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Kapitel 10
Vom
Selbstmord besessen
Tragischerweise
bringen sich laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2002
jedes Jahr etwa 800.000 Menschen um. Meistens geschieht es bei Männern (dreimal
häufiger als bei Frauen) und bei älteren Leuten. Die Zahl könnte sehr viel höher
sein, wenn man bedenkt, dass viele Unfälle tatsächlich Selbstmorde sind. Und
es gibt viel mehr Selbstmordversuche. Etwa 15 Prozent der Depressiven begehen
schließlich Selbstmord. Der Bericht des Zentrums für Krankheitskontrolle aus
dem Jahr 1996 listete Selbstmord auf dem neunten Platz der häufigsten
Todesursachen in den USA auf. Bei vielen, die letztendlich
Selbstmord begehen, ist es nicht das erste Mal, dass sie es versucht
haben. Einige Selbstmorde folgen auf einen größeren Verlust wie zum Beispiel
das Scheitern einer Ehe. Nichtsdestotrotz ist das Leben zu wertvoll, um es
einfach wegzuwerfen, weil man von seinem Partner verlassen wird. Wenn Sie
jemanden lieben, der Sie nicht mehr liebt und geht, ist das gewiss eine
Erfahrung, die tiefe und schreckliche Traurigkeit hervorrufen kann, aber sie
sollte nicht dazu führen, dass Sie sterben wollen. Kein Mensch tötet sich,
weil sein Partner/seine Partnerin mit einem anderen durchgebrannt ist –
das heißt, kein gesunder Mensch. Natürlich verbindet zwei Menschen, die
seit 40 Jahren oder länger zusammen sind, ein unglaublich starkes emotionales
Band. Der Verlust eines Patners ist außergewöhnlich schmerzhaft. Aber das
Leben geht weiter, weil es weitergehen muss; es ist eine Sache, wenn dieses Band
zerbricht, aber sterben zu wollen ist eine ganz andere. Menschen wollen sich nur
dann umbringen, wenn dieses Verlassenwerden mit einem gewaltigen Ereignis in der
Kindheit resoniert, mit einer Sache, bei der es damals um Leben oder Tod ging,
wenn auch nicht in jedem Fall. Jemand, der 50 Jahre mit einem anderen Menschen
zusammenlebte, hat zweifellos das Gefühl, dass das Leben für ihn vorbei ist,
wenn sein Partner/seine Partnerin geht. Es besteht kaum eine Chance, sich an
eine andere Person zu binden, ein neues Leben mit einem anderen Menschen zu
beginnen. Das einzige Gegenmittel gegen Depression ist in diesem Fall zu weinen.
Genau das beseitigt bei meinen Patienten die Depression und wird dies
auch bei jemandem tun, der einen Langzeit-Partner im Leben verloren hat.
Es
fällt vielleicht schwer zu glauben, dass Geburtsprobleme Jahre später
suizidale Tendenzen hervorbringen können, aber das ist wahr. Das kommt daher,
dass wir nicht gewohnt sind, an physiologische Erinnerungen zu denken, und dass
uns der Gedanke fremd ist, dass die mächtigsten Erinnerungen, die wir haben,
diejenigen ohne Worte sind: Ereignisse, die auftraten, bevor wir verstehen
konnten, was mit uns geschah. Wie wir in der vorangegangenen Erörterung der
Wirkung des Geburtstraumas auf Sex gesehen haben, verschwindet die Verzweiflung
während eines Geburtstraumas nie. Sie fließt in späteres Verhalten ein und
verschlimmert es. So türmt sich der spätere Verlust eines/einer Geliebten auf
und ruft eine katastrophale Sinnlosigkeit hervor.
Unseren Beobachtungen zufolge kann suizidale Hoffnungslosigkeit direkt aus der
Geburtssequenz entstehen. Die Neigung zum Selbstmord entwächst genau wie die
Natur des Sexuallebens eines Menschen dem bei der Geburt etablierten Prototyp.
Als der Fetus am Lebensanfang mit Stress konfrontiert wurde, hatte er keine
andere Wahl, als sich zu verschließen und Energie zu sparen. Dieses Muster wird
prototypisch: Das Baby müht sich ab, hat aber keinen Erfolg, versucht es dann
immer wieder und scheitert erneut. Es ist absolut hoffnungslos. Das Baby kann
nichts mehr tun und erlebt ein Gefühl von Sinnlosigkeit und dann Resignation.
Später im Leben rufen Widrigkeiten Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und den
Wunsch aufzugeben hervor, der direkte „Endlauf“ der Geburtssequenz.
„Endlauf“ ist hier ein Schlüsselbegriff, denn wenn etwas in der Gegenwart
mit einer alten Erinnerung resoniert, sind wir gezwungen, die ganze Sequenz bis
zum logischen Schluss auszuagieren. Das ist der Grund, warum es zu dem
Zwangsgedanken an Tod und Selbstmord kommt, wenn man in dem Feeling steckt. Der
Unterschied ist der, dass das Neugeborene den Tod nur vage fühlen kann, weil es
keinerlei Verhaltensoptionen hat, während der Suizidale den Tod als
Verhaltensoption benutzt, um die Agonie zu beenden.
Das
große Problem ist, dass die Person nie weiß, woher die Agonie kommt. „Es ist
halt so tröstlich zu wissen, dass ich den Schmerz jederzeit beenden kann, wenn
ich es will,“ bemerkte eine Patientin von mir, die vom Tod besessen war. Sie
konnte sich nicht vorstellen, neue Wege zu gehen, wie zum Beispiel in eine neue
Stadt zu ziehen, einen anderen Gefährten oder Job zu finden, weil das eingeprägte
Fehlen von Alternativen den Gesichtskreis und die Vorstellung eines Menschen
einschränkt.
Ein interessantes Streiflicht: Ein Artikel in der New York Times („Was kommt zuerst, Depression oder Herzkrankheit?“, von Gina Kolata, 14. Jan. 1997) deutet auf sich mehrende Beweise hin, dass Leute mit Depression mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Herzkrankheit entwickeln. Wenn man in Betracht zieht, dass tiefe Depression tiefe Verdrängung bedeutet und die wiederum tiefen Schmerz, kann dieses Schlussergebnis nicht überraschen. Was das ‚Warum’ betrifft, gibt es zwei Denkschulen. Die erste besagt, dass die biochemischen Veränderungen (die Freisetzung von Stresshormonen), die bei der Depression auftreten, das Herz beeinflussen. Die zweite Sichtweise besagt, dass Depression die Leute traurig macht und sie dann ihr Herz vernachlässigen. Ich würde für die erste votieren, nur sollten wir noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass dieselbe frühe Einprägung und Prägung, die Menschen depressiv macht, letztlich auch ihr Herz beeinflusst; Stresshormone spielen in beiden Fällen eine Rolle. Leute, die deprimiert/verdrängt sind, neigen in einigen Fällen zu erhöhtem Blutdruck, und wenn jemand seine Medikamente vernachlässigt, kann eine Herzattacke folgen. Dieser Artikel vermerkt, dass einer von sechs Erwachsenen von Zeit zu Zeit unter Depression leidet. Menschen, die Herzattacken erlitten und auch depressiv waren, hatten eine vierfach erhöhte Wahrscheinlichkeit, in den folgenden sechs Monaten an einer Herzattacke zu sterben. Forscher haben herausgefunden, dass sich viele depressive Patienten in einem Zustand der Übererregung befinden, und das bedeutet mehr Druck und Aktivierung für das Herz. Stresshormone beschleunigen den Herzschlag. Was verursacht chronisch hohe Stresshormon-Spiegel? Sie lassen sich weitgehend auf traumatische Einprägungen zurückführen. Unsere Eigenforschung in London mit Speichelkortisol ergab, dass Primärpatienten anfangs sehr hohe Werte dieses Stresshormons aufweisen und viel niedrigere später nach der Therapie. Die Schlussfolgerung: Früher Schmerz spielt bei der Produktion dieses Stresshormons eine Rolle.
Selbstmord vorbeugen, Depression vorbeugen
Ich
sehe mir an, was die in meiner Apotheke ausliegende Broschüre zum Thema
Depression sagt: Sie behauptet: „Niemand ist gegen Depression immun.“
Vielleicht stimmt das, aber wir können die Wahrscheinlichkeit ein gutes Stück
verringern, wenn wir bei der Erziehung unserer Kinder achtgeben. Wenn man
Selbstmord und Depression verhindern will, erfordert das grundsätzlich die
gleichen gesunden Erfahrungen am Lebensanfang, die mit größter
Wahrscheinlichkeit auch zu einem gesunden Sexualleben führen. Es beginnt in der
Schwangerschaft mit einer gesunden Mutter. Sie achtet sehr auf sich selbst,
raucht nicht, trinkt keinen Alkohol und nimmt keine Drogen/Medikamente, denn was
immer die Mutter während der Schwangerschaft einnimmt, findet letztlich seinen
Weg ins System des Babys. Wenn sie ängstlich oder deprimiert ist, werden darüber
hinaus die hormonellen Veränderungen das chemische Gleichgewicht des Babys verändern,
vielleicht auf Dauer. Somit haben wir es hier aufgrund des Drogenkonsums der
Mutter mit beachtlicher Verdrängung im Fetus zu tun, die für spätere
Depression anfällig macht, und allzu oft fällt die Drogenwahl später im Leben
bei dieser Art von Person auf Aufputscher. Wir brauchen eine ruhige Mutter, die
das Kind wirklich will, denn wenn das bei einer Frau nicht der Fall ist, gibt es
viel mehr Geburtsprobleme und spätere Lebensprobleme. Wenn die Schwangere die
ganze Zeit „down“ und deprimiert ist, wird ihr Baby davon beeinflusst und
sein System neigt ebenso zur Depression. Ihre beiden Systeme sind unlösbar
miteinander verbunden.
Die
ideale Geburt gründet auf der Forschung von Dr. Frederic Leboyer. Sie schafft
eine Physiologie des Optimismus und die Erwartung, dass die Anstrengung von
Erfolg gekrönt wird; diese Erfahrung wird im neurologischen System des
Individuums verschlüsselt. Diese Art von Geburt beinhaltet belebend wirkende
Anstrengung des Fetus, die zum Erfolg führt und auf die das Stillen an der
Brust folgt. Das Baby wird sofort auf den Körper der Mutter gelegt, wo es
Behaglichkeit und Wärme findet. Eine Trennung ist nicht tolerierbar, gleich, wie
kurz oder lang sie dauert. Wenn Sie zukünftige Depression voraussagen wollen,
beachten Sie bitte, dass anästhetisierte Babys oder auch solche mit Müttern,
die eine spinale (epidurale) Injektion erhielten, bei der Geburt träger sind,
nicht mit Eifer nach der Brust suchen und als Babys weitaus passiver sind. Das
ist das Fundament für spätere Depression. Meine depressiven Patienten müssen
ausnahmslos schreckliche Geburten mit Sauerstoffentzug (Anoxie) wiedererleben.
Sie hatten nie genug Energie zum Kämpfen und haben sie noch immer nicht. Ihre
Physiologie passt sich an all das an – mit
Schilddrüsen-Unterfunktion, erschöpften Vitamin-und Mineralstoff-Depots
und geringerer Ausschüttung von Schlüsselhormonen. Natürlich ist es auch möglich,
dass man nicht aufgrund eines Geburtstraumas deprimiert ist sondern aufgrund
einer sterilen, kalten, lieblosen Atmosphäre im Elternhaus. In diesem Fall wird
die Depression nicht so tief oder hartnäckig sein. Sie wird sich auch leichter
behandeln lassen.
Auf
eine gute Schwangerschaft und Geburt folgt ein Familienleben, bei dem die Eltern
sich sorgfältig um die Bedürfnisse des Kindes kümmern und ihre Liebe durch
eine Kultur zeigen, die den Ausdruck von Gefühlen erlaubt;
das wird die Selbstmordrate sicherlich einschränken. Wenn Sie Selbstmord
bei einem bestimmten Erwachsenen verhindern wollen, müssen Sie Hoffnung,
Unterstützung und Ermutigung anbieten. Es muss – kurz gesagt - das geben, was
bei der Geburt und in der Kindheit fehlte: Wärme; Fürsorge, Sicherheit, Hilfe
und am allermeisten Hoffnung.
Bei
Leuten, die suizidal sind, haben im Grunde ihre Entscheidungen und ihr Verhalten
– alles, was sie in ihrem Leben gemacht haben – frühen Schmerz verewigt und
verschlimmert. Ihre katastrophale Kindheit hat sie gezwungen, in späteren
Jahren auf selbstzerstörerische Weise auszuagieren. Sie haben sich auf Leute
eingelassen, die so bedürftig und instabil sind wie sie selbst (im Grunde wie
die Eltern), und die sie deshalb enttäuschen werden. Die frühe Deprivation führt
dazu, dass sie totale Aufmerksamkeit brauchen, die ihre Entbehrungen im Leben
ausgleichen sollen; aber das kann niemand anbieten. Oft sind sie total auf sich
selbst zentriert, weil ihr Schmerz das Einzige ist, das zählt. Sie können
nicht geben; sie wollen alles. Sie verschlingen andere, brauchen Liebesbeweis um
Liebesbeweis; und natürlich ist es nie genug. Was sie gewöhnlich finden, ist
jemand, der dasselbe braucht. Niemand gibt dem anderen. Sie klammern sich alle
an ein sinkendes Schiff.
Oft
brauchen Depressive andere, die ihnen Leben einflößen, wortwörtlich und im
psychologischen Sinn. Ihre extreme Passivität und Lethargie zwingt sie dazu,
durch andere zu leben. Ihr Brennpunkt liegt außen, und wenn man ihnen die Krücke
wegnimmt, auf die sie sich stützen, werden sie depressiv.
Da
sie von unbewussten Gefühlen getrieben werden, sind sie so geschädigt, dass
sie keinen Partner bekommen und halten können. Man kann sich nicht auf sie
verlassen, sie sind launisch und unberechenbar und verlieren dadurch Freunde.
Sogar ihr Selbstmordakt kann auf einen plötzlichen Impuls folgen, ohne dass sie
tatsächlich irgendeinen Gedanken aufs Sterben verwenden. Sie können ihre
Handgelenke aufschlitzen, den Schmerz sichtbar und greifbar machen und doch nie
in Erwägung ziehen, dass sie buchstäblich verbluten könnten. Oft ist es ein
Hilfeschrei, weil sie sich selbst nicht helfen können.
Leute,
die einen Selbstmordversuch unternehmen, wissen einfach nicht mehr, wie sie
weiterleben sollen. Sie wollen ihr Leiden beenden, aber weil es das Selbst ist,
das leidet, entscheiden sie sich, das Leben zu beenden. Wenn man ihnen
versprechen könnte, das Leiden zu beenden, würden sie nicht sterben wollen.
Selbst ein kleiner Hoffnungsschimmer kann den Unterschied zwischen Leben und Tod
ausmachen. Schauen Sie sich Filmstars wie Marilyn Monroe an, die anscheinend
alles einschließlich Fans hatten, die sie bewunderten, und sich dennoch völlig
ungeliebt und elend fühlten. Die brauchen nicht mehr Liebe; schließlich fehlt
es nicht an der Liebe von Millionen Leuten. Nun mag Sie das überraschen, aber
das ist das Entscheidende: Diese Menschen müssen sich von den Leuten ungeliebt
fühlen, die in ihrem Leben zählten: ihre Eltern. Wenn sie dieses Gefühl
wiedererleben, löst es die Blockaden im System und wirkt befreiend.
Damit
ein Mensch wieder glaubt, dass es einen Grund gibt, um am Leben zu bleiben,
damit er sich nicht wieder suizidalen Gedanken und Plänen zuwendet, muss er
schließlich in einer geeigneten therapeutischen Umgebung die Originalgefühle
erleben, die seiner Hoffnungslosigkeit zugrunde liegen. Der Patient muss gegenwärtige
Verlustgefühle und Traurigkeit von alten Verzweiflungsgefühlen trennen.
Nur
Hoffnung zu spenden, ohne dass der Patient die Hoffnungslosigkeit fühlt, ist
nicht heilsam. Das hilft nur oberflächlich, wie zum Beispiel die guten Ratschläge
des YMCA. Aber die Fähigkeit des Menschen, Depression und Selbstmordneigung zu
beenden, liegt im Erleben der Hoffnungslosigkeit.
„Nun,“
könnte man sagen, „ich war völlig hoffnungslos, weil ich meine Freundin
verloren habe. Das sollte reichen.“ Dem ist nicht so; die Hoffnungslosigkeit
muss in ihrem Originalzusammenhang gefühlt werden, sonst heilt sie nicht. Das
abgespeicherte Originalgefühl muss zu Bewusstsein gebracht werden, so dass es
nicht mehr ausgelöst werden kann. Es liegt Hoffnung in der ursprünglichen
Hoffnungslosigkeit, wenn sie in einer sicheren, warmen Atmosphäre gefühlt
wird. Wenn jemand die völlige Hoffnungslosigkeit ganz früh im Leben gefühlt
hat, wandelt sie sich in Hoffnung, und niemand muss ihm oder ihr noch Hoffnung
anbieten. Die Person ist auf dem Weg zur Gesundheit, wenn es weniger schwer fällt
zu leben als sich umzubringen. Die Hoffnung, die sie jetzt hat, ist Wirklichkeit
und keine Fantasie.
Das
Gefühl der Niederlage besiegen
Solange
ein bisschen Hoffnung flackert, lässt sich der Tod vermeiden. Wenn aber die
Ex-Partnerin die Scheidung einreicht und einen anderen heiraten will, ist die
letzte Spur von Hoffnung dahin. Wenn ein Mann, der von seiner Frau verlassen
wurde, auch von seiner Mutter verlassen worden war, als er ein kleines Kind war
(oder wenn seine Mutter emotional abwesend war), wird der angehäufte Schmerz überwältigend
sein. Wenn die Ehefrau geht und mit einem anderen zusammenlebt und wenn die
Mutter dasselbe tat, als das Kind klein war, resoniert der gegenwärtige Schmerz
mit der Vergangenheit und macht die Agonie fatal. Es hat erschütternde Wirkung,
wenn eine Mutter das Zuhause verlässt und die Kinder in die Hände eines
tyrannischen betrunkenen Vaters gibt oder in die Hände eines gefühllosen
Steins von einem Mann, der überhaupt keine emotionalen Reaktionen zeigt. Für
das Kind ist die Sache unlogisch. Es kann sich nicht vorstellen, dass das Leben
weitergeht, weil es in seinen Gefühlen immer noch der gequälte kleine Junge
ist, völlig allein, hilflos, entfremdet – hoffnungslos. Wir als Therapeuten können
dem Erwachsenen Hoffnung geben, aber der kleine Junge im Mann ist noch immer da
und leidet.
Es
gibt Stufen der Sinnlosigkeit, die sich mit jedem Trauma aufbauen, wenn wir
klein sind. Mit 30 Jahren den Partner zu verlieren ist lediglich der Tropfen,
der das Fass zum Überlaufen bringt, wenn wir als kleines Kind ein ähnliches
Trauma erlitten, wie zum Beispiel den Verlust eines Elternteils. Die Kraft
dieses angehäuften Urschmerzes kann die wichtigste Grundtendenz des Lebens –
Überleben – umkehren und den Selbstmord logisch scheinen lassen.
Die
Essenz vieler Selbstmordversuche ist Hoffnungslosigkeit. Der Überlebensinstinkt
lässt sich nur besiegen, wenn die Psyche so geschädigt ist, dass sich der
Instinkt fürs Leben umkehrt und der Tod zum Ziel wird. Suizid ist die Option
eines Organismus, der zerstört worden ist und dem es so an Liebe und vor allem
an Hoffnung fehlt, dass es keine Erholung gibt. Selbstmord scheint eine logische
Handlung eines ruinierten Organismus zu sein, einer Kindheit ohne Wärme, Fürsorglichkeit
und Freundlichkeit. Er sagt: „Nichts, was ich jetzt tun kann, funktioniert.
Nichts holt mich aus dem Schmerz heraus. Nichts gibt mir das Gefühl, dass ich
geliebt und gewollt bin. Es lässt sich nichts mehr machen, es gibt kein
Ausagieren, keine Hoffnung mehr.“ Dann kommt es zum Selbstmord, dem äußersten
Selbstzerstörungsakt.
Wenn
der Mann, der sich umzubringen versucht, weil seine Frau mit einem anderen
weggelaufen ist, sein Urbedürfnis (nach seiner Mutter) tief hätte fühlen können,
dann hätte sich der Drang zum Selbstmord abgeschwächt. Zuerst muss er den
gegenwärtigen Verlust fühlen, in das Verlustgefühl eintauchen und dann in die
Vergangenheit reisen, wo der Prototyp liegt. Das Problem ist, dass er das nicht
ohne Hilfe machen kann, weil die Verdrängung der alten Erinnerungen das Gefühl
in der Gegenwart und den Brennpunkt außen hält.
Die
Evolution suizidaler Gefühle (Der elektrische Schaltkreis)
Wie
ich früher erklärt habe, involviert der Selbstmord typischerweise den Ablauf
der Geburtssequenz. Wenn die Schmerzvalenz in der Gegenwart hoch genug ist, kann
sie den alten gleichermaßen schmerzvollen Prototyp auslösen, der sich dann des
Lebens bemächtigt, indem er den Ablauf der Originalsequenz inszeniert. Da der
Tod die logische Auflösung des Originaltraumas war, bringt er sich in die
Gegenwart ein und zwingt die Person, jetzt den Tod in Betracht zu ziehen. Wir
haben gesehen, wie beim Parasympathen der Geburtsprototyp mit dem Erlebnis der
Todesnähe endete, wobei der Tod als einzige Möglichkeit gesehen wurde, die
Qual zu beenden. Depression betrifft Leute, deren Geburt im Wesentlichen ein
Kampf-und-Scheitern-Erlebnis war, das mit Düsternis, Verzweiflung und
Niederlage endete.
Der
Ablauf der Geburtssequenz bleibt sich selbst treu und weicht in der Regel nicht
ab; er ist wie ein elektrischer Schaltkreis. Wenn ein Gegenwartsereignis stark
genug ist, um die Geburt auszulösen, dann kann man die Handlung der Person
voraussagen. Wenn man zum Beispiel durch Unfall oder Krankheit ein Kind
verliert, setzt ein Gefühl großer Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ein,
das möglicherweise zu suizidalen Gedanken oder Handlungen führt. Einer der Gründe
dafür ist, dass es durchaus möglich und sogar wahrscheinlich ist, dass der
Elternteil sein Leben durch das Kind gelebt hat. Die Mutter lebt in ihrer
eigenen Kindheit, verhätschelt das Kind und will es aufgrund ihres eigenen Bedürfnisses
immer in ihrer Nähe haben. Der Tod des Kindes macht folglich jede Chance der
Mutter zunichte, ihre eigene Kindheit wiederzuerleben, und dann kann es zu
Depression kommen, weil alle Optionen beseitigt worden sind. Man fragt sich
vielleicht, wie das möglich ist. Der Grund ist, dass das frühe Trauma das
Verhalten des Erwachsenen infiltriert, so dass sie oder er nicht zwischen
Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden kann.
Dina
Es
war Herbst, und ich war 7 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Tag
traurig und allein war und aus irgendeinem unbekannten Grund sehr viel Angst
hatte. Ich ging in den Wald, was ich immer dann getan habe. Es gab da eine
riesige Eiche, auf die ich immer kletterte, wenn ich Platz und Ruhe für mich
selbst wollte. An jenem Tag erreichte ich die Baumkrone und hatte ein gewaltiges
Gefühl wie: „Ich hab’s geschafft. Das ist jetzt mein Platz.“ Lange Zeit
hielt ich meine Augen geschlossen. Die Sonne und der Himmel schienen mir ganz
nahe zu sein, und der Wind war sanft. Ich war ganz nahe dran, mich glücklich zu
fühlen und die Welt um mich zu vergessen.
Plötzlicher
Starkwind brachte mich in die Realität zurück. Ich hatte Angst davor, diesen
neugefundenen Platz zu verlieren und den Schmerz fühlen zu müssen, in eine
Welt zurückgezogen zu werden, in der ich nicht sein wollte. Ich wurde dann
zornig und beschloss, gegen die Natur zurückzuschlagen. Ich kletterte hinunter,
und da sah ich einen alten und morschen Ast. Ich stieg auf ihn und traf die
Entscheidung, dass ich fallen wollte. So fiel ich von einem hohen Ort; ich
prallte mit dem Kopf auf und verletzte mir meinen linken Arm. Aber sonst war
nichts passiert. Ich fing an, meinen Körper mit den Blättern um mich herum
zuzudecken, besonders meinen Kopf, Nase und Mund. Ich lag da eine ganze Weile
und wollte mich nicht bewegen. Dann wurde es dunkel, und ich fürchtete, meine
Mutter könnte wütend auf mich sein. Ich stand auf und ging nach Hause, fühlte
mich sehr hoffnungslos, traurig und desillusioniert.
Zwei
Tage später sah meine Mutter meinen jetzt geschwollenen linken Arm und fragte
mich, was passiert war, aber ich konnte ihr nicht sagen, dass ich ein „neues
Zuhause“ suchte, und so gab ich vor, es nicht zu wissen. Sie wurde wütend auf
mich und bandagierte meinen Arm. Ich spürte, wie mir die Tränen kamen und
versuchte angestrengt, sie hinunterzuschlucken.
Jahre
später, als ich 12 oder 14 war, machte ich mit meiner Schulklasse einen
Landausflug. Da war ein großer See, und ich ging hinein und schwamm mitten
hinaus auf eine kleine Insel, die dort war. Ich lag am Ufer auf dem Rücken,
vergaß die Zeit und die Welt um mich und fühlte mich unglaublich getröstet
und liebkost. Dann spürte ich, wie die Kälte in meinen Körper kroch, meine
Arme und Beine lähmte und meinen Herzschlag verlangsamte; meine inneren Organe
beruhigte. Nach einer Weile ging ich wieder in den See, und mein Körper und das
umgebende Wasser fühlten sich wie eins, und ich hatte wieder dieses vertraute
Gefühl, meinen Körper total aufzugeben und ihn treiben zu lassen, wohin auch
immer die Strömung ihn tragen würde. Plötzlich eine brutale Berührung, eine
wütende Stimme, und mein Lehrer zog mich aus dem Wasser und brachte mich in
diese Welt zurück. Er war sehr wütend auf mich und brüllte mich an. Ich
zitterte ganz schön, Tränen traten mir in die Augen, und ich schämte mich,
als hätte ich etwas falsch gemacht, als wollte ich nicht, dass er weiß, was
ich draußen auf dem Wasser wirklich gefühlt habe. Ich war sehr traurig, wusste
aber nicht warum. Ich war gleichzeitig wütend, wusste aber ebenso nicht warum.
Das
dritte Mal, dass ich eine unvergessliche Erinnerung auf einem See hatte, war,
als ich 29 Jahre alt war. Wieder ging ich schwimmen und vergaß die Welt um
mich. Mit einer Gruppe von 20 Erwachsenen besuchten wir einen kalten See in den
Bergen von Italien. Wieder fühlte ich mich unwohl, als ich mit der Gruppe
zusammen war, und bekam dieses lebenslange Gefühl, zu niemandem zu gehören.
Ich schwamm hinaus, um Platz für mich selbst zu haben. Es gefiel mir, so lange
und so oft zu tauchen, wie ich konnte. Ich blieb da länger als eine Stunde in
diesem kalten Wasser, meistens ganz in seinen Tiefen abgetaucht, ohne dass mir
kalt war. Ich wollte nicht zu den anderen zurück und erlebte nur ein
aufgeregtes Gefühl, was geschehen könnte, wenn mir der Atem stockte.
Ich
war glücklich. Ich liebte es, meinen Atem anzuhalten; ich versuchte so
angestrengt, wie es nur ging, die Luft anzuhalten. Ich liebte es, eine Art
Furcht zu fühlen, dass ich nicht genug Luft habe. Jedesmal missfiel mir der
Augenblick, wenn ich auftauchen und Atem holen musste. Dann schwamm eine Frau zu
mir hinaus und zwang mich zurückzukommen, weil sie alle sehr besorgt waren. Ich
genierte mich wieder, als mich alle ansahen und Witze darüber machten, dass ich
so lange im Wasser war.
Das
letzte halbe Jahr, bevor ich in die Therapie kam, dachte ich oft, dass ich
anfangen sollte, starke Schlaftabletten zu sammeln für den Fall, dass die
Therapie mir nicht hilft. Und ich habe noch immer das Gefühl, dass ich lieber
meinen Körper Schluss machen lassen würde, wenn ich den Schmerz nicht überwinden
kann.
Ich
bin jetzt 41 Jahre alt. Ich bin seit fünf Monaten in Primärtherapie. Ich fühlte
mich unglaublich traurig und schrecklich unglücklich, als ich anfing. Einmal
war ich am Strand, als ein starker Wind aufkam. Ich schaute meinen Mann und
meine zwei Kinder an, als mir plötzlich der Bauch weh tat und mein Körper zu
zittern anfing. Ich wurde sehr nervös und hatte den Impuls: „Ich muss
gehen.“ Die Wellen waren sehr hoch, und ich beschloss, ins Meer zu gehen und
zu versuchen, mich zu entspannen. Eine Welle wuchs so hoch, dass ich den starken
Wunsch verspürte, mich in sie fallen zu lassen. Die Welle warf mich durchs
Wasser. Ich fühlte den Druck und das Vergnügen, meinen Körper loszulassen,
mich von der Kraft der Welle tragen zu lassen. Ich schlug mit dem Kopf einige
Male hart auf dem Sandgrund auf. Ich wurde immer wieder mit dem Gefühl
herumgewirbelt, dass es keine Luft gab. Ich musste atmen. Ich öffnete meinen
Mund, der sich sofort mit Wasser füllte. Ich war sehr aufgeregt. Dann warf mich
die Kraft des Wassers in Sekundenschnelle aus der Welle. Ich glitt in Richtung
Strand, und plötzlich war es vorbei. Ich kann immer noch den Moment der
Erleichterung spüren und sowas wie Resignation, dass es vorbei war. Ich ging zu
meiner Decke zurück, und mein ganzer Körper zitterte stark. Ich hatte Angst,
wusste aber nicht genau warum, und ich wollte weinen, konnte aber nicht.
Ich
kann und will nicht sagen, dass ich suizidal bin. Aber in bestimmten
Augenblicken meines Lebens habe ich ein starkes Verlangen, einen Punkt zu
erreichen, wo ich entspannen kann, einen gewissen Frieden habe, wo alles zu Ende
ist. Im Wasser komme ich dazu, das zu tun, was ich wirklich tun will, und es ist
mir gleich, dass es mir den Tod bringen könnte. Wenn mich im Inneren das Gefühl
ausfüllt, dass alles zu viel ist, möchte ich kämpfen, habe aber keine Ahnung
wogegen. Wenn mich dieses schreckliche Gefühl erfasst, dass mir nichts gelingt,
dass ich nichts bekommen kann, das mir Befriedigung verschafft, dann möchte
ich, dass äußere Umstände die Macht ergreifen, und ich mache mir nichts aus
den Folgen. Aber insgeheim warte ich darauf, dass mich jemand herauszieht und
rettet, genau wie es bei meiner Geburt geschah.
Ich
hatte diese Gefühle oft in meinem Leben; das Hauptgefühl ist: „Es gibt
keinen Ausweg, und es hat keinen Zweck, es weiter zu versuchen.“ Das habe ich
oft gefühlt, besonders als mein erster Mann bei einem Streit seine Hände um
meinen Hals legte, so dass ich keine Luft bekam.
Ich
habe immer den Gedanken gehabt, dass ich etwas tun muss, wenn ich meinen Frieden
will; dass ich ohne die Hilfe eines anderen nicht sterben kann. Wenn ich in
tiefes rauhes Wasser gehe, bekomme ich von ihm meine Hilfe. Wenn ich gewisse
Medikamente nehme, bekomme ich die realen Körperempfindungen, die ich will. Ich
will einfach, dass das alles ohne Warten aufhört. Ich habe immer noch mehr
Angst davor, auf dieser Welt und lebendig zu sein, als dass ich den Tod fürchte.
In
den Therapiesitzungen habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem Kopf sehr hart
gegen die Matratze schlagen muss. Jetzt erkenne ich das Gefühl, langsam gelähmt
zu werden, wenn ich auf meinem Rücken schwimme, und nicht mehr atmen zu können.
Wenn ich meine Geburt wiedererlebe, kann ich nicht atmen.So weit ich mich zurückerinnern
kann, hat mich Wasser schon immer fasziniert. Jeder schmutzige kleine See macht
mich traurig, weil ich darin nicht schwimmen kann. Im Winter habe ich den tiefen
Wunsch, mit meinen Kleidern an hineinzugehen. Im Wasser will ich keine
Gesellschaft. Ich muss das Gefühl haben, dass es für mich allein da ist. Seit
ich mehrere Geburtsfeelings hatte, bin ich mir mehr darüber bewusst, was sich
abspielt, wenn ich im Wasser schwimme. Es bringt mich zum Mutterleib zurück.
Das
erste Primal-Erlebnis brachte mich in Schreckens- und Einsamkeitsgefühle. Ich
begreife meinen Bewegungsdrang, den ich nie zuvor verstanden habe. Ich fühle
diesen Konflikt, bleiben zu wollen, wo ich bin (wo es sicher ist), und
gleichzeitig ein Gefühl, herausgezogen zu werden, bevor ich bereit bin. Da ist
verzweifelte Wut und Panik. Ich schreie: „Bitte verstoß’ mich nicht!!“
Nach diesem Wiedererlebnis verschwand mein lebenslanges Gefühl von „Ich gehör
nirgends dazu“. Ich wollte immer zu meiner Mutter gehören, aber es sollte
nicht geschehen. Sogar bei der Geburt wurde ich „verstoßen.“ Das steckte
hinter meinem ganzen Leben voller Ruhelosigkeit, die ich ausagierte, indem ich
um die ganze Welt reiste. Ich konnte es nirgends länger als ein paar Stunden
aushalten. Dieses Problem hat sich erledigt. Ich habe gefühlt, dass ich bei der
Geburt ertrank, an Flüssigkeit erstickte. Oft fühlt es sich an, als möchte
ich mich bewegen, aber meine Beine funktionieren nicht. Nur mein Kopf bewegt
sich mit Mühe. Manchmal, wenn ich die schreckliche Angst fühle, will mein Körper
gegen die Matratze schlagen, so hart er nur kann. Und genau dort ist der Anfang
des Gefühls: „Ich kann an meiner Zwangslage nichts ändern.“ Ich musste
schreien, ohne zu verstehen, was los war. Jetzt weiß ich Bescheid.
Je mehr ich dieses Gefühl des Ertrinkens erlebe, umso weniger denke ich daran, mich in einem See zu ertränken. Noch wichtiger ist, dass ich nicht mehr den Drang verspüre, ins Wasser zu gehen, wenn ich in der Nähe eines Sees oder am Meer bin. Aber ich mag die Vorstellung, im Wasser zu sein, nach wie vor. Und wenn ich sterben muss, dann auf diese Weise. ______________________________________
Ende des Kapitels
Buchübersetzung: Bücher von A. Janov
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