Einführung
In mehr als hundert
Jahren Psychotherapie hat sich außer der Kosmetik sehr wenig verändert.
Es ist immer noch die Fünfzig-Minuten-Stunde, das Gespräch von Angesicht
zu Angesicht in aufrechter Position mit Einsichten, die ein besorgter
Therapeut mit wohlklingender Stimme vorträgt. Noch immer gibt es den
Horror des Unbewussten als Ort unklarer Dämonen, die es um jeden Preis zu
meiden gilt. Niemand spricht es aus, aber es ist darin inbegriffen, dass
wir den Patienten sorgfältig weg von der Vergangenheit in die Gegenwart
lenken. Die Freudianer nennen es jetzt Ego-Psychologie, aber in
Wirklichkeit ist es Psychoanalyse mit etwas anderem Brennpunkt. Leider
haben sich immer mehr Therapeuten im Namen des Fortschritts von der
Vergangenheit entfernt und sind in Richtung eines gegenwartsorientierten
Ansatzes gegangen; das trifft insbesonders auf die kognitiven
Verhaltenstherapien zu. Es herrscht eine Verklärung der Gegenwart, des
Hier-und-Jetzt, und ein Abrücken vom Einzigen, das heilsam ist: die
Geschichte. Wir sind historische Geschöpfe, neurophysiologisch geprägt
von unserer Vergangenheit. Jede angemessene Behandlung muss sich mit
dieser Geschichte befassen.
Noch bedauerlicher ist,
das wir seit hundert Jahren mit dem falschen Gehirn Kontakt aufnehmen. Es
ist dieses verbale, „sprechende“ Gehirn, das jede Hoffnung auf Heilung
emotionaler Krankheit vereitelt. Mit dem Gehirn zu kommunizieren, das
spricht, war vor einem Jahrhundert in Ordnung, aber jetzt wissen wir so
viel mehr über das Gehirn und darüber, was es beinhaltet; wir wissen,
das uns zugefügter Schaden auf tieferen Bewusstseinsebenen eingeprägt
wird, und zwar weit unterhalb der Zone, wo Worte existieren. Außerdem
wissen wir viel mehr darüber, wie frühe Erinnerung eingeprägt wird und
wie sie unser Leben beeinflusst.
Ein wenig unbescheiden
sage ich: Ich weiß und sehe das jetzt seit Jahrzehnten. Als ich erstmals
in den 1970ern darüber schrieb, wie das Geburtstrauma und pränatale
Erfahrungen das Verhalten des Erwachsenen beeinflussen, betrachtete man
meine Ideen als „New Age.“ Jetzt gibt es buchstäblich Hunderte von
Studien, die diese These verifizieren. In Wissenschaftskreisen scheint es
wenig Zweifel zu geben, dass die Stimmung und Physiologie einer
Schwangeren Langzeit-Wirkung auf den Nachwuchs haben kann. Wenn wir die
Gesundheit und die psychische Stabilität zukünftiger Generationen gewährleisten
wollen, brauchen wir einen Paradigmen-Wechsel in der Psychologie und
Psychotherapie. Wir müssen die Decke entfernen von der Kindheit bis zur Säuglingszeit
und Schwangerschaft. Denn das ist der Ort, wo unserem Nachwuchs der meiste
Nutzen und Schaden zugefügt wird. Und das ist der Ort, wo viele unserer
späteren Leiden und Persönlichkeitsmerkmale ihren Anfang nehmen.
Ich vertraue darauf, dass
Sie im Verlauf unserer Exkursion den enormen Einfluss unserer Zeit im
Mutterleib sehen werden; die gänzlich unerwarteten Auswirkungen dieser
Lebensphase auf spätere Herkkrankheit, Blutdruck, Migräne, Epilepsie und
Persönlichkeits-Abweichungen. Während wir im Inneren unserer Mutter
leben, reagieren wir auf eine Umwelt – auf sie – und das Leben, das
sich nach der Geburt entfaltet, ist gewissermaßen einfach eine
Fortsetzung dieses Reifeprozesses im Mutterleib. Bedenken Sie: Sie ist die
einzige Welt, die das Baby kennt. Es entwickelt bereits eine Persönlichkeit
in diesen entscheidenden neun Lebensmonaten – wächst in einer
isolierten Welt heran, in der es nur eine einzige Input-Quelle gibt. Das
Kind kann neurotisch und krankheitsanfällig (oder sorgenfrei und gesund)
auf die Welt kommen, und das nicht einfach aufgrund von Vererbung sondern
auch aufgrund dessen, was es in
der Schwangerschaft erlebt hat.
Wenn wir das verstanden
haben, müssen wir jetzt eine Therapie gestalten, die unserem Wissen
entspricht. Wenn wir weiterhin an die Behandlung herangehen, indem wir uns
auf das Sprachgehirn
konzentrieren, vereiteln wir jede Hoffnung auf Heilung emotionaler
Krankheit. Stattdessen müssen Therapeuten die Brücke zwischen Wissen und
Fühlen überqueren. Sie müssen sich anstatt eines kognitiven Ansatzes
eine emotionale, erlebnisorientierte Methode aneignen. Das ist keine
leichte Aufgabe.
Wir müssen eine neue
Sprache lernen – die des Unbewussten – eine wortlose Sprache, die
einfach aus Gefühlen und Empfindungen besteht. Ich behaupte, dass sich
die Psychotherapie im nahezu gesamten letzten Jahrhundert deshalb nicht
radikal geändert hat, weil wir immer geglaubt haben, dass Worte uns dabei
helfen könnten, Patienten tiefgreifend zu verändern; und tatsächlich
sind Worte oft unsere Abwehr gegen das Fühlen. Aber wir als
Psychotherapeuten müssen uns zum Ziel setzen, fühlende Menschen
hervorzubringen und keine Geistesgiganten. Ich habe jahrelang betont, dass
Zugang zu Gefühlen mit dem rechten Gehirn beginnt, und mehrere Studien
haben gezeigt, dass man zu verdrängten Gefühlen vorstoßen kann, wenn
man sich mit dem rechtsseitigen Gehirn befasst. Solange wir uns auf das
denkende linke Frontalhirn konzentrieren, ist der Fortschritt auf dieses
Areal begrenzt, stellt sich aber nicht dort ein, wo Gefühle gespeichert
werden. Wir werden mit Einsichten beladen, die Gefühle eher maskieren als
sie zu erweitern. Der Fortschritt beschränkt sich auf die Psyche und
erstreckt sich nicht auf das Gesamtsystem.
Warum ist das so wichtig?
Warum sollte die Sprache der Gefühle Vorrang haben vor den Gedanken, die
wir in Worte fassen können? Weil wir ganz einfach nur da gesund werden können,
wo wir verletzt worden sind. Wir wissen, dass emotionale Wunden tief im
Gehirn liegen – außer Reichweite des Bewusstseins. Obgleich das tiefere
Gehirn die ganze Zeit zu uns „spricht,“ haben wir nie gelernt, wie man
mit ihm spricht. Hypoxie zum Beispiel, ein pathologischer Zustand, bei dem
der Körper des Sauerstoffs beraubt wird, spricht jeden Tag zu uns. Das
Problem ist, dass wir nicht die Sprache haben, um zu antworten, um einen
Dialog mit höheren Gehirnebenen wie dem präfrontalen Kortex zu schaffen
und bedeutungsvolle Änderungen herbeizuführen. Das tiefere Gehirn redet
mit uns auch auf andere Weise: durch
unsere Alpträume und Kolitis, durch unseren hohen Blutdruck und
unsere Migräne, durch unsere Sexualprobleme und zwischenmenschliche
Konflikte. Tatsächlich behauptet sich unsere Geschichte in nahezu jedem
unserer wachen Momente; dennoch gehen wir ein ums andere Mal zu
Psychotherapeuten, die sich einzig aufs Hier-und-Jetzt konzentrieren
wollen; die ausschließlich das linke Gehirn benutzen wollen und ihre
Patienten dazu bringen, dass sie denken, es gehe ihnen besser, anstatt sie
tatsächlich gesünder zu machen. Noch schlimmer ist, dass es diesen
Methoden oft an den neurophysiologischen Messungen fehlt, die für eine
angemessene Psychotherapie benötigt werden.
Am Primal Center in Santa
Monica, Kalifornien, behandeln wir Patienten, die Schmerz aufgrund verdrängter
Kindheits-Traumen erleiden. Bei jedem Patienten messen wir jeden Tag vor
und nach Sitzungen seine oder ihre Vitalfunktionen (Herzschlag, Körpertemperatur,
Blutdruck), und wir haben bei unseren Patienten nach nur einem Jahr
Therapie dramatische Veränderungen festgestellt. Lange Zeit haben wir an
unseren Patienten Gehirnwellen-Untersuchungen vorgenommen – bis es zu
teuer wurde. Wie wir später im Buch sehen werden, können diese
Vitalfunktionen und Gehirnwellen eine Menge über unsere Persönlichkeit
und Stimmung aussagen und ebenso darüber, warum Primärtherapie helfen
kann, sie zu normalisieren.
Wir sind wandelnde Archive
und wir leben mit der Einprägung unserer Vergangenheit. Zu lange haben
wir uns auf die Gegenwart und auf Worte konzentriert, weil man zu denen am
leichtesten und ohne große Anstrengung Zugang findet. Darüber hinaus
haben wir nicht gewusst, wie wir zu unserer neonatalen und frühen
Kindheits-Geschichte Zugang finden sollen. Jetzt wissen wir es. Um wieder
gesund zu werden, müssen wir die Gefühlsreise zu unserer Geschichte
unternehmen und den Schaden ungeschehen machen.
Die Zeit, zu der wir während
eines Primals zurückkehren - unser Fötalleben und unsere frühe
Kindheit- ist die Zeit und der Ort, wo unsere Probleme beginnen und wo die
Lösung liegt. Diese Zeit ist nicht nur der Schlüssel zur psychischen
Gesundheit der Erwachsenen, sondern sie ist auch von größter Bedeutung für
werdende Mütter, die während ihrer Schwangerschaft das Schicksal ihrer
Kinder gestalten. Ich hoffe, ich kann im Laufe dieses Buches klarstellen,
was mit dem Fetus und dem Baby geschieht, wenn die Mutter auf bestimmte
Weise fühlt oder handelt, und was die Mutter tun kann, um ihrem Kind zu
helfen.
Skeptiker spöttelten, als
ich in den 1970ern zum ersten Mal die Fähigkeit des Fetus beschrieb, die
Realität seiner Mutter durch eine neurophysiologische Verbindung
aufzunehmen. „Wo war die Forschung?“ fragten sie. Jetzt zieht die
Forschung gleich. Wer hätte
sich vor fünfzig Jahren träumen lassen, dass eine Herzattacke im Alter
von sechzig Jahren zum Teil von Dingen verursacht wird, die mit uns
sechzig Jahre früher geschahen? Wer hätte geahnt, dass eine Migräne mit
dreißig ihren Anfang nimmt, bevor wir einen Fuß auf diesen Planeten
setzen? Aber Sie werden sehen, es gibt immer mehr Beweise, dass dies der
Fall ist. Was die Mutter macht, wie sie sich fühlt, was sie ißt und
trinkt – all das strukturiert ein neues Leben auf diesem Planeten.
Woher weiß ich, dass die
Vergangenheit ein Leben lang in unseren Gehirnen eingraviert bleibt? Woher
weiß ich, dass das Wiedererleben unserer traumatischen Vergangenheit uns
hilft, gesund zu werden? Das ist das Thema dieses Buches.
Übersetzung:
Ferdinand Wagner