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Dr. Arthur Janov:   Beyond Belief: Cults, Healers, Mystics and Gurus - Why We Believe

LLC Reputation Books, ISBN-10: 0986203173, 03. Mai 2016

Kapitel 5

AFFEN MIT GEDANKEN-ZUSATZ

Ein Teil unseres neurologischen Apparats ist konstruiert worden, um sicherzustellen, dass wir die Wahrheit über uns nicht kennen. Das hört sich vielleicht trivial an, aber es überrascht niemanden, der diese Schmerzen gefühlt hat und weiß, wie potentiell tödlich sie sind. Wir werden zu Experten fürs Außenleben, um uns von dieser inneren Wahrheit fernzuhalten.

  Solange es keinen entwickelten Kortex gibt, der die Führung übernimmt und Glaubensvorstellungen fabriziert, müssen untere primitivere neurologische Systeme die Angst, den Schmerz und die Gefahr absorbieren. Deshalb kann ein Kleinkind keine „Gedankenstörung“ haben aber dennoch leiden. Seine Agonie ist im Körpersystem untergebracht. Bevor das Kleinkind symbolisch werden und Gedanken entwickeln kann, wird seine traumatische emotionale Energie entweder in physische Symptome oder emotionale Verzerrungen kanalisiert. Der Wutanfall, die Kolik oder die Allergien des Kindes sind seine Neurose. Man findet sie in der Magensäure oder in den Lymphozyten der Jüngsten. Wenn das Kind heranwächst, wird ein Teil der Energie, die seine Allergie nährt, auch in Gedanken umgeformt. Die Nase läuft nicht mehr so viel, und das Mädchen fängt an, zu viel zu denken. Sie läuft zu diesem und jenem Seminar, zum einen oder anderen Aschram, sie versucht und probiert einiges aus auf der Suche nach der „Antwort,“ die nicht in Indien liegt sondern nur einen tiefen Atemzug entfernt. In eigenartiger Dialektik findet sie umso weniger, je mehr sie sucht. Das Suchen nach einem Sinn wird zu einer Abwehr, weil nicht erkannt wird, dass Fühlen der Sinn ist, und das bedeutet Schmerz. Ohne Zugang zum Fühlen führt man ein bedeutungsloses Leben. Findet jemand echte Bedeutung, findet er ebenso das Leid. Alle Wege führen nach Rom.

  Also hört das heranwachsende Kind hier mit dem Niesen auf und beginnt zu denken. Oder vielleicht niest das Mädchen, hat eine ständig laufende Nase und braucht immer noch Hilfe, um die Energie zu absorbieren. Und Gott gibt ihr endlich Frieden; nicht Gott als solcher sondern der gedachte Gott. Er ruft die Chemikalien der Ruhe hervor. Jeder Gott eignet sich, wie auch immer man ihn nennen will. Aber jeder Gott muss Hoffnung und Erfüllung anbieten, auch wenn es in einem anderen Leben geschieht. Die Seele wird sich beruhigen. (Wenn Sie es bis jetzt noch nicht erahnt haben und im Interesse der Aufrichtigkeit – ich bin kein Glaubensanhänger irgendeiner Richtung. Ich bin nicht daran interessiert, jemanden zu überzeugen, dass er oder sie nicht glauben soll.)

  Die denkende Psyche, die sich mit Schmerz befasst, kommt nie zur Ruhe. Sie setzt ein, wenn wir einschlafen wollen und bringt den präfrontalen Kortex auf Touren, denselben Kortex, der sich tagsüber für Glaubenssysteme begeistert, der Grübelei und Zwangsgedanken hervorbringt. Hier erzeugen die Einprägungen einer tieferen Ebene Aktivität auf höherer Ebene. Auch hier sehen wir, wie tief eingeprägter Schmerz das denkende Gehirn elektrisiert. Und wenn wir diese Einprägung mit Drogen beruhigen, hört die Grübelei tatsächlich auf. Es bringt nichts, sich mit diesen außer Kontrolle geratenen Gedanken zu befassen. Obwohl das Gehirn hungrig nach beruhigenden Gedanken ist, hat es nur ein begrenztes Verzeichnis von Vorstellungen und benutzt sie in vielfältiger Form aber mit weitgehend gleichem Inhalt ein Leben lang. Die eine oder andere mystische Forschungsreise ist wie ein neuer Guru, der den alten ersetzt. Alle dienen der gleichen Funktion, nämlich zu stimulieren und Hoffnung zu stimulieren. Die Gedankenpsyche greift nach demselben Inhalt in unterschiedlichen Verpackungen, weil sie in Wirklichkeit auf eine fixierte innere Umwelt reagiert.

  Man kann eine ganze gedankliche Suprastruktur  über Frauen entwickeln, dass sie bedrohlich, hysterisch, selbstsüchtig, kontrollierend sind, dass sie Männer dominieren oder kastrieren wollen und so fort. Dieser Gedanken-Satz ist vielleicht aus einem frühen Trauma erwachsen, das eine tryrannische Mutter einbezieht. Die Kluft zwischen der Überzeugung und der frühen Kindheit kann so breit sein und so weit entfernt, dass es beinahe unmöglich wird, die Ursachen zu verstehen. Das trifft vor allem zu, wenn die Einprägungen am Lebensanfang geschahen, als  keine Worte oder Gedanken verfügbar waren. In diesem Sinn funktionieren Glaubensinhalte zum Teil dahingehend, dass sie dem Erwachsenen einen Zusammenhang liefern für etwas, das für das Kleinkind zusammenhanglos, unerklärlich und extrem schmerzvoll war. Die Gedanken überbrücken die Kluft zwischen Vergangenheits-Erinnerung und Gegenwarts-Realität.

  Wenn früher Schmerz sich einmal im Gehirn niedergelassen hat und wir seiner gefahrlos unbewusst sind, neigen wir dazu, nahezu überall Schmerz zu sehen außer in uns selbst. Vielleicht nehmen wir jemanden, der uns nach unserer Gesundheit fragt, als bedrohlich wahr: „Geht’s dir gut?“ „Warum? Schaue ich krank aus?“ Jemand, der wirklich besorgt ist, kommt uns als Bedrohung vor. Wir antworten auf die Aussage „Das hast du heute gut gemacht“ , indem wir denken oder sagen: „Warum, hab’ ich es gestern nicht gut gemacht?“ Verdrängter Schmerz formt unser Weltbild. Eine Person, die sich schlecht fühlt, erwartet überall Kritik – oder sieht sie, wo sie nicht ist – weil sie genau das in ihrer ganzen Kindheit bekommen hat. Der Neurotiker kann den ehrlichen Versuch einer Beschwichtigung oder eines Kompliments in Schmerz verwandeln. Gegenwartskomplimente erinnern ihn an vergangene Grausamkeiten. Außerdem hat er gelernt, wie er klein war, dass er es nicht verdient, gut behandelt zu werden.

  Jedes neue Ereignis wird wahrscheinlich verdreht, damit es mit der vorherrschenden inneren Wirklichkeit übereinstimmt. Keiner hat je zugehört, als wir klein waren, und jetzt reden und reden wir, um jemanden dazu zu „veranlassen,“ dass sie oder er uns zuhört. Oder keiner hat je zugehört und: „Nein, ich werd’ nichts sagen, denn ich bin so ein Nichts. Was ich sage, ist so egal.“ Eine Bedienung um etwas zu bitten, das Sie haben wollen, kann traumatisch sein aufgrund der zugrundeliegenden aber außer Reichweite liegenden Angst vor den Konsequenzen, um etwas zu bitten, das Sie von einem vorenthaltenden Elternteil haben wollten. Jemand kritisiert Ihre Stadt oder Ihr Land, und Sie ziehen einen Abwehrwall hoch, als würden Sie persönlich angegriffen, weil Bürgerstolz oder Patriotismus dazu dient, Sie gegen das Gefühl zu verteidigen, nicht dazuzugehören. Sie fühlen sich nicht allein gelassen sondern als integriertes Mitglied einer Gruppe. Genau aus diesem Grund schließen sich einige Leute einem Kult an. Bevorzugt wird um jeden Preis ein andersweltlicher, fremdartiger Brennpunkt – ein Transportmittel, das einen so weit es nur geht von der schmerzvollen Realität wegbringt – indem man alles glaubt, das sich nicht beweisen lässt. Auf diese Weise können wir uns nie irren. Mir leuchtet nicht ein, wie man einen Patienten durch eine Therapie tiefgreifend verändern kann, die auf der Vermeidung der Realität beruht.

  Was immer man von Meditation hält – und sie hat Millionen Anhänger – sie ist und bleibt Voodoo – der magische Glaube, dass ein bestimmtes Ritual/Verhalten eine ganze Lebenszeit mit einem gleichgültigen Vater und einer total depressiven Mutter auflösen kann – eine Erfahrung, die tief in jede Zelle des Körpers eingeprägt worden war. Die Leute halten sich an einer schnellen, schmerzlosen Heilung fest. Meditation ist keine Ausnahme. An ihr Funktionieren kann man nur glauben, wenn man seine Geschichte leugnet. Dennoch ist es die Geschichte, die uns antreibt. Wir können unsere Probleme nicht ahistorisch lösen, wie es jedes Ritual und jede Booga-Booga-Methode versucht. Sobald eingeprägter Schmerz existiert, ist jede schnelle schmerzlose Heilmethode zwangsweise falsch. Wir können „die Seele nicht reinigen“, wenn die Seele mit Vergangenheitserinnerungen überladen ist. Wir können unsere Neurophysiologie nicht mit symbolischen Gesten übertrumpfen. Wir haben die Wahl: entweder fühlen oder Verdrängung. Dazwischen gibt es nichts. Nicht ich bestehe darauf; es ist unsere Physiologie, die das diktiert.

  Diese langen Fasern, die sich von primitiven Gehirnsystemen (wo frühe Traumen gespeichert werden) zum Kortex erstrecken, überbringen dem denkenden Gehirn eine verstümmelte Botschaft, die für uns gerade genug Information bereithält, um uns zu obsessiven Verhalten anzutreiben, aber nicht genug spezifische Information, um eine Verknüpfung mit der qualvollen frühen Verlassenheit herzustellen oder mit welcher Erfahrung auch immer, die den Schmerz verursacht hat. Würde diese Erfahrung geradewegs durchkommen, würden wir unter Qualen das Gesicht verzerren. Also glaubt das zu Vorstellungen und Begriffen fähige Gedankengehirn, dass die Sache, über die wir zwanghaft besorgt sind, wirklich das Problem ist, - Erdbeben, Meteoriten, usw.  Wir sind überzeugt, dass von außen eine Katastrophe naht wie z.B. ein bevorstehender Raketenangriff oder das Ende der Welt, wie es Nostradamus prophezeit hat. Die Tragödie ist, dass ein Therapeut den Patienten beim Wort nimmt und bejaht, dass das sich präsentierende Problem tatsächlich das Problem ist. Dennoch wird die Angst von Untergangsgefühlen geschürt, die nichts mit Erdbeben zu tun haben sondern mit der Empfindung im Mutterleib, dass alles verloren ist, dass Kämpfen nichts hilft.

  Wie ich betont habe, ist die Katastrophe schon früh im Leben des Mädchens/der Frau geschehen und in das untere Gehirnsystem eingeprägt worden. Sie erwartet die Katastrophe, weil Gefühle auf dem Vormarsch sind und an das präfrontale Areal stoßen, zuerst an das rechtsseitige und dann gezielt an das linksseitige, das die Organisation von Glaubensvorstellungen anregt. Die frühe Katastrophe ist vielleicht im Gehirn nach oben und dorthin unterwegs, wo wir uns ihrer bewusst werden könnten. Also konzentrieren wir uns auf etwas, wo wir etwas machen können – nach Colorado umziehen. Alles, was ihre Überzeugung bedroht, wir zurückgewiesen; schließlich ist ihr Glaube/ihre Überzeugung eine Abwehr. Bei einer Bedrohung von außen können wir fast immer etwas tun; gegen die von innen können wir sehr wenig tun; entweder fühlen oder verdrängen. In einem Tierexperiment fand man heraus, dass die Gehirn-Signatur nahezu identisch mit der des wirklichen Ereignisses ist, wenn die Tiere auf eine Erinnerung reagieren. Und genau das geschieht mit dem Neurotiker. Sein Gefühl eines drohenden Verhängnisses führt zu einem Hirnwellenmuster, das identisch ist mit dem ursprünglichen Ereignis. Und zwar deshalb, weil die Einprägung aktuell ist; sie ist eine gegenwärtige Realität, weil sie nie verschwunden war. Die Realität der Gegenwart löst dann die Primärerinnerung aus, und wir reagieren passend auf diese Erinnerung. Es scheint  nur übertrieben, weil wir die Primäreinprägung nicht sehen können, die wie ein Stalagmit tief verborgen liegt und die dem Ereignis Kraft verliehen hat. Wir sehen die Reaktion aber nicht ihre Vorläufer. Wir können paranoide Gedankenbildung beobachten aber nicht die Myriaden präverbaler Traumen, die sie verursacht haben. Kurz gesagt ignorieren wir die Geschichte, indem wir ein Symptom behandeln, das historische Wurzeln hat.

  Sobald wir falsche Auffassungen übernommen haben, werden wir, wie ich angemerkt habe, zu ihren Gefangenen, zu Gefangenen des Glaubens, der unser Bewusstsein einschränkt, unserer mentalen Reichweite Grenzen setzt, uns anfällig macht für Parolen und Demagogen und unsere Wahrnehmung in sehr engen Grenzen hält, bis wir von genau den Gedanken, die wir produzieren, als Geiseln genommen werden. Jemand, der so in eine defensive Glaubensvorstellung eingesperrt ist, hat vielleicht wenig Fantasie und gewiss keinen objektiven Blick für das Hirngespinst, das er sich da einverleibt hat. (So eingesperrte Leute haben selten Sinn für Humor oder für das Schöne). Und die neurotische Glaubensgewohnheit aufzugeben und unter die Lupe zu nehmen, was tief drinnen wirklich los ist, verlangt einen Preis, der höher ist, als die meisten Leute zahlen wollen. Es gibt viele, die Sprüche und Rituale bevorzugen, weil ihnen so das Problem erspart bleibt, gründlich über die Dinge nachdenken zu müssen. Wir brauchen den Zugang zum rechten Gehirn, um das große Ganze zu sehen, um die Ereignisse im Zusammenhang zu sehen. Andernfalls tragen wir wortwörtlich nur die zerebrale Oberfläche ab. Das linke Frontalhirn hilft uns dabei.

  Somit haben wir hier ein dialektisches Dilemma: die körperliche (unbewusste) Wahrheit löst gedankliche Unwahrheit aus, um ihre Existenz zu verbergen; die Suche nach äußerer Irrealität, um sich gegen innere Realität zu schützen. Warum? Wegen der Resonanz: Es gibt bestimmte Frequenzen (meine nicht bewiesene Vermutung), durch die Ereignisse übertragen werden, so dass ein Gegenwartsereignis mit einem vergangenen Ereignis resonieren kann, und es ist das vergangene, das unsere Reaktion bestimmt. Warum? Weil das vergangene Ereignis  so früh geschehen sein kann, dass es ein Prototyp fürs Überleben war. Somit erhalten wir übertriebene Reaktionen, weil eine Kleinigkeit wie eine Kritik – „Ich habe was falsch gemacht und sie werden mich deshalb nicht lieben“ – mit etwas Gewaltigem in unserer Vergangenheit resoniert, eine Vergangenheit, in der wir nicht geliebt wurden, wenn wir irgendeinen Fehler gemacht hatten.

  Wenn ein Mensch zu einem Reinkarnationstherapeuten geht, dann besagt das, dass er nach einer Über-Wirklichkeit sucht, nach einer Nicht-von-dieser-Welt-Erfahrung – nach irgendwas, um die innere Wirklichkeit zu vermeiden. Er legt sein Schicksal in die Hände eines Kults, um sich geliebt zu fühlen. Er tauscht seine biologische Familie für eine „spirituelle“ ein. Vielleicht ändert er sogar gerne seinen Namen, weil er unbewusst sagen will: „Ich bin ein anderer.“

  Fast jeder Neurotiker hat irreale Hoffnung über etwas: eine neue Verabredung, ein neuer Freund, ein neuer Ehegatte, ein neuer Job, ein neuer Wohnort und ein neuer geistiger Führer; das ist alles eine Art Religion. Mit genug irrealer Hoffnung landen wir in der Theologie, egal wie sie heißt.

  Eine Gläubige denkt vielleicht, sie habe die „Antworten“ auf ihre Fragen gefunden oder den Gipfelpunkt ihrer Suchwanderung erreicht. Sie betäubt sich selbst, indem sie glaubt, dass ihr neuer Freund oder ihre religiöse Bekehrung sie vor ihren Qualen beschützt. Sie projiziert alle möglichen Tugenden auf einen Guru – alle Symbole ihres Bedürfnisses. Sie glaubt vielleicht, dass sie von allem geheilt worden ist, was in der Vergangenheit ihr Leiden verursacht hat, aber ist dass wirklich so? Kann man sehr krank sein, obgleich man glaubt, gesund zu werden? Ja. Deshalb scheinen so viele scharlatanische und populäre Psychotherapien zu funktionieren. Der Mensch ist überzeugt, dass die Therapie funktioniert, obwohl sich innerlich absolut nichts ändert. Aber wenn es keinen Zugang nach innen gibt, ersetzt der Gedanke, dass es einem gut geht, tatsächliches Wohlbefinden. Beruhigende Worte sind Musik in unseren Ohren und Medizin für unseren Schmerz. Wir fühlen uns akzeptiert und geliebt. Aber ein Mensch kann glauben, es gehe ihm gut, während der Körper gleichzeitig alle möglichen Schmerzen verarbeitet und kanalisiert. Es geht ihm nicht gut, nur weil er denkt, es gehe ihm gut; er denkt nur, es gehe ihm gut. Deshalb messen wir Vitalfunktionen vor und nach jeder Therapiesitzung. Wir brauchen Bestätigung. Wir fragen den Körper nach der Wahrheit, und er sagt uns durch einen Blutdruck von 175/110 unmissverständlich, dass keinesfalls alles in Ordnung ist.

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  Der Blick in das Gesicht der Litaneien-Sängerin, des Kult-Mitglieds, der Person, die ihren Namen und ihre Identität geändert hat, verrät ihre psychische Einkerkerung. Sie hat diesen „irren“ Blick an sich, den Langzeitgefangene haben. Betäubt von Gedanken und Endorphinen hat sie es geschafft, sich selbst aufzugeben, indem sie glaubt, es gebe keine Krankheit. Und zu viele sogenannte TV-Psychologen bekräftigen diesen Trugschluss, indem sie sagen, wir müssten nur unsere geistige Einstellung ändern, neue Gedanken entwickeln, und dann könnten wir jedes Leiden bewältigen; wir könnten uns den Weg zur Gesundheit erdenken. Es sei alles eine Frage dessen, was wir glauben. Diese TV-Psychologen sind wirklich religiöse Evangelisten mit anderem Namen.

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Neurose hat nichts mit Gedanken zu tun, es sei denn indirekt; und bestimmt nichts mit Einsichten, die nur noch mehr Gedanken sind – die Gedanken eines anderen. Wir wachsen auf und entwickeln uns, so dass wir die Fähigkeit erlangen, unsere Neurose/unseren Schmerz in Worten auszudrücken, aber wir sind vielleicht von Geburt auf neurotisch. Jetzt stellen Sie sich vor, diese Neurose allein mit Worten zu behandeln, indem man glaubt, Neurose sei eine Sache unkorrekter, irrationaler Gedanken. Möglicherweise haben wir einfach Jahrzehnte frühen Lebens ausgelassen.

  So etwas wie eine „Gedankenstörung“ gibt es nicht, ungeachtet gegenteiliger Behauptung durch die psychiatrische Nomenklatur. Gedanken sind die letzte Errungenschaft der Evolution, der letzte Mechanismus in der Persönlickeitsentwicklung des Menschen, um mit Widrigkeiten umzugehen, vor allem mit solchen, die traumatisch waren.

  Durch die Nutzung unseres Verstands haben wir die Mittel, innere Wirklichkeit zu vermeiden. Wir können abstrakt denken, und wir können auch von uns selbst abstrahiert werden. Wir können die Wahrheit fantasieren, fabrizieren, verleugnen, umleiten und verdrängen. Diese Selbsttäuschung ist das Geschenk der Zivilisation, denn sobald es eingeprägten Schmerz gibt, müssen wir uns selbst täuschen können, um mit unserem Leben weiterzumachen.

  Eine Frau aus meinem Bekanntenkreis war eine brillante Gehirn-Wissenschaftlerin und auch eine hingebungsvolle Gläubige. Sie sah keinen Widerspruch in der Koexistenz ihrer völlig „wissenschaftlichen“ Methodik bei wissenschaftlichen Problemen mit ihrem bedingungslosen Gehorsam gegenüber den absonderlichsten Glaubensvorstellungen ihres Kults. Ihr rechtes Gehirn blieb auf ihre Emotionen beschränkt. Sie war effektiv in einem hypnotischen Zustand. Ihre Kritikfähigkeit war radikal reduziert wie bei Hypnose, eine Form der Neurose, wie sie nicht im Buche steht. Weil diese Bekannte nicht in Gefühlen verankert war (weil sie unverknüpft war), war sie leicht zu manipulieren.

  Die Kluft zwischen Fühlen und Intellekt, die ich diskutiere, kann dazu führen, dass ein vermeintlich brillanter Mann in Parks herumwandert und sich vor Frauen entblößt, Gefängnis riskiert und Schlimmeres. Hier haben wir einen funktionierenden Verstand, der aber nichts nützt, wenn es darum geht, mit Gefühlen umzugehen. Das Verhalten des Mannes wird vom Bedürfnis gesteuert: „Mama, schau’ mich an. Beachte mich bitte.“ Starke Gefühle im rechten Gehirn überwältigen den Linkshirn-Intellekt. Achten Sie auf das Paradox: Eine anscheinend hochlogische Psyche steht neben einer anderen Psyche, die dazu gezwungen wird, übertrieben unlogisch zu sein. Sie existieren in einem nahtlosen Nebeneinander in ein und demselben Gehirn und haben nichts miteinander zu tun. Und die „unlogische“ Psyche widersteht der Kontrolle durch die „logische Psyche.“ Natürlich ist „unlogische Psyche“ eine Fehlbezeichnung; es ist die logische Psyche der Gefühle und Empfindungen, die unbewusste Prozesse akkurat widerspiegeln, indem sie sie in die Gegenwart projizieren.

  Also haben wir zwei logische Psychen:  die eine reflektiert äußere Wirklichkeit, die andere die innere. Das Problem ist, dass wir uns der inneren nicht bewusst sind, die emotionale Reaktionen logisch oder wenigstens stimmig machen würde. Wir halten sie für irrational, weil wir die Vorgeschichte nicht kennen, die zu emotionalem Verhalten und „irrationalem“ Denken“ führt. Eine paranoide Patientin, die einen brutalen Vater hatte, sah Gefahr bei jeder Begegnung mit einem Mann. Noch dazu glaubte sie wirklich, ein bestimmter Mann sei ihr Vater, der sie töten wolle (er vergewaltigte sie, als sie acht war und sagte ihr, er werde sie töten, wenn sie jemand etwas sagen würde). Als sie in Sitzungen, die sich über viele Monate erstreckten, die Gefahr fühlte, in die sie ihr Vater gebracht hatte, sahen wir die Verbindung zwischen ihrer paranoiden Gedankenbildung und ihren vergrabenen Gefühlen. Ihre innere Realität machte ihre Paranoia völlig plausibel. Wenn wir nicht wissen, wie wir Zugang zu dieser inneren Realität finden, können wir uns auf die bizarren Ideen keinen Reim machen. Und wir verstehen, dass diese Ideen vielleicht nicht so bizarr sind wie wir dachten. Und, nebenbei bemerkt, wenn man wie so viele Therapeuten der Person nicht glaubt, dann verschlimmert man die psychische Krankheit ernsthaft.

  Würde man jedes Ausagieren einer bestimmten Betrachtungsweise unterziehen, es in seinen alten Kontext stellen, dann wäre es völlig logisch. Dasselbe gilt für viele der bizarrsten menschlichen Gedanken und Vorstellungen. Wenn wir uns wie Orpheus irgendwie von diesen exotischen Glaubenssystemen aus in die Unterwelt zu den Gefühlen abseilen könnten, die diese Vorstellungen steuern, würden wir oft die ihnen eigene Logik erkennen.

  Es ist interessant, dass wir einen Mechanismus – Glaubensvorstellungen -  haben, den wir konstruieren, um mit Schmerz umzugehen. Und wir machen das ohne Plan oder Architekt. Es geschieht einfach ohne bewusste Anstrengung. Es gibt keinen „intelligenten Entwurf,“ aber jede Menge unbewusste Entwürfe.

  Wir müssen dem einen weiteren Aspekt hinzufügen, und das ist der emotionale Teil des Glaubens. Das heißt, wenn wir glauben, dann gibt es ein Basisstück, das den Glauben begleitet und die Produktion der Schmerztöter unterstützt, die nötig sind, um uns zu beruhigen. Und das ist die Unterwerfung unter eine höhere Autorität, auch wenn diese Autorität ein Glaube ist, denn wir von einem Gott, Guru oder Therapeuten bekommen. Wenn ich einen Glauben erörtere, beziehe ich immer den Unterwerfungs-Part mit ein. Und natürlich gibt es ebenso andere emotionale Aspekte. Es gibt einen Artikel (9), der diesen Punkt betont: Sie schreiben über die Grundtendenz nahezu aller Tierformen, sich einer „höheren Autorität“ zu unterwerfen, einem härteren, aggressiveren, größeren, dominanten Tier. Das schwächere Tier unterwirft sich mit seiner üblichen Unterwürfigkeitsgeste. Das geschieht, um weitere Aggression und weiteren Schaden abzuwenden. Und das Follow-Up dazu ist unsterbliche Loyalität und eine Art Gleichgewicht in der Gruppe, wo jeder seinen Platz kennt und ihn akzeptiert. Angst sorgt dafür, dass das alles reibungslos läuft. Der Übergang zur Religion ist nur ein kleiner Schritt; dort wird Loyalität erwartet und Gehorsam ist unerlässlich; Unterwerfung wird jederzeit vorausgesetzt.

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  Was Price und Gardner aufzeigen, ist, dass die Wurzeln der Unterwerfung auf der tiefsten Gehirnebene bereits vorhanden sind. Und sie entwickelt sich mit der Gehirnevolution und nimmt verschiedene Formen an, aber die Dynamik bleibt dieselbe. Kurz gesagt bedeutet, sich einer Gottheit zu ergeben, sich einer „höheren Macht“ zu ergeben. Und dass dies die Gesellschaft reibungslos funktionieren lässt. Erst wenn das alles pervertiert wird und die „höhere Macht“ verlangt, dass man tötet, läuft alles schief. Das Bedürfnis, sich zu unterwerfen, geht jedoch zurück auf unsere reptilischen Anfänge. Es steckt tief in uns. Überlegen Sie: Wir verhalten uns nach Hunderten Millionen Jahren der Evolution, wie es unsere primitiven Vorfahren getan haben. Und wir tun es weitgehend aus denselben Gründen.

  Die Autoren beschreiben Depression als unfreiwillige Form der Unterwerfung; womit ich nicht einverstanden bin. Was stimmt, ist, dass die Depressiven aufgegeben haben, sich nicht Gott sondern der Bestimmung oder dem Schicksal ergeben haben. Wenn sie sich Gott ergeben, ist das natürlich eine jüngere evolutionäre Taktik. Aber aufzugeben bedeutet meiner Meinung nach, den Kampf aufzugeben, und das geschieht, wie ich in vielen meiner Bücher beschrieben habe, wenn das Neugeborene bei der Geburt in der „Talsohle“ feststeckt; wenn es in einer paraympathischen Phase feststeckt, in der weiteres Kämpfen lebensgefährlich wird. Das ist das Äquivalent zur Unterwerfung eines Reptils. Später dann gibt man auf, wenn die Lebensumstände entsprechend sind, und unterwirft sich eher dem Schicksal und den Umständen, als dass man sich durchkämpft. Der Prototyp hat sich jetzt etabliert. Dieses Aufgeben – Hoffnungslosigkeit – ist die Basis der späteren schweren Depression. Die Autoren nennen diese Art der Depression einen „Ritualtod.“ Und in bestimmter Hinsicht ist es Vermeidung des Todes. Sie nennen es „de-eskalierendes Verhalten.“ In Wirklichkeit ist es: „Ich kann an meinen Lebensumständen nichts ändern. Sie sind mein Schicksal.“

  Sie zeigen auf, indem sie MacLeans Theorie des dreieinigen Gehirns verwenden, dass dieses unterwürfige Verhalten verschiedene Ebenen hat. Ich stimme zu. Wenn wir in der Zeit zurückreisen, wird das Gefühl/die Empfindung schwerer und stärker. Gegenwärtige Ereignisse können das Urgefühl durch den Resonanzprozess auslösen, in dem alle Ereignisse (wie ich vermute) durch ähnliche Gehinrfrequenzen miteinander verbunden sind. Je weiter die Gefühle zurückreichen, umso tiefer versinken wir in Hoffnungslosigkeit und Depression. Und natürlich ist das ein Aspekt von Minderwertigkeitsgefühlen oder geringer Selbstachtung: „Ich bin hilflos, hoffnungslos und wertlos. Was immer ich tue, daran lässt sich nichts ändern.“ Wir müssen das nicht unbedingt aussprechen; es liegt in unseren Worten, unserem Verhalten, unserer Körperhaltung, unserem Gang und in unserer Stimmung. Das ist im Prinzip die defätistische Strategie. Und jetzt wissen wir, warum man in Diktaturen für eine solche Einstellung bestraft oder umgebracht werden kann. Die Briten wollten Hitler vor dem Krieg beschwichtigen; sie beugten sich bereitwillig seinen Aggressionen, wenn er sie nur nicht angreifen würde (wie ein Schimpanse, der sich vor dem stärkeren verbeugt). Es hat nicht funktioniert.

  Die Dynamik der Unterwerfung beginnt bei der Geburt oder vorher, wenn die Mutter raucht oder trinkt und den Fetus in schreckliche Unterwerfung zwingt (er kann absolut nichts dagegen tun). Sie gewinnt im weiteren Verlauf des Lebens an Stärke, wenn das Kind sich den Launen der Eltern unterwerfen muss. Es ist dann nur ein kleiner Sprung in die Religion und in die Gehorsamkeit gegenüber einer Gottheit; auch hier wieder wird Gehorsam und Loyalität verlangt und gefordert. Und wenn diese Person Hilfe sucht, dann wird sie vielleicht von Hypnose angezogen, wo absolute Unterwerfung verlangt wird. Oder sie tendiert zur Analyse, wo sie auch verlangt wird, nur in viel subtilerer Form. Dieses Bedürfnis zu gehorchen kommt nicht aus einer Laune heraus; es ist ein Teil dessen, was die Gesellschaft zusammenhält. Es hilft, wenn jemand in so einer komplexen und verwirrenden Welt nicht herausfinden kann, wie er sich verhalten soll. Irgendjemand findet es dann für uns heraus, aber das hat seinen Preis – Unterwerfung.

  Wenn wir darüber nachdenken, sehen wir, dass solche Gruppen wie die Anonymen Alkoholiker verlangen, dass die Zielpersonen sich einer höheren Macht verpflichten. Und das ist in ihrer Welt Teil der Besserung. Ich muss nicht handeln – er wird es für mich tun. Also haben 12-Schritte-Methoden und Psychoanalyse dieselbe Dynamik, welche die Person immer wieder zurückgehen lässt. Also muss sich die Person im Namen der Gesundheit wieder unterwerfen, wenn das doch schon vorher  Bestandteil ihrer psychischen Krankheit war. Das Opfer stellt das nicht in Frage, weil es das nie konnte oder tat. So verschlimmern wir die Krankheit und bilden uns ein, die Person habe große Fortschritte gemacht. Ah, Selbsttäuschung.

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FRANK

 

DER MYTHOS EINER GLÜCKLICHEN KINDHEIT

  Hätten Sie mich vor sechs Jahren nach meiner Kindheit gefragt, hätte ich gesagt, dass ich damals ganz glücklich war. Ich hätte auch gesagt, dass ich abgesehen von ein paar traurigen Zeiten und der Tracht Prügel, die ich manchmal verdiente und die mir nicht schadeten, verständnisvolle Eltern hatte, die ich liebte und die mich liebten. Ich hätte gesagt, dass ich die Schule liebte und ein seriöser und gut anpepasster christlicher Junge war, der von frühester Jugend an ein gutes Beispiel sein wollte und glücklich mit seinem Leben war.

  Mit diesen Antworten wäre ich damals so aufrichtig zu mir selbst gewesen, wie es meinem damaligen Wissen entsprach. Aber diese Antworten waren größtenteils Lügen, weil sie auf zensierten Erinnerungen beruhten. Ich glaubte diese Antworten mit einem kleinen Teil meines rationalen Bewusstseins – der dominante Teil, der meine tagtäglichen Aktivitäten und meine Sprache kontrollierte, gelegentliche Freudsche Versprecher natürlich ausgenommen. Diese Antworten idealisierten meine Erinnerungen und verleugneten die psychische Realität meines Lebens. Mein Leben war in Wirklichkeit eine große Illusion, eine große Lüge, der ich mir nicht bewusst war. Meine wirklichen Gefühle waren mir nicht bekannt, und wenn ich eine Ahnung von ihnen hatte, tat ich sie als Wasser unter der Brücke und als jetzt bedeutungslos ab. Ich verdrängte sie.

Der unbewusste Teil von mir hat eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Seine Sprache ist symbolisch, neurotisch und psychosomatisch. Es ist die Sprache der Träume und Albträume, der Verzweiflung, Depression, Unglücklichkeit, Einsamkeit, Wut, des Selbsthasses, des neurotischen Zwangsverhaltens und der physiologischen Störungen. Das ist eine verinnerlichte Wirklichkeit, die aus unsichtbaren aber stärkeren und zerstörerischeren Kräften besteht als diejenigen, die mein kühles rationales Selbst bilden.

 

ZERKNAUTSCHTE KINDHEIT

  Die Wahrheit ist, dass der Verlust meiner Kindheit mich jetzt mit Traurigkeit, Trauer und Wut erfüllt. Für ein paar kurze Jahre gab es ein wenig von dem, was so wunderbar ist in der Kindheit -  die sorgenfreien Freuden, wenn du jung bist; neugierig sein, unbekümmert spielen, entdecken, die Welt geniessen ohne ideologische Überlagerung. Ich weine jetzt über meine verlorene Kindheit, weil ihre überwältigenden emotionalen Qualitäten eher Angst, Schuld, Zorn und Einsamkeit waren als Unschuld und Freude. Es war ein freudloses Leben, nahezu ohne  Liebe zuhause und in der Kirche.

  Bereits in sehr jungem Alter musste ich die Last der Welt auf meinen Rücken nehmen. Sie drückte mich nieder und war für mich nicht zu ertragen. Ich wäre ausgelassen und voller Leben gewesen. Stattdessen habe ich die Last eines Märtyrers getragen; ich fühlte mich verantwortlich für den Schmerz und das Leid, das überall war, und ich wurde davon völlig überwältigt. Ich durfte kein Kind sein; ich hatte die Last eines Erwachsenen zu tragen, und man erwartete von mir, dass ich ein Heiliger sei.

  Meine eigene Jugendwelt wurde ausgeschlossen durch die Erwachsenenversion der Welt, der ich vertrauen musste. Die Erwachsenen sprachen bis zum Erbrechen von ewigen Wahrheiten, die in meiner Kindheitswelt unbestritten waren. Alles in ihrer Welt drehte sich um Gott, den Tag des Jüngsten Gerichts, um die Notwendigkeit der Erlösung, um Höllenfeuer und Himmel. Auf Schritt und Tritt bemühte man sich, dass ich die Welt auf diese Weise sah und dass ich mich entsprechend bestimmter Erwartungen verhielt. In dieser Lebenssicht wurden alle meine Kindheitsgefühle in den großen Gottesschlund gefegt. Mir blieb nichts, das voll mir gehörte, und ich hatte keine Kontrolle darüber. Wutgefühle, so sagte man mir, seien falsch und sündig. Ich war wütend, weil ich ständig von Gott und Mensch beobachtet, zensiert und beurteilt wurde, aber durfte das nicht ausdrücken. Sie brachten mich dazu, dass ich mich dabei schuldig fühlte. Solche Gefühle waren Zeichen der Rebellion gegen Gott. Myriaden direkter und subtiler Kräfte waren damit beschäftigt, mich zu kontrollieren, ob ich ein guter und moralischer Mensch sei. Das richtige menschliche Leben wäre für mich gewesen, das Leben zu genießen, Dinge zu tun, die kleine Jungs mögen: spielen, abenteuerlustig sein, Spaß haben. Stattdessen benutzte man Schuld und psychologischen Druck, um mich anzupassen: Wäre Jesus damit einverstanden? Willst du ewig leiden für einen kleinen Augenblick des Vergnügens? Was werden andere Christen denken? Ist das christlich, was du tust?

  Sehr früh lernte ich, dass man sich Akzeptanz erkaufen musste; sie war nie umsonst. Du wurdest akzeptiert von den Eltern, von den Sonntagsschullehrern, von den Pastoren, vom Nikolaus, von Gott selbst, wenn du dich so verhalten hast, wie sie es von dir wollten. Hast du rebelliert, wurdest du bestraft. Wenn es nicht physisch war, dann durch Entfremdung, Verwarnung und durch die Angst vor zeitweiser oder ewiger Strafe.

 

  FRÜHE KINDHEIT

  Es war mein (Un)glück, als sehr sensibler Junge auf die Welt zu kommen. Alles, was ich als Mensch brauchte, war, akzeptiert zu werden, wie ich war und so geliebt zu werden. Es war eine vergebliche Hoffnung. Die Leute in der Mennoniten-Gemeinde, die mich erzogen, waren sehr krank. Sie machten das Leben zu einer sehr erstickenden Angelegenheit, in der das menschliche Leben in eine sehr straffe Gießform gestopft wurde. Diese Zwänge verdrehten meine menschliche Natur und machten mich auch krank. Die „unerwünschten“ Teile der menschlichen Natur, die nicht passten, wurden hineingehämmert oder abgehackt.

  Es beginnt damit, dass ich als geborener Junge eine Enttäuschung war. Ich wurde gelegentlich von meiner jugendlichen Mutter und älteren Schwester in Mädchenkleider gesteckt; sie spielten dann mit mir, als sei ich das kleine Mädchen, als das sie mich gerne gehabt hätten. Mein Haar wurde erst geschnitten, als ich zwei Jahre alt war, weil es so hübsch und lockig war. Meine Mutter hebte die Locken auf und zeigte sie mir ganz unschuldig von Zeit zu Zeit mein ganzes Leben lang; ein Ereignis, das ich irgendwie als unangenehm, beschämend und betäubend empfand. Ich habe nicht verstanden, warum sich das ständig wiederholen musste. Aber ich dachte nie, dass es mich verärgert, sondern es war einfach eigenartig. Diese bizarre Situation mit meiner unwillkommenen Männlichkeit prägte sich in mein Wesen ein (ich konnte mir der darin liegenden Zurückweisung nicht bewusst gewesen sein, aber es wurde in meinem Wesen registriert) und spielte eine Rolle in der unbewussten Ereigniskette, die Haare zum Objekt meiner innerlichen Wut machte. Ich konnte diese Wut gegen niemanden richten, also richtete ich sie gegen mich selbst. Weitere Ablehnungserlebnisse über die nächsten zehn Jahre ließen diese frühe Ablehnung widerhallen und verstärkten sie anhaltend. Es war ein langsames, lautloses, progressives Trauma. Das Problem mit meinem Haar trat erst viele Jahre später an die Oberfläche – erst nach den vielen Jahren, in denen ich unaufhörlicher geistlicher Tortur und Zurückweisung ausgesetzt war, entwickelte sich diese schwere Neurose.

  Ich muss von meiner Mutter sehr früh abgestillt worden sein und musste mich mit einem Schnuller zufrieden geben, bis ich zwei Jahre alt war, als der beleidigende Gummi unter meinem lauten Protest endgültig entfernt wurde. Stattdessen habe ich an meinen Fingern gesaugt und entwickelte später eine sehr hartnäckige Nagelkau-Gewohnheit.

  In der Regel war ich ein artiger Junge. Besondere Zuwendung bekam ich selten – keine Gute-Nacht-Geschichten, keine Umarmungen, keine Küsse, kein „Ich liebe dich,“ keine Zärtlichkeiten, kein liebevolles Herzen gehörte zu meinem Leben nach der Babyzeit. Darin war meine Familie nicht untypisch für meine Verwandten und andere Mennoniten-Familien in South Dakota, an die ich mich erinnere. Essen auf dem Tisch, Kleider auf meinem Rücken, ein Dach über dem Kopf – diese Dinge bekam ich. Es gab elterliche Anweisungen, die zu befolgen waren: Benimm’ dich, sei nicht zu laut oder zu grob, lüge nicht, gehorche unseren Eltern und Lehrern, entschuldige dich, widersprich’ nicht, geh’ in die Kirche, sprich unsere Gebete, erledige unsere Pflichten und liebe deinen Nächsten.

  Meine Eltern waren Kinder ihrer Zeit und Kultur und der psychologischen Geschichte ihrer Familien – sie waren nicht schlechter oder besser, nicht grausamer oder unsensibler als die meisten. Kinder gab es zahlreich, und sobald die dringendsten Bedürfnisse erfüllt waren, erwartete man, dass wir unseren Platz kannten, gehorchten und gut waren. Hoffentlich würden wir auch bald im Blut Jesu gewaschen werden.

 

DISZIPLIN

  Disziplin war ein fundamentaler Faktor des Familienlebens. Wenn ich nicht gehorchte, hing an der Küchenwand ein Vollstrecker (ein 22 Inch langes Ding von einem Leinen-Riemen, der Typ, der für Maschinen verwendet wird), der in unwilkommener Häufigkeit seine Spuren auf  meinem Rücken hinterließ. „Wer mit der Rute spart, verzieht das Kind“ war das Motto in unserem Haus. Den Willen eines Kindes muss man brechen, hörte ich Papa sagen. Er berief sich dabei, so schien es, auf eine starke Autorität.

  Es war die Philosophie seines Vaters gewesen. Abgesehen davon war es biblisch. Wen der Herr liebt, den züchtigt er, sagte die Bibel. So musste ich auf eine von zwei Arten leiden: entweder meine Wünsche und Gefühle ausdrücken, den Riemen übergezogen bekommen und den Schmerz im Fleisch spüren, oder meine Wünsche und Begehren aufgeben, mich anpassen und meine Wut und meinen Schmerz hinunterschlucken. Mit anderen Worten musste ich emotionale Qual und körperlichen Schmerz aushalten. Ich konnte meinem Vater nicht trotzen oder widersprechen. Um Kummer zu meiden, musste ich meine Gefühle zurückhalten; wenn ich sie zeigte, wurden sie zerquetscht und zerbrochen. So oder so habe ich mein Selbstgefühl verloren.

  Emotional war es wie sterben – ein langsamer Erstickungstod an Ärger, Schmerz und verzweifelter Einsamkeit. Menschliche Liebe und Zuneigung waren unerwähnte Sentimentalitäten und hatten keine persönliche Bestimmung. Es war nicht so, dass ich täglich verprügelt wurde oder die ganze Zeit gehasst wurde. Das war nicht der Fall. Aber die Drohung war allgegenwärtig, sollte ich aus der Reihe tanzen. Vielmehr war es eine überwältigende Gleichgültigkeit und Vernachlässigung meiner Bedürfnisse und Gefühle, die so schrecklich waren. Verständnis, Nähe und Liebe gab es dort droben in einem fernen Reich beim himmlischen Vater. Obwohl eine Menge über Gott geredet wurde, schien ziemlich wenig davon auf den Bibel-Belt hinabgetröpfelt zu sein. Der irdische Vater und die irdische Mutter taten ihre Pflicht mit physischer Sorgfalt, aber wenig mehr. Sie hatten acht Kinder und kämpften ums Überleben.

  Weil ich dringend Liebe brauchte (damals war ich mir dessen völlig unbewusst) wendete ich mich der Schule zu als Ort, wo ich wahrgenommen und geliebt wurde. Hier war ich hervorragend, weil ich unbedingt gefallen wollte und ziemlich hell war. Mein wirkliches aber unbewusstes Motiv – wie ich jetzt entdecke -  war, von meinen Eltern gewollt und geliebt zu werden. Es schien für sie keine Bedeutung zu haben. Man erwartete von mir, dass ich gut war, weil ich das immer war und dafür keine besondere Zuneigung verdiente. Wenn ich Aufmerksamkeit wollte, musste ich sie mir verdienen. Gratis war sie nie zu bekommen.

 

  UNGLAUBWÜRDIGE RELIGIÖSE KULTUR

  Die Religion hast du in South Dakota geatmet. Hymnen, die ich seit frühester Kindheit gehört hatte. Bibelgeschichten, die ich gehört hatte, so weit ich mich zurückerinnern kann. Als ich acht war, konnte ich Hunderte von Bibelversen auswendig aufsagen. Das Reden über Gott, die Diskussionen über Bibel-Interpretation, den Klang der Hymnen gab es überall. Meine ganze Kindheitswelt wurde von diesem religiösen Nebel durchdrungen. Der Nebel durfte sich nie auflösen. Er wurde aufrechterhalten durch ein Dutzend oder mehr Kirchen, durch einen lokalen Radiosender, der sich auf religiösen Ramsch spezialisiert hatte, durch Kampagnen und Zelt-Meetings, Kirchen-Massenchöre und viele andere Nebelgeneratoren. Für seine vielen selbstgerechten Bürger war dieser Nebel der Nektar der Götter. Für einen normalen Menschen war er erdrückend und erstickend. Er hat das Leben aus der menschlichen Seele herausgewürgt.

  Während ich zuhause einen gleichgültigen und manchmal autoritären Vater hatte, hörte ich in der Kirche von einem Vater, der irgendwo im Nebel schwebte. Er war nicht bloß „Big Brother,“ der dich beobachtet. Er war ein omnipotenter, omnipräsenter Richter mit Röntgenaugen, der alles sah und dem kein Fleckchen Boshaftigkeit in meinem kleinen Herzen entging. Diesem Vater konnte man sich auch nicht widersetzen, und das war mir schon von ganz klein auf klar. Er war bedrohlich und grausam und konnte nicht verhöhnt werden. Ewige Feuer würden geschürt werden und jeden Augenblick könnte der Tag des Jüngsten Gerichts kommen. Die Sonntagsschulpredigten, Evangelien-Treffen, die Alltags-Freizeit-Bibelschule hielten mir diese Drohung ständig vor Augen. Sogar die Sommerferien waren nicht befreit von seinen neugierigen Augen. Es schien, dass ich keine 30 Sekunden existieren konnte, ohne dass ein unreiner, gehässiger oder eifersüchtiger Gedanke meine Gebete störte. Ich kam nicht durch meine Gebete, ohne zu zweifeln. Das war auch Sünde, nämlich rückfällig werden. Jeder intellektuelle Fluchtversuch wurde erfasst. Vom engen Pfad abzuweichen bedeutete, mit der Schuld zu leben, Gott zu verlassen, und es bedeutete, die Konsequenzen zu ernten. Du könntest im Schlaf sterben, oder der Klang der Trompete könnte beim Frühstück über dich kommen, wenn du deinen Porridge löffelst oder er, der Herr, könnte nachts als Einbrecher kommen oder wie Superman augenblicklich vor dir auftauchen. Für Ungäubigkeit war kein Platz. Eine andere Ansicht oder Meinung zu haben war verdächtig: Wie könntest du allein Recht haben? Es war selbstsüchtig und arrogant, das auch nur zu denken – Man widersetzte sich dem Dogma seiner Kirchväter. Es gab einen Platz in der Ewigkeit für Rebellen, und der war vom Klang knirschender Zähne erfüllt. Also betete ich voller Angst.

  Meine Nächte waren von Albträumen geprägt und vom Geräusch meines Zähneknirschens. Ich war Bettnässer, bis ich zehn oder elf war. Manchmal wandelte ich im Schlaf, was ein weiteres Zeichen innerer Turbulenz war. Als Junge von zehn und elf Jahren hatte ich zahllose Nächte, in denen ich aus Angst vor dem Höllenfeuer stundenlang nicht einschlafen konnte.

  Der Gottvater im Nebel hatte kein Mitgefühl für Seine Leute. Entweder sie gehorchten oder sie wurden von einem seiner finalen Vollstreckungspläne vernichtet. Einige davon hatte er bereits als Pilotprojekt verwirklicht, quasi als Generalprobe für die Endabrechnung. Es gab die Sintflut; es gab Sodom und Gomorrah. Das nächste Mal würde er Ernst machen. Keine Bewährung mehr. Er war mehr als herzlos und grausam. Er war blutrünstig. Er ließ Tiere für sich töten – anscheinend genoß er es zu sehen, wie die Leute Schafe und Ziegen töteten. Er wurde dann dessen müde und beschloss, er wolle jetzt ein Menschenopfer. Er suchte nach einem menschlichen Sündenbock. Gott konnte Sünde nicht vergeben; man musste sich davon freikaufen. Das war ein fairer Handel in der göttlichen Ökonomie. Wenn jemand das angezweifelt hat – wieso, wer waren wir denn, dass wir seine göttlichen Privilegien in Frage stellten, wir, die wir doch nur Lehm in den Händen des Töpfers waren? Jemand musste für diese Jahrtausende menschlicher Sünde zahlen, und kein Opfer war groß genug außer seinem Sohn, und so musste der die Schuld auf sich nehmen. Er hatte eine Anzahlung auf die endzeitliche Feuerversicherung geleistet.

 

  EIN AKT DES SELBSTBETRUGS

  Es gab ein weltweites Sonderangebot über und unter Bedingungen, die als das ABC des Seelenheils angepriesen wurden. Jeder konnte in diese Feuerversicherung einzahlen, um die feurige Endabrechnung abzuwenden. Die Feuerversicherungverkäufer predigten von der Kanzel. Beeilt euch, zögert nicht, ihr könntet heute nacht nach Hause gerufen werden – die letzte Trompete könnte jede Sekunde ertönen, also riskiert nichts. Nehmt euer kleines Extra – keine Verpflichtung – ihr müsst euch nur ganz und gar selbst verleugnen und zum Vater kriechen. Er mochte es, wenn man ihm zu Füßen kroch. Er mochte zerbrochene Seelen und zerknirschte Herzen wie mein Dad.  Auf den nie endenden Revivals und Zurück-zu-Gott-Veranstaltungen bedeutete das in der Regel, dass man im Publikum aufstand und erklärte, wie sündig man gewesen war, und dass man sich vor allen Leuten zum totalen Arsch machte.

  Die Feuerversicherungsfanatiker waren gut vorbereitet auf die sturen Kerle in den Bankreihen. Sie schalteten einfach auf ihre andere Rolle um als Magier und Scharlatane und hypnotisierten ihre spirituellen Gefangenen mit vorhersagbaren aber effektiven Psychotricks. Ein Chor summte lieblich das „Amazing Grace“- eine rechtzeitige Gedächtnishilfe durch die Lautsprecher, dass Jesus mit offenen Armen auf den verlorenen Sohn wartete - der einen Unglücklichen  wie mich gerettet hat- und dann die Verführung süßer Orgelmusik mit starkem Tremolo – einfach so wie ich bin ohne Bitten - viele werden gerufen – wenige werden auserwählt – ER wartet darauf, euch verlorene Sünder zu empfangen – und dann eine blutrünstige Geschichte über gottlose spaßliebende Teenager, die ihr blutiges Ende in einem rasenden Camarro gefunden haben, der die Rettungsschere erforderte, um ihre zerfetzten Körper frei zu bekommen. „Wo werden sie die Ewigkeit verbringen?“, lautete sein abschließender Gruselspruch.

  Die Tricks funktionierten. Ich stand auf, schmerzverzweifelt, und schloss mich den paar Beschämten an, die sich nach vorne kämpften. Das war der Preis der Akzeptanz. Aber es war eine vergiftete Akzeptanz – die Bedingung war, dass du dein reales menschliches Selbst preisgibst. Du bist betrogen worden. Abgezockt. Jesus hatte im Vorhinein gezahlt mit Scham und Erniedrigung, und jetzt musstest du wieder zahlen. Das war der Abzahlungsplan der Scham, und du musstest immer wieder zahlen, weil sündigen leicht war.

  Also ließ ich meine Selbstachtung, meine Menschlichkeit, mein Leben dort unten auf dem Boden, als ich zum Vater kroch und mich den spirituell geschändeten, den emotional kastrierten, pathetischen Leuten anschloss, die sich voller Scham vor dem Altar drängten. Die waren Gottes heilige Elite, die Absolventen des Selbstbetrugs – eine Gruppe ohne Kontakt mit ihrem realen Selbst, und ihr Leben eine Lüge. Ich weiß, ich war einer von ihnen. Das war keine Freude. Das war kein Friede. Das war keine Akzeptanz. Das war Schande.

  Das war spirituelle Schändung. Ich wurde von einer abscheulichen Transaktion vergewaltigt – ein so raffinierter Schwindel, dass ich ihn glaubte trotz einer kleinen Stimme in mir, die schwach rief, dass ich hier nicht gerne war und weglaufen sollte – dass ich mich selbst betrogen hatte. Es fühlte sich wie eine Falle an, aber ich kannte den Ausweg nicht. Ein innerer Kampf tobte. Die Jahre der Gehirnwäsche riefen, dass die kleine Stimme wolle, dass ich vor Gott davonlaufe. Wenn ich wirklich engagiert wäre, hätte ich nicht diese Zweifel; ich wäre näher an Gott. Nein, ruft die kleine Stimme, ich bin empört über die emotionale Erpressung des geistlichen Terroristen auf der Kanzel, der mich zuerst manipuliert und dann entführt mit seiner rührseligen Geschichte von rückfälligen Teenagern, die irgendwo auf schreckliche Weise umgekommen sind. Immer wieder bin ich dort hingegangen, habe mich selbst verleugnet. Wenn ich nicht ging, fühlte ich mich schuldig; wenn ich ging, fühlte ich mich schrecklich. Die Genesis-Verkündigung, dass der Mensch als Schöpfung Gottes sehr gut sei, hat sich in eine Lüge gewandelt. Er war durch und durch schlecht, und um dieser schrecklichen, sündhaften Natur zu entkommen, musste man sein einziges Leben eintauschen und erniedrigt werden, um in das Königreich einzutreten. Ich war so erleichtert, endlich von dieser inneren Qual wegzukommen, dass ich glaubte,  das sei das Königreich. Es war aber die reine Hölle. Es war Verzweiflung. Die Psyche im Todeskampf. Was auch immer nach der Disziplinierung zuhause von meinem Selbstgefühl übrig geblieben war, wurde jetzt spirituell herausgeschnitten. Ich war das Opfer einer überwältigenden Manipulationsmaschinerie, die meine gesamte Abwehr deaktivierte, meinen Willen terrorisierte, mein Selbstvertrauen untergrub, meine Gefühle zerquetschte und meinen Geist zerbrach. Ich wurde von Schuldgefühlen gequält und von den Nägeln der Furcht, die widerlich süße, lächelnde, bibelschwingende Kreuziger durch mein Wesen hämmerten. Ich war abgestumpft und emotional tot, ans Kreuz der Frömmigkeit geschlagen. Tod durch Kreuzigung der Psyche. Märtyrer des Glaubens. Und ich war nur ein Junge.

 

  DIE NARBEN

  Spannung hatte sich über viele Jahre in meinem Körper aufgebaut. Unter Psychiatern wird Bettnässen weitgehend so verstanden, dass es in Beziehung mit emotionalem Stress und Trauma steht. Jahrelang hatte ich an meinen Fingernägeln gekaut. Manchmal hatte ich Nesselausschlag mit fürchterlichem Juckreiz. Mit sieben Jahren hatte ich anhaltende Probleme mit Geschwüren, die ich ohne offensichtlichen Grund bekam, Geschwüre, die primär auf meinem Kopf und Oberkörper ausbrachen. Ich kann sie nur vergleichen mit der „Heiligenkrankheit,“ im Mittelalter ein ziemlich häufiges Leiden unter Glaubenseiferern, die sich aller fleischlichen Freuden enthielten und bei denen manchmal schreckliche Hautprobleme ausbrachen, wenn die Versuchung stark war.

  Meine Albträume waren unerträglich. Manchmal ging ich zu meiner Mutter und sagte ihr, wieviel Angst ich hatte. Aber sie hielt mich nie, um mich zu beruhigen, sagte nur, ich solle versuchen zu schlafen. Ich wusste nicht, was mit mir nicht stimmte. Dieses Trauma, das mir nach und nach zugefügt worden war, manifestierte sich jetzt physisch. Es gab für meine Gefühle kein Ventil, und die zugrundeliegende Wut baute sich immer weiter auf; bald brach sie auf eine neue und schreckliche Weise aus. In der fünften Klasse, als ich zehn war, erwies sich die verleugnete Wut aus Jahren körperlicher Bestrafung und angedrohter Bestrafung, aus spiritueller und persönlicher Zurückweisung, aus spiritueller Belästigung, Schuld, apokalyptischen Terror, emotionaler Erpressung, Einsamkeit, Frustration und emotionaler Verlassenheit als zu viel. Es brachte das Fass zum Überlaufen, dass ich miterleben musste, wie einer meiner jüngeren Brüder wegen Ungehorsams von meinem Vater verprügelt wurde. Die kleine Stimme meines inneren Selbsts kapitulierte in meinem inneren Konflikt. Dieses Ereignis erschreckte und traumatisierte mich so sehr, dass es in meiner Psyche so lebendig ist wie es damals war, und dass die Erinnerung daran bis heute die Tränen fließen lässt.

  Nachdem ich sie so lange verleugnet hatte, schlug mein wachsender verinnerlichter Zorn jetzt mit einer unbewussten Handlungswut zurück, die so immens war, dass sie über jede bewusste Kontrolle oder Willenskraft (an die ich glauben wollte) hinausging. Ich fing an, mir die Haare auszureißen, bis ich zuweilen wirklich keine mehr auf dem Kopf hatte. Das setzte sich über die nächsten achtundzwanzig Jahre fort. Ich hasste mich selbst, aber ich wusste nicht, warum ich mir die Haare ausrieß.

  Das war der wirkliche Preis meiner christlichen Erziehung. Ich war hoffnungslos neurotisch. Meine Wut hatte sich in zwanghaftes Ausagieren abgespalten. Ich war gespalten, und niemand wusste, wie ich geheilt werden konnte, am wenigsten ich selbst. All die Jahre seit damals hat diese Neurose mir diese Gefühle der Erniedrigung, des Schams und Selbsthasses durch dieses sehr symbolische Problem vor Augen gehalten. Man kann ihnen nicht entkommen.

  Ich schämte mich so, dass ich nie jemandem sagte, dass ich ein Problem hatte. Meine Familie wusste es, aber in den nächsten zehn Jahren erzählte ich nie jemandem von meinem Problem. Dass ich ein Problem hatte, war natürlich offensichtlich. Aber ich dachte, es sei mein Fehler. Ich betete einfach, und ich betete innigst, dass Gott mir helfen möge, dass dieses Kreuz von meiner Schulter genommen werde. Der Vater im Nebel hat nicht geantwortet. Aber wie denn auch? Meine Schuldgefühle und mein Schrecken vor seinem intoleranten Blick waren Teil des Molochs, der das Problem ursächlich in Gang setzte. Es wurde nur noch schlimmer.

 

  KÜNSTLICHES CHRISTLICHES LEBEN

  Die Jahre vergingen, und bald wurde die Kirche mein Leben. Jede Woche war Chor, Gebetstreffen, Bibelstudium, Jugend-Kameradschaft, ‚Christliches Bestreben,’ Sonntagsschule, Sonntagskirchendienst. Manchmal gab es am Sonntag kirchliches Mittagessen oder bestimmte Nachmittagsfunktionen. Häufige Revivals und Kampagnen und religiöse Ereignisse in der Schule fügten sich meinem Leben hinzu. Das Radio füllte einen Großteil der Zeitspanne aus, die ich zuhause verbrachte, wo ich noch mehr religiöse Ermahnungen hörte. Sogar Fernseh-Revivals behämmerten mich, das christliche Leben zu leben. Die kleine Stimme meines realen Selbsts wurde gänzlich überdröhnt. Ich hatte eine so gründliche Gehirnwäsche verpasst bekommen, dass mein ganzes Leben sich jetzt nur darum drehte. Die Verleugnung meine realen Selbsts bedeutete, dass ich jetzt ein künstliches Selbst leben musste – mich der feigen ‚Schoko-Arsch’- Christenheit im Bibelgürtel anzupassen hatte und sonderbare Worte daherreden musste aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort – über Hirten und Engel, heilige und teuflische Geister – nichts, das irgendjemand in der Stadt je gesehen hatte. Dieses Leben war nicht echt, weil ich durch Angst und Schuldgefühle dazu getrieben worden war. Von mir wurde nicht nur erwartet, nach den zehn Geboten zu leben, nach der Goldenen Regel und nach der Bergpredigt. Es gab Tausende Gebote. Es gab Predigten von der Kanzel, aus dem Radio, TV, von Danny Orlis, den Gemeindeältesten, von Diakonen und Ministern. Immer von einem anderen oder vom Credo eines anderen. Alles wurde wertgeschätzt, nur nicht meine eigene menschliche Natur, die angeblich von Gott geschaffen worden war aber seither ständig von seinen fanatischen Anhängern schlechtgemacht wurde.

  Die einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu leben, war zu ersticken oder eine Lüge zu leben. Jede Nacht betete ich zu Gott um Sündenvergebung, und ich genoss diese Gebete und wusste sehr wohl, dass ich sie wieder genießen würde. Da ich einen normalen Sexualtrieb hatte, war ich nicht mehr damit zufrieden, mir die aufreizenderen Abschnitte des Liedes der Lieder und anderer Bibelquellen herauszusuchen. Bei den sexuellen Sachen kannte ich alle reizvoll-schlüpfrigen Passagen, Kapitel und Verse. Ich blätterte durch mein Playboy-Magazin – die Bibel hatte ich zeitweise aus meinem Blickfeld entfernt – mit der vollen Absicht, um Verzeihung zu beten, wenn mein Vergnügen vollständig war. Televangelisten schienen kürzlich ähnliche Konflikte gehabt zu haben und lösten sie, wie ich es gemacht habe. Diese Art Heuchelei ist alles, was dir übrigbleibt, wenn du versuchst, deine Menschlichkeit zu verleugnen und einem außerirdischen Evangelium folgst, das die Menschennatur hasst.

  Von Zeit zu Zeit gab es einen Skandal wegen eines Erwachsenen, dem irgendwo ein unmoralischer Lapsus ins wirkliche menschliche Leben unterlaufen war, und viele heuchlerische Gebete wurden für den armen Rückfälligen aufgesagt. Aber diese paar Entgleisten, die entdeckt wurden, waren nicht allein; geheime Sünden und Doppelleben sind die Norm für Leute, die ihre Urtriebe unterdrücken. Der weitverbreitete Missbrauch von Kindern und Ehefrauen, der unter den eifrigsten Gläubigen besonders häufig ist, bekräftigt das.

  Kirchenführer wurden natürlich durch das Hohe Lied in Verlegenheit gebracht. Es sei, sagten sie, ein Gleichnis über die Beziehung zwischen Christus und Kirche, aber ich glaubte ihnen nie. Ich habe einfach nie ganz verstanden, warum diese allegorische Braut von Christus Brüste hatte. Die einzigen Brüste, die unsere Kirche hatte, waren verboten, es sei denn, man war mit deren Eigentümerin verheiratet. Es kam ihnen nie in den Sinn zuzugeben, dass dieses Buch vielleicht, nur vielleicht, eine Zelebration des menschlichen Körpers und seiner Freuden ist, was es so offensichtlich ist.

 

  IN DER FALLE

  Mein erster Versuch, Hilfe zu bekommen (Beten war keine Lösung sondern Teil des Problems), bestand darin, dass ich im Alter von einundzwanzig Jahren einen Psychiater aufsuchte. Seit ich zwölf war, hatte ich keinen normal behaarten Kopf mehr. Zwei Wochen lang hatte ich unter seiner Aufsicht eine Intensivphase mit Aversionstherapie. Diese Therapie ist eine Blamage für den Psychiatrie-Beruf, weil sie nur die zugrundeliegende Ursache unterdückt, indem sie das Symptom behandelt. In meinem Fall wurde das Haare-Ausreißen mit einem regulierbaren selbstverabreichten Elektroschock gegen meine Handgelenke bestraft. Ich wurde angewiesen, die Spannung so hochzudrehen, wie ich gerade noch aushalten konnte. Das war beruflich anerkannter Masochismus. Es war auch eine äußerst nutzlose Behandlung. Eine Elektroschock-Behandlung, die sogar noch barbarischer und destruktiver ist, hatte ich nie.

  Gemäß bestimmter Standards funktionierte ich gut. Ich war Präsident meiner High School gewesen. Jetzt war ich Studenten-Präsident an dem College, das ich besuchte. Ich hatte die College-Zeitung herausgegeben, wurde von meinen Kollegen respektiert und erreichte eine hohe akademische Stellung. Mein Leiden verbarg ich in den vielen folgenden Jahren sorgfältig vor allen Blicken. Als ich zweiundzwanzig, sechsundzwanzig und achtunzwanzig war, trug ich Perücken. Im Alter von dreiundzwanzig und dreißig versuchte ich es mit Hypnotherapie. Ich probierte Akupunktur mit neunundzwanzig, Verhaltensmodifikation mit dreißig, Selbsthynose und subliminale Tonbänder in meinen frühen dreißiger Jahren. Alles erwies sich als vergeblich und verschlimmerte das Problem im Allgemeinen sogar noch, weil es nur die Ursachen des Problems unterdrückte.

  Im Alter von fünfunddreißig begann ich mit Psychoanalyse nach Jung, die zwei Jahre dauerte. Leider erlaubte mir der Psychiater nur, ihn einmal alle drei oder vier Wochen aufzusuchen. Ich begann zu sehen, dass mein Leben eigentlich eine komplette Lüge war. Es gab eine Menge Introspektion, Traumanalyse, Suchen, Lesen und immer Leiden und zunehmenden Selbsthass. Obwohl ich in dieser Zeit viele Einsichten erlangte, waren sie doch seicht und kamen vom Psychiater und nicht von mir selbst, indem ich mich mit meiner eigenen inneren Qual befasst hätte. Die Sitzungen waren zu sporadisch, als dass sie eine Hilfe hätten sein können, und sie brachten mir nicht die Heilung, nach der ich suchte.

  Mein Leiden war nicht nur die Erniedrigung und Peinlichkeit meiner äußeren Erscheinung. Als Kind ging ich nie ins Sommerlager, weil es mir zu peinlich war, mit meinem merkwürdig aussehenden, vorzeitig zur Glatze neigenden Haupt gesehen zu werden. Mit meinem beschämenden Problem zur Schule und in die Kirche zu gehen, wo ich wohl oder übel sein musste, konnte ich noch ertragen. Es gab andere verborgene Strafen, die ich für meine christliche Erziehung zahlen musste. Das ständige Wegschließen meiner Gefühle seit meiner Kindheit bedeutete, dass ich überhaupt nichts mehr fühlen konnte außer Scham,Verwirrung und Selbsthass. Jedes Glücksgefühl, das ich hatte, war irreal, vergiftet von Depression und einer Grundtraurigkeit. Ich konnte überhaupt nicht mehr weinen, seit ich zwölf war. Im Alter von fünfzehn saß ich während der Beerdigung meines Großvaters unbewegt und mit trockenen Augen da. Mit achtunddreißig hielt ich die Beerdigung meiner Großmutter mit Augen durch, die nicht weinen konnten und wollten. Ich konnte nicht lieben. Ich dachte, ich sei mitfühlend, aber innerlich war ich äußerst kalt und fühlte überhaupt nichts. Es erforderte keine Anstrengung, den Schmerz über den Tod meiner Großmutter zu blockieren, und dennoch wollte ich ihren Tod betrauern und beneidete andere, die offen bei ihrem Begräbnis weinten. Mein Mitgefühl war irreal. Ich hatte keine eigenen Gefühle; alles, was ich hatte, waren übernommene Gefühle. Das waren geplante Gefühle, das Diktat eines inneren Richters, der sagte, dass ich liebevoll, fürsorglich und verständnisvoll sein sollte, weil es darum im christlichen Leben gehen sollte. Es war das Beste, das ich tun konnte, aber es war nur ein Akt. Diese Empfindungen waren kein Teil von mir; sie waren nicht in meinem Leben und in meiner Seele verwurzelt. Ich nahm an Anlässen und Kampagnen für soziales Handeln teil, aber das war ich nicht. Ich konnte mein Herz nicht in sie legen, weil ich keines mehr hatte. Ich hatte mich von ihm distanziert, einfach weil mein reales Selbst und meine Gefühle Jahre zuvor beschnitten worden waren. Alles, was mir geblieben war, war eine unbewusste Wut über meinen Verlust, die sich darin manifestierte, dass ich mir die Haare ausriss. Ich habe keine Wut gefühlt, als ich mir die Haare ausriss. Nur wenn ich in den Spiegel schaute, war ich zuweilen so erzürnt, dass ich mich selbst anschrie. Ich versuchte mich zu ändern, aber es war vergeblich. Ich war unglücklich, einsam, wütend und frustriert. Das Leben war düster und grau, und trotz meiner jugendlichen Energie, meines Antriebs und Ehrgeizes brannte ich aus bei allem, was ich tat, weil ich mein Zentrum, den Kern meiner Menschlichkeit verloren hatte.

  Intellektuell hatte ich mich vom fundamentalistischen Christentum abgewandt, als ich die High School verließ, aber der Schaden ging weit über den rationalen Intellekt hinaus. Ohne zu wissen warum, hörte ich mit einundzwanzig Jahren ganz auf, in die Kirche zu gehen. Meine Gründe waren intellektuelle Differenzen und mehr wusste ich nicht, weil ich schon lange zuvor die Wahrheit meiner Emotionen vergessen hatte. Ich war ein Liberaler, ein Agnostiker und wurde ein Freidenker; meine Gefühle jedoch waren eingesperrt und außer Reichweite. Der einzige bewusste Grund, warum ich gelegentlich überhaupt in die Kirche ging, war, Freunde zu sehen, die mich aus meiner Einsamkeit erretten könnten. Der wirkliche Grund, warum ich nicht mehr am Gottesdienst teilnahm, war, dass ich mich sonderbar fehl am Platze und unwohl fühlte; mir wurde das damals nicht klar, aber ich weiß jetzt, dass es deshalb so war, weil mir die Kirche meine Kindheit, meine Jugend, mein Leben genommen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich jedes Mal, wenn ich in die Kirche ging, eine ausgeklügelte hölzerne Farce sah – eine religiöse Kostümparty, wo wirklich alle dieselbe leblose, gesichtslose, gefühllose, unmenschliche Maske trugen. Es hatte etwas Unwirkliches an sich. Auch diese Leute wurden wütend und gewalttätig, aber das geschah nur privat und im Geheimen: „Ein Engel in der Kirche und der Teufel zuhause“ war der Ausdruck, den man manchmal hörte. So viel von dem, was ich in der Öffentlichkeit sah, war nicht real: Es schien nicht wie wirkliche Wut, wirkliche Freude, wirkliches Mitgefühl – keine realen Gefühle irgendwelcher Art. So oft schien die die Freude künstlich, die Kameradschaft erzwungen, die Freundlichkeit hohl, die ‚Gutes-Tuerei“ angetrieben von unergründlichen Schuldgefühlen. Das ist künstliches christliches Leben, ein von Schuld gesteuertes Leben, kein Leben mit Gefühlen, die von Herzen kommen. So vielen Leuten hat man ihre Fähigkeit zu fühlen erstickt, und sie waren genauso tot wie ich. Wenn Menschen aus ihren Gefühlen heraus leben, können sie ihr eigenes Leiden und das Leid in ihren Nächsten fühlen und ebenso das Leid in Tornado-Opfern, die weit weg leben.

  Etwa zehn Jahre später entschloss ich mich erneut, mich im kirchlichen Leben zu engagieren, aber es hat nicht lange gedauert. Es war immer noch dasselbe langweilige, tote irreale, behinderte Leben, das ich immer gesehen hatte. Bei vielen von uns war das reale Selbst vor langer Zeit ans Kreuz geschlagen worden. Aber ich war genau wie sie, nur dass ich nicht mehr an dem absurden öffentlichen Theater teilnahm.

  In den Jahren der Manipulation und Bemühungen, mich anzupassen, war ein riesiges kulturelles Netzwerk aktiv – wie ein Netz, das in der Wildnis über einen Löwen geworfen wird. Die Kreuzigung meines natürlichen Selbsts war so vollständig, dass es Jahre gedauert hat, die Bruchstücke meiner Psyche zu finden, und es wird weitere Jahre dauern, mein von Schuldgefühlen verzerrtes Leben wieder gut zu machen und wieder wie ein Mann durchs Leben zu gehen.

 

  DEN EMOTIONALEN TOD ÜBERLEBEN

  Die Wiederauferstehung des Selbst ist ein einsamer persönlicher Kampf. Meine natürlichen Gefühle, die meine Eltern und die Kirche abgelehnt hatten, indem sie mich zur Anpassung zwangen, und die ich abgelehnt habe, indem ich sie verdrängte, um zu überleben, müssen entdeckt und schließlich erlebt werden. Der Hass, der Zorn, die Traurigkeit müssen gefühlt und akzeptiert werden. Sie sind Teil meines Lebens – wunderbar und gut. Ich akzeptiere jetzt das Kind im Inneren, das ignoriert und manipuliert wurde und das immer noch wütend und verletzt ist. Ich trauere und weine über die Verluste, die ich erlitten habe, über den Verlust menschlicher Liebe und menschlichen Mitgefühls. Die Fähigkeit, diese Verluste zu betrauern, gibt mir das Leben zurück. Langsam, Gefühl um Gefühl, beginnt die Wahrheit durchzuscheinen, wer ich war und was ich unter dieser riesigen Last und fürchterlichen Ungerechtigkeit fühlte.

  Und ich bin wieder lebendig.

  Ich fange an, das Leben wieder als wunderbar, gut, schön und großartig zu sehen. Mein zerknautschtes Selbst wird nie das sein, was es hätte sein können, wenn Liebe und reale Leute mich in meinen Prägungsjahren unterstützt hätten. Da ich in dieser künstlichen menschlichen Umwelt hauptsächlich Manipulation, Angst und Schuld erfuhr, wurden meine wirklichen Bedürfnisse vernachlässigt. Das hemmte mein Wachstum, verzerrte mein Selbstgefühl und erstickte meine Kreativität. So viel Energie, Zeit und Ressourcen habe ich für den Versuch verwendet, die Ganzheit und das Leben zu finden, das vorhanden und startklar war aber niedergetrampelt wurde. Was nicht in die Form passte, wurde abgehackt, oder man ließ es an Nahrungsmangel sterben.

  Aber das Leben ist selten fair. Die Kreuziger kommen nie, um sich um die Leiche zu kümmern. Sie freuen sich hämisch über ihren Seelen-Punktestand wie über die Trefferzahl beim Bowling, und sie denken nie an die Kegelleichen, die ihr feuriger Eifer hinterlässt. Die Sorge für meine abgetötete Seele können nur Menschen übernehmen, die noch immer ihre Gefühle haben und mir somit helfen können, dass ich mich um meine kümmere. Ich konnte mein Leben wiedergewinnen mit der Hilfe von Leuten, die noch immer im Besitz ihrer Gefühle und Menschlichkeit sind. Ich kann Freude, Traurigkeit, Schmerz fühlen – Gefühle, die seit der Kindheit abgetötet worden waren. Mein lange schlummernder kreativer Impuls beginnt aufzublühen, und ich bekomme allmählich eine Ahnung, was meine Lebensleidenschaft sein könnte. Mit der Zeit, wenn ich meinen Weg durch den Schmerz gehe, den meine Neurosen abgewehrt hatten, wird sich, glaube ich, die Wut langsam auflösen, und ich werde mein Leben wieder zurückbekommen.

 

  NACHWORT

  Seit Frühjahr 1999 unterziehe ich mich einer Primärtherapie am Primal Center in Los Angeles. Diese Therapie ist keine Psychoanalyse. Sie konzentriert sich darauf, dass man seine Gefühle im Alltagsleben ausdrückt. Sehr oft lösen diese Gefühle tiefere ältere Gefühle aus, die in anderen Situationen nie aufgelöst worden waren und die andere Menschen einbeziehen. Manchmal bringen sie das ursprüngliche Trauma hoch, das dann wiedererlebt und behandelt werden kann. Es ist ein Prozess, der viele Jahre in Anspruch nehmen kann. Meine Psyche und mein Körper haben sich aus einem Überlebensbedürfnis heraus so lange gegen den tiefen Schmerz gewehrt, dass sie diese Abwehr nicht leicht aufgeben.

  Die traumatische, biblisch sanktionierte Prügelstrafe, die ich miterleben musste und die letztlich mein neurotisches Ausagieren hilfloser, verzweifelter, frustrierter Wut auslöste und mich dazu brachte, dass ich mir die Haare ausriss, tritt jetzt so deutlich hervor. Ich frage mich, wie ich seine Bedeutung für mein Aufwachsen übersehen konnte. Es gab auch die Sehnsucht nach Körperkontakt, über die ich noch immer weine, und das Bedürfnis, in der Menschengemeinschaft so, wie ich war, willkommen geheißen zu werden, anstatt von allen Seiten bedrängt zu werden, ein netter christlicher Junge zu sein. So stehen die Prügel nicht allein da. Sie sind Teil des emotionalen Todes, den ich unter dem kulturell-spirituellen Moloch erlitten habe, der noch immer seine Opfer fordert und manipuliert. Der Kult des fundamentalistischen Christentums setzt sich fort, und seine unbewussten seelenverkrüppelten Opfer leiden lautlos, und viele von ihnen begreifen vielleicht nie, dass sie ihre Lebensfreude verloren haben.

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    Ich sehe schleichende Traumen und aufkeimende Neurosen noch klarer, wenn ich beobachte, wie religiöse Eltern, die dazu entschlossen sind, dass ihre Kinder nicht tolerant erzogen werden, ihre Kinder emotional vernachlässigen. Vielleicht sitzen sie in ihrem halben Dutzend Ausschüssen und Gremien, oder sie haben nur ihre Karriereziele oder ihr Geschäft im Sinn; vielleicht überhäufen sie ihre Kinder mit materiellem Komfort und vernachlässigen dennoch deren reale emotionale Bedürfnisse, indem sie sie leer und einsam zurücklassen. Vielleicht sind sie besessen davon, ein gottgerechtes Leben zu führen, und ersticken sie mit rigidem Moralismus, manipulieren ihr Verhalten und fordern immer mehr Gehorsam. Alles mit den besten Absichten.

  Aber das hat seinen Preis. Langsam, lautlos und ohne offensichtliche Gewalt zerstören sie die Seelen und Wesen ihrer wundervollen, kreativen, energischen Kinder, die sie einst geboren hatten. Jahre später wundern sie sich vielleicht, warum ihre Kinder so gleichgültig ihnen gegenüber sind, so feindselig, so ausdruckslos, so tot, oder warum sie so eigenartige Neurosen, Zwänge, Depressionen haben, wie sie je mit Drogen in Berührung kommen konnten, warum sie schwul geworden sind. Warum sie einen psychischen Zusammenbruch hatten, warum sie versehentlich eine Überdosis genommen haben. Und dann seufzen sie vielleicht, schlagen ihre Hände über dem Kopf zusammen, beten für ihre verlorenen Kinder oder beklagen vielleicht diesen praktischen Sündenbock Satan, der ihre Kinder in die Irre geführt hat. Sehr wenige werden je fähig sein, in den traurigen, abgestorbenen, schmerzgezeichneten Gesichtern ihrer Kinder ihre eigene Verantwortung und die ihrer Religion und Kultur zu sehen

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  Neurose ist die einzige Krankheit auf der Oberfläche dieses Planeten, die sich gut anfühlt. Sie ist das, was wir tun, damit wir uns weiterhin gut fühlen. Niemand will Schmerz leiden, weil Schmerz sich schlecht anfühlt. Neurose und ihr Gerüst der Verdrängung betäubt das Fühlen. Taub fühlt sich gut an – nicht „gut“ im absoluten Sinn, einfach nicht „schlecht.“ Die meisten von uns werden sich damit zufrieden geben, sich „nicht schlecht“ zu fühlen, denn solange wir die Gefühle nicht fühlen, die abgetrennt werden mussten, damit wir überleben konnten, kennen wir den Unterschied nicht. Und das ist verständlich, denn wenn unsere Vorstellungen  voll in Einklang stünden mit unserer inneren Realität, würden wir uns wahrscheinlich die meiste Zeit auf dem Boden wälzen. So lassen wir uns auf einen Teufelspakt ein; wir werden betäubt und fühlen keinen Schmerz und dafür ist das Leben blah, blah. Der Mensch hat dann das Gefühl, dass er dem Leben nichts abgewinnen kann, und sucht in der einen oder anderen Form nach Erlösung oder nach einem Guru.

  Das Problem ist, dass der Grundmechanismus der Neurose selbst uns glauben lässt, dass wir uns den Weg aus der Neurose herausdenken können. So produzieren wir mehr und bessere Gedanken, die bei der Umleitung des Schmerzes helfen. Und wenn wir schwächeln – wenn die undefinierten Peiniger im Inneren anfangen uns zuzusetzen – dann suchen wir Zuflucht beim Alkohol, bei Drogen, einem Bodybuilding-Kick, bei der neuesten magischen Diät, einem neuen Wildnisabenteuer, bei einem „besonderen Freund“, der kosmische Information „kanalisiert“ und uns (jetzt zumindest) überzeugt, dass wir uns selbst lieben und Hoffnung haben sollen. Oder wir begeben uns auf einen neuen Kreuzzug, klassifizieren uns in Sprüchen und Programmen, werden zu Bekehrten und Missionaren, machen mit beim neuesten 12-Schritt-Programm, erzählen uns selbst und anderen, dass wir „einfach nein zu Drogen sagen sollen.“ Oder wir entwickeln Zwänge, die Formen von Glaubenssystemen sind. Und denken Sie daran, Zwänge sind das Rüstzeug, das uns freundlicherweise vom linken präfrontalen Areal zur Verfügung gestellt wird, um schmerzvolle Gefühle zu unterdrücken. Wenn Zwänge nicht mehr kompensieren, wenn sie nicht mehr wirken, stoßen wir an Wahnvorstellungen und Psychose. Es ist noch immer dieselbe Zone involviert, nur dass sie jetzt bis zum Äußersten getrieben worden ist. Aber es ist keine andere Krankheit; dieselbe Krankheit, nur verschlimmert.

  Maryjo, eine Frau, die wir behandelt haben, musste die Schlösser zuhause zwanzig Mal am Tag überprüfen. Ihr Glaube war: „Wenn alles abgeschlossen ist, fühle ich mich sicher.“ Ihre Türen waren immer verriegelt, aber sie fühlte sich nie sicher. Weil das Grundgefühl, mit dem sie aufwuchs, das der Unsicherheit war. Sie lebte mit einer labilen Mutter und einem schwer depressiven Vater zusammen, und somit gab es niemand, der ihr ein Gefühl der Sicherheit vermitteln konnte. Als sie sich bei uns sicher genug fühlte, so dass sie das Gefühl tiefer Unsicherheit während ihrer gesamten Kindheit erleben konnte, hatte sie keine Zwangsgedanken mehr. Es ging nicht nur darum dass sie sich bei uns sicher fühlte; sie musste in der Art von Umgebung sein, die den Abstieg zu Schreckensgefühlen zuließ. Sie hatte ein zwanghaftes Glaubenssystem, das hartnäckig war, weil das Gefühl „unsicher“ gleichermaßen hartnäckig war. Hier können wir in Kurzform die direkte Linie zwischen Glauben und Fühlen sehen. In Kultsituationen ist sie oft nicht so direkt und klar.

  Glaubensvorstellungen wie die Reihe von Glaubenssystemen, in denen sich Maryjo gefangen sah  - die Existenz von Gespenstern, „unsichtbare Wesen,“ die sie beobachteten, Vorausahnung, Reinkarnation, das Leben nach dem Tod, der Teufel, tibetanischer Buddhismus, „das Paranormale,“ Zen Buddhismus, „Erfahrungen,“ „das Unbekannte,“ Vorleben-Hypnose“ – helfen dabei, die Vergangenheit zuzudecken und uns ahistorisch zu machen. Es ist dann kein Wunder, dass wir nicht anerkennen können, dass ein Vergangenheitsleiden, das in unsere Physiologie eingeprägt worden ist, unsere Glaubensvorstellungen nährt. Die Kraft unseres Glaubens hilft uns, die Kraft verborgenen Kindheitsschmerzes nicht zu sehen; paradoxerweise jedoch liegen die Gefühle in diesen Vorstellungen. „Eine Katastrophe kommt auf uns zu. Wir müssen uns vorbereiten!“ ist eine Aussage, eine Vorstellung und ein Gefühl. Wenn wir den Glauben nicht mit dem Gefühl verknüpfen, nimmt er ein Eigenleben an. Und der Fehler ist, ihn zu behandeln, als habe er ein eigenes Leben ohne Verknüpfung in die Vergangenheit; wurzellose Gedanken, die nicht in der Geschichte verankert sind.

  Im Glauben versunken bleiben wir im Dunkeln, erkennen nicht, dass es die hartnäckige Natur der Abwehr ist, die diese Glaubensvorstellungen unerbittlich macht, die biologische Notwendigkeit, den Schmerz niemals ins Bewusstsein aufsteigen zu lassen. Selten kommt es zu der spontanen Erkenntnis, dass unser gegenwärtiger Zustand davon abhängt, was vor langer Zeit früh in unserem Leben geschehen war. Wir bevorzugen glückliche Gedanken, positive Auffassungen und beruhigende Ideen, die nicht nur das Leben erträglich machen sondern auch Hoffnung auf ein besseres Leben beinhalten. Immer die Hoffnung. Wenn wir nicht glauben, dass das ein weitverbreiteter Impuls ist, müssen wir nur auf die Popularität von Ronald Reagan zurückblicken, der ewige Optimist, der sich auf Hoffnung und Zukunft konzentrierte.

  „Sag’ einfach nein zum Alkohol. Sei alles, was du sein kannst. Wir müssen dem Reich des Bösen standhalten. Das heilige Feuer muss vierundzwanzig Stunden am Tag brennen.“  Der Gläubige lebt von Sprüchen. Wenn Sprüche dem Verstand entgegenstehen, dann gibt es keine Auseinandersetzung. Vertraue Gott. Sprüche sind mühelos, beinhalten geistlose Erinnerung und werden nicht von Introspektion behindert. „Sorge dich nicht, sei glücklich.“  Zaubersprüche lassen sich leicht lernen, sofort aufsagen und haben eine unbeschreibliche Magie an sich. „Nam-myoho-renge-kyo.“ Sie scheinen sich über alle Bewusstseinsformen “zu erheben,” Verstand und Logik zu überschreiten. Sie helfen uns, uns selbst zu vergessen. Ommmmmmmm.

  Wir greifen gerne nach einem abgepackten Ideen-Satz, der in Sprüche eingewickelt ist, sofern ein Nachlassen damit einhergeht. Wir machen das, wenn wir unsere Mitte verloren haben. Der Sprücheklopfer, der Mensch, der zu Beginn jeden Tages oder beim ersten Anfall emotionalen Unbehagens sein Mantra oder Gebet herauszieht, glaubt nicht mehr an sich selbst und seine Gefühle; er glaubt an die Parolen. Er glaubt nicht an sich selbst, weil er sich selbst nicht kennt und nicht weiß, wo er dieses Selbst finden kann. Er hat den Kontakt verloren zu diesem einzigen realen Führer zum wahren anstatt zum illusorischen Bewusstsein. Es scheint eine Gleichung zu geben: Mehr Bewusstsein, weniger Glauben; weniger Bewusstsein, mehr Glauben. Denken Sie daran, Glauben beinhaltet Bewusstheit, die dritte Linie, nicht Bewusstsein.

  Die Gesänge, die Beschwörungen oder Sprüche werden zum Synonym, zum Mantra, das dem Gläubigen ermöglicht, sich zu entspannen, Erfolg zu haben und sogar einen „Zustand der Glückseligkeit“ zu erreichen. Weil der Gläubige etwas will, das sich über das bloße sterbliche Leben erhebt, hofft er darauf, ein „höheres Bewusstsein“ zu erlangen. Auf dem Weg zu diesem Heiligen Gral, nach Oz (und weg von sich selbst) ersetzt die Litanei das analytische Denken. Folge der Yellow Brick Road. Magische Sätze verdrängen Refexion und Introspektion. Folge, folge, folge, folge, folge der Yellow Brick Road. Der Gläubige sucht mit leerem Verstand Zuflucht in der Meditation, anstatt mit aktivem Verstand einen gründlichen Blick in sein Selbst zu werfen.

  Sprüche, Litaneien, meditative Zustände, zwanghafte Übungen sind attraktiv für Seelen, die vom Schmerz ausgelaugt worden sind. Der Beschwörungsspruch ersetzt eine hoffnungslos komplizierte Welt. Er ist ein Führer für Leute, die in ihrer Kindheit nicht geführt worden sind, Schutz für diejenigen, die sich unbeschützt und unsicher fühlen. Paradoxerweise will der Neurotiker nicht mehr wissen; er will weniger wissen, so dass er es nicht weiß. Er will neue Fakten lernen, neue Techniken, sodass er unbewusst bleiben kann.

  Wenn jemand ständig von unsichtbaren, unbewussten Kräften angestoßen und gequält wird, ist der Glaube an Magie unvermeidlich; er entsteht aus Verzweiflung. Anstatt dieses kummervolle Terrain im Inneren zu erforschen, flüchten wir uns in symbolische Suche, suchen Antworten im „Unbekannten.“ Wir brechen auf, um den wundervollen Zauberer von Oz zu sehen. Glaubenssysteme bieten eine Zuflucht für die emotional Verwaisten und psychisch Heimatlosen. Doch zu glauben, dass ein paar besondere Worte oder Klänge das Leben ändern, zu glauben, dass die Yellow Brick Road ins Seelenheil führt, ist rein magisches Denken. Der Grund ist, dass der wahre Gläubige sich völlig unbewusst dessen ist, was sein Leben ursprünglich verändert hat.

  Wenn er diese einfache Tatsache kapiert hat – dass frühe Erfahrungen mit seinen Eltern seine Persönlichkeit unabänderlich geprägt haben, ihn anfällig für Glaubensvorstellungen gemacht haben – dann ist es ein einfacher Schritt zu verstehen, was sein Erwachsenenleben wirklich umändern wird. Und dieser einfache Schritt ist keine Litanei oder Beschwörung. Er wird damit zu tun haben, dass man sich dem zuwendet, was uns ursprünglich verändert hat. Welche dunkle innere Wahrheit es war, die die Neurose gebar, um zu verhindern, dass die Realität des Selbst das Tageslicht erblickt. Die echte Straße zur Erleichterung kurvt nach innen anstatt in die Ferne aufzusteigen. Eine unserer Patientinnen hatte in der Tat ein liebevolles Elternhaus, dennoch stand sie auf „Channeling,“ nach meiner Meinung eine psychotische Borderline-Wahnvorstellung. Einige Monate, nachdem sie mit der Therapie angefangen hatte, erlebte sie einen gewaltigen Schrecken wieder und konnte ihn nicht verstehen. Wochenlang erlebte sie diesen gestaltlosen Schrecken wieder. Sie sprach darüber mit ihrer Mutter, die ihr mitteilte, dass sie in ihrem achten Schwangerschaftsmonat in einen fürchterlichen Autounfall verwickelt war, bei dem sich der Wagen mehrmals überschlug. Wochenlang war sie vor Angst wie versteinert, auch weil die Mutter mit ihrem Bauch hart gegen das Lenkrad stieß. Als die Patientin weiterhin ihren Schrecken wiedererlebte, verlor sie allmählich ihre bizarren Ideen und auch ihre Angst vor beengten Orten. Wir können nie sicher sein, was was verursacht hat, aber Gefühle scheinen diese Unsicherheit verschwinden zu lassen und die Verknüpfung für uns herzustellen. Sie war ständig verschreckt und wusste nie warum. Sie hatte eine Phobie nach der anderen. Wir wären im Traum nicht auf  ihren wahren Ursprung gekommen. In ihrem Wiedererlebnis gab es keinen Namen und keine Szene, nur pures Entsetzen.

  Oz ist ein Trick, der Zauberer eine Illusion, ein Trick mit Spiegeln und künstlichem Rauch, den ein Scharlatan erzeugt, der Knöpfe drückt, Hebel zieht und Verführungstechniken anwendet. Dorothy wacht aus ihrem Traum auf (aus ihrer Glaubenssuche), und zwar mit noch einer widerhallenden Litanei -  „There’s no place like home........Zuhause ist es am schönsten.“ Was hatte sie auf diese Glaubenssuche geschickt?  - Ein Tornado (emotionaler Aufruhr), der ihr Haus (sie selbst) aus den Grundfesten schüttelt. Leute, die sich immer mehr den Glaubenssystemen widmen, werden schließlich zu ihren Gefangenen. Sie sitzen in der Falle. Der Glaube beengt das Verhalten und lässt keine Freiheit oder Spontanität zu. Der Gläubige will keine Spontanität. Er traut seinen Gefühlen nicht. Er will, dass man ihn führt und ihm sagt, was er zu tun hat und was nicht. Nichts ist leichter und üppiger verfügbar als Glaubenssysteme, weil nichts so grenzenlos ist wie Selbsttäuschung.

  Der Mensch verwickelt sich in ein Gedankengeflecht, das ihn bindet; je labyrinthischer umso besser. Er ist jetzt ein Gefangener seiner Vorstellungen, und er begibt sich willig in seine Sklaverei, weil seine Sklaverei auch seine wichtige Abwehr ist. Es erinnert mich an Leute, die in Stahlkäfigen nach Haien tauchen. Sie haben keine Bewegungsfreiheit, aber Tatsache ist, dass die Haie nicht zu ihnen  können. Ihr Stahlgefängnis ist ihre Abwehr. Chemische Gefängnisse sind genau so stark wie diese stählernen. Sie lassen nur wenige Verhaltensalternativen zu. Glaubensvorstellungen sind das psychische Äquivalent der Verdrängung, der Lavafluss innerer Explosionen. Man kann den Fluß umleiten, aber man wird dadurch die Vulkanaktivität nicht ändern. Wir können die Explosion mit Gedanken deckeln, aber es besteht immer die Gefahr eines weiteren Ausbruchs; manchmal erfolgt er in Form eines Anfalls, ein ander Mal findet er sich wieder in noch bizarreren Ideen.

  Was der Neurotiker sucht, kann nie geschehen. Niemand kann für einen anderen einen Sinn herstellen. Kein Führer, Guru, Therapeut, Mantra kann bewirken, dass wir uns geliebt, wichtig, erstrebenswert oder wertvoll fühlen. Man kommt nicht mit dem Gefühl von Wertlosigkeit auf die Welt. Es entsteht nicht aus der genetischen Kodierung sondern aus der Lebenserfahrung. Wahrscheinlich haben Ihre Eltern Sie nicht geliebt oder Ihnen nicht das Gefühl vermittelt, dass Sie wertvoll sind, sodass Sie sich jetzt liebensunwürdig fühlen. Es ist  einem Kind unmöglich, authentisch zu fühlen, wie das geschah (anstatt sich dessen nur intellektuell bewusst zu sein), die frühen Augenblicke wiederzuerleben, die unser Selbst erschüttert hatten, wirklich zu akzeptieren, dass wir ungeliebt waren und nie geliebt werden, und dass das Leben ohne Bedeutung oder Hoffnung ist. Vor diesem Schmerz laufen wir davon: beschäftigen uns zwanghaft mit Türschlössern oder Diäten oder Geld, glauben an Geister und fürchten den Teufel, schaffen Feinde in der Welt um uns herum als Symbole unserer inneren Dämonen, verfallen dem Alkohol oder werden drogenabhängig, summen Mantras, um die quälenden Geräusche in uns zu unterdrücken, konsultieren Rückführungs-Hypnotiseure, um herauszufinden, wer wir einst waren (anstatt wer wir sind).

  Weil wir Angst davor haben, unsere innere Realität zu betrachten, suchen wir nach uns selbst, indem wir quer über die Kontinente und in die Zeit zurück reisen. Ohne Kontakt zu uns selbst und ewig bedürftig begeben wir uns in die Hände eines anderen und fühlen uns „im Reinen.“ Er hat die Antwort. Doch es gibt keine Antwort, weil es keine Frage gibt. Es gibt keine von außen kommende Lebensbedeutung. Keinen anderen überspannenden Lebenssinn als das, was wir leben und was wir fühlen. Bedeutung ist immer an Erfahrung gebunden – an persönliches Fühlen. Das Leben ist da, um zu leben, und nicht als Problem, das gelöst werden muss. Wenn wir nicht wirklich leben, dann erst stellen wir die Frage, was der Sinn des Lebens sei.

  Der einzige Friede ist der absolut fließende Zugang zwischen Bewusstseinsebenen. Diesen Zugang zu erlangen bedeutet, die biologischen und psychischen Vernichtungskriege aufzuhalten, die uns in Glaubensgefängnisse bringen. Wir glauben an Stelle vollen Bewusstseins. Man kann das eine oder das andere haben, nicht beides, weil es unvereinbare Wesen sind. Volles Bewusstsein (nicht im Sinne von „höherer Bedeutung“ oder von „den unbekannten Kräften im Universum“ sondern vielmehr im Sinne des Selbst) ist das Gegenmittel für irreale Glaubenssysteme; der Rückweg von der Irrealität zur Realität.

  Im nächsten Kapitel werde ich die physiologischen Prozesse beschreiben, mit denen wir Gefühle verdrängen, und wie defensive Glaubensvorstellungen sich in unsere biologischen Abwehrmechanismen einfügen. Unser Intellekt lässt sich täuschen, unsere Gefühle lassen sich manipulieren, unsere Wahrnehmungen verwirren und unser Körper sich überlisten durch Medikation. Aber eines Tages wird der Körper uns seine Rechnung präsentieren, denn er ist so unbestechlich wie ein Kind, das noch gesund in der Seele ist und keinen Kompromiß oder Entschuldigung akzeptiert, und er wird nicht aufhören uns zu quälen, bis wir aufhören, uns der Wahrheit zu entziehen.

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  (9)  J. S. Price, and R. Gardner Jr., "Does Submission to a Deity Relive Depression?"  Philosophical Papers and Reviews 1, no. 2 (2009): 17-31 .

 Ende des Kapitels

 

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