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Dr. Arthur Janov:   Beyond Belief: Cults, Healers, Mystics and Gurus - Why We Believe

LLC Reputation Books, ISBN-10: 0986203173, 03. Mai 2016

Kapitel 4

Die Physiologie des Glaubens

Primärschmerz wird in Strukturen eingeprägt, die geologischen Bruchlinien unterhalb der Bewusstseinsebene gleichen. Da die ‚Einschreibung’ sehr früh im Leben geschieht, prädisponiert sie uns dafür, nach Ideen zu greifen, die dem Schmerz entgegenwirken und ihn lindern. Ob die im Glaubenssystem enthaltenen Ideen relevant oder realistisch sind, ist ohne Bedeutung. Was zählt, ist, wie die Ideen die Schmerzenergie freisetzen, kanalisieren und absorbieren.

  Hoffnung fungiert als Schmerztöter; konkreter ausgedrückt löst die früh eingeprägte Hoffnungslosigkeit (Liebe zu bekommen) die Produktion ihres Gegenteils aus – Hoffnung – und zwar durch die Sekretion von Verdrängungschemikalien wie Serotonin und Endorphin. Diese Neurosäfte blockieren Hoffnungslosigkeit und ermöglichen uns die Abwendung von unseren Gefühlen, während sie zugleich die Abwehr ‚Hoffnung’ aufbauen. „Ich weiß, wenn ich jeden Morgen um acht Uhr singe, dann fühle ich mich gut,“ so lautet die Rationalisierung. Die Hoffnung liegt im Verhalten. „Wenn ich heute nachmittag dieses Geschäft mache, wird das Leben wunderbar,“ ist eine weitere. Wir haben einen Schauspieler behandelt, der jeden Morgen um fünf aufgestanden ist und eine Stunde gesungen hat, bevor er zum Set gegangen ist. Er fühlte sich besser und glaubte, das Singen habe das bewirkt. Das hat es! Es erleichterte innere Spannung. Jetzt gab es etwas, das er gegen unbewussten Schmerz machen konnte, von dessen Existenz er nichts wusste. Er wusste nur, dass das Singen  in ihm ein gutes Gefühl erzeugte. Er schrieb es geheimnisvollen Kräften zu, aber so sei es. Was er meinte, war, dass es Dinge gibt, die real sind und nicht erklärt werden können. In öffentlichen Interviews war er die allervernünftigste Seele. Er glaubte an Ökologie, eine sichere Umwelt und an Gesang. Wir müssen glauben, dass jemand oder etwas helfen kann, auch wenn wir nicht wissen, woher das Hilfsbedürfnis kommt.

  Die Leute werden zu Glaubensgefangenen als Alternative zur Erlebnis-Konfrontation mit ihren seismischen Einprägungen; sie werden zu Gefangenen der Hoffnung. Genauer gesagt werden sie zu Gefangenen der Hoffnungslosigkeit – entweder sind sie darin versunken oder sie befinden sich auf wilder Flucht vor ihr. Aber sie regiert ihr tägliches Leben. Kaum jemand erkennt, dass sein/ihr Verhalten Hoffnungslosigkeit überdeckt. Sie wird so verdünnt ins Verhalten eingebracht, dass sie so gut wie unsichtbar wird. „Wenn ich nur dieses nächste Drehbuch bekomme, wird  alles gut.“ Das Mantra so vieler Schauspieler. Warum kann er nicht objektiv sein und seine Arbeit wirklich einschätzen? Weil er sein Bedürfnis sehen und fühlen müsste; und das unbewusste und vergrabene Bedürfnis verhindert es.

  In diesem Kapitel werde ich beschreiben, wie früher emotionaler Schmerz die Gehirnfunktion beeinflusst und wie der Körper auf den Schmerz reagiert, der in diesen Einprägungen enthalten ist. Komplizierte neurobiochemische Pfade ermöglichen uns, Schmerz zu verdrängen und emotionalen Erdbeben vorzubeugen. Wir wandeln oder übersetzen sehr realen und nahezu tödlichen Schmerz in irreale Ideen. Die natürlichen Schmerztöter, die wir produzieren, lassen uns denken, wir seien schmerzfrei. Das trifft zu, egal, welche Techniken man benutzt, um sich „frei zu fühlen,“ sei es Meditation oder Singen. Wenn Kindheitsschmerz einmal eingeprägt worden ist, gibt es keine Möglichkeit, sich frei und entspannt zu fühlen, ohne ihn zu fühlen. Es besteht aber die Möglichkeit, sich einzubilden, man sei entspannt; man nennt es Glauben.

  Glücklicherweise und leider besitzen wir physiologische Mechanismen, die uns die Wahlmöglichkeit lassen, Unbewusstheit über Bewusstsein zu stellen. Es ist eine automatische Wahl. Es ist dieselbe Art von Wahl, die embryonale Zellen am Lebensanfang treffen, wenn sie „sich entscheiden,“ Gliazellen oder Gehirnzellen zu werden – nicht auf Befehl von außen sondern durch die innere Anweisung, die der embryonalen Zelle selbst innewohnt.

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 Ein neugeborenes Kind ist kein gedanklich bewusstes Geschöpf. Es kann sich nicht an Gott oder Mohammed oder Buddha um Hilfe wenden, während  es darum kämpft, aus dem Geburtskanal und auf diese Welt zu kommen; oder wenn es drei Wochen lang in einem Inkubator allein gelassen wird; oder wenn es in den ersten Lebenswochen nicht genügend Körperkontakt bekommt. Es kann keine Gottheit anflehen, dass sie es aus seinem Schmerz errette, wenn die Mutter gleich nach der Geburt nicht da ist. In diesen vernichtenden Momenten, die dem Baby wie eine Ewigkeit vorkommen müssen, kann es nicht beten, bitten oder rationalisieren. Es kann keine Zuflucht suchen bei Worten oder Gedanken. Es besitzt dafür nicht die neurologische Fähigkeit. Es kann auch nicht versuchen, sich irgendwie vor seinem Schmerz zu verstecken. Es steht nackt und unerfahren vor seinen Qualen. Es kann sie nur unabgeschwächt aushalten. Eines ist machbar: Das Gehirn in seiner Weisheit greift eilends zu seinen Neurotransmitter-Vorräten, um den Schmerz wegzusperren. Wir sind verdrängt, bevor wir das Tageslicht sehen. Nach Jahren der Vernachlässigung, fehlender Liebe und genereller Schmerzanhäufung gehen die Vorräte allmählich zur Neige. Das ist dann der Punkt, wo der Erwachsene einen Kult und „Booga–Booga“ ausfindig macht. Booga-Booga, der Zugriff auf eine Fülle seltsamer oder irrer Glaubensvorstellungen scheint Unsinn zu sein, macht aber genau so viel Sinn wie viele Glaubensinhalte. Es macht auch genau so viel Sinn wie der ursprüngliche Schmerz (Strangulierung durch die Nabelschnur, Blockade durch einen Tumor, unmittelbar nach der Geburt allein gelassen werden aufgrund der Krankheit der Mutter), der nicht viel Sinn an sich hatte – einfach unverfälschter Schmerz. Halluzinationen (eine falsche visuelle oder akustische Wahrnehmung) oder Irrglauben sind oft Versuche, diesen sehr frühen Schmerzen, an die man keine Namen, keine Szenen und nichts Intellektuelles anhängen kann, einen Sinn zu geben.

  Dieses äußerste Alleinsein ist so traumatisch – tatsächlich oft  lebensbedrohlich – dass es in die Physiologie des Neugeborenen eingeprägt wird. Im Prinzip ist es ein massiver elektrischer Input mit überwältigender Valenz. Und dieser elektrische Input ist für das verletztliche Kleinkind von solcher Intensität, dass er gedeckelt werden muss. Das Neugeborene kann ihn nicht weiterhin fühlen, ohne mit fortlaufenden emotionalen Katastrophen konfrontiert zu werden, mit einer kontinuierlichen Reihe von buchstäblichen Explosionen im Gehirn, mit einem Erdbeben, das nie endet. Der Körper muss einen Weg finden, um die überwältigende Last des Traumas in etwas anderes zu übersetzen, also mobilisiert er primitive Abwehrmechanismen, die den Schmerz unterdrücken werden. Jeder Schmerz wird mit Verdrängung beantwortet – die Methode des Gehirns, Emotionen zu verdecken und außer Reichweite dieser höheren Zentren zu halten, die sie tatsächlich in Schmerz umwandeln können. Später im Leben kann das traumatisierte Baby, jetzt ausgerüstet mit der kortikalen Fähigkeit, Gefühle durch Gedanken zu ersetzen, sich an einen Gott wenden, der es von seinem inneren Schmerz befreien soll, auch wenn es nicht weiß, wo der Schmerz ursprünglich herkommt oder nicht einmal, dass es den Schmerz gibt. Er wendet sich einfach an einen Gott, der ihn/sie beschützt, darauf achtet, dass ihm/ihr Gerechtigkeit geschieht, der ihn/sie nicht im Stich lässt und der ihm/ihr vor allem hilft, es ins Leben zu schaffen, sowohl wortwörtlich im ursprünglichen Sinn als auch gegenwärtig in einem figurativen Sinn.

  Wilder Penfield, der Neurochirurg, hat buchstäblich seinen Finger auf in Gehirnzellen verschlüsselte Erinnerungen gelegt. Er fand heraus, dass die Platzierung einer Elektrode auf dem Gehirn von Chirurgie-Patienten in der Nähe von Gedächtnis-Stellen (Temporallappen) bewirkte, dass sie zu symbolisieren anfingen und sonderbare Ideen hatten wie z.B.: „Ich habe das Gefühl, dass Räuber hinter mir her sind.“ Später, wenn die Sonde direkt auf der Gedächtnisstelle sitzt, wird die Erinnerung mehr real als symbolisch: „Ich erinnere mich, dass ich so schreckliche Angst hatte, als mein Bruder mit einer Spielzeugpistole auf meinen Kopf zielte.“

Eine Sonde in der Nähe der Erinnerung erzeugt eine symbolische Szene oder ein symbolisches Bild, während eine Sonde direkt auf der Stelle die exakte Erinnerung erzeugt. In diesen chirurgischen Experimenten können wir sehen, wie Neurose funktioniert. Wir können symbolisches Ausagieren tatsächlich sehen, und wir können sehen, wie Glaubenssysteme verborgene Gefühle symbolisieren. Darüber hinaus können wir sehen, wie die Erinnerungen funktionieren. Ich habe an anderer Stelle zitiert, wie Input in die rechte Hemisphäre während einer Split-Brain-Operation die linke Hälfte veranlassen kann, alle möglichen Rationalisierungen anzufertigen. Das geschieht automatisch und augenblicklich. Neurose und Psychose sind  so beschaffen. Aufgrund der Trennung zwischen Gefühlszentren und Gedankenzentren weiß die linke Hälfte nicht, was die rechte tut oder denkt.

Penfields Forschungsergebnisse erinnern mich an einen unserer Patienten, der wiederholt eine fliegende Untertasse mit sehr hellen Lichtern sah (oder sich einbildete, eine zu sehen). An einem bestimmten Punkt in seiner Therapie erlebte er ein Geburtstrauma wieder, in dem er im Entbindungssaal von hellen Lichtern geblendet wurde. Bevor er zu dem Trauma Zugang hatte, war es als Ganzes in die Gegenwart transportiert worden. Nach dem Wiedererlebnis stellte er selbst die Verknüpfung her zwischen den Blendlichtern und der fliegenden Untertasse. Vorher hätte ihm niemand seinen Glauben an die Existenz fliegender Untertassen ausreden können. Er hatte auch keine Ahnung, dass sich die Geburt in sein System eingeprägt hatte. Er war sich sicher nicht bewusst, dass er in die Geschichte zurückkehren und sie wiedererleben könne. Das Trugbild von den Lichtern der fliegenden Untertasse war das reine Symbol eines realen Ereignisses.

Wenn wir verstehen wollen, wie es das menschliche Gehirn bewerkstelligt, frühe Traumen zu verdrängen und später Ideen hervorzuzaubern, die den in diesen Einprägungen enthaltenen Schmerz absorbieren, müssen wir einen Blick auf die physiologischen Mechanismen werfen, die an diesem Prozess teilhaben.

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Ende des Kapitels

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