Janov Solution

Home    Artikel und Buchauzüge      Übersetzungen aus A. Janovs Webseite     Neue Beiträge       Primärtheorie und Primärtherapie         Buchübersetzung: Bücher von A. Janov  

 

20 Kernthesen der Primärtheorie und Primärtherapie        ArthurJanov.com         Facebook          Studien und Statistiken            Primalpage                             Primaltherapy.com

 

Primal Mind                 Epilepticjourney

DIE JANOV-LÖSUNG

THE JANOV SOLUTION  -  Lifting Depression Through Primal Therapy erschien 2007 bei SterlingHouse Books, Pittsburgh, PA 15218

© Copyright 2007 Dr. Arthur Janov

 

 

Kapitel 10

 

Vom Selbstmord besessen

 

 

Tragischerweise bringen sich laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2002 jedes Jahr etwa 800.000 Menschen um. Meistens geschieht es bei Männern (dreimal häufiger als bei Frauen) und bei älteren Leuten. Die Zahl könnte sehr viel höher sein, wenn man bedenkt, dass viele Unfälle tatsächlich Selbstmorde sind. Und es gibt viel mehr Selbstmordversuche. Etwa 15 Prozent der Depressiven begehen schließlich Selbstmord. Der Bericht des Zentrums für Krankheitskontrolle aus dem Jahr 1996 listete Selbstmord auf dem neunten Platz der häufigsten Todesursachen in den USA auf. Bei vielen, die letztendlich  Selbstmord begehen, ist es nicht das erste Mal, dass sie es versucht haben. Einige Selbstmorde folgen auf einen größeren Verlust wie zum Beispiel das Scheitern einer Ehe. Nichtsdestotrotz ist das Leben zu wertvoll, um es einfach wegzuwerfen, weil man von seinem Partner verlassen wird. Wenn Sie jemanden lieben, der Sie nicht mehr liebt und geht, ist das gewiss eine Erfahrung, die tiefe und schreckliche Traurigkeit hervorrufen kann, aber sie sollte nicht dazu führen, dass Sie sterben wollen. Kein Mensch tötet sich, weil sein Partner/seine Partnerin mit einem anderen durchgebrannt ist –  das heißt, kein gesunder Mensch. Natürlich verbindet zwei Menschen, die seit 40 Jahren oder länger zusammen sind, ein unglaublich starkes emotionales Band. Der Verlust eines Patners ist außergewöhnlich schmerzhaft. Aber das Leben geht weiter, weil es weitergehen muss; es ist eine Sache, wenn dieses Band zerbricht, aber sterben zu wollen ist eine ganz andere. Menschen wollen sich nur dann umbringen, wenn dieses Verlassenwerden mit einem gewaltigen Ereignis in der Kindheit resoniert, mit einer Sache, bei der es damals um Leben oder Tod ging, wenn auch nicht in jedem Fall. Jemand, der 50 Jahre mit einem anderen Menschen zusammenlebte, hat zweifellos das Gefühl, dass das Leben für ihn vorbei ist, wenn sein Partner/seine Partnerin geht. Es besteht kaum eine Chance, sich an eine andere Person zu binden, ein neues Leben mit einem anderen Menschen zu beginnen. Das einzige Gegenmittel gegen Depression ist in diesem Fall zu weinen.  Genau das beseitigt bei meinen Patienten die Depression und wird dies auch bei jemandem tun, der einen Langzeit-Partner im Leben verloren hat.

      Wenn Depression/Verdrängung nicht funktioniert, steht man unter Schmerz. Und dann beginnt man, an Selbstmord zu denken. Im Alter von 5 Jahren verlassen zu werden wäre katastrophal gewesen, hätte uns nicht die Verdrängung davor geschützt, dieses Ereignis voll zu fühlen. In der Gegenwart vom Partner verlassen zu werden ist an sich nicht lebensbedrohlich, aber es fühlt sich so an, weil es die Hoffnungslosigkeit der Kindheit wiedererweckt.

      Wenn Sie aufgrund großer unerfüllter Bedürfnisse aus der Vergangenheit alles in Ihren Partner investiert haben und nur durch ihn/sie leben, dann wird der Verlust oder die Verlassenheit verheerend sein. Wenn man seine ganze Existenz in einen anderen investiert, dann macht das sein oder ihr Verschwinden zu einer Katastrophe. Darüber hinaus ist das emotionale Engagement oft neurotisch; es hat wenig mit Liebe zu tun und viel mit Bedürfnis und Abhängigkeit. Der Erwachsene oder das Kind kommt jetzt zu dem Schluss, dass es allein nicht zu schaffen ist. Diese Gefühle sind logisch und richtig; nur der Zusammenhang ist falsch. Die Gefühle sind die eines Kindes. Es ist zu viel Leiden. Der Erwachsene wählt den Tod, um das Leben mit all seinem Schmerz nicht fühlen zu müssen, um sich davor zu bewahren, dass er verrückt wird. Der Tod wird zum Ersatz für die Verdrängung, die versagt hat.

 

  Selbstmord und Geburt

Es fällt vielleicht schwer zu glauben, dass Geburtsprobleme Jahre später suizidale Tendenzen hervorbringen können, aber das ist wahr. Das kommt daher, dass wir nicht gewohnt sind, an physiologische Erinnerungen zu denken, und dass uns der Gedanke fremd ist, dass die mächtigsten Erinnerungen, die wir haben, diejenigen ohne Worte sind: Ereignisse, die auftraten, bevor wir verstehen konnten, was mit uns geschah. Wie wir in der vorangegangenen Erörterung der Wirkung des Geburtstraumas auf Sex gesehen haben, verschwindet die Verzweiflung während eines Geburtstraumas nie. Sie fließt in späteres Verhalten ein und verschlimmert es. So türmt sich der spätere Verlust eines/einer Geliebten auf und ruft eine katastrophale Sinnlosigkeit hervor.

      Dr. Lee Salk vom Medizinzentrum der Cornell Universität unternahm eine Studie an Erwachsenen, die Selbstmord begangen hatten. Er fand heraus, dass 60 Prozent drei Hauptrisikofaktoren aufwiesen, die gleichzeitig um die Zeit der Geburt auftraten: Atemnot, chronische Krankheit bei der schwangeren Mutter und fehlende pränatale Sorgfalt in den ersten 20 Wochen der Schwangerschaft. (Lancet, 3/16/85).

    Unseren Beobachtungen zufolge kann suizidale Hoffnungslosigkeit direkt aus der Geburtssequenz entstehen. Die Neigung zum Selbstmord entwächst genau wie die Natur des Sexuallebens eines Menschen dem bei der Geburt etablierten Prototyp. Als der Fetus am Lebensanfang mit Stress konfrontiert wurde, hatte er keine andere Wahl, als sich zu verschließen und Energie zu sparen. Dieses Muster wird prototypisch: Das Baby müht sich ab, hat aber keinen Erfolg, versucht es dann immer wieder und scheitert erneut. Es ist absolut hoffnungslos. Das Baby kann nichts mehr tun und erlebt ein Gefühl von Sinnlosigkeit und dann Resignation. Später im Leben rufen Widrigkeiten Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und den Wunsch aufzugeben hervor, der direkte „Endlauf“ der Geburtssequenz. „Endlauf“ ist hier ein Schlüsselbegriff, denn wenn etwas in der Gegenwart mit einer alten Erinnerung resoniert, sind wir gezwungen, die ganze Sequenz bis zum logischen Schluss auszuagieren. Das ist der Grund, warum es zu dem Zwangsgedanken an Tod und Selbstmord kommt, wenn man in dem Feeling steckt. Der Unterschied ist der, dass das Neugeborene den Tod nur vage fühlen kann, weil es keinerlei Verhaltensoptionen hat, während der Suizidale den Tod als Verhaltensoption benutzt, um die Agonie zu beenden.

      Selbstmord involviert typischerweise den Ablauf der Geburtssequenz, genau wie sich Schmerz ins Sexualverhalten einschleicht und den Sexakt ausführt. Wir haben gesehen, wie beim Parasympathen die Geburtssequenz mit dem Erlebnis der Todesnähe endete, wobei der Tod die einzige Möglichkeit war, die Qual zu beenden. Wenn man von der Nabelschnur stranguliert wird oder durch überwältigende Anästhesie des Sauerstoffs beraubt wird, wird der Geburtskampf qualvoll und sinnlos - eine Sequenz, die ihre eigene unwiderrufliche Logik hat: Kampf, Leiden und Scheitern, das zum Tod führt. Die eingeprägte Neigung, sich mit dem Tod zu beschäftigen, tritt in der Gegenwart zutage, wenn die aktuelle Agitation oder Qual ein gewisses Maß erreicht, das ausreicht, um das prototypische Gefühl auszulösen. Dem Körper wiederum ist die Quelle der Agitation gleichgültig – ob sexuelle Erregung oder der schmerzliche Verlust eines Ehegefährten. Wenn die Valenz hoch genug ist, setzt die alte Sequenz ein, und dann beginnt ihr End- oder Entscheidungslauf. Depression lässt sich bei denen nieder, deren Geburt im Wesentlichen Kampf und Scheitern war, das heißt, bei der zum Beispiel schwere Anästhesie jede weitere Anstrengung verhinderte, sich selbst zu befreien. Alles wurde schwarz. In der Gegenwart wird die Geburt des Parasympathen mit den gleichen Reaktionen wieder ausgelöst, nämlich: „Ich kann nichts tun, ich sehe keine Alternativen. Es hat keinen Zweck zu kämpfen. Der Tod ist der einzige Ausweg.“ Wenn also Widrigkeiten eintreten, denkt dieser Mensch an Tod und Selbstmord. Viele dieser Patienten beteuern eindringlich, dass sie keinen weiteren Morgen mehr unter Schmerzen hätten durchstehen können. Weil sie keine Ahnung hatten, was mit ihnen los war oder was sie machen sollten, wurde der Selbstmord zur wahrscheinlichsten Option. Noch einmal: Was weh tut, ist nicht das Fühlen. Die Qual entsteht aus dem Zusammenprall zwischen hochkommendem Schmerz und der Abwehr, die ihn unterdrückt. Wenn man einmal in einem Feeling ist, gibt es keine Qual mehr;  sie ist jetzt ein Feeling.

      Der Ablauf der Geburtssequenz bleibt sich selbst treu und weicht in der Regel nicht ab. Wenn ein gegenwärtiges Ereignis stark genug ist, wird es die Geburtssequenz auslösen, und die Handlungsweise der Person ist dann vorhersehbar. Wenn jemand vor der Geschäftsinsolvenz steht und es keinen Ausweg aus großen Schulden gibt, setzt die große Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit wieder ein, die man ursprünglich bei der Geburt erlebt hat, und führt möglicherweise zu suizidalen Gedanken oder Handlungen.

      Vielleicht stellt sich die Frage, wie eine Geschäftsaufgabe – egal, wie schwerwiegend das ist – jemanden dazu bringen könnte, dass er oder sie einen Selbstmordversuch unternimmt. Der Grund dafür ist, dass das frühe Trauma das Verhalten des Erwachsenen infiltriert hat, so dass er nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden kann. Der Mensch versucht alles, um das Geschäft am Laufen zu halten, obwohl er es logischerweise schon lange hätte schließen sollen. Schließlich gerät er in eine hoffnungslose Situation und ist völlig verzweifelt. Einer meiner Patienten klagte weiterhin vor Gericht, obwohl man ihm versicherte, dass die Geschäftsauflösung unvermeidlich sei. Er kämpfte und kämpfte und verlor dann alles, und häufte dann mehr Schulden für Anwaltsgebühren an, als er je zurückzahlen könnte, und das rief bei ihm eine schwere Depression hervor. Er wies viele Merkmale eines Sympathen auf; er akzeptierte keine Niederlage und keine offensichtlichen Hindernisse, bis er nicht länger vor der Wahrheit davonlaufen konnte. Die ursprüngliche Wahrheit, vor der er davonlief, war der Tod, der unmittelbar hinter seinen fortgesetzten Kämpfen lauerte. Für den Sympathen bedeutete Kampf ursprünglich Leben, und somit wird er in der Gegenwart zum Lebensstil.

      Wenn jemand im Erwachsenenleben keine Optionen mehr hat, wenn man sein Geschäft und seinen Lebensunterhalt, den Ehepartner oder ein Kind verloren hat oder wenn sich die Freunde von einem abwenden, wird man dazu neigen, dem Prototyp bis zum logischen Schluss zu folgen. Wenn niemand da ist, der Hilfe und Unterstützung geben kann, niemand, der versteht und Mut macht, scheint der Tod der einzige Ausweg zu sein.

      Das große Problem ist, dass die Person nie weiß, woher die Agonie kommt. „Es ist halt so tröstlich zu wissen, dass ich den Schmerz jederzeit beenden kann, wenn ich es will,“ bemerkte eine Patientin von mir, die vom Tod besessen war. Sie konnte sich nicht vorstellen, neue Wege zu gehen, wie zum Beispiel in eine neue Stadt zu ziehen, einen anderen Gefährten oder Job zu finden, weil das eingeprägte Fehlen von Alternativen den Gesichtskreis und die Vorstellung eines Menschen einschränkt.

      Um es zu wiederholen: Der Suizid ist mit größerer Wahrscheinlichkeit die Handlungswahl des Parasympathen als die des Sympathen. Er wird zu einer Option, wenn gegenwärtige Ereignisse der Geburt des Parasympathen gleichkommen – vergeblicher Kampf, dem die Aufgabe folgt. Beim Parasympathen liegt die Hoffnungslosigkeit nahe an der Oberfläche – ein Schlüsselbeweis ist die chronisch niedrigere Körpertemperatur – und es bedarf keiner großen Widrigkeiten, dass sie hervortritt. Beim Sympathen dauert es viel länger, bis er Selbstmord in Erwägung zieht, weil seine Geburtssequenz eine wilde Flucht vor dem Tod war, eine Flucht, die letztlich erfolgreich war. Er konnte etwas tun. Dementsprechend wird er in der Gegenwart Alternativlösungen finden. Er wälzt sich nicht in Schmerz wie der Parasympath. Widrigkeiten treiben ihn zum Handeln, wie es bei der Geburt der Fall war, während Widrigkeiten beim Parasympathen zu Passivität führen - die lebensrettende Strategie, die er oder sie bei der Geburt gelernt hatte.

     Eine Möglichkeit, etwas über die Beziehung zwischen eingeprägtem Schmerz und Selbstmord zu erfahren, ist die Gehirnforschung, bei der mehrere Studien darauf hindeuten, dass das Selbstmordopfer grundsätzlich eine höhere Zahl an Serotoninrezeptoren im Gehirn haben, aber eine geringere Serotoninaktivität im präfrontalen Kortex aufweisen, wo entscheidende Abwehrmanöver stattfinden. Man entdeckte eine außergewöhnliche Zahl dieser Rezeptoren im Blut derjenigen, die vor kurzem Selbstmordversuche unternommen hatten, und das unterstreicht, dass das System angesichts von Schmerz automatisch in einen Verdrängungszustand wechselt. Anstatt den Schmerz zu messen, messen wir die Verdrängungskräfte, die er provoziert. Interessanterweise besteht das größte Suizidrisiko dann, wenn der Serotoninspiegel ganz unten ist, wenn die Verdrängung am schwächsten ist und wenn das Gefühl sich direkt unter der Oberfläche zusammenbraut. Deshalb hat der Depressive ständig das Gefühl, dass der Untergang bevorsteht. (Siehe The Harvard Mental Health Letter, März 1996, für eine ausführliche Erörterung). Dieses Verhängnis ist natürlich die Begleiterscheinung der frühen katastrophalen Erfahrung. Der Untergang stand damals bevor, und die Einprägung lässt ihn fortbestehen, so dass wir jetzt das Gefühl haben, dass uns ein Verhängnis bevorsteht. Wir ahnen eine Katastrophe voraus, die bereits geschehen war.

    Ein interessantes Streiflicht: Ein Artikel in der New York Times („Was kommt zuerst, Depression oder Herzkrankheit?“, von Gina Kolata, 14. Jan. 1997) deutet auf sich mehrende Beweise hin, dass Leute mit Depression mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Herzkrankheit entwickeln. Wenn man in Betracht zieht, dass tiefe Depression tiefe Verdrängung bedeutet und die wiederum tiefen Schmerz, kann dieses Schlussergebnis nicht überraschen. Was das ‚Warum’ betrifft, gibt es zwei Denkschulen. Die erste besagt, dass die biochemischen Veränderungen (die Freisetzung von Stresshormonen), die bei der Depression auftreten, das Herz beeinflussen. Die zweite Sichtweise besagt, dass Depression die Leute traurig macht und sie dann ihr Herz vernachlässigen. Ich würde für die erste votieren, nur sollten wir noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass dieselbe frühe Einprägung und Prägung, die Menschen depressiv macht, letztlich auch ihr Herz beeinflusst; Stresshormone spielen in beiden Fällen eine Rolle. Leute, die deprimiert/verdrängt sind, neigen in einigen Fällen zu erhöhtem Blutdruck, und wenn jemand seine Medikamente vernachlässigt, kann eine Herzattacke folgen. Dieser Artikel vermerkt, dass einer von sechs Erwachsenen von Zeit zu Zeit unter Depression leidet. Menschen, die Herzattacken erlitten und auch depressiv waren, hatten eine vierfach erhöhte Wahrscheinlichkeit, in den folgenden sechs Monaten an einer Herzattacke zu sterben. Forscher haben herausgefunden, dass sich viele depressive Patienten in einem Zustand der Übererregung befinden, und das bedeutet mehr Druck und Aktivierung für das Herz. Stresshormone beschleunigen den Herzschlag. Was verursacht chronisch hohe Stresshormon-Spiegel? Sie lassen sich weitgehend auf traumatische Einprägungen zurückführen. Unsere Eigenforschung in London mit Speichelkortisol ergab, dass Primärpatienten anfangs sehr hohe Werte dieses Stresshormons aufweisen und viel niedrigere später nach der Therapie. Die Schlussfolgerung: Früher Schmerz spielt bei der Produktion dieses Stresshormons eine Rolle.

 

Selbstmord vorbeugen, Depression vorbeugen

 

Ich sehe mir an, was die in meiner Apotheke ausliegende Broschüre zum Thema Depression sagt: Sie behauptet: „Niemand ist gegen Depression immun.“ Vielleicht stimmt das, aber wir können die Wahrscheinlichkeit ein gutes Stück verringern, wenn wir bei der Erziehung unserer Kinder achtgeben. Wenn man Selbstmord und Depression verhindern will, erfordert das grundsätzlich die gleichen gesunden Erfahrungen am Lebensanfang, die mit größter Wahrscheinlichkeit auch zu einem gesunden Sexualleben führen. Es beginnt in der Schwangerschaft mit einer gesunden Mutter. Sie achtet sehr auf sich selbst, raucht nicht, trinkt keinen Alkohol und nimmt keine Drogen/Medikamente, denn was immer die Mutter während der Schwangerschaft einnimmt, findet letztlich seinen Weg ins System des Babys. Wenn sie ängstlich oder deprimiert ist, werden darüber hinaus die hormonellen Veränderungen das chemische Gleichgewicht des Babys verändern, vielleicht auf Dauer. Somit haben wir es hier aufgrund des Drogenkonsums der Mutter mit beachtlicher Verdrängung im Fetus zu tun, die für spätere Depression anfällig macht, und allzu oft fällt die Drogenwahl später im Leben bei dieser Art von Person auf Aufputscher. Wir brauchen eine ruhige Mutter, die das Kind wirklich will, denn wenn das bei einer Frau nicht der Fall ist, gibt es viel mehr Geburtsprobleme und spätere Lebensprobleme. Wenn die Schwangere die ganze Zeit „down“ und deprimiert ist, wird ihr Baby davon beeinflusst und sein System neigt ebenso zur Depression. Ihre beiden Systeme sind unlösbar miteinander verbunden.

 

      Als Nächstes sollte das Kind eine gute Geburt haben, so dass am Lebensanfang keine überwältigende Sinnlosigkeit entsteht. Die Mutter bringt ihr Baby auf natürliche Weise zur Welt, wenn möglich ohne Anästhesie, weil diese Medikamente die Atmung und andere Systeme beim Fetus und Neugeborenen schwer beeinträchtigen. Die Nabelschnur sollte nicht sofort durchgeschnitten werden, weil sie noch für lange Zeit reichlich Sauerstoff enthält.

 

Die ideale Geburt gründet auf der Forschung von Dr. Frederic Leboyer. Sie schafft eine Physiologie des Optimismus und die Erwartung, dass die Anstrengung von Erfolg gekrönt wird; diese Erfahrung wird im neurologischen System des Individuums verschlüsselt. Diese Art von Geburt beinhaltet belebend wirkende Anstrengung des Fetus, die zum Erfolg führt und auf die das Stillen an der Brust folgt. Das Baby wird sofort auf den Körper der Mutter gelegt, wo es Behaglichkeit und Wärme findet. Eine Trennung ist nicht tolerierbar, gleich, wie kurz oder lang sie dauert. Wenn Sie zukünftige Depression voraussagen wollen, beachten Sie bitte, dass anästhetisierte Babys oder auch solche mit Müttern, die eine spinale (epidurale) Injektion erhielten, bei der Geburt träger sind, nicht mit Eifer nach der Brust suchen und als Babys weitaus passiver sind. Das ist das Fundament für spätere Depression. Meine depressiven Patienten müssen ausnahmslos schreckliche Geburten mit Sauerstoffentzug (Anoxie) wiedererleben. Sie hatten nie genug Energie zum Kämpfen und haben sie noch immer nicht. Ihre Physiologie passt sich an all das an – mit  Schilddrüsen-Unterfunktion, erschöpften Vitamin-und Mineralstoff-Depots und geringerer Ausschüttung von Schlüsselhormonen. Natürlich ist es auch möglich, dass man nicht aufgrund eines Geburtstraumas deprimiert ist sondern aufgrund einer sterilen, kalten, lieblosen Atmosphäre im Elternhaus. In diesem Fall wird die Depression nicht so tief oder hartnäckig sein. Sie wird sich auch leichter behandeln lassen.

 

Auf eine gute Schwangerschaft und Geburt folgt ein Familienleben, bei dem die Eltern sich sorgfältig um die Bedürfnisse des Kindes kümmern und ihre Liebe durch eine Kultur zeigen, die den Ausdruck von Gefühlen erlaubt;  das wird die Selbstmordrate sicherlich einschränken. Wenn Sie Selbstmord bei einem bestimmten Erwachsenen verhindern wollen, müssen Sie Hoffnung, Unterstützung und Ermutigung anbieten. Es muss – kurz gesagt - das geben, was bei der Geburt und in der Kindheit fehlte: Wärme; Fürsorge, Sicherheit, Hilfe und am allermeisten Hoffnung.

 

Bei Leuten, die suizidal sind, haben im Grunde ihre Entscheidungen und ihr Verhalten – alles, was sie in ihrem Leben gemacht haben – frühen Schmerz verewigt und verschlimmert. Ihre katastrophale Kindheit hat sie gezwungen, in späteren Jahren auf selbstzerstörerische Weise auszuagieren. Sie haben sich auf Leute eingelassen, die so bedürftig und instabil sind wie sie selbst (im Grunde wie die Eltern), und die sie deshalb enttäuschen werden. Die frühe Deprivation führt dazu, dass sie totale Aufmerksamkeit brauchen, die ihre Entbehrungen im Leben ausgleichen sollen; aber das kann niemand anbieten. Oft sind sie total auf sich selbst zentriert, weil ihr Schmerz das Einzige ist, das zählt. Sie können nicht geben; sie wollen alles. Sie verschlingen andere, brauchen Liebesbeweis um Liebesbeweis; und natürlich ist es nie genug. Was sie gewöhnlich finden, ist jemand, der dasselbe braucht. Niemand gibt dem anderen. Sie klammern sich alle an ein sinkendes Schiff.

 

Oft brauchen Depressive andere, die ihnen Leben einflößen, wortwörtlich und im psychologischen Sinn. Ihre extreme Passivität und Lethargie zwingt sie dazu, durch andere zu leben. Ihr Brennpunkt liegt außen, und wenn man ihnen die Krücke wegnimmt, auf die sie sich stützen, werden sie depressiv.

 

Da sie von unbewussten Gefühlen getrieben werden, sind sie so geschädigt, dass sie keinen Partner bekommen und halten können. Man kann sich nicht auf sie verlassen, sie sind launisch und unberechenbar und verlieren dadurch Freunde. Sogar ihr Selbstmordakt kann auf einen plötzlichen Impuls folgen, ohne dass sie tatsächlich irgendeinen Gedanken aufs Sterben verwenden. Sie können ihre Handgelenke aufschlitzen, den Schmerz sichtbar und greifbar machen und doch nie in Erwägung ziehen, dass sie buchstäblich verbluten könnten. Oft ist es ein Hilfeschrei, weil sie sich selbst nicht helfen können.

 

Leute, die einen Selbstmordversuch unternehmen, wissen einfach nicht mehr, wie sie weiterleben sollen. Sie wollen ihr Leiden beenden, aber weil es das Selbst ist, das leidet, entscheiden sie sich, das Leben zu beenden. Wenn man ihnen versprechen könnte, das Leiden zu beenden, würden sie nicht sterben wollen. Selbst ein kleiner Hoffnungsschimmer kann den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Schauen Sie sich Filmstars wie Marilyn Monroe an, die anscheinend alles einschließlich Fans hatten, die sie bewunderten, und sich dennoch völlig ungeliebt und elend fühlten. Die brauchen nicht mehr Liebe; schließlich fehlt es nicht an der Liebe von Millionen Leuten. Nun mag Sie das überraschen, aber das ist das Entscheidende: Diese Menschen müssen sich von den Leuten ungeliebt fühlen, die in ihrem Leben zählten: ihre Eltern. Wenn sie dieses Gefühl wiedererleben, löst es die Blockaden im System und wirkt befreiend.

 

Damit ein Mensch wieder glaubt, dass es einen Grund gibt, um am Leben zu bleiben, damit er sich nicht wieder suizidalen Gedanken und Plänen zuwendet, muss er schließlich in einer geeigneten therapeutischen Umgebung die Originalgefühle erleben, die seiner Hoffnungslosigkeit zugrunde liegen. Der Patient muss gegenwärtige Verlustgefühle und Traurigkeit von alten Verzweiflungsgefühlen trennen.

 

Nur Hoffnung zu spenden, ohne dass der Patient die Hoffnungslosigkeit fühlt, ist nicht heilsam. Das hilft nur oberflächlich, wie zum Beispiel die guten Ratschläge des YMCA. Aber die Fähigkeit des Menschen, Depression und Selbstmordneigung zu beenden, liegt im Erleben der Hoffnungslosigkeit.

 

„Nun,“ könnte man sagen, „ich war völlig hoffnungslos, weil ich meine Freundin verloren habe. Das sollte reichen.“ Dem ist nicht so; die Hoffnungslosigkeit muss in ihrem Originalzusammenhang gefühlt werden, sonst heilt sie nicht. Das abgespeicherte Originalgefühl muss zu Bewusstsein gebracht werden, so dass es nicht mehr ausgelöst werden kann. Es liegt Hoffnung in der ursprünglichen Hoffnungslosigkeit, wenn sie in einer sicheren, warmen Atmosphäre gefühlt wird. Wenn jemand die völlige Hoffnungslosigkeit ganz früh im Leben gefühlt hat, wandelt sie sich in Hoffnung, und niemand muss ihm oder ihr noch Hoffnung anbieten. Die Person ist auf dem Weg zur Gesundheit, wenn es weniger schwer fällt zu leben als sich umzubringen. Die Hoffnung, die sie jetzt hat, ist Wirklichkeit und keine Fantasie.

 

Das Gefühl der Niederlage besiegen

 

Solange ein bisschen Hoffnung flackert, lässt sich der Tod vermeiden. Wenn aber die Ex-Partnerin die Scheidung einreicht und einen anderen heiraten will, ist die letzte Spur von Hoffnung dahin. Wenn ein Mann, der von seiner Frau verlassen wurde, auch von seiner Mutter verlassen worden war, als er ein kleines Kind war (oder wenn seine Mutter emotional abwesend war), wird der angehäufte Schmerz überwältigend sein. Wenn die Ehefrau geht und mit einem anderen zusammenlebt und wenn die Mutter dasselbe tat, als das Kind klein war, resoniert der gegenwärtige Schmerz mit der Vergangenheit und macht die Agonie fatal. Es hat erschütternde Wirkung, wenn eine Mutter das Zuhause verlässt und die Kinder in die Hände eines tyrannischen betrunkenen Vaters gibt oder in die Hände eines gefühllosen Steins von einem Mann, der überhaupt keine emotionalen Reaktionen zeigt. Für das Kind ist die Sache unlogisch. Es kann sich nicht vorstellen, dass das Leben weitergeht, weil es in seinen Gefühlen immer noch der gequälte kleine Junge ist, völlig allein, hilflos, entfremdet – hoffnungslos. Wir als Therapeuten können dem Erwachsenen Hoffnung geben, aber der kleine Junge im Mann ist noch immer da und leidet.

 

Es gibt Stufen der Sinnlosigkeit, die sich mit jedem Trauma aufbauen, wenn wir klein sind. Mit 30 Jahren den Partner zu verlieren ist lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, wenn wir als kleines Kind ein ähnliches Trauma erlitten, wie zum Beispiel den Verlust eines Elternteils. Die Kraft dieses angehäuften Urschmerzes kann die wichtigste Grundtendenz des Lebens – Überleben – umkehren und den Selbstmord logisch scheinen lassen.

 

Die Essenz vieler Selbstmordversuche ist Hoffnungslosigkeit. Der Überlebensinstinkt lässt sich nur besiegen, wenn die Psyche so geschädigt ist, dass sich der Instinkt fürs Leben umkehrt und der Tod zum Ziel wird. Suizid ist die Option eines Organismus, der zerstört worden ist und dem es so an Liebe und vor allem an Hoffnung fehlt, dass es keine Erholung gibt. Selbstmord scheint eine logische Handlung eines ruinierten Organismus zu sein, einer Kindheit ohne Wärme, Fürsorglichkeit und Freundlichkeit. Er sagt: „Nichts, was ich jetzt tun kann, funktioniert. Nichts holt mich aus dem Schmerz heraus. Nichts gibt mir das Gefühl, dass ich geliebt und gewollt bin. Es lässt sich nichts mehr machen, es gibt kein Ausagieren, keine Hoffnung mehr.“ Dann kommt es zum Selbstmord, dem äußersten Selbstzerstörungsakt.

 

Wenn der Mann, der sich umzubringen versucht, weil seine Frau mit einem anderen weggelaufen ist, sein Urbedürfnis (nach seiner Mutter) tief hätte fühlen können, dann hätte sich der Drang zum Selbstmord abgeschwächt. Zuerst muss er den gegenwärtigen Verlust fühlen, in das Verlustgefühl eintauchen und dann in die Vergangenheit reisen, wo der Prototyp liegt. Das Problem ist, dass er das nicht ohne Hilfe machen kann, weil die Verdrängung der alten Erinnerungen das Gefühl in der Gegenwart und den Brennpunkt außen hält.

 

 

Die Evolution suizidaler Gefühle (Der elektrische Schaltkreis)

 

Wie ich früher erklärt habe, involviert der Selbstmord typischerweise den Ablauf der Geburtssequenz. Wenn die Schmerzvalenz in der Gegenwart hoch genug ist, kann sie den alten gleichermaßen schmerzvollen Prototyp auslösen, der sich dann des Lebens bemächtigt, indem er den Ablauf der Originalsequenz inszeniert. Da der Tod die logische Auflösung des Originaltraumas war, bringt er sich in die Gegenwart ein und zwingt die Person, jetzt den Tod in Betracht zu ziehen. Wir haben gesehen, wie beim Parasympathen der Geburtsprototyp mit dem Erlebnis der Todesnähe endete, wobei der Tod als einzige Möglichkeit gesehen wurde, die Qual zu beenden. Depression betrifft Leute, deren Geburt im Wesentlichen ein Kampf-und-Scheitern-Erlebnis war, das mit Düsternis, Verzweiflung und Niederlage endete.

 

Der Ablauf der Geburtssequenz bleibt sich selbst treu und weicht in der Regel nicht ab; er ist wie ein elektrischer Schaltkreis. Wenn ein Gegenwartsereignis stark genug ist, um die Geburt auszulösen, dann kann man die Handlung der Person voraussagen. Wenn man zum Beispiel durch Unfall oder Krankheit ein Kind verliert, setzt ein Gefühl großer Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ein, das möglicherweise zu suizidalen Gedanken oder Handlungen führt. Einer der Gründe dafür ist, dass es durchaus möglich und sogar wahrscheinlich ist, dass der Elternteil sein Leben durch das Kind gelebt hat. Die Mutter lebt in ihrer eigenen Kindheit, verhätschelt das Kind und will es aufgrund ihres eigenen Bedürfnisses immer in ihrer Nähe haben. Der Tod des Kindes macht folglich jede Chance der Mutter zunichte, ihre eigene Kindheit wiederzuerleben, und dann kann es zu Depression kommen, weil alle Optionen beseitigt worden sind. Man fragt sich vielleicht, wie das möglich ist. Der Grund ist, dass das frühe Trauma das Verhalten des Erwachsenen infiltriert, so dass sie oder er nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden kann.

 

 

Dina

Es war Herbst, und ich war 7 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Tag traurig und allein war und aus irgendeinem unbekannten Grund sehr viel Angst hatte. Ich ging in den Wald, was ich immer dann getan habe. Es gab da eine riesige Eiche, auf die ich immer kletterte, wenn ich Platz und Ruhe für mich selbst wollte. An jenem Tag erreichte ich die Baumkrone und hatte ein gewaltiges Gefühl wie: „Ich hab’s geschafft. Das ist jetzt mein Platz.“ Lange Zeit hielt ich meine Augen geschlossen. Die Sonne und der Himmel schienen mir ganz nahe zu sein, und der Wind war sanft. Ich war ganz nahe dran, mich glücklich zu fühlen und die Welt um mich zu vergessen.

 

Plötzlicher Starkwind brachte mich in die Realität zurück. Ich hatte Angst davor, diesen neugefundenen Platz zu verlieren und den Schmerz fühlen zu müssen, in eine Welt zurückgezogen zu werden, in der ich nicht sein wollte. Ich wurde dann zornig und beschloss, gegen die Natur zurückzuschlagen. Ich kletterte hinunter, und da sah ich einen alten und morschen Ast. Ich stieg auf ihn und traf die Entscheidung, dass ich fallen wollte. So fiel ich von einem hohen Ort; ich prallte mit dem Kopf auf und verletzte mir meinen linken Arm. Aber sonst war nichts passiert. Ich fing an, meinen Körper mit den Blättern um mich herum zuzudecken, besonders meinen Kopf, Nase und Mund. Ich lag da eine ganze Weile und wollte mich nicht bewegen. Dann wurde es dunkel, und ich fürchtete, meine Mutter könnte wütend auf mich sein. Ich stand auf und ging nach Hause, fühlte mich sehr hoffnungslos, traurig und desillusioniert.

 

Zwei Tage später sah meine Mutter meinen jetzt geschwollenen linken Arm und fragte mich, was passiert war, aber ich konnte ihr nicht sagen, dass ich ein „neues Zuhause“ suchte, und so gab ich vor, es nicht zu wissen. Sie wurde wütend auf mich und bandagierte meinen Arm. Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und versuchte angestrengt, sie hinunterzuschlucken.

 

Jahre später, als ich 12 oder 14 war, machte ich mit meiner Schulklasse einen Landausflug. Da war ein großer See, und ich ging hinein und schwamm mitten hinaus auf eine kleine Insel, die dort war. Ich lag am Ufer auf dem Rücken, vergaß die Zeit und die Welt um mich und fühlte mich unglaublich getröstet und liebkost. Dann spürte ich, wie die Kälte in meinen Körper kroch, meine Arme und Beine lähmte und meinen Herzschlag verlangsamte; meine inneren Organe beruhigte. Nach einer Weile ging ich wieder in den See, und mein Körper und das umgebende Wasser fühlten sich wie eins, und ich hatte wieder dieses vertraute Gefühl, meinen Körper total aufzugeben und ihn treiben zu lassen, wohin auch immer die Strömung ihn tragen würde. Plötzlich eine brutale Berührung, eine wütende Stimme, und mein Lehrer zog mich aus dem Wasser und brachte mich in diese Welt zurück. Er war sehr wütend auf mich und brüllte mich an. Ich zitterte ganz schön, Tränen traten mir in die Augen, und ich schämte mich, als hätte ich etwas falsch gemacht, als wollte ich nicht, dass er weiß, was ich draußen auf dem Wasser wirklich gefühlt habe. Ich war sehr traurig, wusste aber nicht warum. Ich war gleichzeitig wütend, wusste aber ebenso nicht warum.

 

Das dritte Mal, dass ich eine unvergessliche Erinnerung auf einem See hatte, war, als ich 29 Jahre alt war. Wieder ging ich schwimmen und vergaß die Welt um mich. Mit einer Gruppe von 20 Erwachsenen besuchten wir einen kalten See in den Bergen von Italien. Wieder fühlte ich mich unwohl, als ich mit der Gruppe zusammen war, und bekam dieses lebenslange Gefühl, zu niemandem zu gehören. Ich schwamm hinaus, um Platz für mich selbst zu haben. Es gefiel mir, so lange und so oft zu tauchen, wie ich konnte. Ich blieb da länger als eine Stunde in diesem kalten Wasser, meistens ganz in seinen Tiefen abgetaucht, ohne dass mir kalt war. Ich wollte nicht zu den anderen zurück und erlebte nur ein aufgeregtes Gefühl, was geschehen könnte, wenn mir der Atem stockte.

 

Ich war glücklich. Ich liebte es, meinen Atem anzuhalten; ich versuchte so angestrengt, wie es nur ging, die Luft anzuhalten. Ich liebte es, eine Art Furcht zu fühlen, dass ich nicht genug Luft habe. Jedesmal missfiel mir der Augenblick, wenn ich auftauchen und Atem holen musste. Dann schwamm eine Frau zu mir hinaus und zwang mich zurückzukommen, weil sie alle sehr besorgt waren. Ich genierte mich wieder, als mich alle ansahen und Witze darüber machten, dass ich so lange im Wasser war.

 

Das letzte halbe Jahr, bevor ich in die Therapie kam, dachte ich oft, dass ich anfangen sollte, starke Schlaftabletten zu sammeln für den Fall, dass die Therapie mir nicht hilft. Und ich habe noch immer das Gefühl, dass ich lieber meinen Körper Schluss machen lassen würde, wenn ich den Schmerz nicht überwinden kann.

 

Ich bin jetzt 41 Jahre alt. Ich bin seit fünf Monaten in Primärtherapie. Ich fühlte mich unglaublich traurig und schrecklich unglücklich, als ich anfing. Einmal war ich am Strand, als ein starker Wind aufkam. Ich schaute meinen Mann und meine zwei Kinder an, als mir plötzlich der Bauch weh tat und mein Körper zu zittern anfing. Ich wurde sehr nervös und hatte den Impuls: „Ich muss gehen.“ Die Wellen waren sehr hoch, und ich beschloss, ins Meer zu gehen und zu versuchen, mich zu entspannen. Eine Welle wuchs so hoch, dass ich den starken Wunsch verspürte, mich in sie fallen zu lassen. Die Welle warf mich durchs Wasser. Ich fühlte den Druck und das Vergnügen, meinen Körper loszulassen, mich von der Kraft der Welle tragen zu lassen. Ich schlug mit dem Kopf einige Male hart auf dem Sandgrund auf. Ich wurde immer wieder mit dem Gefühl herumgewirbelt, dass es keine Luft gab. Ich musste atmen. Ich öffnete meinen Mund, der sich sofort mit Wasser füllte. Ich war sehr aufgeregt. Dann warf mich die Kraft des Wassers in Sekundenschnelle aus der Welle. Ich glitt in Richtung Strand, und plötzlich war es vorbei. Ich kann immer noch den Moment der Erleichterung spüren und sowas wie Resignation, dass es vorbei war. Ich ging zu meiner Decke zurück, und mein ganzer Körper zitterte stark. Ich hatte Angst, wusste aber nicht genau warum, und ich wollte weinen, konnte aber nicht.

 

Ich kann und will nicht sagen, dass ich suizidal bin. Aber in bestimmten Augenblicken meines Lebens habe ich ein starkes Verlangen, einen Punkt zu erreichen, wo ich entspannen kann, einen gewissen Frieden habe, wo alles zu Ende ist. Im Wasser komme ich dazu, das zu tun, was ich wirklich tun will, und es ist mir gleich, dass es mir den Tod bringen könnte. Wenn mich im Inneren das Gefühl ausfüllt, dass alles zu viel ist, möchte ich kämpfen, habe aber keine Ahnung wogegen. Wenn mich dieses schreckliche Gefühl erfasst, dass mir nichts gelingt, dass ich nichts bekommen kann, das mir Befriedigung verschafft, dann möchte ich, dass äußere Umstände die Macht ergreifen, und ich mache mir nichts aus den Folgen. Aber insgeheim warte ich darauf, dass mich jemand herauszieht und rettet, genau wie es bei meiner Geburt geschah.

 

Ich hatte diese Gefühle oft in meinem Leben; das Hauptgefühl ist: „Es gibt keinen Ausweg, und es hat keinen Zweck, es weiter zu versuchen.“ Das habe ich oft gefühlt, besonders als mein erster Mann bei einem Streit seine Hände um meinen Hals legte, so dass ich keine Luft bekam.

 

Ich habe immer den Gedanken gehabt, dass ich etwas tun muss, wenn ich meinen Frieden will; dass ich ohne die Hilfe eines anderen nicht sterben kann. Wenn ich in tiefes rauhes Wasser gehe, bekomme ich von ihm meine Hilfe. Wenn ich gewisse Medikamente nehme, bekomme ich die realen Körperempfindungen, die ich will. Ich will einfach, dass das alles ohne Warten aufhört. Ich habe immer noch mehr Angst davor, auf dieser Welt und lebendig zu sein, als dass ich den Tod fürchte.

 

In den Therapiesitzungen habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem Kopf sehr hart gegen die Matratze schlagen muss. Jetzt erkenne ich das Gefühl, langsam gelähmt zu werden, wenn ich auf meinem Rücken schwimme, und nicht mehr atmen zu können. Wenn ich meine Geburt wiedererlebe, kann ich nicht atmen.So weit ich mich zurückerinnern kann, hat mich Wasser schon immer fasziniert. Jeder schmutzige kleine See macht mich traurig, weil ich darin nicht schwimmen kann. Im Winter habe ich den tiefen Wunsch, mit meinen Kleidern an hineinzugehen. Im Wasser will ich keine Gesellschaft. Ich muss das Gefühl haben, dass es für mich allein da ist. Seit ich mehrere Geburtsfeelings hatte, bin ich mir mehr darüber bewusst, was sich abspielt, wenn ich im Wasser schwimme. Es bringt mich zum Mutterleib zurück.

 

Das erste Primal-Erlebnis brachte mich in Schreckens- und Einsamkeitsgefühle. Ich begreife meinen Bewegungsdrang, den ich nie zuvor verstanden habe. Ich fühle diesen Konflikt, bleiben zu wollen, wo ich bin (wo es sicher ist), und gleichzeitig ein Gefühl, herausgezogen zu werden, bevor ich bereit bin. Da ist verzweifelte Wut und Panik. Ich schreie: „Bitte verstoß’ mich nicht!!“ Nach diesem Wiedererlebnis verschwand mein lebenslanges Gefühl von „Ich gehör nirgends dazu“. Ich wollte immer zu meiner Mutter gehören, aber es sollte nicht geschehen. Sogar bei der Geburt wurde ich „verstoßen.“ Das steckte hinter meinem ganzen Leben voller Ruhelosigkeit, die ich ausagierte, indem ich um die ganze Welt reiste. Ich konnte es nirgends länger als ein paar Stunden aushalten. Dieses Problem hat sich erledigt. Ich habe gefühlt, dass ich bei der Geburt ertrank, an Flüssigkeit erstickte. Oft fühlt es sich an, als möchte ich mich bewegen, aber meine Beine funktionieren nicht. Nur mein Kopf bewegt sich mit Mühe. Manchmal, wenn ich die schreckliche Angst fühle, will mein Körper gegen die Matratze schlagen, so hart er nur kann. Und genau dort ist der Anfang des Gefühls: „Ich kann an meiner Zwangslage nichts ändern.“ Ich musste schreien, ohne zu verstehen, was los war. Jetzt weiß ich Bescheid.

 

Je mehr ich dieses Gefühl des Ertrinkens erlebe, umso weniger denke ich daran, mich in einem See zu ertränken. Noch wichtiger ist, dass ich nicht mehr den Drang verspüre, ins Wasser zu gehen, wenn ich in der Nähe eines Sees oder am Meer bin. Aber ich mag die Vorstellung, im Wasser zu sein, nach wie vor. Und wenn ich sterben muss, dann auf diese Weise.

______________________________________

 

 

Ende des Kapitels

 

 

 

 

 Buchübersetzung: Bücher von A. Janov