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Kapitel 12
Medikamente
kontra Psychotherapie
Heutzutage
betrifft die größte Meinungsverschiedenheit über Depression die Frage, wie
man dieses Monster bändigt und unter Kontrolle bringt. Die Oppositionsparteien
sind die Medikamentenbefürworter gegen die konventionelle Psychotherapie.
Letztere setzt sich zusammen aus „Gesprächstherapien“ wie Psychoanalyse,
bei welcher der Patient „frei assoziiert“ und dadurch zu verstehen versucht,
was in seiner Vergangenheit die Depression verursacht hat, und den kognitiven
Verhaltenstherapien, die sich auf die Gegenwart konzentrieren, indem sie dem
Patienten helfen wollen, seine Gedanken- und Verhaltensmuster zu ändern. Für
den Augenblick sieht es so aus, als habe die Pro-Medikamente-Gruppe gewonnen.
Heute ist die Psychiatrie unbeabsichtigt zum Arm der Arzneimittelhersteller
geworden. Millionen von Amerikanern nehmen Selektive Wiederaufnahmehemmer
(SSRI), wie zum Beispiel Prozac, Zoloft und Paxil, die gegenwärtige Goldwährung
bei der Depressionsbehandlung, oder ein trizyklisches Antidepressivum wie
Imipramin. Einige Untersuchungen zeigen, dass Medikamente alleine genauso
wirksam bei der Behandlung von Depression sind wie Gesprächstherapie. Tatsächlich
drehte sich ein berühmter Gerichtsprozess (Osheroff gegen Chestnut Lodge) um
die Weigerung einer Klinik, den Patienten Antidepressiva anzubieten.
Eine
Psychologin, die Depression und ihre Behandlung erforscht, Ellen Frank von der
Medizinschule der Pittsburgh-Universität, kommt zu folgendem Schluss:
„Die Dosis eines Antidepressivums, die Sie gesund macht, lässt Sie
auch gesund bleiben.“ Sie zitiert eine Studie, bei der von 53 Teilnehmern, die
bei Imipramin blieben, 41 über die gesamten drei Jahre frei von Depression
blieben. Diese Studie fand auch heraus, dass Psychotherapie plus Drogen keinen
Vorteil gegenüber Medikamenten alleine hatte – kein besonders gutes Zeugnis für
die Wirksamkeit der Psychotherapie.
(Science
News, Jan. 26, 1991, Seite 57). Ähnliche Resultate ergaben sich beim
Gebrauch von SSRIs, Medikamente, die oft auf unbestimmte Zeit verschrieben
werden.
Paradoxerweise
kann jemand suizidal werden, wenn er oder sie Antidepressiva verabreicht
bekommt, und das nicht wegen der Medikamente sondern weil, wie ich gerade erklärt
habe, die Medikamente mehr Zugang zu unbewusstem Schmerz ermöglichen. Die
Medikamente, die eigentlich verdrängen sollen, entlasten in Wirklichkeit das
System, das bisher alles auf sich allein gestellt erledigen musste, von der
Aufgabe der totalen Verdrängung, so dass jetzt Gefühle hochkommen.
Tranquilizer können die Einprägung so weit dämpfen, dass der Schmerz nicht
durchdringen kann. Je mehr Schmerz vorhanden ist, umso größer muss die Dosis
sein. Ich habe Patienten gesehen, die Selbstmord begehen wollten, indem sie eine
Dosis einnahmen, die für nahezu jeden Menschen tödlich gewesen wäre, die aber
daraufhin lediglich 12 Stunden schliefen. Sie hatten so massive Mengen an
gehirnaktivierendem Schmerz, dass die Medikation nicht zum Tod führen konnte.
Was
den Einsatz von Psychotherapie zur Behandlung von Depression betrifft, gibt es
diese Auffassung der kognitiven Psychotherapie-Schule, dass der Depressive in
„selbstvernichtenden“ Gedanken eingeschlossen ist und dass er identifizieren
muss, welche dieser Gedankenmuster „verzerrt“ sind. Danach müssen wir uns
auf dem Weg der Vernunft und Logik eine andere Denkart einfallen lassen, welche
„rational“ und selbstbewusst ist anstatt selbstzerstörerisch. Diese Lösungsmethode
oder dieser Lösungsversuch findet sich heute neben den Antidepressiva an der
vordersten Behandlungsfront. Er kommt in der Regel von solchen Leuten, die
glauben, dass wir uns den Ausweg aus Problemen oder den Weg zur Gesundheit
erdenken können. Für solche Therapeuten existiert Schmerz nur in der Psyche.
Man könnte fragen: „Wo sonst sollte er sein?“ Versuchen wir’s mit dem Körper.
So
etwas wie selbstzerstörerische Gedanken gibt es: „Ich tauge nichts. Ich kann
nichts tun.“ Aber diese Gedanken haben eine Grundlage; es sind nicht einfach
in der Luft hängende Gedanken, die man zurücknehmen muss und durch neue
Gedanken ersetzen muss. Sie sind in physiochemischen Realitäten im Inneren
verankert, mit denen man sich befassen muss. Außerdem – was und wer ist
dieses „Selbst“,
dass man zerstört? Und welches Selbst richtet die Zerstörung an? Gibt
es folglich zwei Selbsts?
Das
reale Selbst ist dasjenige, das schreckliche Traumen durchgemacht hat und leidet
und sich aufgrund realer früher Lebenserfahrung hoffnungslos und ungeliebt fühlt.
Es sendet Nachrichten nach oben zu den Denkzentren, die auf die Idee kommen,
dass man ungeliebt sei, und das, obwohl Frau und Kinder da sind, die dem Opfer
in Liebe ergeben sind. Und ein kognitiver Therapeut lässt sich nicht lange
bitten und weist auf all das hin: „Sie werden doch geliebt, warum also fühlen
Sie sich so ungeliebt? Sie müssen Ihre negativen Gedanken ändern.“
Wir
müssen das klarstellen. Der Depressive hat keine verzerrten Gedanken, und es
ist auch keine Frage von Feindseligkeit, die gegen das Selbst gerichtet ist, wie
Freud es auffasste. Die „negativen“ und „selbstzerstörerischen“
Gedankenmuster des Depressiven stammen direkt von tiefliegenden Einprägungen
und stehen mit der inneren physiochemischen Realität des Körpers in Einklang.
Das Problem ist, dass sie nicht mit der gegenwärtigen Außenrealität in
Einklang stehen. Wie ich betont habe, kommt das daher, dass die innere
Wirklichkeit immer Vorrang vor der äußeren hat und die sogenannten
„verzerrten“ Gedanken, die nach Aussage der kognitiven Therapeuten von deren
Patienten bekämpft werden müssen, nur Symbole für den zugrunde liegenden
Schmerz sind. Diese innere Wirklichkeit kann Jahrzehnte an Erfahrung repräsentieren
und dieselben wenigen prototypischen Gefühle verstärken: „Niemand will mich.
Ich stehe im Weg. Sie hassen mich.“ Der Prototyp sagt es in seiner besonderen
physiologischen Sprache, die bis jetzt keine Worte hat (weil er bei der Geburt
oder bald danach festgelegt wird): „Ich bin erschöpft vom Kampf. Ich will
mich nur ausruhen. Ich will nicht aufstehen und losmarschieren. Ich sehe keine
Alternativen. Der Tod ist die einzige Lösung für mein Problem.“ Es stimmt,
dass man Mut machen und auf Alternativen hinweisen kann, dass man den
Depressiven aktivieren und motivieren kann, aber das alles bedeutet, dass man
noch immer gegen den Prototyp kämpft, der viel stärker und mächtiger als
Worte ist und letztlich gewinnen wird. Nach und nach fällt der Mensch wieder in
die Depression zurück. Der Versuch, den Prototyp zu besiegen, bedeutet
eigentlich, seine eigene Physiologie besiegen zu wollen – eine unlösbare
Aufgabe.
Leider
kann Gesprächstherapie bei tiefer Depression selten wirken, weil tiefe
Depression tiefe Verdrängung ist, die noch so viele Einsichten und neue
Denkweisen nicht erreichen können. Gedanken und Einsichten wirken an der oberen
Front auf der linken Gehirnseite – im kognitiven Teil des Gehirns – während
die wirklichen Gefühle tief auf der rechten Seite des Gehirns registriert und
verschlüsselt werden, so dass die traumatische Einprägung unterhalb der Verdrängungsbarrieren
unangetastet bleibt. Und deshalb erreichen Einsichts- und Gesprächstherapie
niemals die Basis einer Depression. Andererseits beruhigen Medikamente den
Schmerz biochemisch. Beide Methoden trennen Gedanke und Gefühl voneinander. Sie
unterdrücken auch die einzige Sache, die uns gesund machen kann: unsere
Geschichte.
Ob
sie es nun bevorzugen, Depression mit Medikamenten oder Psychotherapie oder
einer Kombination von beiden zu behandeln – die meisten Psychotherapeuten auf
dem Fachgebiet halten an der Auffassung fest, dass die Unterdrückung der
Depression dasselbe sei wie sie zu heilen. Gewiss ist es möglich, Symptome zu
unterdrücken, dem Patienten Erleichterung zu verschaffen und ihm zu helfen,
dass er besser funktioniert und das Leben mehr genießt. Aber das Grundproblem
bleibt, was sich in der Tatsache widerspiegelt, dass die Symptome gewöhnlich
zurückkehren, wenn die Behandlung aufhört, und viele chronisch Depressive
entscheiden sich dafür, dauerhaft auf Medikation zu bleiben, um ihre Symptome
auf unbestimmte Zeit zu unterdrücken.
Das
Dilemma bei der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie besteht darin, dass
beide auf der Ebene sich zeigender Symptome bleiben. Das macht Medikamente
notwendig und sorgt dafür, dass die Behandlung nur lindert und nicht heilt. Die
Idee, Symptome mit Medikamenten zu unterdrücken, funktioniert vielleicht, aber
letztendlich verfehlt sie das Ziel, weil Symptome einfach das sind: Symptome
eines unbewussten Schmerzes, der ihnen zugrunde liegt. Wenn man die Geschichte
nicht sondiert, kann man nur Erscheinungen (Phänotypen) anstatt Ursachen
(Genotypen) behandeln. Jedenfalls sollte man an Depression nicht herumpfuschen,
ohne dass man zuerst ihre Rolle als Abwehr gegen etwas Drastischeres verstanden
hat.
Um
Depression wirkungsvoll zu behandeln, müssen wir unser Denken neu ausrichten.
Wir müssen erkennen, dass uns das „Warum“ fehlt. Warum ist der Patient
deprimiert? Was ist Depression wirklich und woher kommt sie?
Depression
ist eine Abwehr gegen die totale Integration von Schmerz. Sie ist eine
Schutzvorrichtung, die uns unbewusst bleiben lässt oder vielmehr verhindert,
dass das Unbewusste bewusst wird. Durch ihre Dienerin, die Verdrängung, unterdrückt
sie alle katastrophalen Gefühle und Empfindungen, welche die Unversehrtheit des
Bewusstseins bedrohen würden. Sie ist die äußerste Überlebensstrategie. In
diesem Sinn befindet sich der oder die Depressive in einem chronischen
Leidenszustand, weil er oder sie diese spezifischen frühen Gefühle nicht
erleben kann. Der Organismus scheint zu sagen: „Besser ein dumpfes und taubes
Gefühl als das zu fühlen, was darunter liegt und dabei verrückt zu werden.“
Wir haben die Wahl: Entweder den Patienten mit Medikamenten behandeln oder tief
ins Unbewusste eintauchen. Die Geschichte liefert uns die Antwort; die
Geschichte ist die Ursache und die Geschichte ist die Retterin. Wenn jemand das prototypische Trauma fühlt, ist er oder sie der Lösung für die Depression auf der Spur. Zudem muss man all die Lieblosigkeit, Härte, übermäßige Disziplin, Gleichgültigkeit und fehlende Fürsorglichkeit in der Familie fühlen und alle Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken, die in diesen Jahren zurückgehalten worden sind. Das alles mit den darin verwickelten Originalgefühlen auszudrücken ist der Grund, warum der Prozess so kraftvoll und schrecklich traurig ist. Der große Unterschied ist der, dass es nicht der Erwachsene ist, der ein paar Tränen vergießt; es ist das Baby und Kind, das seine unerfüllten Bedürfnisse mit qualvollem Schluchzen und Schreien beklagt. „Sei nett zu mir! Halte mich! Gib mir keine Befehle! Schätze mich. Ich bin dein Sohn! Lass mich mich selbst sein. Ich bin dein Fleisch und Blut. Zeige mir, dass du mich willst. Lass’ mich ausdrücken, wie ich mich fühle!“ Das sind die Bedürfnisse. Wenn man das alles in einem Primal-Wiedererlebnis physiologisch nochmals erlebt, ist Depression kein Geheimnis mehr. Und erst wenn das alles - einschließlich des Geburtstraumas, wenn die Zeit reif ist - über Monate hinweg wiedererlebt worden ist, wird sich die Depression dauerhaft auflösen. Je mehr man also von dem fühlt, was das Verschließen des Systems verursacht hat, umso sicherer wird es für das System, sich zu öffnen. Schließlich kann Liebe hinein.
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Ende des Kapitels
Buchübersetzung: Bücher von A. Janov
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