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Dr. Arthur Janov:   Beyond Belief: Cults, Healers, Mystics and Gurus - Why We Believe

LLC Reputation Books, ISBN-10: 0986203173, 03. Mai 2016

Schlusswort 

Der Tod der Hoffnung ist die Geburt des Lebens

Die Wahrheit über unsere Kindheit wird in unserem Körper gespeichert, und obwohl wir sie verdrängen können, können wir sie niemals ändern. Unseren Intellekt kann man täuschen, unsere Gefühle manipulieren, unsere Wahrnehmung verwirren und unseren Körper mit Medikamenten austricksen. Aber eines Tages wird der Körper seine Rechnung präsentieren, denn er ist so unbestechlich wie ein Kind, das seelisch noch gesund ist und deshalb keine Kompromisse oder Entschuldigungen akzeptiert, und er wird nicht aufhören uns zu quälen, bis wir aufhören, uns der Wahrheit zu entziehen. Wie in der Bibel verkündet: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Johannes 8:32).

Wir hören von den dramatischen, entsetzlichen Fällen: Väter, die ihre Töchter vergewaltigen, Mütter, die ihre Kinder misshandeln und im Stich lassen, die Waisen, aus denen Psychopathen werden, die wutentbrannten Kinder, die ihre Eltern ermorden. Aber was häufiger geschieht, ist die schleichende Vernachlässigung und Deprivation, mit denen unsere Eltern so viele von uns heimsuchen. Langsam, lautlos, ohne offensichtliche Gewalt, zerstören sie die Seelen und Gemüter der wundervollen, kreativen, dynamischen Kinder, die sie einst gebaren. Jahre später fragen sie sich vielleicht, warum ihre Kinder ihnen gegenüber so gleichgültig sind, so feindselig, so ausdruckslos, so tot, oder warum sie so sonderbare Neurosen und Zwänge haben, warum sie schwul wurden, warum sie so depressiv sind, warum sie einen psychischen Zusammenbruch hatten, wie sie nur den Drogen verfallen konnten, warum sie versehentlich eine Überdosis nahmen, wie sie zu Gläubigen und Fanatikern werden konnten. Und vielleicht seufzen sie, schlagen die Hände über dem  Kopf zusammen, beten für ihre verlorenen Kinder; oder sie beklagen, dass andere - vielleicht dieser praktische Sündenbock Satan - sie vom rechten Weg abgebracht haben. Sehr wenige werden je in den traurigen, abgestumpften, gequälten Gesichtern ihrer Kinder ihre eigene Verantwortlichkeit sehen können.

 

"Ich möchte nur gerne wissen, wer ich bin - das ist der Mensch, den ich fühlen möchte."

 

Elisabeth, deren Geschichte wir im zweiten Kapitel lasen, ist sehr wortgewandt. Sie weiß, dass sie nichts von dem, was sie brauchte, von ihrem Vater bekam und dass ihre hysterische Mutter ihr schreckliche Angst einjagte. Sie weiß, dass sie sich in eine Art "Koma", wie sie es nennt, zurückzog. Sie war "nicht der Mittelpunkt ihrer Existenz," weder als Kind noch in ihren zwölf Jahren als Schülerin eines Gurus aus Indien. Auch zehn Jahre später "weiß" sie nicht, wer sie ist. Sie fängt jetzt an zu fühlen, und wir glauben, sie wird wiederfinden, was sie vor langer Zeit verloren hat. Man kann sprachlich sehr gewandt sein, aber der wortreiche Intellekt, der ständig nach Bedeutung greift, ist ein armseliger Ersatz für tiefempfundenen Kontakt mit dem, was wir fühlen. Wie ich zuvor sagte, sind Bewusstheit und Bewusstsein keine Synonyme.

Wenn uns erst einmal wirkliche Bedeutung - Liebe, Zuwendung, Zuneigung, Akzeptanz - verwehrt wurde, neigen wir dazu, uns bedeutungslos zu fühlen. Uns ist nicht nur diese ganze Liebe verwehrt worden, sondern sie wird dann auch verinnerlicht und geleugnet. Diese Verleugnung erzeugt Sinnlosigkeit; sie ist das Ende vollen Fühlens. Und die Suche nach Sinn im Leben beginnt. Weil niemand glauben will, dass Leiden ein Teil des Lebens ist. Niemand will akzeptieren, dass dies eine gleichgültige Welt ist, dass die Existenz keinen Zweck hat, dass das Leben aus nicht viel mehr besteht als einem harten Arbeitstag, einem Streit mit dem Ehepartner und einem Drink zum Abschalten. Ein Mann, der in den Armen eines Freundes von mir starb, wandte sich ihm zu und sagte: "Und das ist alles?"

Gibt es keinen "höheren" Lebenssinn? Ich glaube nicht. Das Leben hat keine Bedeutung; Erfahrung hat Bedeutung. Das Leben ist weder ein Konzept noch eine Abstraktion; es ist eine Erfahrung. Es hat keine besondere Bedeutung, die darauf wartet, von Philosophen entdeckt oder von weisen Männern übermittelt zu werden. Es besteht nicht aus Fragen und Antworten, es ist kein zu lösendes Problem sondern etwas, das erlebt wird. Es ist, was wir von Augenblick zu Augenblick denken und fühlen. Wir sind der Sinn der Erfahrung. Man muss nicht nach ihm suchen. Je mehr wir indessen fühlen, umso bedeutungsvoller ist unser Leben. Sobald ein Mensch sich selbst findet, hat er alle Bedeutung gefunden, die es gibt.

Aber wenn man gefühllos ist - wenn man auf der Flucht vor "der Wahrheit über unsere Kindheit, die in unserem Körper gespeichert wird," in seinem Intellekt lebt - dann ist man zugleich bedeutungslos. Kein Glaubenssystem kann Elisabeth einen realen Sinn anbieten - weder Katholizismus oder politische Ideologie noch Drogen oder Hingabe an ihren Guru. Wie so viele Suchende sucht sie Sinn oder Bedeutung im Glauben, weil sie nicht wissen, dass sie alle Antworten in ihrer eigenen persönlichen Hülle bereit halten. Alle Antworten liegen nur ein paar Millimeter tiefer im Gehirn.

Es gab so viel Schmerz, dass Elisabeth ihn auf sich allein gestellt nicht fühlen konnte. Wir verbringen Jahre und Jahrzehnte mit Suchen, Lesen, Studieren und Erfinden von Bedeutungen, wenngleich es alles nur einen tiefen Atemzug entfernt liegt.

Glaubensüberzeugungen sind die Lügen, die wir uns selbst erzählen, um nicht hoffnungslos zu sein. Aber das Teuflische an all dem ist, dass es keinen Willensweg gibt, zu sich selbst aufrichtig zu sein - den Mensch zu fühlen, der du bist. Sich selbst zu belügen ist im Großen und Ganzen keine bewusste Entscheidung. Wir beschließen nicht, wahnhaft zu werden; es ist eine Entscheidung, die von Schmerz herrührt. Dennoch bedeutet Neurose, dass man sich ständig belügt, weil Aufrichtigkeit mit dem Selbst bedeutet, wieder unter Schmerz zu stehen. Anstatt die schwarze Leere zu fühlen, die sich in den verborgenen Spalten des Unbewussten sträubt, erhebt man sich über Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit hinaus in religiöse Bekehrung - Rettung auf dem Gedankenweg.

Jedenfalls gibt das Unbewusste seine Wahrheiten nie bereitwillig auf. Sie werden immer sorgfältig eingewickelt in Verdrängungs-Verpackungen und verbleiben abgespeichert und gut bewacht in den Gefühlszentren des Unbewussten. Das Unbewusste missgönnt uns seine Wahrheit, analysiert sie vorsichtig, immer sorgfältig darauf bedacht, uns nicht mit zu viel Realität durcheinanderzubringen. Es gibt eine Art Gleichgewicht im System, die wir nie vergessen dürfen. Für diejenigen von uns, die von frühem Trauma überwältigt wurden, gilt, dass eine Glaubensüberzeugung vom System verlangt wird. Biologische Notwendigkeit trifft die Entscheidung für uns und zwingt den Kortex in den Dienst. Glaubensüberzeugungen, die der Kortex hervorzaubert, halten das System in einer Art disharmonischen Harmonie, wenn man so möchte. Wir sind nicht der Mittelpunkt unserer Existenz, aber wenigstens sind wir nicht der schmerzvollen Einprägung im Zentrum unseres Unbewussten ausgeliefert.

 Sobald der Schmerz da ist, werden wir zu einer veritablen Bilderfabrik, die in großer Hast Ersatzartikel herauspumpt. Was das fühlende Gehirn in der Phylogenese machte, ist, was es heute macht, wenn es "höhere Wesen" und kosmische Wahrheiten aufsucht. Der Kortex stürmt herbei, um diese Glaubensvorstellungen zu kreieren, weil er die Raffinesse besitzt, indirekt und umschreibend zu sein. Er verhökert das Gefühl mit Bergen von Bagatellen und Banalitäten. Er erstickt die Emotionen mit Plattheiten und erwürgt das Leben in kindlichen Bedürfnissen, Wünschen, Sehnsüchten und Enthusiasmen mit komplexen Religionen und komplizierten Ideen. Er nimmt diese Bedürfnisse und Gefühle und filtert sie durch eine Membran von Konzepten und Philosophien, so dass das, was am anderen Ende herauskommt, gesäubert, devitalisiert, sicher, irreal und unbedrohlich ist. Dann nehmen Ideen ein Eigenleben an. Deshalb können wir nicht mit anderen über Politik oder Religion diskutieren, ohne uns "total über sie aufzuregen." Hinter diesen Argumenten liegen mächtige Gefühle.

Schmerz und seine Verdrängung ermöglichen uns, unsere Menschlichkeit mit unserem Leiden hinter uns zu lassen und zu versuchen, eine Art Leben durch unseren Kortex auszuleben. Sie zwingen uns zuzulassen, dass andere die Regie über unsere Realität übernehmen. Sie sind der Grund, warum so viele Leute das Gefühl haben, dass sie in einer Art Glashaus leben, unfähig, mit dem Leben draußen Kontakt aufzunehmen. Es ist, als würden wir hinter einer Barriere leben und könnten nicht ins Wesentliche des Lebens gelangen und wüßten nicht einmal, warum dies so ist. Wir spüren das Leben nicht, weil wir wie Elisabeth unsere eigenen Gefühle nicht fühlen.

Die bedeutungslosesten Individuen, die ich gesehen habe, sind die Depressiven, die oft fragen: "Was hat das alles für einen Sinn? Einfach alles scheint so zwecklos." Sie sind auch diejenigen, die ihre Gefühle tief verdrängt haben. Wenn wir unser eigenes Erleben nicht fühlen können, dann fehlt unserem Leben bestimmt die eigentliche Bedeutung - und wir sind gezwungen, nach dem Magischen, dem Mystischen, dem Mysteriösen zu suchen, nach allem, das die Realität verschleiert, dass wir uns hoffnungslos fühlen, hoffnungslos aus ferner Vergangenheit, als wir Liebe fürs Leben brauchten und keine bekamen. Wir analysieren unsere Träume, weil sie uns nicht wehtun. Wir spielen Konfrontationstherapie, weil es wirklich nur ein Spiel ist. Wir lassen uns hypnotisieren, weil wir währenddessen nicht einmal wach oder bewusst sein müssen. Wir machen Einsichtstherapie, so dass wir unsere Krankheit verstehen können, ohne sie zu fühlen. Glaubensvorstellungen können uns Sinn oder Bedeutung vorgaukeln, aber kein Glaube macht mehr, als die Wahrheiten zu verdecken, die in unsere Zellen eingeschrieben sind. Ich sage oft zu meinen Patienten: "Ich werde euch nichts beibringen, weil alles, was ihr über euch selbst lernen wollt, im Inneren bereitliegt und nur darauf wartet herauszukommen".

 Die Wahrheit ist, dass Elternliebe  das beste Gegenmittel für Sinnlosigkeit ist. Wer sie nicht bekommen hat, wird sie nie finden, egal, wo er oder sie sucht. Durch einen Willensakt kann man sie nie bekommen. Glaube mitsamt seinem verlockenden Kernstück "Hoffnung"  kann keine Liebe bewirken. Wir irren uns, wenn wir denken, der Glaube gebe uns Hoffnung, und diese Hoffnung motiviere uns und mache das Leben sinnvoll. Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass jemand anderer die Antwort auf das Leben hat, dass ein anderer mehr darüber weiß als wir selbst, was in unseren Körpern vor sich geht.  Leute, die für gewöhnlich brilliant sind, halten sich blindlings daran, solange sie Hoffnung verspüren.

Ich aber gebe zu bedenken, dass das Gegenteil wahr ist. Der Glaube an Hoffnung ist defensiv. Er ist die unbewusste Hoffnung auf Erfüllung alter unbefriedigter Bedürfnisse. "Jesus rettet" nur temporär. Was befreit, ist der Tod der Hoffnung. Henry Miller sagte es vor langer Zeit, als er verkündete, er sei frei, weil alle Hoffnung in ihm gestorben sei.

Hoffnungslosigkeit gibt uns Bedeutung, gibt uns die Freiheit zu fühlen, wer wir sind. Hoffnunglosigkeit bedeutet, Zugang zu erlangen zu den Geheimnissen, die in der finsteren, qualvollen Kluft des Unbewussten begraben liegen; wirklich zu fühlen, dass unsere Kind-Bedürfnisse nicht erfüllt worden waren. Die klägliche Vergeblichkeit von allem, damals, wie sie wirklich war. "Ich werde nie so geliebt werden, so wie ich bin." Schmerz macht uns automatisch aufrichtig zu uns selbst, während er mit irrealen Glaubenssystemen aufräumt. Sobald man ihn fühlt, gibt es Erwartung, Vorahnung, aber selten "Hoffnung." Wir haben uns mit der Hoffnungslosigkeit des neurotischen Kampfes abgefunden. Wir haben nie bekommen und werden nie bekommen, was wir als Kind brauchten. Das ist qualvoll und gleichzeitig befreiend. Befreiung vom Drängen archaischer unbefriedigter Bedürfnisse bringt den Tod der Hoffnung mit sich. Der Tod irrealer Hoffnung ist die Geburt des Lebens.

Ein Korrespondent drückte es so aus: "In postmodernen Zeiten sind Glaubensvorstellungen zu einer Handelsware geworden, indem sie vermarktbare Ideen produzieren. Das ist Big Business. Propheten, Offenbarungen, Schriften und ihre Deuter sind anscheinend überall. Die Verfechter der Wahrheits-Enthüllung hatten eine Menge Sendezeit über die Jahrhunderte." Ich habe den Weg aus diesem Morast aufgezeigt und biete, wie ich glaube, eine große Antwort an, die eine ganze Lebenszeit von Fragen über den Sinn des Lebens beantwortet, wie man leben, wie lieben soll, und mit wem. Ich habe aufgezeigt, wie Glaubensüberzeugungen uns gegen das Unbehagen verteidigen, mit uns selbst in Kontakt zu kommen, und in gleichbleibender Umkehrbeziehung habe ich gezeigt, dass das Glaubenssystem umso bizarrer und "irrer" ist, je tiefer der Schmerz ist. Je tiefer die Verletzung liegt, umso ausgedehnter ist das Glaubenssystem; es ist eine Möglichkeit, die Schmerzmenge zu bemessen, die wir mit uns herumschleppen. Je tiefer im Gehirn die Einprägung liegt, umso höher im Gehirn, im Neokortex, müssen wir vor ihr flüchten. Wenn die Vergangenheit die Gegenwart nahezu gänzlich auslöscht, haben wir schwere psychische Krankheit. Sind die Kulte, die eine Reise zu einem anderen Planeten planen, um sich mit freundlichen Außerirdischen zu treffen, alle psychotisch? Ja. Je größer der Schmerz, umso mehr sind wir gezwungen, von uns selbst wegzureisen. Im Fall der Kulte wird die Reise wortwörtlich, weil sie erwarten, auf anderen Planeten zu landen.

Die Einprägung ist die zentrale unausweichliche Wahrheit unseres Lebens. Niemand entkommt; sie dominiert alles und verbiegt unser Leben, um es an die Einprägung anzupassen. Sie legt unsere Gedanken an eine Begriffsleine, um zu gewährleisten, dass wir uns nie in die Realität verirren. Die Einprägung ist nicht unbedingt ein epiphanischer Moment. Sie kann das Ergebnis eines zentralen Feelings sein, das Jahre umfasst und Tausende Ereignisse ("Sie mögen mich nicht und wollen mich nicht um sich haben"), die sich zu einem erschütternden Gefühl akkumulieren. Oder sie kann nicht-begrifflich sein, einfach niemand da, der oder die das Kind herzt und liebkost. Über die Jahre ist das eine Qual, die kaum zu überwinden ist. Die Qual des Verlassenseins ist vielleicht die zentrale unbewusste Kraft, die uns in Glaubensgruppen schubst, hauptsächlich um uns das Gefühl zu geben, dass wir dazugehören.

Was das Gehirn fertig bringt, ist, dass es Nachbildungen der frühen traumatischen Umwelt konstruiert, die dann als Filter für jedes neue Ereignis dienen. Es ist dieser Sieb oder Filter, der seine eigene neue Realität aus einer Mischung früher traumatischer Einprägungen gestaltet. Das ist die Realität, an die und keine andere der Mensch schließlich glaubt. Man bleibt immer außerhalb der Umzäunung der Realität. Somit ist die fast tägliche Hauptbeschäftigung der Gedanke an das Außergewöhnliche, das Okkulte, das Bizarre, an Zeitreise, Astrologie, Parapsychologie und - nicht zu vergessen -  an Besucher von anderen Planeten. Es besteht ein übergroßes Interesse an allem, was man nicht beweisen und was man nicht sehen kann. Das ist die fortwährende Nachbildung des Schmerzes, den man nicht sehen kann. Der Gläubige zieht es vor, sich auf das zu konzentrieren, was nur imaginär existiert. Meistens haben diese Interessen keinen Einfluß auf das tägliche Leben und auf die Beziehungen der Person. Sie sind "anderweltlich."

Das Gehirn sieht andauernd die gleichen Dinge, die der Realität trotzen; es sieht Gefahr, wo sie nicht existiert, und reagiert weiterhin mit Angst, auch wenn es dafür keinen Grund gibt. Zum Beispiel kann jede Autoritätsfigur dieselbe Angst auslösen, die das Kind in Gegenwart seiner Eltern fühlte; somit verursacht ein missbilligender Blick eines Lehrers Angst. Deshalb kann der Aufenthalt in einem wohlwollenden Klassenzimmer Schrecken bedeuten. Und der Kortex muss sich eine rationale Erklärung für diese Fehlwahrnehmung ausdenken.

Auf diese Weise ändert Schmerz die Bedeutung der Erfahrung und verursacht, dass man versucht, das alles zu transzendieren, indem man nach neuen Bedeutungen sucht. Es gibt Dinge, die wir nicht zu sehen oder hören oder fühlen wagen, Dinge, die unserem Schmerz ähneln oder nahekommen.

Wir müssen Bedeutungen ersetzen.

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In der Primärtherapie haben wir Werkzeuge, mit denen wir die Richtung der Evolution kontrollieren können. Anstatt ihren unaufhaltsamen Marsch in die komplexen Windungen des Neokortex fortzusetzen, konnten wir genau diese Gefühle wiedergewinnen, die getarnte Botschaften an unsere "höheren Gedankenzentren" sandten. Glaubenssysteme effektiv zu behandeln bedeutet, dass man sich wieder mit Realitäten befasst, die jetzt nur unscharf in unserem Bewusstsein präsent sind. Es erfordert eine Reise durch die Zeit in diese dunklen Höhlen des Unbewussten, die gefüllt sind mit den schmerzvollen Artefakten unseres Lebens. Das ist eine Rückkehr zu den Wahrheiten, die mehr als bloße Fakten sind; emotionale Wahrheiten, die man nie in Tabellen und Graphen präsentieren kann sondern nur durch Erleben. Unsere Erinnerungen tyrannisieren uns; sie formen das reale Programm, das uns bindet. Wenn wir sie entdecken, können wir das Ideen-Programm umdirigieren, in dem wir uns jetzt befinden. Das ist die wahre Bedeutung von Entprogrammierung, denn diese Gefühle bilden eine Schablone, die uns unvermeidlich in Richtung späterer Glaubensüberzeugungen lenken. Damit will ich nicht verneinen, dass eine bestimmte Art von Erziehung sei frühester Kindheit uns ebenso lenkt. Aber wenn wir gut in uns selbst gefestigt sind und Zugang haben zu unseren Gefühlen, wird die ganze irreale Ideenbildung früher oder später von selbst wegfallen, egal, wie die frühe Erziehung war.

Ein Primärtherapeut unternimmt nie einen Versuch, einem Patienten seine defensiven Glaubensvorstellungen auszureden. Vor allem gibt es die Arroganz nicht, die in der Annahme besteht, dass die Glaubenssysteme des Therapeuten realer seien als die des Patienten. Was wir jedoch machen, ist, dass wir dem Patienten helfen, gewisse Glaubenssysteme zurückzuhalten, und das genügt, um den Schmerz freizusetzen. Wir sehen dann, was mit den Glaubenssystemen geschieht. Wenn sie real sind und der Patient seinen Schmerz gefühlt hatte, werden sie bleiben. Aber wenn sie als Ergebnis von Schmerz konstruiert wurden, scheinen sie sich ganz von selbst in Luft aufzulösen. Wenn der Schmerz durchbricht, verliert das Glaubenssystem seinen Zusammenhalt und Zusammenhang.

Ich erwähnte den Islam-Gläubigen, der in der Primärtherapie mit seinem Gebets-Teppich anfing und sich nach jeder Sitzung gen Mekka wenden und beten musste. Das ging Monate so weiter. Sobald er in seine früheren Schmerzen geriet, betete er allmählich immer weniger.

Schließlich hörte er ganz damit auf. Wir hatten über sein Glaubenssystem überhaupt nicht diskutiert.

Andererseits wird ein Glaubenssystem, das auf Wirklichkeit beruht, bleiben, nachdem der Schmerz weg ist. Ich erinnere mich an die Therapie eines Assistenten von einem der großen Philosophen des Jahrhunderts; dieser Assistent half ihm, seine Bücher zu schreiben, und reiste um die ganze Welt, um Vorlesungen über seine Theorien zu halten. Sein Glaubenssystem blieb intakt, auch nachdem er seine frühen Gefühle wiedererlebte, weil es eine Basis in der Realität zu haben schien, ungeachtet  der Motivation, die ihn zu diesem System hinlenkte.

Unsere Therapie entschlüsselt Glaubenssysteme, indem sie hinab zu den Gefühlen gelangt, die ihnen wirklich zu Grunde liegen. Es ist, als würde man den Vorhang zurückziehen und einen Blick in seine frühe Geschichte werfen. Solange wir diese Geschichte nicht erlebt haben, sind wir für immer ihr Gefangener.

Ein Patient von uns musste ständig reisen; er wollte sich frei fühlen und glaubte, das Reisen würde das für ihn bewerkstelligen. Er begeisterte sich auch für liberale Glaubenssysteme, wo alles ging, wo zum Beispiel jede Art sexuellen Verhaltens möglich war, wo nichts beurteilt wurde. Schließlich erlebte er ein Gefühl wieder, wie er in seinem Kinderbettchen festgebunden wurde. Er hatte so sehr gezappelt, dass seine Eltern befürchteten, er werde sich verletzen. Wochenlang, sogar monatelang war das Baby auf grässlichste Weise angebunden und eingeengt. Fünfundvierzig Jahre später versuchte er noch immer, sich von etwas frei zu fühlen, an das er sich bisher nicht erinnern konnte. Das Wiedererleben des frühen Traumas befreite ihn endlich vom Zwang, ständig herumzureisen, dauernd den Job, den Wohnort und experimentelle Verhaltensweisen wechseln zu müssen. Es änderte seine Perspektive und seinen Lebensstil radikal.

Ein anderer Patient konnte keine stabile Beziehung mit Frauen halten, obwohl er zu einem leidenschaftlichen Verehrer Gottes wurde. Er war bei mehreren Psychoanalytikern, die zu analysieren versuchten, wie und wo seine Beziehungen schiefgingen. In der Primärtherapie hatte er das Gefühl, das all dem zugrunde lag. Es ging auf eine Zeit zurück, als sein Vater plötzlich starb, als er sechs Jahre alt war. Seine Mutter war sehr kalt, und er konnte sich nicht an sie wenden; er hatte deshalb das Gefühl "zu implodieren." Danach behielt er alles für sich und versuchte nie wieder, mit jemanden Kontakt aufzunehmen, da er unbewusst erkannte, wie vergeblich seine Bemühungen gewesen waren. Die ganze Schubkraft des Problems kam jedoch von seinem Vater, nicht von seiner Mutter. Als kleiner Junge konnte er sich leicht an ihn und an andere wenden. Mit dem Tod seines Vaters war er so verletzt, so überwältigt, dass er nicht in der Lage war, wieder mit jemanden Kontakt aufnehmen. Nur ein Teil seines Traumas hatte mit der Kälte seiner Mutter zu tun, aber er übertrug es allgemein auf alle Frauen. Um zu vermeiden, durch den Verlust eines geliebten Menschen wieder verletzt zu werden, versuchte er nie wieder sein Glück. In seinen Beziehungen mit Erwachsenen suchte er ewig nach seinem Vater und nach der Art von Freundschaft, die sie hatten. Als das scheiterte, fand er "den Heiligen Vater;" es war eine leidenschaftliche Glaubensbindung an den höchsten Vater, der immer da war, ihn immer bewachte und beschützte und ihn davor bewahrte, dem totalen Verlust seines eigenen Vaters ins Auge schauen zu müssen.

Als er in der Primärtherapie schließlich das überwältigende Trauma fühlte, das sich im Alter von sechs Jahren in seinen Körper einprägte, wurde seine Verehrung für den Heiligen Vater schwächer. Er erkannte, dass er nicht nur seinen Vater suchte sondern auch sich selbst. Und schließlich fand er es drinnen und nicht draußen. Die Wahrheit zu fühlen befreit uns von der Kontrolle durch unser Unbewusstes. Je tiefer du in das Unbewusste gehst, umso höher ist tatsächlich dein Bewusstsein. Je weiter man in die fernen Tiefen der Vergangenheit vordringt, umso erhöhter ist die Bewusstheit. Das ist keine Semantik. Wir haben unzählige Male gesehen, dass tiefe Gefühle alle möglichen Glaubensvorstellungen augenblicklich klarstellen. Sie schlüsseln Glaubenssysteme in ihre Grundelemente auf und trennen für uns das Reale vom Irrealen.

Diese Systeme haben keine bekannte Validierungs-Methode, Ideen, die sich im Wesentlichen auf Glauben stützen und sich nicht für Überprüfung oder Beweisführung eignen. Der Patient hat jetzt das Zugangswerkzeug zu sich selbst, das wirkungsvoller ist als jedes Ideen-System. Er braucht keine andere Theorie, um sein Verhalten zu erklären, Einsichten zu haben oder seine Wahrnehmungen zu verstehen. Er braucht auch keinen Glauben, der ihn über Wasser hält, oder Führer, die ihn leiten. Die Ideen, Illusionen und Wahnvorstellungen, die Denken und Fühlen trennten und den Spalt zwischen ihnen weiteten, fallen weg. Die Kluft zwischen Denken und Fühlen ist geheilt. Der Mensch wird ganz, vereint; er hat kein Bedürfnis, an etwas außerhalb seinerselbst zu glauben.

Armes umnachtetes Bewusstsein. Es ist sorglos und blind gegenüber seinem eigenen Tod. Es reagiert dauernd auf eine jetzt entschwundene Realität,ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn das der Fall ist, gibt es keine Möglichkeit, zu sich selbst aufrichtig zu sein. Der Neurotiker kann seinem Verstand nicht mehr trauen, weil es nicht sein eigener ist. Es ist wirklich der Kopf derer, die ihn programmiert haben. Der Verstand weigert sich, ihm zuzuhören, dem realen "ihm," weil der mehr Informationen hat, als er hören will. Er denkt, er sei gesund und fühle sich prächtig, aber es gibt da einen siedend heißen Schmerzkessel, der weiter unten vor sich hin brodelt. Er ist krank ungeachtet dessen, was er denkt. Die Revolution der Psyche ist die einzige permanente Revolution. Sie involviert die Auflösung unserer Gefühle und die Eliminierung eiserner irrealer Vorstellungen. Wenn der Schmerz aus dem Gehirn entfernt anstatt verdrängt wird, wenn er endlich abgeladen wird, dann gibt es Harmonie. Bewusstsein ist Heilung, weil jede Wahrheit progressiv und erbauend ist; simple Aufrichtigkeit ist die radikalste aller Positionen und höchstwahrscheinlich die Haltung, die in einer irrealen Gesellschaft bestraft wird. Zu einem Guru zu sagen "Du bist reich, und ich bin arm, du hast Frauen und Häuser, und ich habe nichts" würde zum sofortigen Ausschluss führen. Unabhängig von unseren Deprivationen, unseren Bedürfnissen, von den Glaubensüberzeugungen, die uns vergiftet haben, und unabhängig vom "höheren" oder "tieferen" Sinn, den wir gesucht haben, gibt es in letzter Konsequenz nur uns selbst. Wie John Lennon es ausgedrückt hat: "Der Traum ist vorbei. Ich glaube nur an mich."

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Man muss nicht nach dem Sinn im Leben suchen, weil die Wahrheit nicht mehr vermieden wird. Ein fühlender Mensch schaut sich nicht um nach  Vorleben, Tod, Wiedergeburt oder mystischen Kräften, die ihn befreien sollen. Es gibt kein Es, Ego, keine Schattenkräfte mehr, kein archaisches und mysteriöses Unbewusstes, keine Glückseligkeits-Zustände, Gipfel-Stadien, Gottheiten, weise Stimmen, die aus der fernen Vergangenheit heraufbeschworen werden,  keine aufreizenden Mysterien mehr. Und es gibt auch keinen unerklärlichen, plötzlichen Ausbruch von Krankheit, Symptomen, Depression oder Angst.

Es besteht keine Notwendigkeit, an Armageddon und an das Jenseits zu glauben. Fühlen hat Erlebnis, Erfahrung ins Leben zurückgebracht; man ist jetzt frei. Man kann das Leben spüren, das man tagtäglich lebt, anstatt ein Leben auf der Suche nach Sinn zu führen. Man sucht nicht mehr nach Antworten, weil man entdeckt hat, dass es keine Fragen gibt. Man braucht keine Rettung oder Erlösung, weil man bereits dieses ganz besondere Geschenk hat: in sich selbst transformiert zu werden.

 Was anderes könnte man anderen Menschen anbieten außer ihrem wahren Geburtsrecht - außer der Fähigkeit, das zu fühlen, was geschieht, wenn es geschieht, und ebenso Freude und Liebe zu fühlen? Ein fühlender Mensch kann nicht so tun, als habe sich eine schlechte Kindheit nie ereignet. Er kann seinen Körper nicht verlassen und in seinem Kopf leben.

Wenn man diese verdrängten Gefühle zurückgewinnt, muss man nicht mehr fragen "Und das ist alles?" Die Psychen sind vereint. Man hat Sinn oder Bedeutung, weil man fühlt; das ist die Bedeutung von Bedeutung. Äußere Glaubensüberzeugungen stehen in harmonischem Einklang mit der inneren Realität. Sie kommen und gehen im Einklang mit gegenwärtigen Bedürfnissen, nicht mit alten Bedürfnissen. Sie sind endlich real.

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Anmerkung des Autors: Alle Leute in den Fallstudien, die in diesem Buch zitiert werden, kamen zum Primal Center, weil sie nach ihren Erlebnissen mit Kulten Hilfe suchten. Alle erholten sich und machten mit ihrem Leben weiter.

 

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  Ende des Kapitels

 

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