Ein
Teil unseres neurologischen Apparats ist konstruiert worden, um
sicherzustellen, dass wir die Wahrheit über uns nicht kennen. Das hört
sich vielleicht trivial an, aber es überrascht niemanden, der diese
Schmerzen gefühlt hat und weiß, wie potentiell tödlich sie sind. Wir
werden zu Experten fürs Außenleben, um uns von dieser inneren Wahrheit
fernzuhalten.
Solange es keinen entwickelten Kortex gibt, der die Führung übernimmt
und Glaubensvorstellungen fabriziert, müssen untere primitivere
neurologische Systeme die Angst, den Schmerz und die Gefahr absorbieren.
Deshalb kann ein Kleinkind keine „Gedankenstörung“ haben aber dennoch
leiden. Seine Agonie ist im Körpersystem untergebracht. Bevor das
Kleinkind symbolisch werden und Gedanken entwickeln kann, wird seine
traumatische emotionale Energie entweder in physische Symptome oder
emotionale Verzerrungen kanalisiert. Der Wutanfall, die Kolik oder die
Allergien des Kindes sind seine Neurose. Man findet sie in der Magensäure
oder in den Lymphozyten der Jüngsten. Wenn das Kind heranwächst, wird
ein Teil der Energie, die seine Allergie nährt, auch in Gedanken
umgeformt. Die Nase läuft nicht mehr so viel, und das Mädchen fängt an,
zu viel zu denken. Sie läuft zu diesem und jenem Seminar, zum einen oder
anderen Aschram, sie versucht und probiert einiges aus auf der Suche nach
der „Antwort,“ die nicht in Indien liegt sondern nur einen tiefen
Atemzug entfernt. In eigenartiger Dialektik findet sie umso weniger, je
mehr sie sucht. Das Suchen nach einem Sinn wird zu einer Abwehr, weil
nicht erkannt wird, dass Fühlen der Sinn ist, und das bedeutet Schmerz.
Ohne Zugang zum Fühlen führt man ein bedeutungsloses Leben. Findet
jemand echte Bedeutung, findet er ebenso das Leid. Alle Wege führen nach
Rom.
Also hört das heranwachsende Kind hier mit dem Niesen auf und beginnt zu
denken. Oder vielleicht niest das Mädchen, hat eine ständig laufende
Nase und braucht immer noch Hilfe, um die Energie zu absorbieren. Und Gott
gibt ihr endlich Frieden; nicht Gott als solcher sondern der gedachte
Gott. Er ruft die Chemikalien der Ruhe hervor. Jeder Gott eignet sich, wie
auch immer man ihn nennen will. Aber jeder Gott muss Hoffnung und Erfüllung
anbieten, auch wenn es in einem anderen Leben geschieht. Die Seele wird
sich beruhigen. (Wenn Sie es bis jetzt noch nicht erahnt haben und im
Interesse der Aufrichtigkeit – ich bin kein Glaubensanhänger
irgendeiner Richtung. Ich bin nicht daran interessiert, jemanden zu überzeugen,
dass er oder sie nicht glauben soll.)
Die denkende Psyche, die sich mit Schmerz befasst, kommt nie zur Ruhe. Sie
setzt ein, wenn wir einschlafen wollen und bringt den präfrontalen Kortex
auf Touren, denselben Kortex, der sich tagsüber für Glaubenssysteme
begeistert, der Grübelei und Zwangsgedanken hervorbringt. Hier erzeugen
die Einprägungen einer tieferen Ebene Aktivität auf höherer Ebene. Auch
hier sehen wir, wie tief eingeprägter Schmerz das denkende Gehirn
elektrisiert. Und wenn wir diese Einprägung mit Drogen beruhigen, hört
die Grübelei tatsächlich auf. Es bringt nichts, sich mit diesen außer
Kontrolle geratenen Gedanken zu befassen. Obwohl das Gehirn hungrig nach
beruhigenden Gedanken ist, hat es nur ein begrenztes Verzeichnis von
Vorstellungen und benutzt sie in vielfältiger Form aber mit weitgehend
gleichem Inhalt ein Leben lang. Die eine oder andere mystische
Forschungsreise ist wie ein neuer Guru, der den alten ersetzt. Alle dienen
der gleichen Funktion, nämlich zu stimulieren und Hoffnung zu
stimulieren. Die Gedankenpsyche greift nach demselben Inhalt in
unterschiedlichen Verpackungen, weil sie in Wirklichkeit auf eine fixierte
innere Umwelt reagiert.
Man kann eine ganze gedankliche Suprastruktur
über Frauen entwickeln, dass sie bedrohlich, hysterisch, selbstsüchtig,
kontrollierend sind, dass sie Männer dominieren oder kastrieren wollen
und so fort. Dieser Gedanken-Satz ist vielleicht aus einem frühen Trauma
erwachsen, das eine tryrannische Mutter einbezieht. Die Kluft zwischen der
Überzeugung und der frühen Kindheit kann so breit sein und so weit
entfernt, dass es beinahe unmöglich wird, die Ursachen zu verstehen. Das
trifft vor allem zu, wenn die Einprägungen am Lebensanfang geschahen, als
keine Worte oder Gedanken verfügbar waren. In diesem Sinn
funktionieren Glaubensinhalte zum Teil dahingehend, dass sie dem
Erwachsenen einen Zusammenhang liefern für etwas, das für das Kleinkind
zusammenhanglos, unerklärlich und extrem schmerzvoll war. Die Gedanken überbrücken
die Kluft zwischen Vergangenheits-Erinnerung und Gegenwarts-Realität.
Wenn früher Schmerz sich einmal im Gehirn niedergelassen hat und wir
seiner gefahrlos unbewusst sind, neigen wir dazu, nahezu überall Schmerz
zu sehen außer in uns selbst. Vielleicht nehmen wir jemanden, der uns
nach unserer Gesundheit fragt, als bedrohlich wahr: „Geht’s dir
gut?“ „Warum? Schaue ich krank aus?“ Jemand, der wirklich besorgt
ist, kommt uns als Bedrohung vor. Wir antworten auf die Aussage „Das
hast du heute gut gemacht“ , indem wir denken oder sagen: „Warum,
hab’ ich es gestern nicht gut gemacht?“ Verdrängter Schmerz formt
unser Weltbild. Eine Person, die sich schlecht fühlt, erwartet überall
Kritik – oder sieht sie, wo sie nicht ist – weil sie genau das in
ihrer ganzen Kindheit bekommen hat. Der Neurotiker kann den ehrlichen
Versuch einer Beschwichtigung oder eines Kompliments in Schmerz
verwandeln. Gegenwartskomplimente erinnern ihn an vergangene
Grausamkeiten. Außerdem hat er gelernt, wie er klein war, dass er es
nicht verdient, gut behandelt zu werden.
Jedes neue Ereignis wird wahrscheinlich verdreht, damit es mit der
vorherrschenden inneren Wirklichkeit übereinstimmt. Keiner hat je zugehört,
als wir klein waren, und jetzt reden und reden wir, um jemanden dazu zu
„veranlassen,“ dass sie oder er uns zuhört. Oder keiner hat je zugehört
und: „Nein, ich werd’ nichts sagen, denn ich bin so ein Nichts. Was
ich sage, ist so egal.“ Eine Bedienung um etwas zu bitten, das Sie haben
wollen, kann traumatisch sein aufgrund der zugrundeliegenden aber außer
Reichweite liegenden Angst vor den Konsequenzen, um etwas zu bitten, das
Sie von einem vorenthaltenden Elternteil haben wollten. Jemand kritisiert
Ihre Stadt oder Ihr Land, und Sie ziehen einen Abwehrwall hoch, als würden
Sie persönlich angegriffen, weil Bürgerstolz oder Patriotismus dazu
dient, Sie gegen das Gefühl zu verteidigen, nicht dazuzugehören. Sie fühlen
sich nicht allein gelassen sondern als integriertes Mitglied einer Gruppe.
Genau aus diesem Grund schließen sich einige Leute einem Kult an.
Bevorzugt wird um jeden Preis ein andersweltlicher, fremdartiger
Brennpunkt – ein Transportmittel, das einen so weit es nur geht von der
schmerzvollen Realität wegbringt – indem man alles glaubt, das sich
nicht beweisen lässt. Auf diese Weise können wir uns nie irren. Mir
leuchtet nicht ein, wie man einen Patienten durch eine Therapie
tiefgreifend verändern kann, die auf der Vermeidung der Realität beruht.
Was immer man von Meditation hält – und sie hat Millionen Anhänger –
sie ist und bleibt Voodoo – der magische Glaube, dass ein bestimmtes
Ritual/Verhalten eine ganze Lebenszeit mit einem gleichgültigen Vater und
einer total depressiven Mutter auflösen kann – eine Erfahrung, die tief
in jede Zelle des Körpers eingeprägt worden war. Die Leute halten sich
an einer schnellen, schmerzlosen Heilung fest. Meditation ist keine
Ausnahme. An ihr Funktionieren kann man nur glauben, wenn man seine
Geschichte leugnet. Dennoch ist es die Geschichte, die uns antreibt. Wir können
unsere Probleme nicht ahistorisch lösen, wie es jedes Ritual und jede
Booga-Booga-Methode versucht. Sobald eingeprägter Schmerz existiert, ist
jede schnelle schmerzlose Heilmethode zwangsweise falsch. Wir können
„die Seele nicht reinigen“, wenn die Seele mit
Vergangenheitserinnerungen überladen ist. Wir können unsere
Neurophysiologie nicht mit symbolischen Gesten übertrumpfen. Wir haben
die Wahl: entweder fühlen oder Verdrängung. Dazwischen gibt es nichts.
Nicht ich bestehe darauf; es ist unsere Physiologie, die das diktiert.
Diese langen Fasern, die sich von primitiven Gehirnsystemen (wo frühe
Traumen gespeichert werden) zum Kortex erstrecken, überbringen dem
denkenden Gehirn eine verstümmelte Botschaft, die für uns gerade genug
Information bereithält, um uns zu obsessiven Verhalten anzutreiben, aber
nicht genug spezifische Information, um eine Verknüpfung mit der
qualvollen frühen Verlassenheit herzustellen oder mit welcher Erfahrung
auch immer, die den Schmerz verursacht hat. Würde diese Erfahrung
geradewegs durchkommen, würden wir unter Qualen das Gesicht verzerren.
Also glaubt das zu Vorstellungen und Begriffen fähige Gedankengehirn,
dass die Sache, über die wir zwanghaft besorgt sind, wirklich das Problem
ist, - Erdbeben, Meteoriten, usw. Wir
sind überzeugt, dass von außen eine Katastrophe naht wie z.B. ein
bevorstehender Raketenangriff oder das Ende der Welt, wie es Nostradamus
prophezeit hat. Die Tragödie ist, dass ein Therapeut den Patienten beim
Wort nimmt und bejaht, dass das sich präsentierende Problem tatsächlich
das Problem ist. Dennoch wird die Angst von Untergangsgefühlen geschürt,
die nichts mit Erdbeben zu tun haben sondern mit der Empfindung im
Mutterleib, dass alles verloren ist, dass Kämpfen nichts hilft.
Wie ich betont habe, ist die Katastrophe schon früh im Leben des Mädchens/der
Frau geschehen und in das untere Gehirnsystem eingeprägt worden. Sie
erwartet die Katastrophe, weil Gefühle auf dem Vormarsch sind und an das
präfrontale Areal stoßen, zuerst an das rechtsseitige und dann gezielt
an das linksseitige, das die Organisation von Glaubensvorstellungen
anregt. Die frühe Katastrophe ist vielleicht im Gehirn nach oben und
dorthin unterwegs, wo wir uns ihrer bewusst werden könnten. Also
konzentrieren wir uns auf etwas, wo wir etwas machen können – nach
Colorado umziehen. Alles, was ihre Überzeugung bedroht, wir zurückgewiesen;
schließlich ist ihr Glaube/ihre Überzeugung eine Abwehr. Bei einer
Bedrohung von außen können wir fast immer etwas tun; gegen die von innen
können wir sehr wenig tun; entweder fühlen oder verdrängen. In einem
Tierexperiment fand man heraus, dass die Gehirn-Signatur nahezu identisch
mit der des wirklichen Ereignisses ist, wenn die Tiere auf eine Erinnerung
reagieren. Und genau das geschieht mit dem Neurotiker. Sein Gefühl eines
drohenden Verhängnisses führt zu einem Hirnwellenmuster, das identisch
ist mit dem ursprünglichen Ereignis. Und zwar deshalb, weil die Einprägung
aktuell ist; sie ist eine gegenwärtige Realität, weil sie nie
verschwunden war. Die Realität der Gegenwart löst dann die Primärerinnerung
aus, und wir reagieren passend auf diese Erinnerung. Es scheint
nur übertrieben, weil wir die Primäreinprägung nicht sehen können,
die wie ein Stalagmit tief verborgen liegt und die dem Ereignis Kraft
verliehen hat. Wir sehen die Reaktion aber nicht ihre Vorläufer. Wir können
paranoide Gedankenbildung beobachten aber nicht die Myriaden präverbaler
Traumen, die sie verursacht haben. Kurz gesagt ignorieren wir die
Geschichte, indem wir ein Symptom behandeln, das historische Wurzeln hat.
Sobald wir falsche Auffassungen übernommen haben, werden wir, wie ich
angemerkt habe, zu ihren Gefangenen, zu Gefangenen des Glaubens, der unser
Bewusstsein einschränkt, unserer mentalen Reichweite Grenzen setzt, uns
anfällig macht für Parolen und Demagogen und unsere Wahrnehmung in sehr
engen Grenzen hält, bis wir von genau den Gedanken, die wir produzieren,
als Geiseln genommen werden. Jemand, der so in eine defensive
Glaubensvorstellung eingesperrt ist, hat vielleicht wenig Fantasie und
gewiss keinen objektiven Blick für das Hirngespinst, das er sich da
einverleibt hat. (So eingesperrte Leute haben selten Sinn für Humor oder
für das Schöne). Und die neurotische Glaubensgewohnheit aufzugeben und
unter die Lupe zu nehmen, was tief drinnen wirklich los ist, verlangt
einen Preis, der höher ist, als die meisten Leute zahlen wollen. Es gibt
viele, die Sprüche und Rituale bevorzugen, weil ihnen so das Problem
erspart bleibt, gründlich über die Dinge nachdenken zu müssen. Wir
brauchen den Zugang zum rechten Gehirn, um das große Ganze zu sehen, um
die Ereignisse im Zusammenhang zu sehen. Andernfalls tragen wir wortwörtlich
nur die zerebrale Oberfläche ab. Das linke Frontalhirn hilft uns dabei.
Somit haben wir hier ein dialektisches Dilemma: die körperliche
(unbewusste) Wahrheit löst gedankliche Unwahrheit aus, um ihre Existenz
zu verbergen; die Suche nach äußerer Irrealität, um sich gegen innere
Realität zu schützen. Warum? Wegen der Resonanz: Es gibt bestimmte
Frequenzen (meine nicht bewiesene Vermutung), durch die Ereignisse übertragen
werden, so dass ein Gegenwartsereignis mit einem vergangenen Ereignis
resonieren kann, und es ist das vergangene, das unsere Reaktion bestimmt.
Warum? Weil das vergangene Ereignis so
früh geschehen sein kann, dass es ein Prototyp fürs Überleben war.
Somit erhalten wir übertriebene Reaktionen, weil eine Kleinigkeit wie
eine Kritik – „Ich habe was falsch gemacht und sie werden mich deshalb
nicht lieben“ – mit etwas Gewaltigem in unserer Vergangenheit
resoniert, eine Vergangenheit, in der wir nicht geliebt wurden, wenn wir
irgendeinen Fehler gemacht hatten.
Wenn ein Mensch zu einem Reinkarnationstherapeuten geht, dann besagt das,
dass er nach einer Über-Wirklichkeit sucht, nach einer
Nicht-von-dieser-Welt-Erfahrung – nach irgendwas, um die innere
Wirklichkeit zu vermeiden. Er legt sein Schicksal in die Hände eines
Kults, um sich geliebt zu fühlen. Er tauscht seine biologische Familie für
eine „spirituelle“ ein. Vielleicht ändert er sogar gerne seinen
Namen, weil er unbewusst sagen will: „Ich bin ein anderer.“
Fast jeder Neurotiker hat irreale Hoffnung über etwas: eine neue
Verabredung, ein neuer Freund, ein neuer Ehegatte, ein neuer Job, ein
neuer Wohnort und ein neuer geistiger Führer; das ist alles eine Art
Religion. Mit genug irrealer Hoffnung landen wir in der Theologie, egal
wie sie heißt.
Eine Gläubige denkt vielleicht, sie habe die „Antworten“ auf ihre
Fragen gefunden oder den Gipfelpunkt ihrer Suchwanderung erreicht. Sie betäubt
sich selbst, indem sie glaubt, dass ihr neuer Freund oder ihre religiöse
Bekehrung sie vor ihren Qualen beschützt. Sie projiziert alle möglichen
Tugenden auf einen Guru – alle Symbole ihres Bedürfnisses. Sie glaubt
vielleicht, dass sie von allem geheilt worden ist, was in der
Vergangenheit ihr Leiden verursacht hat, aber ist dass wirklich so? Kann
man sehr krank sein, obgleich man glaubt, gesund zu werden? Ja. Deshalb
scheinen so viele scharlatanische und populäre Psychotherapien zu
funktionieren. Der Mensch ist überzeugt, dass die Therapie funktioniert,
obwohl sich innerlich absolut nichts ändert. Aber wenn es keinen Zugang
nach innen gibt, ersetzt der Gedanke, dass es einem gut geht, tatsächliches
Wohlbefinden. Beruhigende Worte sind Musik in unseren Ohren und Medizin für
unseren Schmerz. Wir fühlen uns akzeptiert und geliebt. Aber ein Mensch
kann glauben, es gehe ihm gut, während der Körper gleichzeitig alle möglichen
Schmerzen verarbeitet und kanalisiert. Es geht ihm nicht gut, nur weil er
denkt, es gehe ihm gut; er denkt nur, es gehe ihm gut. Deshalb
messen wir Vitalfunktionen vor und nach jeder Therapiesitzung. Wir
brauchen Bestätigung. Wir fragen den Körper nach der Wahrheit, und er
sagt uns durch einen Blutdruck von 175/110 unmissverständlich, dass
keinesfalls alles in Ordnung ist.
♦♦♦
Der Blick in das Gesicht der Litaneien-Sängerin, des Kult-Mitglieds, der
Person, die ihren Namen und ihre Identität geändert hat, verrät ihre
psychische Einkerkerung. Sie hat diesen „irren“ Blick an sich, den
Langzeitgefangene haben. Betäubt von Gedanken und Endorphinen hat sie es
geschafft, sich selbst aufzugeben, indem sie glaubt, es gebe keine
Krankheit. Und zu viele sogenannte TV-Psychologen bekräftigen diesen
Trugschluss, indem sie sagen, wir müssten nur unsere geistige Einstellung
ändern, neue Gedanken entwickeln, und dann könnten wir jedes Leiden bewältigen;
wir könnten uns den Weg zur Gesundheit erdenken. Es sei alles eine Frage
dessen, was wir glauben. Diese TV-Psychologen sind wirklich religiöse
Evangelisten mit anderem Namen.
♦♦♦
Neurose hat nichts mit Gedanken zu tun, es sei denn indirekt; und bestimmt
nichts mit Einsichten, die nur noch mehr Gedanken sind – die Gedanken
eines anderen. Wir wachsen auf und entwickeln uns, so dass wir die Fähigkeit
erlangen, unsere Neurose/unseren Schmerz in Worten auszudrücken, aber wir
sind vielleicht von Geburt auf neurotisch. Jetzt stellen Sie sich vor,
diese Neurose allein mit Worten zu behandeln, indem man glaubt, Neurose
sei eine Sache unkorrekter, irrationaler Gedanken. Möglicherweise haben
wir einfach Jahrzehnte frühen Lebens ausgelassen.
So etwas wie eine „Gedankenstörung“ gibt es nicht, ungeachtet
gegenteiliger Behauptung durch die psychiatrische Nomenklatur. Gedanken
sind die letzte Errungenschaft der Evolution, der letzte Mechanismus in
der Persönlickeitsentwicklung des Menschen, um mit Widrigkeiten
umzugehen, vor allem mit solchen, die traumatisch waren.
Durch die Nutzung unseres Verstands haben wir die Mittel, innere
Wirklichkeit zu vermeiden. Wir können abstrakt denken, und wir können
auch von uns selbst abstrahiert werden. Wir können die Wahrheit
fantasieren, fabrizieren, verleugnen, umleiten und verdrängen. Diese
Selbsttäuschung ist das Geschenk der Zivilisation, denn sobald es eingeprägten
Schmerz gibt, müssen wir uns selbst täuschen können, um mit unserem
Leben weiterzumachen.
Eine Frau aus meinem Bekanntenkreis war eine brillante
Gehirn-Wissenschaftlerin und auch eine hingebungsvolle Gläubige. Sie sah
keinen Widerspruch in der Koexistenz ihrer völlig
„wissenschaftlichen“ Methodik bei wissenschaftlichen Problemen mit
ihrem bedingungslosen Gehorsam gegenüber den absonderlichsten
Glaubensvorstellungen ihres Kults. Ihr rechtes Gehirn blieb auf ihre
Emotionen beschränkt. Sie war effektiv in einem hypnotischen Zustand.
Ihre Kritikfähigkeit war radikal reduziert wie bei Hypnose, eine Form der
Neurose, wie sie nicht im Buche steht. Weil diese Bekannte nicht in Gefühlen
verankert war (weil sie unverknüpft war), war sie leicht zu manipulieren.
Die Kluft zwischen Fühlen und Intellekt, die ich diskutiere, kann dazu führen,
dass ein vermeintlich brillanter Mann in Parks herumwandert und sich vor
Frauen entblößt, Gefängnis riskiert und Schlimmeres. Hier haben wir
einen funktionierenden Verstand, der aber nichts nützt, wenn es darum
geht, mit Gefühlen umzugehen. Das Verhalten des Mannes wird vom Bedürfnis
gesteuert: „Mama, schau’ mich an. Beachte mich bitte.“ Starke Gefühle
im rechten Gehirn überwältigen den Linkshirn-Intellekt. Achten Sie auf
das Paradox: Eine anscheinend hochlogische Psyche steht neben einer
anderen Psyche, die dazu gezwungen wird, übertrieben unlogisch zu sein.
Sie existieren in einem nahtlosen Nebeneinander in ein und demselben
Gehirn und haben nichts miteinander zu tun. Und die „unlogische“
Psyche widersteht der Kontrolle durch die „logische Psyche.“ Natürlich
ist „unlogische Psyche“ eine Fehlbezeichnung; es ist die logische
Psyche der Gefühle und Empfindungen, die unbewusste Prozesse akkurat
widerspiegeln, indem sie sie in die Gegenwart projizieren.
Also haben wir zwei logische Psychen:
die eine reflektiert äußere Wirklichkeit, die andere die innere.
Das Problem ist, dass wir uns der inneren nicht bewusst sind, die
emotionale Reaktionen logisch oder wenigstens stimmig machen würde. Wir
halten sie für irrational, weil wir die Vorgeschichte nicht kennen, die
zu emotionalem Verhalten und „irrationalem“ Denken“ führt. Eine
paranoide Patientin, die einen brutalen Vater hatte, sah Gefahr bei jeder
Begegnung mit einem Mann. Noch dazu glaubte sie wirklich, ein bestimmter
Mann sei ihr Vater, der sie töten wolle (er vergewaltigte sie, als sie
acht war und sagte ihr, er werde sie töten, wenn sie jemand etwas sagen würde).
Als sie in Sitzungen, die sich über viele Monate erstreckten, die Gefahr
fühlte, in die sie ihr Vater gebracht hatte, sahen wir die Verbindung
zwischen ihrer paranoiden Gedankenbildung und ihren vergrabenen Gefühlen.
Ihre innere Realität machte ihre Paranoia völlig plausibel. Wenn wir
nicht wissen, wie wir Zugang zu dieser inneren Realität finden, können
wir uns auf die bizarren Ideen keinen Reim machen. Und wir verstehen, dass
diese Ideen vielleicht nicht so bizarr sind wie wir dachten. Und, nebenbei
bemerkt, wenn man wie so viele Therapeuten der Person nicht glaubt, dann
verschlimmert man die psychische Krankheit ernsthaft.
Würde man jedes Ausagieren einer bestimmten Betrachtungsweise
unterziehen, es in seinen alten Kontext stellen, dann wäre es völlig
logisch. Dasselbe gilt für viele der bizarrsten menschlichen Gedanken und
Vorstellungen. Wenn wir uns wie Orpheus irgendwie von diesen exotischen
Glaubenssystemen aus in die Unterwelt zu den Gefühlen abseilen könnten,
die diese Vorstellungen steuern, würden wir oft die ihnen eigene Logik
erkennen.
Es ist interessant, dass wir einen Mechanismus – Glaubensvorstellungen -
haben, den wir konstruieren, um mit Schmerz umzugehen. Und wir
machen das ohne Plan oder Architekt. Es geschieht einfach ohne bewusste
Anstrengung. Es gibt keinen „intelligenten Entwurf,“ aber jede Menge
unbewusste Entwürfe.
Wir müssen dem einen weiteren Aspekt hinzufügen, und das ist der
emotionale Teil des Glaubens. Das heißt, wenn wir glauben, dann gibt es
ein Basisstück, das den Glauben begleitet und die Produktion der Schmerztöter
unterstützt, die nötig sind, um uns zu beruhigen. Und das ist die
Unterwerfung unter eine höhere Autorität, auch wenn diese Autorität ein
Glaube ist, denn wir von einem Gott, Guru oder Therapeuten bekommen. Wenn
ich einen Glauben erörtere, beziehe ich immer den Unterwerfungs-Part mit
ein. Und natürlich gibt es ebenso andere emotionale Aspekte. Es gibt
einen Artikel (9), der diesen Punkt betont: Sie schreiben über die
Grundtendenz nahezu aller Tierformen, sich einer „höheren Autorität“
zu unterwerfen, einem härteren, aggressiveren, größeren, dominanten
Tier. Das schwächere Tier unterwirft sich mit seiner üblichen Unterwürfigkeitsgeste.
Das geschieht, um weitere Aggression und weiteren Schaden abzuwenden. Und
das Follow-Up dazu ist unsterbliche Loyalität und eine Art Gleichgewicht
in der Gruppe, wo jeder seinen Platz kennt und ihn akzeptiert. Angst sorgt
dafür, dass das alles reibungslos läuft. Der Übergang zur Religion ist
nur ein kleiner Schritt; dort wird Loyalität erwartet und Gehorsam ist
unerlässlich; Unterwerfung wird jederzeit vorausgesetzt.
♦♦♦
Was
Price und Gardner aufzeigen, ist, dass die Wurzeln der Unterwerfung auf
der tiefsten Gehirnebene bereits vorhanden sind. Und sie entwickelt sich
mit der Gehirnevolution und nimmt verschiedene Formen an, aber die Dynamik
bleibt dieselbe. Kurz gesagt bedeutet, sich einer Gottheit zu ergeben,
sich einer „höheren Macht“ zu ergeben. Und dass dies die Gesellschaft
reibungslos funktionieren lässt. Erst wenn das alles pervertiert wird und
die „höhere Macht“ verlangt, dass man tötet, läuft alles schief.
Das Bedürfnis, sich zu unterwerfen, geht jedoch zurück auf unsere
reptilischen Anfänge. Es steckt tief in uns. Überlegen Sie: Wir
verhalten uns nach Hunderten Millionen Jahren der Evolution, wie es unsere
primitiven Vorfahren getan haben. Und wir tun es weitgehend aus denselben
Gründen.
Die Autoren beschreiben Depression als unfreiwillige Form der
Unterwerfung; womit ich nicht einverstanden bin. Was stimmt, ist, dass die
Depressiven aufgegeben haben, sich nicht Gott sondern der Bestimmung oder
dem Schicksal ergeben haben. Wenn sie sich Gott ergeben, ist das natürlich
eine jüngere evolutionäre Taktik. Aber aufzugeben bedeutet meiner
Meinung nach, den Kampf aufzugeben, und das geschieht, wie ich in vielen
meiner Bücher beschrieben habe, wenn das Neugeborene bei der Geburt in
der „Talsohle“ feststeckt; wenn es in einer paraympathischen Phase
feststeckt, in der weiteres Kämpfen lebensgefährlich wird. Das ist das
Äquivalent zur Unterwerfung eines Reptils. Später dann gibt man auf,
wenn die Lebensumstände entsprechend sind, und unterwirft sich eher dem
Schicksal und den Umständen, als dass man sich durchkämpft. Der Prototyp
hat sich jetzt etabliert. Dieses Aufgeben – Hoffnungslosigkeit – ist
die Basis der späteren schweren Depression. Die Autoren nennen diese Art
der Depression einen „Ritualtod.“ Und in bestimmter Hinsicht ist es
Vermeidung des Todes. Sie nennen es „de-eskalierendes Verhalten.“ In
Wirklichkeit ist es: „Ich kann an meinen Lebensumständen nichts ändern.
Sie sind mein Schicksal.“
Sie zeigen auf, indem sie MacLeans Theorie des dreieinigen Gehirns
verwenden, dass dieses unterwürfige Verhalten verschiedene Ebenen hat.
Ich stimme zu. Wenn wir in der Zeit zurückreisen, wird das Gefühl/die
Empfindung schwerer und stärker. Gegenwärtige Ereignisse können das
Urgefühl durch den Resonanzprozess auslösen, in dem alle Ereignisse (wie
ich vermute) durch ähnliche Gehinrfrequenzen miteinander verbunden sind.
Je weiter die Gefühle zurückreichen, umso tiefer versinken wir in
Hoffnungslosigkeit und Depression. Und natürlich ist das ein Aspekt von
Minderwertigkeitsgefühlen oder geringer Selbstachtung: „Ich bin
hilflos, hoffnungslos und wertlos. Was immer ich tue, daran lässt sich
nichts ändern.“ Wir müssen das nicht unbedingt aussprechen; es liegt
in unseren Worten, unserem Verhalten, unserer Körperhaltung, unserem Gang
und in unserer Stimmung. Das ist im Prinzip die defätistische Strategie.
Und jetzt wissen wir, warum man in Diktaturen für eine solche Einstellung
bestraft oder umgebracht werden kann. Die Briten wollten Hitler vor dem
Krieg beschwichtigen; sie beugten sich bereitwillig seinen Aggressionen,
wenn er sie nur nicht angreifen würde (wie ein Schimpanse, der sich vor
dem stärkeren verbeugt). Es hat nicht funktioniert.
Die Dynamik der Unterwerfung beginnt bei der Geburt oder vorher, wenn die
Mutter raucht oder trinkt und den Fetus in schreckliche Unterwerfung
zwingt (er kann absolut nichts dagegen tun). Sie gewinnt im weiteren
Verlauf des Lebens an Stärke, wenn das Kind sich den Launen der Eltern
unterwerfen muss. Es ist dann nur ein kleiner Sprung in die Religion und
in die Gehorsamkeit gegenüber einer Gottheit; auch hier wieder wird
Gehorsam und Loyalität verlangt und gefordert. Und wenn diese Person
Hilfe sucht, dann wird sie vielleicht von Hypnose angezogen, wo absolute
Unterwerfung verlangt wird. Oder sie tendiert zur Analyse, wo sie auch
verlangt wird, nur in viel subtilerer Form. Dieses Bedürfnis zu gehorchen
kommt nicht aus einer Laune heraus; es ist ein Teil dessen, was die
Gesellschaft zusammenhält. Es hilft, wenn jemand in so einer komplexen
und verwirrenden Welt nicht herausfinden kann, wie er sich verhalten soll.
Irgendjemand findet es dann für uns heraus, aber das hat seinen Preis –
Unterwerfung.
Wenn wir darüber nachdenken, sehen wir, dass solche Gruppen wie die
Anonymen Alkoholiker verlangen, dass die Zielpersonen sich einer höheren
Macht verpflichten. Und das ist in ihrer Welt Teil der Besserung. Ich muss
nicht handeln – er wird es für mich tun. Also haben
12-Schritte-Methoden und Psychoanalyse dieselbe Dynamik, welche die Person
immer wieder zurückgehen lässt. Also muss sich die Person im Namen der
Gesundheit wieder unterwerfen, wenn das doch schon vorher
Bestandteil ihrer psychischen Krankheit war. Das Opfer stellt das
nicht in Frage, weil es das nie konnte oder tat. So verschlimmern wir die
Krankheit und bilden uns ein, die Person habe große Fortschritte gemacht.
Ah, Selbsttäuschung.
♦♦♦
FRANK
DER
MYTHOS EINER GLÜCKLICHEN KINDHEIT
Hätten
Sie mich vor sechs Jahren nach meiner Kindheit gefragt, hätte ich gesagt,
dass ich damals ganz glücklich war. Ich hätte auch gesagt, dass ich
abgesehen von ein paar traurigen Zeiten und der Tracht Prügel, die ich
manchmal verdiente und die mir nicht schadeten, verständnisvolle Eltern
hatte, die ich liebte und die mich liebten. Ich hätte gesagt, dass ich
die Schule liebte und ein seriöser und gut anpepasster christlicher Junge
war, der von frühester Jugend an ein gutes Beispiel sein wollte und glücklich
mit seinem Leben war.
Mit diesen Antworten wäre ich damals so aufrichtig zu mir selbst gewesen,
wie es meinem damaligen Wissen entsprach. Aber diese Antworten waren größtenteils
Lügen, weil sie auf zensierten Erinnerungen beruhten. Ich glaubte diese
Antworten mit einem kleinen Teil meines rationalen Bewusstseins – der
dominante Teil, der meine tagtäglichen Aktivitäten und meine Sprache
kontrollierte, gelegentliche Freudsche Versprecher natürlich ausgenommen.
Diese Antworten idealisierten meine Erinnerungen und verleugneten die
psychische Realität meines Lebens. Mein Leben war in Wirklichkeit eine
große Illusion, eine große Lüge, der ich mir nicht bewusst war. Meine
wirklichen Gefühle waren mir nicht bekannt, und wenn ich eine Ahnung von
ihnen hatte, tat ich sie als Wasser unter der Brücke und als jetzt
bedeutungslos ab. Ich verdrängte sie.
Der
unbewusste Teil von mir hat eine ganz andere Geschichte zu erzählen.
Seine Sprache ist symbolisch, neurotisch und psychosomatisch. Es ist die
Sprache der Träume und Albträume, der Verzweiflung, Depression, Unglücklichkeit,
Einsamkeit, Wut, des Selbsthasses, des neurotischen Zwangsverhaltens und
der physiologischen Störungen. Das ist eine verinnerlichte Wirklichkeit,
die aus unsichtbaren aber stärkeren und zerstörerischeren Kräften
besteht als diejenigen, die mein kühles rationales Selbst bilden.
ZERKNAUTSCHTE
KINDHEIT
Die
Wahrheit ist, dass der Verlust meiner Kindheit mich jetzt mit Traurigkeit,
Trauer und Wut erfüllt. Für ein paar kurze Jahre gab es ein wenig von
dem, was so wunderbar ist in der Kindheit -
die sorgenfreien Freuden, wenn du jung bist; neugierig sein, unbekümmert
spielen, entdecken, die Welt geniessen ohne ideologische Überlagerung.
Ich weine jetzt über meine verlorene Kindheit, weil ihre überwältigenden
emotionalen Qualitäten eher Angst, Schuld, Zorn und Einsamkeit waren als
Unschuld und Freude. Es war ein freudloses Leben, nahezu ohne
Liebe zuhause und in der Kirche.
Bereits in sehr jungem Alter musste ich die Last der Welt auf meinen Rücken
nehmen. Sie drückte mich nieder und war für mich nicht zu ertragen. Ich
wäre ausgelassen und voller Leben gewesen. Stattdessen habe ich die Last
eines Märtyrers getragen; ich fühlte mich verantwortlich für den
Schmerz und das Leid, das überall war, und ich wurde davon völlig überwältigt.
Ich durfte kein Kind sein; ich hatte die Last eines Erwachsenen zu tragen,
und man erwartete von mir, dass ich ein Heiliger sei.
Meine eigene Jugendwelt wurde ausgeschlossen durch die Erwachsenenversion
der Welt, der ich vertrauen musste. Die Erwachsenen sprachen bis zum
Erbrechen von ewigen Wahrheiten, die in meiner Kindheitswelt unbestritten
waren. Alles in ihrer Welt drehte sich um Gott, den Tag des Jüngsten
Gerichts, um die Notwendigkeit der Erlösung, um Höllenfeuer und Himmel.
Auf Schritt und Tritt bemühte man sich, dass ich die Welt auf diese Weise
sah und dass ich mich entsprechend bestimmter Erwartungen verhielt. In
dieser Lebenssicht wurden alle meine Kindheitsgefühle in den großen
Gottesschlund gefegt. Mir blieb nichts, das voll mir gehörte, und ich
hatte keine Kontrolle darüber. Wutgefühle, so sagte man mir, seien
falsch und sündig. Ich war wütend, weil ich ständig von Gott und Mensch
beobachtet, zensiert und beurteilt wurde, aber durfte das nicht ausdrücken.
Sie brachten mich dazu, dass ich mich dabei schuldig fühlte. Solche Gefühle
waren Zeichen der Rebellion gegen Gott. Myriaden direkter und subtiler Kräfte
waren damit beschäftigt, mich zu kontrollieren, ob ich ein guter und
moralischer Mensch sei. Das richtige menschliche Leben wäre für mich
gewesen, das Leben zu genießen, Dinge zu tun, die kleine Jungs mögen:
spielen, abenteuerlustig sein, Spaß haben. Stattdessen benutzte man
Schuld und psychologischen Druck, um mich anzupassen: Wäre Jesus damit
einverstanden? Willst du ewig leiden für einen kleinen Augenblick des
Vergnügens? Was werden andere Christen denken? Ist das christlich, was du
tust?
Sehr früh lernte ich, dass man sich Akzeptanz erkaufen musste; sie war
nie umsonst. Du wurdest akzeptiert von den Eltern, von den
Sonntagsschullehrern, von den Pastoren, vom Nikolaus, von Gott selbst,
wenn du dich so verhalten hast, wie sie es von dir wollten. Hast du
rebelliert, wurdest du bestraft. Wenn es nicht physisch war, dann durch
Entfremdung, Verwarnung und durch die Angst vor zeitweiser oder ewiger
Strafe.
FRÜHE KINDHEIT
Es
war mein (Un)glück, als sehr sensibler Junge auf die Welt zu kommen.
Alles, was ich als Mensch brauchte, war, akzeptiert zu werden, wie ich war
und so geliebt zu werden. Es war eine vergebliche Hoffnung. Die Leute in
der Mennoniten-Gemeinde, die mich erzogen, waren sehr krank. Sie machten
das Leben zu einer sehr erstickenden Angelegenheit, in der das menschliche
Leben in eine sehr straffe Gießform gestopft wurde. Diese Zwänge
verdrehten meine menschliche Natur und machten mich auch krank. Die
„unerwünschten“ Teile der menschlichen Natur, die nicht passten,
wurden hineingehämmert oder abgehackt.
Es beginnt damit, dass ich als geborener Junge eine Enttäuschung war. Ich
wurde gelegentlich von meiner jugendlichen Mutter und älteren Schwester
in Mädchenkleider gesteckt; sie spielten dann mit mir, als sei ich das
kleine Mädchen, als das sie mich gerne gehabt hätten. Mein Haar wurde
erst geschnitten, als ich zwei Jahre alt war, weil es so hübsch und
lockig war. Meine Mutter hebte die Locken auf und zeigte sie mir ganz
unschuldig von Zeit zu Zeit mein ganzes Leben lang; ein Ereignis, das ich
irgendwie als unangenehm, beschämend und betäubend empfand. Ich habe
nicht verstanden, warum sich das ständig wiederholen musste. Aber ich
dachte nie, dass es mich verärgert, sondern es war einfach eigenartig.
Diese bizarre Situation mit meiner unwillkommenen Männlichkeit prägte
sich in mein Wesen ein (ich konnte mir der darin liegenden Zurückweisung
nicht bewusst gewesen sein, aber es wurde in meinem Wesen registriert) und
spielte eine Rolle in der unbewussten Ereigniskette, die Haare zum Objekt
meiner innerlichen Wut machte. Ich konnte diese Wut gegen niemanden
richten, also richtete ich sie gegen mich selbst. Weitere
Ablehnungserlebnisse über die nächsten zehn Jahre ließen diese frühe
Ablehnung widerhallen und verstärkten sie anhaltend. Es war ein
langsames, lautloses, progressives Trauma. Das Problem mit meinem Haar
trat erst viele Jahre später an die Oberfläche – erst nach den vielen
Jahren, in denen ich unaufhörlicher geistlicher Tortur und Zurückweisung
ausgesetzt war, entwickelte sich diese schwere Neurose.
Ich muss von meiner Mutter sehr früh abgestillt worden sein und musste
mich mit einem Schnuller zufrieden geben, bis ich zwei Jahre alt war, als
der beleidigende Gummi unter meinem lauten Protest endgültig entfernt
wurde. Stattdessen habe ich an meinen Fingern gesaugt und entwickelte später
eine sehr hartnäckige Nagelkau-Gewohnheit.
In der Regel war ich ein artiger Junge. Besondere Zuwendung bekam ich
selten – keine Gute-Nacht-Geschichten, keine Umarmungen, keine Küsse,
kein „Ich liebe dich,“ keine Zärtlichkeiten, kein liebevolles Herzen
gehörte zu meinem Leben nach der Babyzeit. Darin war meine Familie nicht
untypisch für meine Verwandten und andere Mennoniten-Familien in South
Dakota, an die ich mich erinnere. Essen auf dem Tisch, Kleider auf meinem
Rücken, ein Dach über dem Kopf – diese Dinge bekam ich. Es gab
elterliche Anweisungen, die zu befolgen waren: Benimm’ dich, sei nicht
zu laut oder zu grob, lüge nicht, gehorche unseren Eltern und Lehrern,
entschuldige dich, widersprich’ nicht, geh’ in die Kirche, sprich
unsere Gebete, erledige unsere Pflichten und liebe deinen Nächsten.
Meine Eltern waren Kinder ihrer Zeit und Kultur und der psychologischen
Geschichte ihrer Familien – sie waren nicht schlechter oder besser,
nicht grausamer oder unsensibler als die meisten. Kinder gab es zahlreich,
und sobald die dringendsten Bedürfnisse erfüllt waren, erwartete man,
dass wir unseren Platz kannten, gehorchten und gut waren. Hoffentlich würden
wir auch bald im Blut Jesu gewaschen werden.
DISZIPLIN
Disziplin
war ein fundamentaler Faktor des Familienlebens. Wenn ich nicht gehorchte,
hing an der Küchenwand ein Vollstrecker (ein 22 Inch langes Ding von
einem Leinen-Riemen, der Typ, der für Maschinen verwendet wird), der in
unwilkommener Häufigkeit seine Spuren auf
meinem Rücken hinterließ. „Wer mit der Rute spart, verzieht das
Kind“ war das Motto in unserem Haus. Den Willen eines Kindes muss man
brechen, hörte ich Papa sagen. Er berief sich dabei, so schien es, auf
eine starke Autorität.
Es war die Philosophie seines Vaters gewesen. Abgesehen davon war es
biblisch. Wen der Herr liebt, den züchtigt er, sagte die Bibel. So musste
ich auf eine von zwei Arten leiden: entweder meine Wünsche und Gefühle
ausdrücken, den Riemen übergezogen bekommen und den Schmerz im Fleisch
spüren, oder meine Wünsche und Begehren aufgeben, mich anpassen und
meine Wut und meinen Schmerz hinunterschlucken. Mit anderen Worten musste
ich emotionale Qual und körperlichen Schmerz aushalten. Ich konnte meinem
Vater nicht trotzen oder widersprechen. Um Kummer zu meiden, musste ich
meine Gefühle zurückhalten; wenn ich sie zeigte, wurden sie zerquetscht
und zerbrochen. So oder so habe ich mein Selbstgefühl verloren.
Emotional war es wie sterben – ein langsamer Erstickungstod an Ärger,
Schmerz und verzweifelter Einsamkeit. Menschliche Liebe und Zuneigung
waren unerwähnte Sentimentalitäten und hatten keine persönliche
Bestimmung. Es war nicht so, dass ich täglich verprügelt wurde oder die
ganze Zeit gehasst wurde. Das war nicht der Fall. Aber die Drohung war
allgegenwärtig, sollte ich aus der Reihe tanzen. Vielmehr war es eine überwältigende
Gleichgültigkeit und Vernachlässigung meiner Bedürfnisse und Gefühle,
die so schrecklich waren. Verständnis, Nähe und Liebe gab es dort droben
in einem fernen Reich beim himmlischen Vater. Obwohl eine Menge über Gott
geredet wurde, schien ziemlich wenig davon auf den Bibel-Belt hinabgetröpfelt
zu sein. Der irdische Vater und die irdische Mutter taten ihre Pflicht mit
physischer Sorgfalt, aber wenig mehr. Sie hatten acht Kinder und kämpften
ums Überleben.
Weil ich dringend Liebe brauchte (damals war ich mir dessen völlig
unbewusst) wendete ich mich der Schule zu als Ort, wo ich wahrgenommen und
geliebt wurde. Hier war ich hervorragend, weil ich unbedingt gefallen
wollte und ziemlich hell war. Mein wirkliches aber unbewusstes Motiv –
wie ich jetzt entdecke - war,
von meinen Eltern gewollt und geliebt zu werden. Es schien für sie keine
Bedeutung zu haben. Man erwartete von mir, dass ich gut war, weil ich das
immer war und dafür keine besondere Zuneigung verdiente. Wenn ich
Aufmerksamkeit wollte, musste ich sie mir verdienen. Gratis war sie nie zu
bekommen.
UNGLAUBWÜRDIGE RELIGIÖSE KULTUR
Die
Religion hast du in South Dakota geatmet. Hymnen, die ich seit frühester
Kindheit gehört hatte. Bibelgeschichten, die ich gehört hatte, so weit
ich mich zurückerinnern kann. Als ich acht war, konnte ich Hunderte von
Bibelversen auswendig aufsagen. Das Reden über Gott, die Diskussionen über
Bibel-Interpretation, den Klang der Hymnen gab es überall. Meine ganze
Kindheitswelt wurde von diesem religiösen Nebel durchdrungen. Der Nebel
durfte sich nie auflösen. Er wurde aufrechterhalten durch ein Dutzend
oder mehr Kirchen, durch einen lokalen Radiosender, der sich auf religiösen
Ramsch spezialisiert hatte, durch Kampagnen und Zelt-Meetings,
Kirchen-Massenchöre und viele andere Nebelgeneratoren. Für seine vielen
selbstgerechten Bürger war dieser Nebel der Nektar der Götter. Für
einen normalen Menschen war er erdrückend und erstickend. Er hat das
Leben aus der menschlichen Seele herausgewürgt.
Während ich zuhause einen gleichgültigen und manchmal autoritären Vater
hatte, hörte ich in der Kirche von einem Vater, der irgendwo im Nebel
schwebte. Er war nicht bloß „Big Brother,“ der dich beobachtet. Er
war ein omnipotenter, omnipräsenter Richter mit Röntgenaugen, der alles
sah und dem kein Fleckchen Boshaftigkeit in meinem kleinen Herzen entging.
Diesem Vater konnte man sich auch nicht widersetzen, und das war mir schon
von ganz klein auf klar. Er war bedrohlich und grausam und konnte nicht
verhöhnt werden. Ewige Feuer würden geschürt werden und jeden
Augenblick könnte der Tag des Jüngsten Gerichts kommen. Die
Sonntagsschulpredigten, Evangelien-Treffen, die
Alltags-Freizeit-Bibelschule hielten mir diese Drohung ständig vor Augen.
Sogar die Sommerferien waren nicht befreit von seinen neugierigen Augen.
Es schien, dass ich keine 30 Sekunden existieren konnte, ohne dass ein
unreiner, gehässiger oder eifersüchtiger Gedanke meine Gebete störte.
Ich kam nicht durch meine Gebete, ohne zu zweifeln. Das war auch Sünde, nämlich
rückfällig werden. Jeder intellektuelle Fluchtversuch wurde erfasst. Vom
engen Pfad abzuweichen bedeutete, mit der Schuld zu leben, Gott zu
verlassen, und es bedeutete, die Konsequenzen zu ernten. Du könntest im
Schlaf sterben, oder der Klang der Trompete könnte beim Frühstück über
dich kommen, wenn du deinen Porridge löffelst oder er, der Herr, könnte
nachts als Einbrecher kommen oder wie Superman augenblicklich vor dir
auftauchen. Für Ungäubigkeit war kein Platz. Eine andere Ansicht oder
Meinung zu haben war verdächtig: Wie könntest du allein Recht haben? Es
war selbstsüchtig und arrogant, das auch nur zu denken – Man
widersetzte sich dem Dogma seiner Kirchväter. Es gab einen Platz in der
Ewigkeit für Rebellen, und der war vom Klang knirschender Zähne erfüllt.
Also betete ich voller Angst.
Meine Nächte waren von Albträumen geprägt und vom Geräusch meines Zähneknirschens.
Ich war Bettnässer, bis ich zehn oder elf war. Manchmal wandelte ich im
Schlaf, was ein weiteres Zeichen innerer Turbulenz war. Als Junge von zehn
und elf Jahren hatte ich zahllose Nächte, in denen ich aus Angst vor dem
Höllenfeuer stundenlang nicht einschlafen konnte.
Der Gottvater im Nebel hatte kein Mitgefühl für Seine Leute. Entweder
sie gehorchten oder sie wurden von einem seiner finalen Vollstreckungspläne
vernichtet. Einige davon hatte er bereits als Pilotprojekt verwirklicht,
quasi als Generalprobe für die Endabrechnung. Es gab die Sintflut; es gab
Sodom und Gomorrah. Das nächste Mal würde er Ernst machen. Keine Bewährung
mehr. Er war mehr als herzlos und grausam. Er war blutrünstig. Er ließ
Tiere für sich töten – anscheinend genoß er es zu sehen, wie die
Leute Schafe und Ziegen töteten. Er wurde dann dessen müde und
beschloss, er wolle jetzt ein Menschenopfer. Er suchte nach einem
menschlichen Sündenbock. Gott konnte Sünde nicht vergeben; man musste
sich davon freikaufen. Das war ein fairer Handel in der göttlichen Ökonomie.
Wenn jemand das angezweifelt hat – wieso, wer waren wir denn, dass wir
seine göttlichen Privilegien in Frage stellten, wir, die wir doch nur
Lehm in den Händen des Töpfers waren? Jemand musste für diese
Jahrtausende menschlicher Sünde zahlen, und kein Opfer war groß genug außer
seinem Sohn, und so musste der die Schuld auf sich nehmen. Er hatte eine
Anzahlung auf die endzeitliche Feuerversicherung geleistet.
EIN AKT
DES SELBSTBETRUGS
Es
gab ein weltweites Sonderangebot über und unter Bedingungen, die als das
ABC des Seelenheils angepriesen wurden. Jeder konnte in diese
Feuerversicherung einzahlen, um die feurige Endabrechnung abzuwenden. Die
Feuerversicherungverkäufer predigten von der Kanzel. Beeilt euch, zögert
nicht, ihr könntet heute nacht nach Hause gerufen werden – die letzte
Trompete könnte jede Sekunde ertönen, also riskiert nichts. Nehmt euer
kleines Extra – keine Verpflichtung – ihr müsst euch nur ganz und gar
selbst verleugnen und zum Vater kriechen. Er mochte es, wenn man ihm zu Füßen
kroch. Er mochte zerbrochene Seelen und zerknirschte Herzen wie mein Dad.
Auf den nie endenden Revivals und Zurück-zu-Gott-Veranstaltungen
bedeutete das in der Regel, dass man im Publikum aufstand und erklärte,
wie sündig man gewesen war, und dass man sich vor allen Leuten zum
totalen Arsch machte.
Die Feuerversicherungsfanatiker waren gut vorbereitet auf die sturen Kerle
in den Bankreihen. Sie schalteten einfach auf ihre andere Rolle um als
Magier und Scharlatane und hypnotisierten ihre spirituellen Gefangenen mit
vorhersagbaren aber effektiven Psychotricks. Ein Chor summte lieblich das
„Amazing Grace“- eine rechtzeitige Gedächtnishilfe durch die
Lautsprecher, dass Jesus mit offenen Armen auf den verlorenen Sohn wartete
- der einen Unglücklichen wie
mich gerettet hat- und dann die Verführung süßer Orgelmusik mit
starkem Tremolo – einfach so wie ich bin ohne Bitten - viele werden
gerufen – wenige werden auserwählt – ER wartet darauf, euch verlorene
Sünder zu empfangen – und dann eine blutrünstige Geschichte über
gottlose spaßliebende Teenager, die ihr blutiges Ende in einem rasenden
Camarro gefunden haben, der die Rettungsschere erforderte, um ihre
zerfetzten Körper frei zu bekommen. „Wo werden sie die Ewigkeit
verbringen?“, lautete sein abschließender Gruselspruch.
Die Tricks funktionierten. Ich stand auf, schmerzverzweifelt, und schloss
mich den paar Beschämten an, die sich nach vorne kämpften. Das war der
Preis der Akzeptanz. Aber es war eine vergiftete Akzeptanz – die
Bedingung war, dass du dein reales menschliches Selbst preisgibst. Du bist
betrogen worden. Abgezockt. Jesus hatte im Vorhinein gezahlt mit Scham und
Erniedrigung, und jetzt musstest du wieder zahlen. Das war der
Abzahlungsplan der Scham, und du musstest immer wieder zahlen, weil sündigen
leicht war.
Also ließ ich meine Selbstachtung, meine Menschlichkeit, mein Leben dort
unten auf dem Boden, als ich zum Vater kroch und mich den spirituell geschändeten,
den emotional kastrierten, pathetischen Leuten anschloss, die sich voller
Scham vor dem Altar drängten. Die waren Gottes heilige Elite, die
Absolventen des Selbstbetrugs – eine Gruppe ohne Kontakt mit ihrem
realen Selbst, und ihr Leben eine Lüge. Ich weiß, ich war einer von
ihnen. Das war keine Freude. Das war kein Friede. Das war keine Akzeptanz.
Das war Schande.
Das war spirituelle Schändung. Ich wurde von einer abscheulichen
Transaktion vergewaltigt – ein so raffinierter Schwindel, dass ich ihn
glaubte trotz einer kleinen Stimme in mir, die schwach rief, dass ich hier
nicht gerne war und weglaufen sollte – dass ich mich selbst betrogen
hatte. Es fühlte sich wie eine Falle an, aber ich kannte den Ausweg
nicht. Ein innerer Kampf tobte. Die Jahre der Gehirnwäsche riefen, dass
die kleine Stimme wolle, dass ich vor Gott davonlaufe. Wenn ich wirklich
engagiert wäre, hätte ich nicht diese Zweifel; ich wäre näher an Gott.
Nein, ruft die kleine Stimme, ich bin empört über die emotionale
Erpressung des geistlichen Terroristen auf der Kanzel, der mich zuerst
manipuliert und dann entführt mit seiner rührseligen Geschichte von rückfälligen
Teenagern, die irgendwo auf schreckliche Weise umgekommen sind. Immer
wieder bin ich dort hingegangen, habe mich selbst verleugnet. Wenn ich
nicht ging, fühlte ich mich schuldig; wenn ich ging, fühlte ich mich
schrecklich. Die Genesis-Verkündigung, dass der Mensch als Schöpfung
Gottes sehr gut sei, hat sich in eine Lüge gewandelt. Er war durch und
durch schlecht, und um dieser schrecklichen, sündhaften Natur zu
entkommen, musste man sein einziges Leben eintauschen und erniedrigt
werden, um in das Königreich einzutreten. Ich war so erleichtert, endlich
von dieser inneren Qual wegzukommen, dass ich glaubte,
das sei das Königreich. Es war aber die reine Hölle. Es war
Verzweiflung. Die Psyche im Todeskampf. Was auch immer nach der
Disziplinierung zuhause von meinem Selbstgefühl übrig geblieben war,
wurde jetzt spirituell herausgeschnitten. Ich war das Opfer einer überwältigenden
Manipulationsmaschinerie, die meine gesamte Abwehr deaktivierte, meinen
Willen terrorisierte, mein Selbstvertrauen untergrub, meine Gefühle
zerquetschte und meinen Geist zerbrach. Ich wurde von Schuldgefühlen gequält
und von den Nägeln der Furcht, die widerlich süße, lächelnde,
bibelschwingende Kreuziger durch mein Wesen hämmerten. Ich war
abgestumpft und emotional tot, ans Kreuz der Frömmigkeit geschlagen. Tod
durch Kreuzigung der Psyche. Märtyrer des Glaubens. Und ich war nur ein
Junge.
DIE
NARBEN
Spannung
hatte sich über viele Jahre in meinem Körper aufgebaut. Unter
Psychiatern wird Bettnässen weitgehend so verstanden, dass es in
Beziehung mit emotionalem Stress und Trauma steht. Jahrelang hatte ich an
meinen Fingernägeln gekaut. Manchmal hatte ich Nesselausschlag mit fürchterlichem
Juckreiz. Mit sieben Jahren hatte ich anhaltende Probleme mit Geschwüren,
die ich ohne offensichtlichen Grund bekam, Geschwüre, die primär auf
meinem Kopf und Oberkörper ausbrachen. Ich kann sie nur vergleichen mit
der „Heiligenkrankheit,“ im Mittelalter ein ziemlich häufiges Leiden
unter Glaubenseiferern, die sich aller fleischlichen Freuden enthielten
und bei denen manchmal schreckliche Hautprobleme ausbrachen, wenn die
Versuchung stark war.
Meine Albträume waren unerträglich. Manchmal ging ich zu meiner Mutter
und sagte ihr, wieviel Angst ich hatte. Aber sie hielt mich nie, um mich
zu beruhigen, sagte nur, ich solle versuchen zu schlafen. Ich wusste
nicht, was mit mir nicht stimmte. Dieses Trauma, das mir nach und nach
zugefügt worden war, manifestierte sich jetzt physisch. Es gab für meine
Gefühle kein Ventil, und die zugrundeliegende Wut baute sich immer weiter
auf; bald brach sie auf eine neue und schreckliche Weise aus. In der fünften
Klasse, als ich zehn war, erwies sich die verleugnete Wut aus Jahren körperlicher
Bestrafung und angedrohter Bestrafung, aus spiritueller und persönlicher
Zurückweisung, aus spiritueller Belästigung, Schuld, apokalyptischen
Terror, emotionaler Erpressung, Einsamkeit, Frustration und emotionaler
Verlassenheit als zu viel. Es brachte das Fass zum Überlaufen, dass ich
miterleben musste, wie einer meiner jüngeren Brüder wegen Ungehorsams
von meinem Vater verprügelt wurde. Die kleine Stimme meines inneren
Selbsts kapitulierte in meinem inneren Konflikt. Dieses Ereignis
erschreckte und traumatisierte mich so sehr, dass es in meiner Psyche so
lebendig ist wie es damals war, und dass die Erinnerung daran bis heute
die Tränen fließen lässt.
Nachdem ich sie so lange verleugnet hatte, schlug mein wachsender
verinnerlichter Zorn jetzt mit einer unbewussten Handlungswut zurück, die
so immens war, dass sie über jede bewusste Kontrolle oder Willenskraft
(an die ich glauben wollte) hinausging. Ich fing an, mir die Haare
auszureißen, bis ich zuweilen wirklich keine mehr auf dem Kopf hatte. Das
setzte sich über die nächsten achtundzwanzig Jahre fort. Ich hasste mich
selbst, aber ich wusste nicht, warum ich mir die Haare ausrieß.
Das war der wirkliche Preis meiner christlichen Erziehung. Ich war
hoffnungslos neurotisch. Meine Wut hatte sich in zwanghaftes Ausagieren
abgespalten. Ich war gespalten, und niemand wusste, wie ich geheilt werden
konnte, am wenigsten ich selbst. All die Jahre seit damals hat diese
Neurose mir diese Gefühle der Erniedrigung, des Schams und Selbsthasses
durch dieses sehr symbolische Problem vor Augen gehalten. Man kann ihnen
nicht entkommen.
Ich schämte mich so, dass ich nie jemandem sagte, dass ich ein Problem
hatte. Meine Familie wusste es, aber in den nächsten zehn Jahren erzählte
ich nie jemandem von meinem Problem. Dass ich ein Problem hatte, war natürlich
offensichtlich. Aber ich dachte, es sei mein Fehler. Ich betete einfach,
und ich betete innigst, dass Gott mir helfen möge, dass dieses Kreuz von
meiner Schulter genommen werde. Der Vater im Nebel hat nicht geantwortet.
Aber wie denn auch? Meine Schuldgefühle und mein Schrecken vor seinem
intoleranten Blick waren Teil des Molochs, der das Problem ursächlich in
Gang setzte. Es wurde nur noch schlimmer.
KÜNSTLICHES
CHRISTLICHES LEBEN
Die Jahre vergingen, und bald wurde die Kirche mein Leben. Jede Woche war
Chor, Gebetstreffen, Bibelstudium, Jugend-Kameradschaft, ‚Christliches
Bestreben,’ Sonntagsschule, Sonntagskirchendienst. Manchmal gab es am
Sonntag kirchliches Mittagessen oder bestimmte Nachmittagsfunktionen.
Häufige Revivals und Kampagnen und religiöse Ereignisse in der Schule
fügten sich meinem Leben hinzu. Das Radio füllte einen Großteil der Zeitspanne aus,
die ich zuhause verbrachte, wo ich noch mehr religiöse Ermahnungen hörte. Sogar
Fernseh-Revivals behämmerten mich, das christliche Leben zu leben. Die
kleine Stimme meines realen Selbsts wurde gänzlich überdröhnt. Ich
hatte eine so gründliche Gehirnwäsche verpasst bekommen, dass mein
ganzes Leben sich jetzt nur darum drehte. Die Verleugnung meine realen
Selbsts bedeutete, dass ich jetzt ein künstliches Selbst leben musste –
mich der feigen ‚Schoko-Arsch’- Christenheit im Bibelgürtel
anzupassen hatte und sonderbare Worte daherreden musste aus einer anderen
Zeit und von einem anderen Ort – über Hirten und Engel, heilige und
teuflische Geister – nichts, das irgendjemand in der Stadt je gesehen
hatte. Dieses Leben war nicht echt, weil ich durch Angst und Schuldgefühle
dazu getrieben worden war. Von mir wurde nicht nur erwartet, nach den zehn
Geboten zu leben, nach der Goldenen Regel und nach der Bergpredigt. Es gab
Tausende Gebote. Es gab Predigten von der Kanzel, aus dem Radio, TV, von
Danny Orlis, den Gemeindeältesten, von Diakonen und Ministern. Immer von
einem anderen oder vom Credo eines anderen. Alles wurde wertgeschätzt,
nur nicht meine eigene menschliche Natur, die angeblich von Gott
geschaffen worden war aber seither ständig von seinen fanatischen Anhängern
schlechtgemacht wurde.
Die einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu leben, war zu ersticken oder
eine Lüge zu leben. Jede Nacht betete ich zu Gott um Sündenvergebung,
und ich genoss diese Gebete und wusste sehr wohl, dass ich sie wieder
genießen würde. Da ich einen normalen Sexualtrieb hatte, war ich nicht
mehr damit zufrieden, mir die aufreizenderen Abschnitte des Liedes der
Lieder und anderer Bibelquellen herauszusuchen. Bei den sexuellen Sachen
kannte ich alle reizvoll-schlüpfrigen Passagen, Kapitel und Verse. Ich blätterte
durch mein Playboy-Magazin – die Bibel hatte ich zeitweise aus meinem
Blickfeld entfernt – mit der vollen Absicht, um Verzeihung zu beten,
wenn mein Vergnügen vollständig war. Televangelisten schienen kürzlich
ähnliche Konflikte gehabt zu haben und lösten sie, wie ich es gemacht
habe. Diese Art Heuchelei ist alles, was dir übrigbleibt, wenn du
versuchst, deine Menschlichkeit zu verleugnen und einem außerirdischen
Evangelium folgst, das die Menschennatur hasst.
Von Zeit zu Zeit gab es einen Skandal wegen eines Erwachsenen, dem
irgendwo ein unmoralischer Lapsus ins wirkliche menschliche Leben
unterlaufen war, und viele heuchlerische Gebete wurden für den armen Rückfälligen
aufgesagt. Aber diese paar Entgleisten, die entdeckt wurden, waren nicht
allein; geheime Sünden und Doppelleben sind die Norm für Leute, die ihre
Urtriebe unterdrücken. Der weitverbreitete Missbrauch von Kindern und
Ehefrauen, der unter den eifrigsten Gläubigen besonders häufig ist, bekräftigt
das.
Kirchenführer wurden natürlich durch das Hohe Lied in Verlegenheit
gebracht. Es sei, sagten sie, ein Gleichnis über die Beziehung zwischen
Christus und Kirche, aber ich glaubte ihnen nie. Ich habe einfach nie ganz
verstanden, warum diese allegorische Braut von Christus Brüste hatte. Die
einzigen Brüste, die unsere Kirche hatte, waren verboten, es sei denn,
man war mit deren Eigentümerin verheiratet. Es kam ihnen nie in den Sinn
zuzugeben, dass dieses Buch vielleicht, nur vielleicht, eine Zelebration
des menschlichen Körpers und seiner Freuden ist, was es so offensichtlich
ist.
IN DER
FALLE
Mein
erster Versuch, Hilfe zu bekommen (Beten war keine Lösung sondern Teil
des Problems), bestand darin, dass ich im Alter von einundzwanzig Jahren
einen Psychiater aufsuchte. Seit ich zwölf war, hatte ich keinen normal
behaarten Kopf mehr. Zwei Wochen lang hatte ich unter seiner Aufsicht eine
Intensivphase mit Aversionstherapie. Diese Therapie ist eine Blamage für
den Psychiatrie-Beruf, weil sie nur die zugrundeliegende Ursache unterdückt,
indem sie das Symptom behandelt. In meinem Fall wurde das Haare-Ausreißen
mit einem regulierbaren selbstverabreichten Elektroschock gegen meine
Handgelenke bestraft. Ich wurde angewiesen, die Spannung so hochzudrehen,
wie ich gerade noch aushalten konnte. Das war beruflich anerkannter
Masochismus. Es war auch eine äußerst nutzlose Behandlung. Eine
Elektroschock-Behandlung, die sogar noch barbarischer und destruktiver
ist, hatte ich nie.
Gemäß bestimmter Standards funktionierte ich gut. Ich war Präsident
meiner High School gewesen. Jetzt war ich Studenten-Präsident an dem
College, das ich besuchte. Ich hatte die College-Zeitung herausgegeben,
wurde von meinen Kollegen respektiert und erreichte eine hohe akademische
Stellung. Mein Leiden verbarg ich in den vielen folgenden Jahren sorgfältig
vor allen Blicken. Als ich zweiundzwanzig, sechsundzwanzig und
achtunzwanzig war, trug ich Perücken. Im Alter von dreiundzwanzig und
dreißig versuchte ich es mit Hypnotherapie. Ich probierte Akupunktur mit
neunundzwanzig, Verhaltensmodifikation mit dreißig, Selbsthynose und
subliminale Tonbänder in meinen frühen dreißiger Jahren. Alles erwies
sich als vergeblich und verschlimmerte das Problem im Allgemeinen sogar
noch, weil es nur die Ursachen des Problems unterdrückte.
Im Alter von fünfunddreißig begann ich mit Psychoanalyse nach Jung, die
zwei Jahre dauerte. Leider erlaubte mir der Psychiater nur, ihn einmal
alle drei oder vier Wochen aufzusuchen. Ich begann zu sehen, dass mein
Leben eigentlich eine komplette Lüge war. Es gab eine Menge
Introspektion, Traumanalyse, Suchen, Lesen und immer Leiden und
zunehmenden Selbsthass. Obwohl ich in dieser Zeit viele Einsichten
erlangte, waren sie doch seicht und kamen vom Psychiater und nicht von mir
selbst, indem ich mich mit meiner eigenen inneren Qual befasst hätte. Die
Sitzungen waren zu sporadisch, als dass sie eine Hilfe hätten sein können,
und sie brachten mir nicht die Heilung, nach der ich suchte.
Mein Leiden war nicht nur die Erniedrigung und Peinlichkeit meiner äußeren
Erscheinung. Als Kind ging ich nie ins Sommerlager, weil es mir zu
peinlich war, mit meinem merkwürdig aussehenden, vorzeitig zur Glatze
neigenden Haupt gesehen zu werden. Mit meinem beschämenden Problem zur
Schule und in die Kirche zu gehen, wo ich wohl oder übel sein musste,
konnte ich noch ertragen. Es gab andere verborgene Strafen, die ich für
meine christliche Erziehung zahlen musste. Das ständige Wegschließen
meiner Gefühle seit meiner Kindheit bedeutete, dass ich überhaupt nichts
mehr fühlen konnte außer Scham,Verwirrung und Selbsthass. Jedes Glücksgefühl,
das ich hatte, war irreal, vergiftet von Depression und einer
Grundtraurigkeit. Ich konnte überhaupt nicht mehr weinen, seit ich zwölf
war. Im Alter von fünfzehn saß ich während der Beerdigung meines Großvaters
unbewegt und mit trockenen Augen da. Mit achtunddreißig hielt ich die
Beerdigung meiner Großmutter mit Augen durch, die nicht weinen konnten
und wollten. Ich konnte nicht lieben. Ich dachte, ich sei mitfühlend,
aber innerlich war ich äußerst kalt und fühlte überhaupt nichts. Es
erforderte keine Anstrengung, den Schmerz über den Tod meiner Großmutter
zu blockieren, und dennoch wollte ich ihren Tod betrauern und beneidete
andere, die offen bei ihrem Begräbnis weinten. Mein Mitgefühl war
irreal. Ich hatte keine eigenen Gefühle; alles, was ich hatte, waren übernommene
Gefühle. Das waren geplante Gefühle, das Diktat eines inneren Richters,
der sagte, dass ich liebevoll, fürsorglich und verständnisvoll sein
sollte, weil es darum im christlichen Leben gehen sollte. Es war das
Beste, das ich tun konnte, aber es war nur ein Akt. Diese Empfindungen
waren kein Teil von mir; sie waren nicht in meinem Leben und in meiner
Seele verwurzelt. Ich nahm an Anlässen und Kampagnen für soziales
Handeln teil, aber das war ich nicht. Ich konnte mein Herz nicht in sie
legen, weil ich keines mehr hatte. Ich hatte mich von ihm distanziert,
einfach weil mein reales Selbst und meine Gefühle Jahre zuvor beschnitten
worden waren. Alles, was mir geblieben war, war eine unbewusste Wut über
meinen Verlust, die sich darin manifestierte, dass ich mir die Haare
ausriss. Ich habe keine Wut gefühlt, als ich mir die Haare ausriss. Nur
wenn ich in den Spiegel schaute, war ich zuweilen so erzürnt, dass ich
mich selbst anschrie. Ich versuchte mich zu ändern, aber es war
vergeblich. Ich war unglücklich, einsam, wütend und frustriert. Das
Leben war düster und grau, und trotz meiner jugendlichen Energie, meines
Antriebs und Ehrgeizes brannte ich aus bei allem, was ich tat, weil ich
mein Zentrum, den Kern meiner Menschlichkeit verloren hatte.
Intellektuell hatte ich mich vom fundamentalistischen Christentum
abgewandt, als ich die High School verließ, aber der Schaden ging weit
über den rationalen Intellekt hinaus. Ohne zu wissen warum, hörte ich mit
einundzwanzig Jahren ganz auf, in die Kirche zu gehen. Meine Gründe waren
intellektuelle Differenzen und mehr wusste ich nicht, weil ich schon lange
zuvor die Wahrheit meiner Emotionen vergessen hatte. Ich war ein
Liberaler, ein Agnostiker und wurde ein Freidenker; meine Gefühle jedoch
waren eingesperrt und außer Reichweite. Der einzige bewusste Grund, warum
ich gelegentlich überhaupt in die Kirche ging, war, Freunde zu sehen, die
mich aus meiner Einsamkeit erretten könnten. Der wirkliche Grund, warum
ich nicht mehr am Gottesdienst teilnahm, war, dass ich mich sonderbar fehl
am Platze und unwohl fühlte; mir wurde das damals nicht klar, aber ich
weiß jetzt, dass es deshalb so war, weil mir die Kirche meine Kindheit,
meine Jugend, mein Leben genommen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich
jedes Mal, wenn ich in die Kirche ging, eine ausgeklügelte hölzerne Farce sah – eine religiöse Kostümparty, wo wirklich alle
dieselbe leblose, gesichtslose, gefühllose, unmenschliche Maske trugen.
Es hatte etwas Unwirkliches an sich. Auch diese Leute wurden wütend und
gewalttätig, aber das geschah nur privat und im Geheimen: „Ein Engel in
der Kirche und der Teufel zuhause“ war der Ausdruck, den man manchmal hörte.
So viel von dem, was ich in der Öffentlichkeit sah, war nicht real: Es
schien nicht wie wirkliche Wut, wirkliche Freude, wirkliches Mitgefühl
– keine realen Gefühle irgendwelcher Art. So oft schien die die Freude
künstlich, die Kameradschaft erzwungen, die Freundlichkeit hohl, die
‚Gutes-Tuerei“ angetrieben von unergründlichen Schuldgefühlen. Das
ist künstliches christliches Leben, ein von Schuld gesteuertes Leben,
kein Leben mit Gefühlen, die von Herzen kommen. So vielen Leuten hat man
ihre Fähigkeit zu fühlen erstickt, und sie waren genauso tot wie ich.
Wenn Menschen aus ihren Gefühlen heraus leben, können sie ihr eigenes
Leiden und das Leid in ihren Nächsten fühlen und ebenso das Leid in
Tornado-Opfern, die weit weg leben.
Etwa zehn Jahre später entschloss ich mich erneut, mich im kirchlichen
Leben zu engagieren, aber es hat nicht lange gedauert. Es war immer noch
dasselbe langweilige, tote irreale, behinderte Leben, das ich immer
gesehen hatte. Bei vielen von uns war das reale Selbst vor langer Zeit ans
Kreuz geschlagen worden. Aber ich war genau wie sie, nur dass ich nicht
mehr an dem absurden öffentlichen Theater teilnahm.
In den Jahren der Manipulation und Bemühungen, mich anzupassen, war ein
riesiges kulturelles Netzwerk aktiv – wie ein Netz, das in der Wildnis
über einen Löwen geworfen wird. Die Kreuzigung meines natürlichen
Selbsts war so vollständig, dass es Jahre gedauert hat, die Bruchstücke
meiner Psyche zu finden, und es wird weitere Jahre dauern, mein von
Schuldgefühlen verzerrtes Leben wieder gut zu machen und wieder wie ein
Mann durchs Leben zu gehen.
DEN
EMOTIONALEN TOD ÜBERLEBEN
Die
Wiederauferstehung des Selbst ist ein einsamer persönlicher Kampf. Meine
natürlichen Gefühle, die meine Eltern und die Kirche abgelehnt hatten,
indem sie mich zur Anpassung zwangen, und die ich abgelehnt habe, indem
ich sie verdrängte, um zu überleben, müssen entdeckt und schließlich
erlebt werden. Der Hass, der Zorn, die Traurigkeit müssen gefühlt und
akzeptiert werden. Sie sind Teil meines Lebens – wunderbar und gut. Ich
akzeptiere jetzt das Kind im Inneren, das ignoriert und manipuliert wurde
und das immer noch wütend und verletzt ist. Ich trauere und weine über
die Verluste, die ich erlitten habe, über den Verlust menschlicher Liebe
und menschlichen Mitgefühls. Die Fähigkeit, diese Verluste zu betrauern,
gibt mir das Leben zurück. Langsam, Gefühl um Gefühl, beginnt die
Wahrheit durchzuscheinen, wer ich war und was ich unter dieser riesigen
Last und fürchterlichen Ungerechtigkeit fühlte.
Und ich bin
wieder lebendig.
Ich fange an, das Leben wieder als wunderbar, gut, schön und großartig zu
sehen. Mein zerknautschtes Selbst wird nie das sein, was es hätte sein
können, wenn Liebe und reale Leute mich in meinen Prägungsjahren
unterstützt hätten. Da ich in dieser künstlichen menschlichen Umwelt
hauptsächlich Manipulation, Angst und Schuld erfuhr, wurden meine
wirklichen Bedürfnisse vernachlässigt. Das hemmte mein Wachstum, verzerrte
mein Selbstgefühl und erstickte meine Kreativität. So viel Energie, Zeit
und Ressourcen habe ich für den Versuch verwendet, die Ganzheit und das
Leben zu finden, das vorhanden und startklar war aber niedergetrampelt
wurde. Was nicht in die Form passte, wurde abgehackt, oder man ließ es an Nahrungsmangel sterben.
Aber das Leben ist selten fair. Die Kreuziger kommen nie, um sich um die
Leiche zu kümmern. Sie freuen sich hämisch über ihren
Seelen-Punktestand wie über die Trefferzahl beim Bowling, und sie denken
nie an die Kegelleichen, die ihr feuriger Eifer hinterlässt. Die Sorge für
meine abgetötete Seele können nur Menschen übernehmen, die noch immer
ihre Gefühle haben und mir somit helfen können, dass ich mich um meine kümmere.
Ich konnte mein Leben wiedergewinnen mit der Hilfe von Leuten, die noch
immer im Besitz ihrer Gefühle und Menschlichkeit sind. Ich kann Freude,
Traurigkeit, Schmerz fühlen – Gefühle, die seit der Kindheit abgetötet
worden waren. Mein lange schlummernder kreativer Impuls beginnt aufzublühen,
und ich bekomme allmählich eine Ahnung, was meine Lebensleidenschaft sein
könnte. Mit der Zeit, wenn ich meinen Weg durch den Schmerz gehe, den
meine Neurosen abgewehrt hatten, wird sich, glaube ich, die Wut langsam
auflösen, und ich werde mein Leben wieder zurückbekommen.
NACHWORT
Seit
Frühjahr 1999 unterziehe ich mich einer Primärtherapie am Primal Center
in Los Angeles. Diese Therapie ist keine Psychoanalyse. Sie konzentriert
sich darauf, dass man seine Gefühle im Alltagsleben ausdrückt. Sehr oft
lösen diese Gefühle tiefere ältere Gefühle aus, die in anderen
Situationen nie aufgelöst worden waren und die andere Menschen
einbeziehen. Manchmal bringen sie das ursprüngliche Trauma hoch, das dann
wiedererlebt und behandelt werden kann. Es ist ein Prozess, der viele
Jahre in Anspruch nehmen kann. Meine Psyche und mein Körper haben sich
aus einem Überlebensbedürfnis heraus so lange gegen den tiefen Schmerz
gewehrt, dass sie diese Abwehr nicht leicht aufgeben.
Die traumatische, biblisch sanktionierte Prügelstrafe, die ich miterleben
musste und die letztlich mein neurotisches Ausagieren hilfloser,
verzweifelter, frustrierter Wut auslöste und mich dazu brachte, dass ich
mir die Haare ausriss, tritt jetzt so deutlich hervor. Ich frage mich, wie
ich seine Bedeutung für mein Aufwachsen übersehen konnte. Es gab auch
die Sehnsucht nach Körperkontakt, über die ich noch immer weine, und das
Bedürfnis, in der Menschengemeinschaft so, wie ich war, willkommen geheißen
zu werden, anstatt von allen Seiten bedrängt zu werden, ein netter
christlicher Junge zu sein. So stehen die Prügel nicht allein da. Sie
sind Teil des emotionalen Todes, den ich unter dem kulturell-spirituellen
Moloch erlitten habe, der noch immer seine Opfer fordert und manipuliert.
Der Kult des fundamentalistischen Christentums setzt sich fort, und seine
unbewussten seelenverkrüppelten Opfer leiden lautlos, und viele von ihnen
begreifen vielleicht nie, dass sie ihre Lebensfreude verloren haben.
♦♦♦
Ich sehe schleichende
Traumen und aufkeimende Neurosen noch klarer, wenn ich beobachte, wie
religiöse Eltern, die dazu entschlossen sind, dass ihre Kinder nicht
tolerant erzogen werden, ihre Kinder emotional vernachlässigen.
Vielleicht sitzen sie in ihrem halben Dutzend Ausschüssen und Gremien,
oder sie haben nur ihre Karriereziele oder ihr Geschäft im Sinn;
vielleicht überhäufen sie ihre Kinder mit materiellem Komfort und
vernachlässigen dennoch deren reale emotionale Bedürfnisse, indem sie
sie leer und einsam zurücklassen. Vielleicht sind sie besessen davon, ein
gottgerechtes Leben zu führen, und ersticken sie mit rigidem Moralismus,
manipulieren ihr Verhalten und fordern immer mehr Gehorsam. Alles mit den
besten Absichten.
Aber das hat seinen Preis. Langsam, lautlos und ohne offensichtliche
Gewalt zerstören sie die Seelen und Wesen ihrer wundervollen, kreativen,
energischen Kinder, die sie einst geboren hatten. Jahre später wundern
sie sich vielleicht, warum ihre Kinder so gleichgültig ihnen gegenüber
sind, so feindselig, so ausdruckslos, so tot, oder warum sie so
eigenartige Neurosen, Zwänge, Depressionen haben, wie sie je mit Drogen
in Berührung kommen konnten, warum sie schwul geworden sind. Warum sie
einen psychischen Zusammenbruch hatten, warum sie versehentlich eine Überdosis
genommen haben. Und dann seufzen sie vielleicht, schlagen ihre Hände über
dem Kopf zusammen, beten für ihre verlorenen Kinder oder beklagen
vielleicht diesen praktischen Sündenbock Satan, der ihre Kinder in die
Irre geführt hat. Sehr wenige werden je fähig sein, in den traurigen,
abgestorbenen, schmerzgezeichneten Gesichtern ihrer Kinder ihre eigene
Verantwortung und die ihrer Religion und Kultur zu sehen
♦♦♦
Neurose
ist die einzige Krankheit auf der Oberfläche dieses Planeten, die sich
gut anfühlt. Sie ist das, was wir tun, damit wir uns weiterhin gut fühlen.
Niemand will Schmerz leiden, weil Schmerz sich schlecht anfühlt. Neurose
und ihr Gerüst der Verdrängung betäubt das Fühlen. Taub fühlt sich
gut an – nicht „gut“ im absoluten Sinn, einfach nicht
„schlecht.“ Die meisten von uns werden sich damit zufrieden geben,
sich „nicht schlecht“ zu fühlen, denn solange wir die Gefühle nicht
fühlen, die abgetrennt werden mussten, damit wir überleben konnten,
kennen wir den Unterschied nicht. Und das ist verständlich, denn wenn
unsere Vorstellungen voll in Einklang stünden mit unserer inneren Realität, würden
wir uns wahrscheinlich die meiste Zeit auf dem Boden wälzen. So lassen
wir uns auf einen Teufelspakt ein; wir werden betäubt und fühlen keinen
Schmerz und dafür ist das Leben blah, blah. Der Mensch hat dann das Gefühl,
dass er dem Leben nichts abgewinnen kann, und sucht in der einen oder
anderen Form nach Erlösung oder nach einem Guru.
Das Problem ist, dass der Grundmechanismus der Neurose selbst uns glauben
lässt, dass wir uns den Weg aus der Neurose herausdenken können. So
produzieren wir mehr und bessere Gedanken, die bei der Umleitung des
Schmerzes helfen. Und wenn wir schwächeln – wenn die undefinierten
Peiniger im Inneren anfangen uns zuzusetzen – dann suchen wir Zuflucht
beim Alkohol, bei Drogen, einem Bodybuilding-Kick, bei der neuesten
magischen Diät, einem neuen Wildnisabenteuer, bei einem „besonderen
Freund“, der kosmische Information „kanalisiert“ und uns (jetzt
zumindest) überzeugt, dass wir uns selbst lieben und Hoffnung haben
sollen. Oder wir begeben uns auf einen neuen Kreuzzug, klassifizieren uns
in Sprüchen und Programmen, werden zu Bekehrten und Missionaren, machen
mit beim neuesten 12-Schritt-Programm, erzählen uns selbst und anderen,
dass wir „einfach nein zu Drogen sagen sollen.“ Oder wir entwickeln Zwänge,
die Formen von Glaubenssystemen sind. Und denken Sie daran, Zwänge sind
das Rüstzeug, das uns freundlicherweise vom linken präfrontalen Areal
zur Verfügung gestellt wird, um schmerzvolle Gefühle zu unterdrücken.
Wenn Zwänge nicht mehr kompensieren, wenn sie nicht mehr wirken, stoßen
wir an Wahnvorstellungen und Psychose. Es ist noch immer dieselbe Zone
involviert, nur dass sie jetzt bis zum Äußersten getrieben worden ist.
Aber es ist keine andere Krankheit; dieselbe Krankheit, nur verschlimmert.
Maryjo, eine Frau, die wir behandelt haben, musste die Schlösser zuhause
zwanzig Mal am Tag überprüfen. Ihr Glaube war: „Wenn alles
abgeschlossen ist, fühle ich mich sicher.“ Ihre Türen waren immer
verriegelt, aber sie fühlte sich nie sicher. Weil das Grundgefühl, mit
dem sie aufwuchs, das der Unsicherheit war. Sie lebte mit einer labilen
Mutter und einem schwer depressiven Vater zusammen, und somit gab es
niemand, der ihr ein Gefühl der Sicherheit vermitteln konnte. Als sie
sich bei uns sicher genug fühlte, so dass sie das Gefühl tiefer
Unsicherheit während ihrer gesamten Kindheit erleben konnte, hatte sie
keine Zwangsgedanken mehr. Es ging nicht nur darum dass sie sich bei uns
sicher fühlte; sie musste in der Art von Umgebung sein, die den Abstieg
zu Schreckensgefühlen zuließ. Sie hatte ein zwanghaftes Glaubenssystem,
das hartnäckig war, weil das Gefühl „unsicher“ gleichermaßen hartnäckig
war. Hier können wir in Kurzform die direkte Linie zwischen Glauben und Fühlen
sehen. In Kultsituationen ist sie oft nicht so direkt und klar.
Glaubensvorstellungen wie die Reihe von Glaubenssystemen, in denen sich
Maryjo gefangen sah - die
Existenz von Gespenstern, „unsichtbare Wesen,“ die sie beobachteten,
Vorausahnung, Reinkarnation, das Leben nach dem Tod, der Teufel,
tibetanischer Buddhismus, „das Paranormale,“ Zen Buddhismus,
„Erfahrungen,“ „das Unbekannte,“ Vorleben-Hypnose“ – helfen
dabei, die Vergangenheit zuzudecken und uns ahistorisch zu machen. Es ist
dann kein Wunder, dass wir nicht anerkennen können, dass ein
Vergangenheitsleiden, das in unsere Physiologie eingeprägt worden ist,
unsere Glaubensvorstellungen nährt. Die Kraft unseres Glaubens hilft uns,
die Kraft verborgenen Kindheitsschmerzes nicht zu sehen;
paradoxerweise jedoch liegen die Gefühle in diesen Vorstellungen. „Eine
Katastrophe kommt auf uns zu. Wir müssen uns vorbereiten!“ ist eine
Aussage, eine Vorstellung und ein Gefühl. Wenn wir den Glauben nicht mit
dem Gefühl verknüpfen, nimmt er ein Eigenleben an. Und der Fehler ist,
ihn zu behandeln, als habe er ein eigenes Leben ohne Verknüpfung in die
Vergangenheit; wurzellose Gedanken, die nicht in der Geschichte verankert
sind.
Im Glauben versunken bleiben wir im Dunkeln, erkennen nicht, dass es die
hartnäckige Natur der Abwehr ist, die diese Glaubensvorstellungen
unerbittlich macht, die biologische Notwendigkeit, den Schmerz niemals ins
Bewusstsein aufsteigen zu lassen. Selten kommt es zu der spontanen
Erkenntnis, dass unser gegenwärtiger Zustand davon abhängt, was vor
langer Zeit früh in unserem Leben geschehen war. Wir bevorzugen glückliche
Gedanken, positive Auffassungen und beruhigende Ideen, die nicht nur das
Leben erträglich machen sondern auch Hoffnung auf ein besseres Leben
beinhalten. Immer die Hoffnung. Wenn wir nicht glauben, dass das ein
weitverbreiteter Impuls ist, müssen wir nur auf die Popularität von
Ronald Reagan zurückblicken, der ewige Optimist, der sich auf Hoffnung
und Zukunft konzentrierte.
„Sag’ einfach nein zum Alkohol. Sei alles, was du sein kannst. Wir müssen
dem Reich des Bösen standhalten. Das heilige Feuer muss vierundzwanzig
Stunden am Tag brennen.“ Der
Gläubige lebt von Sprüchen. Wenn Sprüche dem Verstand entgegenstehen,
dann gibt es keine Auseinandersetzung. Vertraue Gott. Sprüche sind mühelos,
beinhalten geistlose Erinnerung und werden nicht von Introspektion
behindert. „Sorge dich nicht, sei glücklich.“
Zaubersprüche lassen sich leicht lernen, sofort aufsagen und haben
eine unbeschreibliche Magie an sich. „Nam-myoho-renge-kyo.“
Sie scheinen sich über alle Bewusstseinsformen “zu erheben,”
Verstand und Logik zu überschreiten. Sie helfen uns, uns selbst zu
vergessen. Ommmmmmmm.
Wir greifen gerne nach einem abgepackten Ideen-Satz, der in Sprüche
eingewickelt ist, sofern ein Nachlassen damit einhergeht. Wir machen das,
wenn wir unsere Mitte verloren haben. Der Sprücheklopfer, der Mensch, der
zu Beginn jeden Tages oder beim ersten Anfall emotionalen Unbehagens sein
Mantra oder Gebet herauszieht, glaubt nicht mehr an sich selbst und seine
Gefühle; er glaubt an die Parolen. Er glaubt nicht an sich selbst, weil
er sich selbst nicht kennt und nicht weiß, wo er dieses Selbst finden
kann. Er hat den Kontakt verloren zu diesem einzigen realen Führer zum
wahren anstatt zum illusorischen Bewusstsein. Es scheint eine Gleichung zu
geben: Mehr Bewusstsein, weniger Glauben; weniger Bewusstsein, mehr
Glauben. Denken Sie daran, Glauben beinhaltet Bewusstheit, die
dritte Linie, nicht Bewusstsein.
Die Gesänge, die Beschwörungen oder Sprüche werden zum Synonym, zum
Mantra, das dem Gläubigen ermöglicht, sich zu entspannen, Erfolg zu
haben und sogar einen „Zustand der Glückseligkeit“ zu erreichen. Weil
der Gläubige etwas will, das sich über das bloße sterbliche Leben
erhebt, hofft er darauf, ein „höheres Bewusstsein“ zu erlangen. Auf
dem Weg zu diesem Heiligen Gral, nach Oz (und weg von sich selbst) ersetzt
die Litanei das analytische Denken. Folge
der Yellow Brick Road. Magische Sätze verdrängen Refexion und
Introspektion. Folge, folge, folge, folge, folge der Yellow Brick Road.
Der Gläubige sucht mit leerem Verstand Zuflucht in der Meditation,
anstatt mit aktivem Verstand einen gründlichen Blick in sein Selbst zu
werfen.
Sprüche, Litaneien, meditative Zustände, zwanghafte Übungen sind
attraktiv für Seelen, die vom Schmerz ausgelaugt worden sind. Der Beschwörungsspruch
ersetzt eine hoffnungslos komplizierte Welt. Er ist ein Führer für
Leute, die in ihrer Kindheit nicht geführt worden sind, Schutz für
diejenigen, die sich unbeschützt und unsicher fühlen. Paradoxerweise
will der Neurotiker nicht mehr wissen; er will weniger wissen, so dass er
es nicht weiß. Er will neue Fakten lernen, neue Techniken, sodass er
unbewusst bleiben kann.
Wenn jemand ständig von unsichtbaren, unbewussten Kräften angestoßen
und gequält wird, ist der Glaube an Magie unvermeidlich; er entsteht aus
Verzweiflung. Anstatt dieses kummervolle Terrain im Inneren zu erforschen,
flüchten wir uns in symbolische Suche, suchen Antworten im
„Unbekannten.“ Wir brechen auf, um den wundervollen Zauberer von Oz zu
sehen. Glaubenssysteme bieten eine Zuflucht für die emotional Verwaisten
und psychisch Heimatlosen. Doch zu glauben, dass ein paar besondere Worte
oder Klänge das Leben ändern, zu glauben, dass die Yellow Brick Road ins
Seelenheil führt, ist rein magisches Denken. Der Grund ist, dass der
wahre Gläubige sich völlig unbewusst dessen ist, was sein Leben ursprünglich
verändert hat.
Wenn er diese einfache Tatsache kapiert hat – dass frühe Erfahrungen
mit seinen Eltern seine Persönlichkeit unabänderlich geprägt haben, ihn
anfällig für Glaubensvorstellungen gemacht haben – dann ist es ein
einfacher Schritt zu verstehen, was sein Erwachsenenleben wirklich umändern
wird. Und dieser einfache Schritt ist keine Litanei oder Beschwörung. Er
wird damit zu tun haben, dass man sich dem zuwendet, was uns ursprünglich
verändert hat. Welche dunkle innere Wahrheit es war, die die Neurose
gebar, um zu verhindern, dass die Realität des Selbst das Tageslicht
erblickt. Die echte Straße zur Erleichterung kurvt nach innen anstatt in
die Ferne aufzusteigen. Eine unserer Patientinnen hatte in der Tat ein
liebevolles Elternhaus, dennoch stand sie auf „Channeling,“ nach
meiner Meinung eine psychotische Borderline-Wahnvorstellung. Einige
Monate, nachdem sie mit der Therapie angefangen hatte, erlebte sie einen
gewaltigen Schrecken wieder und konnte ihn nicht verstehen. Wochenlang
erlebte sie diesen gestaltlosen Schrecken wieder. Sie sprach darüber mit
ihrer Mutter, die ihr mitteilte, dass sie in ihrem achten
Schwangerschaftsmonat in einen fürchterlichen Autounfall verwickelt war,
bei dem sich der Wagen mehrmals überschlug. Wochenlang war sie vor Angst
wie versteinert, auch weil die Mutter mit ihrem Bauch hart gegen das
Lenkrad stieß. Als die Patientin weiterhin ihren Schrecken wiedererlebte,
verlor sie allmählich ihre bizarren Ideen und auch ihre Angst vor
beengten Orten. Wir können nie sicher sein, was was verursacht hat, aber
Gefühle scheinen diese Unsicherheit verschwinden zu lassen und die Verknüpfung
für uns herzustellen. Sie war ständig verschreckt und wusste nie warum.
Sie hatte eine Phobie nach der anderen. Wir wären im Traum nicht auf
ihren wahren Ursprung gekommen. In ihrem Wiedererlebnis gab es
keinen Namen und keine Szene, nur pures Entsetzen.
Oz ist ein Trick, der Zauberer eine Illusion, ein Trick mit Spiegeln und künstlichem
Rauch, den ein Scharlatan erzeugt, der Knöpfe drückt, Hebel zieht und
Verführungstechniken anwendet. Dorothy wacht aus ihrem Traum auf (aus
ihrer Glaubenssuche), und zwar mit noch einer widerhallenden Litanei -
„There’s no place like home........Zuhause ist es am schönsten.“
Was hatte sie auf diese Glaubenssuche geschickt?
- Ein Tornado (emotionaler Aufruhr), der ihr Haus (sie selbst) aus
den Grundfesten schüttelt. Leute, die sich immer mehr den
Glaubenssystemen widmen, werden schließlich zu ihren Gefangenen. Sie
sitzen in der Falle. Der Glaube beengt das Verhalten und lässt keine
Freiheit oder Spontanität zu. Der Gläubige will keine Spontanität. Er
traut seinen Gefühlen nicht. Er will, dass man ihn führt und ihm sagt,
was er zu tun hat und was nicht. Nichts ist leichter und üppiger verfügbar
als Glaubenssysteme, weil nichts so grenzenlos ist wie Selbsttäuschung.
Der Mensch verwickelt sich in ein Gedankengeflecht, das ihn bindet; je
labyrinthischer umso besser. Er ist jetzt ein Gefangener seiner
Vorstellungen, und er begibt sich willig in seine Sklaverei, weil seine
Sklaverei auch seine wichtige Abwehr ist. Es erinnert mich an Leute, die
in Stahlkäfigen nach Haien tauchen. Sie haben keine Bewegungsfreiheit,
aber Tatsache ist, dass die Haie nicht zu ihnen
können. Ihr Stahlgefängnis ist ihre Abwehr. Chemische Gefängnisse
sind genau so stark wie diese stählernen. Sie lassen nur wenige
Verhaltensalternativen zu. Glaubensvorstellungen sind das psychische Äquivalent
der Verdrängung, der Lavafluss innerer Explosionen. Man kann den Fluß
umleiten, aber man wird dadurch die Vulkanaktivität nicht ändern. Wir können
die Explosion mit Gedanken deckeln, aber es besteht immer die Gefahr eines
weiteren Ausbruchs; manchmal erfolgt er in Form eines Anfalls, ein ander
Mal findet er sich wieder in noch bizarreren Ideen.
Was der Neurotiker sucht, kann nie geschehen. Niemand kann für einen
anderen einen Sinn herstellen. Kein Führer, Guru, Therapeut, Mantra kann
bewirken, dass wir uns geliebt, wichtig, erstrebenswert oder wertvoll fühlen.
Man kommt nicht mit dem Gefühl von Wertlosigkeit auf die Welt. Es
entsteht nicht aus der genetischen Kodierung sondern aus der
Lebenserfahrung. Wahrscheinlich haben Ihre Eltern Sie nicht geliebt oder
Ihnen nicht das Gefühl vermittelt, dass Sie wertvoll sind, sodass Sie
sich jetzt liebensunwürdig fühlen. Es ist
einem Kind unmöglich, authentisch zu fühlen, wie das
geschah (anstatt sich dessen nur intellektuell bewusst zu sein), die frühen Augenblicke
wiederzuerleben, die unser Selbst erschüttert hatten, wirklich zu
akzeptieren, dass wir ungeliebt waren und nie geliebt werden, und dass das
Leben ohne Bedeutung oder Hoffnung ist. Vor diesem Schmerz laufen wir
davon: beschäftigen uns zwanghaft mit Türschlössern oder Diäten oder
Geld, glauben an Geister und fürchten den Teufel, schaffen Feinde in der
Welt um uns herum als Symbole unserer inneren Dämonen, verfallen dem
Alkohol oder werden drogenabhängig, summen Mantras, um die quälenden Geräusche
in uns zu unterdrücken, konsultieren Rückführungs-Hypnotiseure, um
herauszufinden, wer wir einst waren (anstatt wer wir sind).
Weil wir Angst davor haben, unsere innere Realität zu betrachten, suchen
wir nach uns selbst, indem wir quer über die Kontinente und in die Zeit
zurück reisen. Ohne Kontakt zu uns selbst und ewig bedürftig begeben wir
uns in die Hände eines anderen und fühlen uns „im Reinen.“ Er hat
die Antwort. Doch es gibt keine Antwort, weil es keine Frage gibt. Es gibt
keine von außen kommende Lebensbedeutung. Keinen anderen überspannenden
Lebenssinn als das, was wir leben und was wir fühlen. Bedeutung ist immer
an Erfahrung gebunden – an persönliches Fühlen. Das Leben ist da, um
zu leben, und nicht als Problem, das gelöst werden muss. Wenn wir nicht
wirklich leben, dann erst stellen wir die Frage, was der Sinn des Lebens
sei.
Der einzige Friede ist der absolut fließende Zugang zwischen
Bewusstseinsebenen. Diesen Zugang zu erlangen bedeutet, die biologischen
und psychischen Vernichtungskriege aufzuhalten, die uns in Glaubensgefängnisse
bringen. Wir glauben an Stelle vollen Bewusstseins. Man kann das eine oder
das andere haben, nicht beides, weil es unvereinbare Wesen sind. Volles
Bewusstsein (nicht im Sinne von „höherer Bedeutung“ oder von „den
unbekannten Kräften im Universum“ sondern vielmehr im Sinne des Selbst)
ist das Gegenmittel für irreale Glaubenssysteme; der Rückweg von der
Irrealität zur Realität.
Im nächsten Kapitel werde ich die physiologischen Prozesse beschreiben,
mit denen wir Gefühle verdrängen, und wie defensive
Glaubensvorstellungen sich in unsere biologischen Abwehrmechanismen einfügen.
Unser Intellekt lässt sich täuschen, unsere Gefühle lassen sich
manipulieren, unsere Wahrnehmungen verwirren und unser Körper sich überlisten
durch Medikation. Aber eines Tages wird der Körper uns seine Rechnung präsentieren,
denn er ist so unbestechlich wie ein Kind, das noch gesund in der Seele
ist und keinen Kompromiß oder Entschuldigung akzeptiert, und er wird
nicht aufhören uns zu quälen, bis wir aufhören, uns der Wahrheit zu
entziehen.
♦♦♦
(9)
J. S. Price, and R. Gardner Jr., "Does Submission to a Deity Relive
Depression?" Philosophical Papers and Reviews 1, no. 2
(2009): 17-31 .
Ende
des Kapitels
Artikel
und Buchauzüge
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