Primärschmerz
wird in Strukturen eingeprägt, die geologischen Bruchlinien unterhalb der
Bewusstseinsebene gleichen. Da die ‚Einschreibung’ sehr früh im Leben
geschieht, prädisponiert sie uns dafür, nach Ideen zu greifen, die dem
Schmerz entgegenwirken und ihn lindern. Ob die im Glaubenssystem
enthaltenen Ideen relevant oder realistisch sind, ist ohne Bedeutung. Was
zählt, ist, wie die Ideen die Schmerzenergie freisetzen, kanalisieren und
absorbieren.
Hoffnung fungiert als Schmerztöter; konkreter ausgedrückt löst die früh
eingeprägte Hoffnungslosigkeit (Liebe zu bekommen) die Produktion ihres
Gegenteils aus – Hoffnung – und zwar durch die Sekretion von Verdrängungschemikalien
wie Serotonin und Endorphin. Diese Neurosäfte blockieren
Hoffnungslosigkeit und ermöglichen uns die Abwendung von unseren Gefühlen,
während sie zugleich die Abwehr ‚Hoffnung’ aufbauen. „Ich weiß,
wenn ich jeden Morgen um acht Uhr singe, dann fühle ich mich gut,“ so
lautet die Rationalisierung. Die Hoffnung liegt im Verhalten. „Wenn ich
heute nachmittag dieses Geschäft mache, wird das Leben wunderbar,“ ist
eine weitere. Wir haben einen Schauspieler behandelt, der jeden Morgen um
fünf aufgestanden ist und eine Stunde gesungen hat, bevor er zum Set
gegangen ist. Er fühlte sich besser und glaubte, das Singen habe das
bewirkt. Das hat es! Es erleichterte innere Spannung. Jetzt gab es etwas,
das er gegen unbewussten Schmerz machen konnte, von dessen Existenz er
nichts wusste. Er wusste nur, dass das Singen
in ihm ein gutes Gefühl erzeugte. Er schrieb es geheimnisvollen Kräften
zu, aber so sei es. Was er meinte, war, dass es Dinge gibt, die real sind
und nicht erklärt werden können. In öffentlichen Interviews war er die
allervernünftigste Seele. Er glaubte an Ökologie, eine sichere Umwelt
und an Gesang. Wir müssen glauben, dass jemand oder etwas helfen kann,
auch wenn wir nicht wissen, woher das Hilfsbedürfnis kommt.
Die Leute werden zu Glaubensgefangenen als Alternative zur
Erlebnis-Konfrontation mit ihren seismischen Einprägungen; sie werden zu
Gefangenen der Hoffnung. Genauer gesagt werden sie zu Gefangenen der
Hoffnungslosigkeit – entweder sind sie darin versunken oder sie befinden
sich auf wilder Flucht vor ihr. Aber sie regiert ihr tägliches Leben.
Kaum jemand erkennt, dass sein/ihr Verhalten Hoffnungslosigkeit überdeckt.
Sie wird so verdünnt ins Verhalten eingebracht, dass sie so gut wie
unsichtbar wird. „Wenn ich nur dieses nächste Drehbuch bekomme, wird
alles gut.“ Das Mantra so vieler Schauspieler. Warum kann er
nicht objektiv sein und seine Arbeit wirklich einschätzen? Weil er sein
Bedürfnis sehen und fühlen müsste; und das unbewusste und vergrabene
Bedürfnis verhindert es.
In diesem Kapitel werde ich beschreiben, wie früher emotionaler Schmerz
die Gehirnfunktion beeinflusst und wie der Körper auf den Schmerz
reagiert, der in diesen Einprägungen enthalten ist. Komplizierte
neurobiochemische Pfade ermöglichen uns, Schmerz zu verdrängen und
emotionalen Erdbeben vorzubeugen. Wir wandeln oder übersetzen sehr realen
und nahezu tödlichen Schmerz in irreale Ideen. Die natürlichen Schmerztöter,
die wir produzieren, lassen uns denken, wir seien schmerzfrei. Das trifft
zu, egal, welche Techniken man benutzt, um sich „frei zu fühlen,“ sei
es Meditation oder Singen. Wenn Kindheitsschmerz einmal eingeprägt worden
ist, gibt es keine Möglichkeit, sich frei und entspannt zu fühlen, ohne
ihn zu fühlen. Es besteht aber die Möglichkeit, sich einzubilden, man
sei entspannt; man nennt es Glauben.
Glücklicherweise und leider besitzen wir physiologische Mechanismen, die
uns die Wahlmöglichkeit lassen, Unbewusstheit über Bewusstsein zu
stellen. Es ist eine automatische Wahl. Es ist dieselbe Art von Wahl, die
embryonale Zellen am Lebensanfang treffen, wenn sie „sich
entscheiden,“ Gliazellen oder Gehirnzellen zu werden – nicht auf
Befehl von außen sondern durch die innere Anweisung, die der embryonalen
Zelle selbst innewohnt.
♦♦♦
Ein
neugeborenes Kind ist kein gedanklich bewusstes Geschöpf. Es kann sich
nicht an Gott oder Mohammed oder Buddha um Hilfe wenden, während
es darum kämpft, aus dem Geburtskanal und auf diese Welt zu
kommen; oder wenn es drei Wochen lang in einem Inkubator allein gelassen
wird; oder wenn es in den ersten Lebenswochen nicht genügend Körperkontakt
bekommt. Es kann keine Gottheit anflehen, dass sie es aus seinem Schmerz
errette, wenn die Mutter gleich nach der Geburt nicht da ist. In diesen
vernichtenden Momenten, die dem Baby wie eine Ewigkeit vorkommen müssen,
kann es nicht beten, bitten oder rationalisieren. Es kann keine Zuflucht
suchen bei Worten oder Gedanken. Es besitzt dafür nicht die neurologische
Fähigkeit. Es kann auch nicht versuchen, sich irgendwie vor seinem
Schmerz zu verstecken. Es steht nackt und unerfahren vor seinen Qualen. Es
kann sie nur unabgeschwächt aushalten. Eines ist machbar: Das Gehirn in
seiner Weisheit greift eilends zu seinen Neurotransmitter-Vorräten, um
den Schmerz wegzusperren. Wir sind verdrängt, bevor wir das Tageslicht
sehen. Nach Jahren der Vernachlässigung, fehlender Liebe und genereller
Schmerzanhäufung gehen die Vorräte allmählich zur Neige. Das ist dann
der Punkt, wo der Erwachsene einen Kult und „Booga–Booga“ ausfindig
macht. Booga-Booga, der Zugriff auf eine Fülle seltsamer oder irrer
Glaubensvorstellungen scheint Unsinn zu sein, macht aber genau so viel
Sinn wie viele Glaubensinhalte. Es macht auch genau so viel Sinn wie der
ursprüngliche Schmerz (Strangulierung durch die Nabelschnur, Blockade
durch einen Tumor, unmittelbar nach der Geburt allein gelassen werden
aufgrund der Krankheit der Mutter), der nicht viel Sinn an sich hatte –
einfach unverfälschter Schmerz. Halluzinationen (eine falsche visuelle
oder akustische Wahrnehmung) oder Irrglauben sind oft Versuche, diesen
sehr frühen Schmerzen, an die man keine Namen, keine Szenen und nichts
Intellektuelles anhängen kann, einen Sinn zu geben.
Dieses äußerste Alleinsein ist so traumatisch – tatsächlich oft
lebensbedrohlich – dass es in die Physiologie des Neugeborenen
eingeprägt wird. Im Prinzip ist es ein massiver elektrischer Input mit überwältigender
Valenz. Und dieser elektrische Input ist für das verletztliche Kleinkind
von solcher Intensität, dass er gedeckelt werden muss. Das Neugeborene
kann ihn nicht weiterhin fühlen, ohne mit fortlaufenden emotionalen
Katastrophen konfrontiert zu werden, mit einer kontinuierlichen Reihe von
buchstäblichen Explosionen im Gehirn, mit einem Erdbeben, das nie endet.
Der Körper muss einen Weg finden, um die überwältigende Last des
Traumas in etwas anderes zu übersetzen, also mobilisiert er primitive
Abwehrmechanismen, die den Schmerz unterdrücken werden. Jeder Schmerz
wird mit Verdrängung beantwortet – die Methode des Gehirns, Emotionen
zu verdecken und außer Reichweite dieser höheren Zentren zu halten, die
sie tatsächlich in Schmerz umwandeln können. Später im Leben kann das
traumatisierte Baby, jetzt ausgerüstet mit der kortikalen Fähigkeit, Gefühle
durch Gedanken zu ersetzen, sich an einen Gott wenden, der es von seinem
inneren Schmerz befreien soll, auch wenn es nicht weiß, wo der Schmerz
ursprünglich herkommt oder nicht einmal, dass es den Schmerz gibt. Er
wendet sich einfach an einen Gott, der ihn/sie beschützt, darauf achtet,
dass ihm/ihr Gerechtigkeit geschieht, der ihn/sie nicht im Stich lässt
und der ihm/ihr vor allem hilft, es ins Leben zu schaffen, sowohl wortwörtlich
im ursprünglichen Sinn als auch gegenwärtig in einem figurativen Sinn.
Wilder Penfield, der Neurochirurg, hat buchstäblich seinen Finger auf in
Gehirnzellen verschlüsselte Erinnerungen gelegt. Er fand heraus, dass die
Platzierung einer Elektrode auf dem Gehirn von Chirurgie-Patienten in der
Nähe von Gedächtnis-Stellen (Temporallappen) bewirkte, dass sie zu
symbolisieren anfingen und sonderbare Ideen hatten wie z.B.: „Ich habe
das Gefühl, dass Räuber hinter mir her sind.“ Später, wenn die Sonde
direkt auf der Gedächtnisstelle sitzt, wird die Erinnerung mehr real als
symbolisch: „Ich erinnere mich, dass ich so schreckliche Angst hatte,
als mein Bruder mit einer Spielzeugpistole auf meinen Kopf zielte.“
Eine
Sonde in der Nähe der Erinnerung erzeugt eine symbolische Szene oder ein
symbolisches Bild, während eine Sonde direkt auf der Stelle die exakte
Erinnerung erzeugt. In diesen chirurgischen Experimenten können wir
sehen, wie Neurose funktioniert. Wir können symbolisches Ausagieren tatsächlich
sehen, und wir können sehen, wie Glaubenssysteme verborgene Gefühle
symbolisieren. Darüber hinaus können wir sehen, wie die Erinnerungen
funktionieren. Ich habe an anderer Stelle zitiert, wie Input in die rechte
Hemisphäre während einer Split-Brain-Operation die linke Hälfte
veranlassen kann, alle möglichen Rationalisierungen anzufertigen. Das
geschieht automatisch und augenblicklich. Neurose und Psychose sind
so beschaffen. Aufgrund der Trennung zwischen Gefühlszentren und
Gedankenzentren weiß die linke Hälfte nicht, was die rechte tut oder
denkt.
Penfields
Forschungsergebnisse erinnern mich an einen unserer Patienten, der
wiederholt eine fliegende Untertasse mit sehr hellen Lichtern sah (oder
sich einbildete, eine zu sehen). An einem bestimmten Punkt in seiner
Therapie erlebte er ein Geburtstrauma wieder, in dem er im Entbindungssaal
von hellen Lichtern geblendet wurde. Bevor er zu dem Trauma Zugang hatte,
war es als Ganzes in die Gegenwart transportiert worden. Nach dem
Wiedererlebnis stellte er selbst die Verknüpfung her zwischen den
Blendlichtern und der fliegenden Untertasse. Vorher hätte ihm niemand
seinen Glauben an die Existenz fliegender Untertassen ausreden können. Er
hatte auch keine Ahnung, dass sich die Geburt in sein System eingeprägt
hatte. Er war sich sicher nicht bewusst, dass er in die Geschichte zurückkehren
und sie wiedererleben könne. Das Trugbild von den Lichtern der fliegenden
Untertasse war das reine Symbol eines realen Ereignisses.
Wenn
wir verstehen wollen, wie es das menschliche Gehirn bewerkstelligt, frühe
Traumen zu verdrängen und später Ideen hervorzuzaubern, die den in
diesen Einprägungen enthaltenen Schmerz absorbieren, müssen wir einen
Blick auf die physiologischen Mechanismen werfen, die an diesem Prozess
teilhaben.
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Ende
des Kapitels
Artikel
und Buchauzüge
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