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Dr. Arthur Janov:   Einführung zu Life before Birth  (Vorgeburtliches Bewusstsein)               

Samstag, 29.September 2012                                                       

                                                                                                          

Einführung

In mehr als hundert Jahren Psychotherapie hat sich außer der Kosmetik sehr wenig verändert. Es ist immer noch die Fünfzig-Minuten-Stunde, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht in aufrechter Position mit Einsichten, die ein besorgter Therapeut mit wohlklingender Stimme vorträgt. Noch immer gibt es den Horror des Unbewussten als Ort unklarer Dämonen, die es um jeden Preis zu meiden gilt. Niemand spricht es aus, aber es ist darin inbegriffen, dass wir den Patienten sorgfältig weg von der Vergangenheit in die Gegenwart lenken. Die Freudianer nennen es jetzt Ego-Psychologie, aber in Wirklichkeit ist es Psychoanalyse mit etwas anderem Brennpunkt. Leider haben sich immer mehr Therapeuten im Namen des Fortschritts von der Vergangenheit entfernt und sind in Richtung eines gegenwartsorientierten Ansatzes gegangen; das trifft insbesonders auf die kognitiven Verhaltenstherapien zu. Es herrscht eine Verklärung der Gegenwart, des Hier-und-Jetzt, und ein Abrücken vom Einzigen, das heilsam ist: die Geschichte. Wir sind historische Geschöpfe, neurophysiologisch geprägt von unserer Vergangenheit. Jede angemessene Behandlung muss sich mit dieser Geschichte befassen.

Noch bedauerlicher ist, das wir seit hundert Jahren mit dem falschen Gehirn Kontakt aufnehmen. Es ist dieses verbale, „sprechende“ Gehirn, das jede Hoffnung auf Heilung emotionaler Krankheit vereitelt. Mit dem Gehirn zu kommunizieren, das spricht, war vor einem Jahrhundert in Ordnung, aber jetzt wissen wir so viel mehr über das Gehirn und darüber, was es beinhaltet; wir wissen, das uns zugefügter Schaden auf tieferen Bewusstseinsebenen eingeprägt wird, und zwar weit unterhalb der Zone, wo Worte existieren. Außerdem wissen wir viel mehr darüber, wie frühe Erinnerung eingeprägt wird und wie sie unser Leben beeinflusst.

Ein wenig unbescheiden sage ich: Ich weiß und sehe das jetzt seit Jahrzehnten. Als ich erstmals in den 1970ern darüber schrieb, wie das Geburtstrauma und pränatale Erfahrungen das Verhalten des Erwachsenen beeinflussen, betrachtete man meine Ideen als „New Age.“ Jetzt gibt es buchstäblich Hunderte von Studien, die diese These verifizieren. In Wissenschaftskreisen scheint es wenig Zweifel zu geben, dass die Stimmung und Physiologie einer Schwangeren Langzeit-Wirkung auf den Nachwuchs haben kann. Wenn wir die Gesundheit und die psychische Stabilität zukünftiger Generationen gewährleisten wollen, brauchen wir einen Paradigmen-Wechsel in der Psychologie und Psychotherapie. Wir müssen die Decke entfernen von der Kindheit bis zur Säuglingszeit und Schwangerschaft. Denn das ist der Ort, wo unserem Nachwuchs der meiste Nutzen und Schaden zugefügt wird. Und das ist der Ort, wo viele unserer späteren Leiden und Persönlichkeitsmerkmale ihren Anfang nehmen.

Ich vertraue darauf, dass Sie im Verlauf unserer Exkursion den enormen Einfluss unserer Zeit im Mutterleib sehen werden; die gänzlich unerwarteten Auswirkungen dieser Lebensphase auf spätere Herkkrankheit, Blutdruck, Migräne, Epilepsie und Persönlichkeits-Abweichungen. Während wir im Inneren unserer Mutter leben, reagieren wir auf eine Umwelt – auf sie – und das Leben, das sich nach der Geburt entfaltet, ist gewissermaßen einfach eine Fortsetzung dieses Reifeprozesses im Mutterleib. Bedenken Sie: Sie ist die einzige Welt, die das Baby kennt. Es entwickelt bereits eine Persönlichkeit in diesen entscheidenden neun Lebensmonaten – wächst in einer isolierten Welt heran, in der es nur eine einzige Input-Quelle gibt. Das Kind kann neurotisch und krankheitsanfällig (oder sorgenfrei und gesund) auf die Welt kommen, und das nicht einfach aufgrund von Vererbung sondern auch aufgrund dessen, was es  in der Schwangerschaft erlebt hat.

Wenn wir das verstanden haben, müssen wir jetzt eine Therapie gestalten, die unserem Wissen entspricht. Wenn wir weiterhin an die Behandlung herangehen, indem wir uns auf  das Sprachgehirn konzentrieren, vereiteln wir jede Hoffnung auf Heilung emotionaler Krankheit. Stattdessen müssen Therapeuten die Brücke zwischen Wissen und Fühlen überqueren. Sie müssen sich anstatt eines kognitiven Ansatzes eine emotionale, erlebnisorientierte Methode aneignen. Das ist keine leichte Aufgabe.

Wir müssen eine neue Sprache lernen – die des Unbewussten – eine wortlose Sprache, die einfach aus Gefühlen und Empfindungen besteht. Ich behaupte, dass sich die Psychotherapie im nahezu gesamten letzten Jahrhundert deshalb nicht radikal geändert hat, weil wir immer geglaubt haben, dass Worte uns dabei helfen könnten, Patienten tiefgreifend zu verändern; und tatsächlich sind Worte oft unsere Abwehr gegen das Fühlen. Aber wir als Psychotherapeuten müssen uns zum Ziel setzen, fühlende Menschen hervorzubringen und keine Geistesgiganten. Ich habe jahrelang betont, dass Zugang zu Gefühlen mit dem rechten Gehirn beginnt, und mehrere Studien haben gezeigt, dass man zu verdrängten Gefühlen vorstoßen kann, wenn man sich mit dem rechtsseitigen Gehirn befasst. Solange wir uns auf das denkende linke Frontalhirn konzentrieren, ist der Fortschritt auf dieses Areal begrenzt, stellt sich aber nicht dort ein, wo Gefühle gespeichert werden. Wir werden mit Einsichten beladen, die Gefühle eher maskieren als sie zu erweitern. Der Fortschritt beschränkt sich auf die Psyche und erstreckt sich nicht auf das Gesamtsystem.

Warum ist das so wichtig? Warum sollte die Sprache der Gefühle Vorrang haben vor den Gedanken, die wir in Worte fassen können? Weil wir ganz einfach nur da gesund werden können, wo wir verletzt worden sind. Wir wissen, dass emotionale Wunden tief im Gehirn liegen – außer Reichweite des Bewusstseins. Obgleich das tiefere Gehirn die ganze Zeit zu uns „spricht,“ haben wir nie gelernt, wie man mit ihm spricht. Hypoxie zum Beispiel, ein pathologischer Zustand, bei dem der Körper des Sauerstoffs beraubt wird, spricht jeden Tag zu uns. Das Problem ist, dass wir nicht die Sprache haben, um zu antworten, um einen Dialog mit höheren Gehirnebenen wie dem präfrontalen Kortex zu schaffen und bedeutungsvolle Änderungen herbeizuführen. Das tiefere Gehirn redet mit uns auch auf andere Weise: durch  unsere Alpträume und Kolitis, durch unseren hohen Blutdruck und unsere Migräne, durch unsere Sexualprobleme und zwischenmenschliche Konflikte. Tatsächlich behauptet sich unsere Geschichte in nahezu jedem unserer wachen Momente; dennoch gehen wir ein ums andere Mal zu Psychotherapeuten, die sich einzig aufs Hier-und-Jetzt konzentrieren wollen; die ausschließlich das linke Gehirn benutzen wollen und ihre Patienten dazu bringen, dass sie denken, es gehe ihnen besser, anstatt sie tatsächlich gesünder zu machen. Noch schlimmer ist, dass es diesen Methoden oft an den neurophysiologischen Messungen fehlt, die für eine angemessene Psychotherapie benötigt werden.

Am Primal Center in Santa Monica, Kalifornien, behandeln wir Patienten, die Schmerz aufgrund verdrängter Kindheits-Traumen erleiden. Bei jedem Patienten messen wir jeden Tag vor und nach Sitzungen seine oder ihre Vitalfunktionen (Herzschlag, Körpertemperatur, Blutdruck), und wir haben bei unseren Patienten nach nur einem Jahr Therapie dramatische Veränderungen festgestellt. Lange Zeit haben wir an unseren Patienten Gehirnwellen-Untersuchungen vorgenommen – bis es zu teuer wurde. Wie wir später im Buch sehen werden, können diese Vitalfunktionen und Gehirnwellen eine Menge über unsere Persönlichkeit und Stimmung aussagen und ebenso darüber, warum Primärtherapie helfen kann, sie zu normalisieren.

Wir sind wandelnde Archive und wir leben mit der Einprägung unserer Vergangenheit. Zu lange haben wir uns auf die Gegenwart und auf Worte konzentriert, weil man zu denen am leichtesten und ohne große Anstrengung Zugang findet. Darüber hinaus haben wir nicht gewusst, wie wir zu unserer neonatalen und frühen Kindheits-Geschichte Zugang finden sollen. Jetzt wissen wir es. Um wieder gesund zu werden, müssen wir die Gefühlsreise zu unserer Geschichte unternehmen und den Schaden ungeschehen machen.

Die Zeit, zu der wir während eines Primals zurückkehren - unser Fötalleben und unsere frühe Kindheit- ist die Zeit und der Ort, wo unsere Probleme beginnen und wo die Lösung liegt. Diese Zeit ist nicht nur der Schlüssel zur psychischen Gesundheit der Erwachsenen, sondern sie ist auch von größter Bedeutung für werdende Mütter, die während ihrer Schwangerschaft das Schicksal ihrer Kinder gestalten. Ich hoffe, ich kann im Laufe dieses Buches klarstellen, was mit dem Fetus und dem Baby geschieht, wenn die Mutter auf bestimmte Weise fühlt oder handelt, und was die Mutter tun kann, um ihrem Kind zu helfen.

Skeptiker spöttelten, als ich in den 1970ern zum ersten Mal die Fähigkeit des Fetus beschrieb, die Realität seiner Mutter durch eine neurophysiologische Verbindung aufzunehmen. „Wo war die Forschung?“ fragten sie. Jetzt zieht die Forschung gleich.  Wer hätte sich vor fünfzig Jahren träumen lassen, dass eine Herzattacke im Alter von sechzig Jahren zum Teil von Dingen verursacht wird, die mit uns sechzig Jahre früher geschahen? Wer hätte geahnt, dass eine Migräne mit dreißig ihren Anfang nimmt, bevor wir einen Fuß auf diesen Planeten setzen? Aber Sie werden sehen, es gibt immer mehr Beweise, dass dies der Fall ist. Was die Mutter macht, wie sie sich fühlt, was sie ißt und trinkt – all das strukturiert ein neues Leben auf diesem Planeten.

Woher weiß ich, dass die Vergangenheit ein Leben lang in unseren Gehirnen eingraviert bleibt? Woher weiß ich, dass das Wiedererleben unserer traumatischen Vergangenheit uns hilft, gesund zu werden? Das ist das Thema dieses Buches.

Übersetzung: Ferdinand Wagner