehr von der Droge – vom
Glauben – ist nur nötig, wenn die Hoffnung zur Neige geht. Man kann mit
einem einzigen leichten Schwung von Alkohol auf Glaube umschalten, weil
beide dem gleichen Zweck dienen. Was der Führer vorhersagen muss, ist
Hoffnung. Und zu viele von uns müssen glauben, dass irgendjemand irgendwo
das Geheimnis des Lebens kennt. Der Gedanke wird uns unerträglich, dass
alles Chaos ist und bedeutungslos und dass niemand für uns eine Antwort
haben kann. Also suchen wir auch nach dem Sinn. Ich habe einen Klempner,
der jedes Jahr nach Brasilien fliegt, um sich mit einem Guru und seiner
Gruppe zu treffen, der die „Antwort“ zu haben scheint.
Ein Beispiel: Ein Mann erlitt ein verheerendes Trauma gleich nach der
Geburt, als er eine Mutter entbehren musste, die zwei Monate lang in eine
Depression verfiel (postpartale Depression genannt). Das Neugeborene wurde
praktisch nach nur einem Tag mit seiner Mutter verlassen. Seitdem plante
er für Katastrophen, um nie mehr ahnungslos „erwischt“ zu werden. Er
bereitete sich auf Erdbeben vor, indem er Lebensmittel im Keller hortete;
und für Überschwemmungen stapelte er Sandsäcke um sein Haus. Er agierte
gegen ein Desaster aus, dessen er sich nicht bewusst war – bis er die
Ursache fühlte. Sein Glaubenssystem schloß das Bedürfnis mit ein, nach
Colorado zu ziehen, um das Erdbeben und die Flut zu meiden, die
Kalifornien hinraffen würden. Sein Glaube war haarsträubend, nicht aber
für ihn selbst oder für gleichgesinnte Seelen, weil er mit seinem realen
Gefühl und einem realen alten Ereignis übereinstimmte. Für ihn war er
kurz gesagt real. Er war nichtsahnend von einer Katastrophe erwischt
worden, die sein Leben ruiniert hatte und ihn schon früh im Leben voller
Schrecken und ohne Beistand zurückgelassen hatte. Man konnte ihm seine Überzeugungen
nicht ausreden, weil sie in einem wirklichen Ereignis wurzelten, auch wenn
dieses Ereignis verborgen und schwer verständlich war. Dieser Schrecken
wurde zu einem unterirdischen Strom, der später in Glaubenssysteme
eingeleitet wurde, die diesen Gefühlen entsprachen. Natürlich kann man
sein schreckliches Trauma um die Zeit der Geburt nicht in Begriffe fassen,
aber die Grundlage für die Begriffe wird physiologisch verankert. Später
bedarf es eines begrenzten Satzes intellektueller Glaubensüberzeugungen,
um die Gefühle einzukapseln. Ich wiederhole: Wir haben kein Bedürfnis
nach einem Glauben; wir glauben, weil wir bedürftig sind.
Glaubenssysteme funktionieren als Abwehrmechanismen; sie sind wie starke
Beruhigungsmittel, die den inneren Schmerz des Glaubenden unterdrücken.
Der Glaube funktioniert auch auf physiologischer Ebene, indem er
veranlasst, dass unser Körper natürliche Schmerzkiller absondert
(Serotonin/Endorphine).
Serotonin ist der Stoff, den Prozac, Paxil und Zoloft in angemessenen
Mengen aufrechterhalten können, um Schmerz fernzuhalten. Entweder wir
nehmen 10 Milligramm Prozac oder wir nehmen 100 Milligramm einer sehr
starken und überzeugenden Idee – beides hat denselben Effekt. Beides
schleust Schmerz im Gehirn und hält ihn im Unbewussten verbarrikadiert.
Das eine wird von außen injiziert, das andere wird von innen injiziert.
Und es ist kein Zufall, dieses Serotonin, denn von der Zeugung an können
wir Traumen erleiden, die unsere Serotonin-Vorräte ständig vermindern.
Und je früher diese Traumen sich ereignen, umso beraubter sind wir. So
wachsen wir mit durchlässigen Verdrängungs-Schleusen auf, die uns zwingen, Gedanken und Glaubensüberzeugungen
anzunehmen, die eine erhöhte Inhibitoren-Produktion in die Wege leiten,
um die Schleusen im Gehirn abzudichten. Natürlich sind sich die meisten
von uns nicht dessen bewusst, was wir tun oder warum; wir tun es einfach
aus einer biologischen/neurologischen Notwendigkeit heraus. Das System
versteht, dass es Unterstützung bei den Schleusen braucht, und tut, was
es tun muss.
Die
Wirkung von Serotonin/Endorphin ermöglicht uns Unbewusstheit. Sie wirken,
indem sie die Übertragung der Schmerzbotschaft – zum Beispiel der
Hoffnungslosigkeit (je geliebt zu werden) – ins volle Bewusstsein
verhindern oder verlangsamen. Die Botschaft bleibt in ihrer Lagerbox, ein
Areal, das wir als limbisches System kennen. Der Lagerplatz befindet sich
weitgehend im tiefen Rechtshirn. Um die Botschaft zu fühlen und wirklich
unter Schmerz zu stehen, brauchen wir Zugang zu unseren Gefühlen. Das
Problem ist, dass diese Gefühle so erschütternd sein können, dass wir
unsere ganze Energie darauf verwenden, sie zu meiden. Diese Gefühle
fluten im Gehirn nach oben und nach vorne und üben Druck aus auf unsere
Gedankenfähigkeit, wodurch oft bizarre Auffassungen entstehen. Der
Wechsel findet statt von tieferen rechten Zentren zu höheren
Gehirnzentren, dem Neokortex, und von der rechten zur linken Frontalzone.
Diese unbewusste Speicherung ist ein wichtiges genetisches Erbe. Sie
verhindert, dass das nach außen orientierte linke präfrontale Gehirn von
hochflutendem Schmerz überwältigt wird, der uns dysfunktional machen könnte.
Unbewusst gehen wir in unsere innere Apotheke und wählen
Neuroinhibitoren, die bei der Schließung der Gehirnschleusen helfen.
Diese Neurosäfte ergießen sich in den Spalt zwischen Nervenzellen
(Synapse) und blockieren die Reise des Schmerzes zu höheren Regionen, wo
wir uns seiner bewusst werden. Deshalb können wir bei vorhandener Verdrängung
tief drinnen und drunten ein loderndes Feuer aus Schmerz haben und uns
dessen völlig unbewusst sein.
Wie sich Ideen entwickeln, sehen wir, wenn wir chronische
Marihuana-Raucher unter die Lupe nehmen, die irgendwann sonderbare
Gedanken und oft paranoide Wahnvorstellungen entwickeln. Hier ist eine
Droge, die nach und nach eine funktionelle Lobotomie vollzieht, indem sie
Gefühlsareale von höheren kortikalen Zonen trennt. Jede Raucher-Sitzung
entfesselt mehr und mehr Gefühlsenergie, aber ohne Verknüpfungsmöglichkeit.
Also haben wir eine Anhäufung unverknüpften Druckes auf die Gedanken
bildenden Areale, die letztlich zu Paranoia führt. Warum jetzt Paranoia?
Weil Marihuana die Schleusen öffnet und dann den Schmerz
anderswohin umlenkt. Welchen Schmerz? Meistens ist er von höchster
Valenz; der Schmerz der Geburt und Schwangerschaft. Genau das verursacht
bizarre Gedanken. Schwere Schmerzen, die nirgendwohin gehen können, üben
einfach Druck auf den Kortex aus und zwingen ihn, Vorstellungen
auszuhecken, die mit dem Gefühl übereinstimmen. „Sie wollen mich
tot“ als Erfahrung der Todesnähe ist eine aus den Angeln gehobene
Vorstellung. Das Gefühl an sich macht keinen Sinn, weil das ursprüngliche
Gefühl keine Szene oder verbale Fähigkeit bei sich hat; es war in einer
präverbalen Zeit ohne Kontext verankert worden.
Wir haben genügend Erfahrung mit Paranoiden, um zu wissen, dass Paranoia
durch sehr frühe Erlebnisse angetrieben wird. Leute mit lecken Schleusen,
die kein Marihuana geraucht haben, können auch bizarre Ideen entwickeln.
Der Pot macht die Schleusen durchlässig und schafft denselben Nährboden
für Wahnvorstellungen. In dem einen Fall erzeugt sie das Leben; in einem
anderen Fall machen das die Drogen, aber die Dynamik ist dieselbe. Wir
sehen ein lebensechtes Beispiel, wie Gefühle die höheren Gehirnebenen
motivieren, Gedanken und Glaubensvorstellungen zu entwickeln. Sie können
nicht mehr Sinn machen als die Originalereignisse; z.B. Strangulierung
durch die Nabelschnur. Dieses Ereignis braucht Verknüpfung. Andernfalls
produziert es falsche Ideen und Vorstellungen. Und wir hängen an diesen
Ideen entsprechend der Kraft der Gefühle, die uns antreiben. Gerade das
ist die Abwehr; etwas, mit dem man Gefühle in Schach hält. Man nennt es
ein defensives/schützendes Glaubenssystem. Manchmal streiten wir mit
jemand und erkennen nicht, dass wir gegen eine unerbittliche Abwehr ankämpfen.
Die Leute wollen nicht hören, was wir zu sagen haben. Sie wollen ihre
Psyche schützen. Unermüdlich werden sie eine Begründung oder
Rationalisierung nach der anderen finden.
Durch Hemmung/Verdrängung weisen wir den sehr frühen Ursprung des
Unbewussten nach.Verdrängung ermöglicht uns, eine Ladung enormen Leids
mit uns herumzutragen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Sie gibt uns die Fähigkeit,
Gedanken und Glaubensüberzeugungen zu entwickeln, die den Schmerz
absorbieren, während sie ihn unbewusst hält. Das wiederum befähigt uns,
die Menge der beruhigenden Chemikalien, die wir absondern, zu erhöhen und
somit Unbewusstheit zu verstärken. So können Gedanken und
Glaubensvorstellungen bei der Abwehr gegen das Wissen helfen, was in uns
vorgeht.
In diesem Paradigma stellen wir fest, dass wir Gedanken ändern können,
ohne je darüber zu diskutieren. Wenn wir Schmerztöter verabreichen, die
auf Gefühlszentren wirken, können wir die Wahnvorstellungen und andere
Ideen und Überzeugungen verändern.
Hier ist ein klares Beispiel, wie verdrängte Gefühle neue Gedanken
schaffen. Und wenn wir diese Gefühle weiter blockieren, ändern oder
beseitigen wir die Gedanken. Dieses Paradigma allein kann das Wesen der
Psychotherapie veändern, weil auf unserem Fachgebiet die populären
kognitiven Einsichtstherapien darauf basieren, dass Gedanken Gefühle ändern,
wenngleich das Gegenteil wahr ist. Das Leitmotiv ihres Ansatzes ist die
Notwendigkeit, dass Gedanken primär sind; obwohl Gefühle primär sind.
Wenn das einmal akzeptiert worden ist, stürzt das ganze therapeutische
Kartenhaus ein. Denn was sie versuchen, ist, Gedanken dazu zu benutzen,
Gefühle zu ändern; eine vergebliche Übung, die zum Scheitern verurteilt
ist. Gedanken sollen Gefühle nicht ändern; sie sollen Gefühle unterdrücken
oder abwehren. Gedanken können Gefühle dämpfen, sie aber nie ändern.
So gründen diese Theorien und Therapien auf
fehlerhaftem Wissen und ebenso auf fehlerhafter Wahrnehmung der
Evolution. Wie kommt das zustande? Wenn in der Forschung Gefühle
hervorgerufen werden, kann man den linken präfrontalen Kortex benutzen,
um sie zu unterdrücken. Tatsächlich zeigen viele Studien, dass das
Gedanken produzierende Gehirn umso mehr zu Aktivität gezwungen wird, je höher
die Valenz der Gefühle ist. Wenn das Gedanken-Gehirn an Stärke gewinnt,
verlieren die Gefühlsareale im limbischen System an Kraft. Oft ist es ein
Schaukelkampf. Gefühle sind Überlebensmechanismen, die uns leiten
sollen. Da sollte man sich nicht einmischen.
Jemand hat eine Herzattacke und redet von dem großen Schmerz, den er
erleidet. Er bekommt eine Demerol-Spritze und beginnt, über seine Pläne
für nächste Woche zu reden. Was ist geschehen? Wir blockieren seine
schmerzvollen Gefühle. Und dann ändern sich seine Gedanken. Gefühle
haben die verbale Landschaft verändert.
Unsere innerlich produzierten Tranquilizer errichten im Wesentlichen
biochemische Barrikaden zwischen einer Bewusstseinsebene und einer
anderen. Die Realität liegt auf einer Seite der Schleuse; die
Unwirklichkeit liegt auf der anderen. Die rechte orbitofrontale Zone
befasst sich mit innerer Realität, währen die linke präfrontale Zone
sich mit Außen-Ereignissen befasst. Sie kann sich weigern, Gefühle
anzuerkennen und handeln, als würden sie nicht existieren. Aber wir können
Mutter Natur nicht täuschen; diese Kraft kehrt im Laufe des Lebens mit
Vergeltung zurück. Wenn ich also von meinem Vater nie geliebt worden bin,
kann ich mir eine „Heiligkeit“ ausdenken, die ganz Liebe ist. Das hält
mich davon ab, dass ich mich zutiefst ungeliebt fühle. Im Gehirn liegt
die tiefe Liebes-Hoffnungslosigkeit auf der rechten Seite, während die
Gottheit, die ich mir anfertige, ganz oben vorne links ist (vordere
Spitze, präfrontal).
Eine Möglichkeit zu erkennen, dass massiver Schmerz die Schleusen
veranlasst, ihre Tore zu schließen, leitet sich von der Entdeckung der
„TENS“ ab (transkutane elektrische Nervenstimulierung). Mediziner
benutzen ein TENS-Gerät, um Schmerz zu behandeln. Es kann implantiert
werden, sodass der Patient einen Knopf drückt und die Nervenschaltkreise
mit elektrischer Energie flutet, was eine Art Verschließen der Schleusen
verursacht, ähnlich der Wirkung einer Morphinspritze oder der Sekretion
von Serotonin/Endorphin. Während er die TENS-Therapie erhält, fühlt der
Patient keinen Schmerz mehr, auch wenn er von einem katastrophalen Leiden
wie Krebs befallen ist. TENS ist ein neutraler elektronischer Input ohne
Inhalt. Dennoch ist er wirkungsvoll. Der Unterschied zwischen ihm und
einer Einprägung liegt darin, dass die Einprägung einen Inhalt hat.
Manchmal hat dieser Inhalt keine Worte (Strangulierung durch die
Nabelschnur), ist aber nichtsdestotrotz von großer Kraft. Es scheint ein
neurobiologisches Grundgesetz zu sein, dass jede Art neuraler Überlastung
ein Verschließen/einen Stillstand des Systems verursacht.
Elektroschocktherapie ist dafür ein gutes Beispiel. Angehäufter Primärschmerz
wird zu einem massiven Informations-Input, der unausweichlich Verdrängung
erzeugt und die Schleusentore verschließt, sodass ein Teil des Gehirns
nicht weiß, was der andere fühlt oder macht. So wird Ersticken bei der
Geburt nicht als Gedanke registriert sondern als physiologische Tatsache.
Sie wird zu einem Gedanken, wenn sich das Gehirn weit genug entwickelt
hat, um Gedanken zu produzieren. Dann kann es zum Beispiel produzieren:
„Hier drinnen ist keine Luft“. „Meine Arbeitskollegin erstickt mich
mit ihren Fragen.“ „Ich habe hier keinen Raum. Ich ersticke hier in
dieser Atmosphäre.“ Eine leicht stickige Atmophäre in der Gegenwart
kann diesen großen Schmerz und
mit ihm eine übertriebene Reaktion auslösen. „Ich muss diese Frau
verlassen, weil sie mich erstickt.“ Denken Sie daran, es gibt eine
Schmerzkette, ein Netz von Gehirnnetzen, die miteinander verknüpft sind.
Es beginnt am Lebensanfang und wird weiter ausgearbeitet, wenn wir reifen.
Und wir suchen die Hierarchie der Traumen in umgekehrter Reihenfolge auf,
weil die letzten Schmerzen im Allgemeinen die am wenigsten qualvollen
sind, während die frühesten die schlimmsten sind.
In unserer Therapie gehen wir durch dasselbe Netzwerk zurück, das an dem
Ausarbeitungsprozess beteiligt war. Sobald der Patient in ein Gefühl
eingeschlossen ist, können wir ihm helfen, entlang der Gehirnschaltkreise
zum Ursprung des Ganzen zu reisen. Nicht weil wir die Sache steuern –
das können wir nicht. Aber wegen des Resonanzfaktors können bestimmte
Gefühle dieselben Frequenzen haben, sodass der Patient, sobald er in
einem Gegenwartsgefühl steckt – sie erstickt mich -, durch diesen
Resonanzfaktor den ganzen Weg zurück bis hinab zu den Ursprüngen gehen
kann. Somit entwickelt sich das Gehirn ab der Einprägung der
Nabelschnur-Strangulation und befördert diese Erinnerung weiter vom
Hirnstamm aufwärts zum limbischen System bis zu ihrer Endstation –
Gedanken und Glaubensvorstellungen.
Es ist wirklich ein einheitlicher, geschlossener, zusammenhängender
Schaltkreis, sodass spätere Ereignisse einfach das frühere Gefühl verstärken
und es schließlich zu Begriffen oder Glaubensüberzeugungen ausarbeiten.
Somit haben wir ein System im Gehirn, das zusieht, dass wir nie voll
bewusst werden (voll bewusst bedeutet die Zusammenführung tieferer
Bewusstseinsebenen – das Unbewusste -
mit höheren Ebenen). Das ermöglicht uns, eingeschränkt bewusst
zu sein; aber diese Bewusstheit kann eine Abwehr gegen volles Bewusstsein
sein. Man kann sein Faktenwissen, sein Wissen
über frühe Geschichte, über die Weltreligionen, über Mathematik
vermehren, und das alles zu dem Zweck, volles Bewusstsein zu unterdrücken.
Hier dient Bewusstheit als Abwehr gegen volles Bewusstsein; in der
Einsichtstherapie erlangt man durch Einsichten immer mehr intellektuelle
Bewusstheit, während man sich seiner Gefühle immer unbewusster wird.
Deshalb beharre ich darauf, dass alle aktuellen Therapien die Werkzeuge
der Verdrängung benutzen -
nicht vorsätzlich, aber wenn Gefühle nicht das Ziel sind, dann
gibt es keinen anderen Weg als Verdrängung.
Die Hauptfunktion der Verdrängung ist, uns vom Kontakt mit (innerer)
Realität fernzuhalten. Deshalb können wir intellektuell sein aber nicht
intelligent. Wir können ein Raumschiff steuern aber nicht wissen, was uns
um diese Welt steuert. Faktenwissen ist bedeutungslos, wenn wir nicht mit
dem Trinken aufhören können oder wenn wir keine Beziehung zu anderen
aufrechterhalten können. Wir werden von Ideen angezogen, die uns helfen,
uns zu verteidigen und uns wohlzufühlen, während wir Gedanken meiden,
die uns bedrohen. Wir wollen Gedanken hören, die unsere neurotische
Weltsicht bekräftigen, denn anderes zu hören kann einen emotionalen
Lavastrom auslösen, welcher der frühen Wirklichkeit der Nicht-Liebe
entströmt, ein Schmerzvulkan, den Gedanken allein vielleicht nicht
deckeln können. Irreale Leute heiraten andere irreale Leute, und es ist
alles gut mit der Welt. Keine Bedrohung, kein Lernen, keine Veränderung,
keine Evolution. Wen kümmert’s, wenn sie glücklich sind? Niemand.
Bestimmte Gedanken agieren nicht als Opiate
- sie sind Opiate. Sie erzeugen dieselben biochemischen Wirkungen
wie eine Morphin-Injektion. Ein Mensch, der früh im Leben niemanden
hatte, der/die ihn hielt und liebkoste, ihn beschützte und ihm sagte,
dass er wundervoll ist, wird diese Art von Droge brauchen, um den Schmerz
unerfüllter Bedürfnisse zu besänftigen. Hier ist ein Kommentar, den mir
heute einer meiner depressiven Patienten geschrieben hat:
Ich bin so frei und beschreibe kurz (!) das Primal, das ich gerade hatte,
den es scheint ein ziemlicher Durchbruch zu sein, und ich verstehe jetzt
so viel mehr davon, was meine Gefühle und mein Verhalten gesteuert hat.
Zuerst muss ich sagen, dass die letzten paar Monate hart waren, hauptsächlich
weil ich in den schlimmsten alten Gefühlen aller Zeiten stecke, und auch
weil meine Freundin und ich im Guten auseinandergegangen sind. Ich
werd’s natürlich übermäßig vereinfachen, aber die alten Gefühle
zentrieren sich um das Problem, dass, als ich klein war und Qualen litt
(gewöhnlich auf meine Mutter bezogen, die meine Existenz übelnahm),
niemand da war, um mich aufzunehmen und zu halten und damit den Schmerz
wegzunehmen. Aber der schlimmste Teil dieser Vernachlässigung war, dass
es die Zurückweisung war, die den Schmerz unerträglich machte. Ich fühlte:
„Du musst mich nur umarmen, aber du tust nicht einmal das, weil ich dir
gleichgültig bin.“ Und das verdoppelte den Schmerz, bis er mehr war als
ich aushalten konnte. Das ist die Wahrheit, die ich vergraben musste, als
ich mich mit etwa sieben Jahren verschließen musste, als ich weinte und
meine Eltern lachten – („sie machen es immer noch schlimmer“). Immer
wenn später jemand, dem ich vertraute, mich verletzte oder dieses
Vertrauen enttäuschte, löste das diesen alten überwältigenden und
unerträglichen Schmerz aus.
Was ich heute als erstes fühlte, war die Erinnerung, wie perfekt es war,
als meine Freundin und ich vor ein paar Jahren Urlaub in Havanna machten,
und diese Traurigkeit erinnerte mich daran, wie ich klein war und nach
meinem Papa schrie, dass er nach mir sehen und mich halten und den Schmerz
beenden sollte. Aber als ich mich erinnerte, dass niemand zugegen war, der
sich sorgte, wurde meine Reaktion hauptsächlich körperlich, indem ich
herumsprang und um mich schlug, bis ich erschöpft war. Später wurde
dieselbe Energie/derselbe Schmerz psychologisch, als ich von einer
Philosophie zur anderen wechselte, um meinen Seelenfrieden zu finden.
Danach verstand ich das Muster, das mein ganzes Leben regiert hat. Zuerst
löst etwas diesen Kernschmerz aus („Ich leide schreckliche Qualen und
ich bin allein, und dass sich niemand um mich kümmert, DAS macht den
Schmerz unerträglich – ich kann es nicht mehr ertragen und ich will
sterben“). Wenn Denken nicht hilft (z.B. „das geht vorbei“) und wenn
die emotionale Intensität zu stark ist, um das Gefühl zu unterdrücken,
dann bleibt einzig die körperliche Abwehr übrig, das heißt, die einzig
übrige Möglichkeit, mit der Intensität und Valenz des Schmerzes
klarzukommen, ist eine körperliche Reaktion: Beschleunigter Herzschlag
und schnelleres Atmen, sich verspannen, schreien, herumlaufen, und so
fort. Zuletzt dann hülle ich mich selbst in einen Fantasie-Helden ein
oder in eine Gottheit, die gleich kommen wird, um mich zu beruhigen und
den Schmerz wegzunehmen. Aber wenn der Schmerz zu groß ist und ich mich
hoffnungslos und hilflos fühle, dann kann ich nicht einmal mehr kämpfen,
und es bleibt nichts als die parasympathetische Reptilien-Verteidigung:
Aufgeben, kollabieren. Dann kann ich an nichts mehr glauben. Ich
verzweifle am Leben.
_____
Innere
Tranquilizer haben einen Pollyana-Effekt. Sie gestatten uns, mit
Glaubensvorstellungen „auf die helle Seite zu schauen“ anstatt auf die
dunkle Seite unserer selbst. Die Reagan–Jahre wurden von jemandem
charakterisiert, der immer auf die helle Seite schaute. Dieser Optimismus
war ansteckend, auch wenn er vielleicht irreal war. Er wurde von Leuten
angenommen, die Vergangenheit und Gefühle nicht erkunden wollten. Er war
perfekt dafür – ein Mann mit wenig Zugang zu Gefühlen, der eine
Weltanschauung des Verleugnens und des Vergnügens konstruierte. Wenn wir
die Leute fragen, ob sie für Schmerz und Befreiung votieren oder für
Vergnügen, ist die Antwort eine ausgemachte Sache. Der Mann, der sich bei
dem Attentatsversuch für ihn eine Kugel in den Kopf einfing, wurde von
ihm im Krankenhaus fast nie besucht. Hatte er Gefühle für diesen gelähmten
Menschen? Reagan votierte weiterhin gegen Schusswaffen-Kontrolle. Gedanken
hatten Vorrang vor Gefühlen. Schließlich wurde er doch ebenso von einem
Wahnsinnigen niedergeschossen, der niemals eine solche Waffe hätte haben
dürfen. Die Logik hat nicht viel zu sagen, wenn vergrabene Gefühle, die
in ein eisernes politisches Glaubenssystem transformiert worden sind, den
Verstand übertrumpfen. Wenn Ihr Innerstes auf den Kopf gestellt wird, können
Sie die Welt leicht aus einer verzerrten Perspektive anschauen. Wenn man
Ihnen Ihre Menschlichkeit geraubt hat, übernehmen Sie vielleicht eine
Philosophie, die Besitz als erstrangig einstuft und menschliche Bedürfnisse
als zweitrangig.
Eine bestimmte von einem Freund oder charismatischen Individuum
vorgetragene Idee kann im Gehirn Morphin-Sekretionen auslösen, die
bewirken, dass wir uns besser fühlen, und die zu einem Zustand der
Selbsttäuschung beitragen. Wir werden jetzt süchtig nach diesen Ideen
und vielleicht nach dieser Person, weil sie unser „Schuss“ ist. Dieser
Mensch repräsentiert Hoffnung gegen die eingeprägte Hoffnungslosigkeit;
und diese Abhängigkeit ist wichtiger als jede äußere Realität. Ich
sage es noch einmal, wir können von Ideen und Glaubensüberzeugungen abhängig
werden, weil sie im Gehirn die Produktion von Schmerzkillern unterstützen.
Das ist unschlagbar.
Glaube erzeugt auch Dopamin-Produktion; Dopamin ist als Wohlfühl-Chemikalie
bekannt, weil sie in nahezu alle Süchte involviert ist und damit zu tun
hat, dass wir uns gut fühlen – auch zu dem hohen Preis, den einige
Leute in Gruppen zahlen wie solchen in gewissen Drogen-Rehab-Zentren. In
diesen kultähnlichen Zentren, wo sie jeder Art von Kritik, Degradierung
und Erniedrigung entgegensehen können, gibt es wenigstens ein
„Familienleben,“ eine Gruppe, welche die bedürftigen Seelen beruhigt
und beschützt und ihnen Leitlinien fürs Leben anbietet. „Sie“ sorgen
sich um „ihn.“
„Gott schuf uns nach seinem Ebenbild.“ Wir sind perfekt, so wie wir
sind.“ „Du bist wundervoll.“ „Du bist auf dem Weg der
Erleuchtung.“ „Wir lieben dich.“ Dass diese neuen Familien
vorschlagen, unsere lebenslang unerfüllten Bedürfnisse zu erfüllen,
gibt uns Hoffnung und Endorphin-/Serotonin-/Dopamin-Schüsse.
Wir in der Therapie reiten auf den Gedanken aus dem Land mystischer
Ideenbildung den Pfad hinab zu den Gefühlen, weil verschnürt im Inneren
der Gedanken oft vergrabene Schlüsselgefühle und Schlüsselbedürfnisse
liegen. Und es ist kein Problem, dorthin zu gelangen, weil die schützenden
Gedanken meistens Ableger realer Gefühle, Bedürfnisse und Deprivationen
sind.
Ich bezwecke hier nicht zu sagen, was wirklich ist und was nicht. Das habe
ich viel zu lange in meinen psychoanalytischen Tagen gemacht. Mein
Glaubenssystem war, dass ich es besser wusste als meine Patienten. Das war
nicht immer der Fall. Meine jetzige Philosophie lautet: „Was auch immer
dich durch die Nacht bringt.“ Die Validität von Glaubenssystemen zu
analysieren ist eine labyrinthische Übung, die dem gleichkommt, was in
der Psychoanalyse geschieht. Hier versuchen zwei Leute – beide ohne
Zugang zum Unbewussten des Patienten – zu bestimmen, warum diese Person
an gerade diesem Glauben festhält. Glaubensüberzeugungen sind nicht
immer negativ. Sie dienen in der Psyche einem realen Zweck. Sich mit jedem
aktuellen Glaubenssystem zu befassen, würde einen Katalog erfordern, der
so dick ist wie eine Enzyklopädie.
Meine Aufgabe ist zu untersuchen, warum Individuen alle möglichen
Glaubenssysteme annehmen, und wie bestimmte Gefühle spezifische Arten von
Glaubenssystemen hervorrufen. Besonders befasse ich mich solchen
entfremdeten Individuen, die entfremdet bleiben und die durch ihre verdrängten
Gefühle auf die Suche nach Glaubenssystemen im Randbereich geschickt
werden. Wenn sie ihren Guru finden, müssen sie ihm allzu oft den größten
Teil ihrer weltlichen Besitztümer geben, ihre Bankkonten und ebenso, wie
ich vorher schon sagte, ihre Körper. Und wenn das bedeutet, den Körper
aufzugeben, buchstäblich an sich selbst eine Selbstmordbombe zu
befestigen, so bedeutet das, dass sie in Hingabe an eine Idee/Überzeugung
ihr Leben zunichte machen. In dieser Idee stecken viele Gefühle, aber das
wichtigste ist, dass die Person, der gehorsame Diener, geliebt wird. Der
Geopferte wird diese Liebe im Jenseits finden. Sie waren am Anfang
schickaniert worden, und jetzt werden sie wieder zum Opfer gemacht. Meine
Aufgabe ist nicht, die vielen kulturellen und historischen Gründe für
alle diese fanatischen Glaubensvorstellungen zu erforschen sondern zu
demonstrieren, wie das Fühlen
von Gefühlen diesen Glauben ändern kann, ohne dass er überhaupt
thematisiert wird. Deprogammierung ist nicht notwendig. Bedürfnisse zu
erforschen hingegen ist notwendig. Gefühle aufzulösen scheint
Glaubenssysteme funktionsuntüchtig zu machen.
Ich schlage vor, dass geistig-psychische Pathologie messbar ist, nicht
durch mentale Indizien, Gedanken und Wahrnehmungen sondern durch die
Neurophysiologie: durch die biochemischen Substanzen, die an Bewusstsein
und Bewusstseinsstörungen beteiligt sind, und durch die Aktivität und
das Amplitudenmuster der Gehirnwellen.
Bei unserer Forschung über Serotonin haben wir herausgefunden, dass es
nach einem Jahr unserer Therapie zu stabilen Änderungen im
Serotonin-Ausstoß kommt. Leute, die sehr tief fühlen, scheinen sich auf
vorhersagbare Weise zu normalisieren. Es zeigt sich, dass frühe Schmerzen
Einfluss darauf haben, wieviel Serotonin wir produzieren. Das Erleben präverbaler
Gefühle kann bei unseren Patienten zu gravierenden Hormon-Veränderungen
führen, die von Dauer sind. Ich glaube nicht, dass diese Änderungen
allein durch das Wiedererleben später Kindheitsereignisse zustandekommen
können. Wir müssen zum Schauplatz des Verbrechens zurückkehren; zu dem
Ereignis, das die Hormone am Anfang dereguliert hat. Wir normalisieren
nicht jedes aus der Bahn geworfene Hormon, aber wir haben genügend
Erfolge, die uns anzeigen, dass der Ursprung viel weiter zurückliegt, als
wir dachten. Wir müssen verstehen, dass sich sehr frühe Gefühle verstärken,
während wir uns entwickeln; das ist ein wichtiges Konzept, denn wenn wir
einen späteren Kindheitsschmerz wiedererleben, nehmen wir
dem Gefühl einen Teil seiner Kraft. Auflösung findet aber nur
statt, wenn wir die Grundlage des Gefühls fühlen, wie zum Beispiel
Hoffnungslosigkeit. Es ist die ursprüngliche Hoffnungslosigkeit, die für
Selbstmordgedanken verantwortlich ist. Wenn wir dann aufwachsen und uns in
einer anderen hoffnungslosen Situation wiederfinden, setzt der
Resonanzfaktor ein und löst zum Beispiel die basale Hoffnungslosgkeit bei
der Geburt aus, was unausweichlich zu suizidalen Gedanken führt. Es ist
nicht so, dass sich die Gedanken versteckt haben oder darauf warten
herauszukommen, sondern so, dass
die erste Gehirnebene, wenn sie aktiviert wird und das Gefühl
„Hoffnungslosigkeit“ in Gang setzt. Signale an den Kortex sendet, der
dann schreckliche, verzweifelte Gedanken produziert. Diese Gedanken sind
das Ergebnis von Gefühlen, die im Anmarsch sind; sie lassen sich nicht
durch Ermutigung oder Ermahnung ändern, weil die Gedanken nicht das
Problem sind sondern die Gefühle. Und diese Gefühle widerspiegeln
spezielle Erlebnisse. Mit diesen Erlebnissen müssen wir uns befassen.
Es ist die Erste-Ebene-Komponente der Hoffnungslosigkeit, die selbstzerstörerisches
Verhalten hervorbringt. Das ist so, weil das Geburtstrauma, zum Beispiel
wenn das Neugeborene schwer betäubt worden war, von der tiefen
Physiologie der Hoffnungslosigkeit begleitet war (der vergebliche Versuch
herauszukommen; eine Sache auf Leben und Tod). Und wenn sich jetzt alle
Hoffnungslosigkeitsgefühle unseres ganzen Lebens organisieren, dann sind
wir in Gefahr. Ein Teil lässt sich vielleicht fühlen, aber alle zusammen
nicht. So können wir uns hoffnungslos fühlen, wenn wir in der Schule
versagen, aber wenn das obendrauf auf der Hoffnungslosigkeit sitzt, jemals
von einem Elternteil geliebt zu werden, der/die sich scheiden lässt und
fortgeht, dann wird es zu viel. Hier sehen wir die treibende Kraft, die
zum Beispiel hinter „Stalking“ steckt. Dass noch einmal ein geliebter
Mensch fortgeht, kann nicht toleriert werden. Der aktuelle Verlust löst
den früheren aus.
Bestimmt befürworte ich geistige Offenheit in dem Sinne, dass man die
Wahrscheinlichkeit von Dingen akzeptiert, die wenigstens eine mögliche
Verbindung mit der Wirklichkeit haben. Zum Beispiel habe ich als Erster
das systematische Wiedererleben des Geburtstraumas beschrieben, als mir
alle Neurologen versicherten, das sei nicht möglich, weil das
Nervensystem eines Babys nicht angemessen entwickelt sei, um das Trauma
aufzuzeichnen. Nichtsdestotrotz habe ich die Geburtsmale photographiert,
die auf den Ellenbogen von Patienten wiedererschienen, die das
Geburtstrauma wiedererlebten. Ich photographierte auch die
Geburtszangen-Abdrücke auf der Stirn einiger meiner Patienten und alle möglichen
mit der Geburt einhergehenden Blutergüsse. Zugegeben, das war extrem, und
ich glaube, es erforderte Aufgeschlossenheit. Nichtsdestotrotz war es im
Bereich des menschlich Möglichen. Man kennt es als Primal, und es gibt im
ganzen Buch einige Anhaltspunkte dafür. 2000 Jahre zurückzureisen, auf
einem Kanal Stimmen aus dem verlorenen Kontinent Atlantis herauszuhören
oder von Aliens operiert zu werden, liegt
meiner Meinung nach nicht im Bereich des menschlich Möglichen.
BEGRÜNDUNGEN FÜR GLAUBENSSYSTEME
„Nachdem
wir gestorben sind, warten Jungfrauen auf uns,“ wie es die neuen Messias
verkünden, Antikommunismus durch unsere politischen Führer, um unsere Ängste
zu unterdrücken, „Pyramidenpower“ – das alles schweißt Gläubige
zu einer sozialen Einheit zusammen, sodass sie das Gefühl haben, dass sie
dazugehören. Sie können ihre persönliche Verrücktheit mit anderen
teilen. Dieses Phänomen ist sozial anerkannter Irrsinn; oder wenigstens
könnte man von „Nestern des Irrsinns“ sprechen. „Meine Irrealität wird anerkannt, weil viele
andere es glauben, und je mehr wir glauben, umso beruhigter und
erleichterter bin ich, dass ich nicht allein bin.“ Die
Glaubensvorstellungen grenzen sorgfältig eine Reihe schmerzvoller Gefühle
ab und gestatten uns, mit unserem Leben
weiterzumachen. Ob Selbstmordattentäter oder Jonestown, wo über
hundert Leute eine giftige Flüssigkeit tranken, sie konstruieren
Schablonen für alle späteren destruktiven Kult-Phänomene: Mächtige
unerfüllte Bedürfnisse, die im Erwachsenenalter fortbestehen, liegen den
bizarren Glaubenssystemen zugrunde, die verwendet werden. Von Bedürfnissen
gesteuerter Glaube schuf die Führer und die Anhänger und sorgte für den
Klebstoff, der sie in symbiotischer Umarmung vereinte. Nur wenige Anhänger
versuchten, Jonestown oder Apocalypse Ranch (nachdem die Belagerung
begonnen hatte) zu verlassen, weil die äußere Realität jetzt mit der
inneren zusammenfiel. Es gibt wirklich eine Gefahr und Leute „versuchen
uns zu verletzen.“ Zu gehen bedeutete, sich verlassen zu fühlen, wieder
mit den katastrophalen Gefühlen der Ablehnung und Verlassenheit
konfrontiert zu werden, welche die Person zuerst dazu getrieben haben, der
Gemeinschaft beizutreten. Besser sterben als den Schmerz fühlen, dem man
zu entfliehen versucht. Das ist das Leitmotiv: besser sterben als sich
ungeliebt fühlen. Weil ganz früh am Anfang sich ungeliebt fühlen
gleichbedeutend damit war zu fühlen, dass man stirbt. Und natürlich
stirbt man, um diesen Gefühlen zu entfliehen. In Wahrheit sind wir eine
Nation und eine Welt der Suchenden, ein Volk, das Zuflucht sucht bei allen
erdenklichen Glaubensvorstellungen.
♦♦♦
(8) Meinen Patienten-Akten entnommen;
Ende
des Kapitels
Artikel
und Buchauzüge
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