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Kapitel
1 Leider haben wir uns im Namen des Fortschritts von der Vergangenheit weg zu einem eher gegenwartsbezogenen Ansatz bewegt. Dasselbe gilt für alle kognitiven Therapien und Verhaltenstherapien. Es gibt eine Verherrlichung der Gegenwart, des Hier-und-Jetzt, und ein Sich-Entfernen vom Einzigen, das heilt: die Geschichte. Wir sind historische Geschöpfe, neurologisch geprägt von unserer Vergangenheit. Jede geeignete Behandlung muss sich mit dieser Geschichte befassen. Noch trauriger ist, dass wir seit 100 Jahren mit dem falschen Gehirn reden! Es ist dieses Gehirn, das jede Hoffnung auf eine Heilung emotionaler Krankheit vereitelt. Vor einem Jahrhundert war es gut und schön, mit dem Gehirn zu reden, aber jetzt wissen wir viel mehr darüber, was es beinhaltet; wir können mit dem Gehirn reden, das in seiner eigenen Sprache fühlt. Wir wissen, dass der uns zugefügte Schaden auf tieferen Bewusstseinsebenen eingeprägt ist – weit unterhalb des Orts, wo Worte leben.
Nun,
warum ist das so wichtig? Weil wir nur dort gesund werden können, wo wir
verletzt worden sind. Wir wissen jetzt, dass emotionale Wunden tief im Gehirn außerhalb
des Bewusstseins liegen. Obgleich das tiefere Gehirn die ganze Zeit mit uns
„spricht,“ haben wir nie gelernt, wie man mit ihm spricht. Es redet mit uns
in unseren Albträumen, in unserem hohen Blutdruck und unseren Migränen, in
unseren sexuellen Problemen und in unserer Unfähigkeit, mit anderen
auszukommen. Unsere Geschichte erklärt sich in jedem unserer wachen
Augenblicke, und dennoch gehen wir zu Psychotherapeuten, die sich allein auf’s
Hier-und-Jetzt und nicht auf die Geschichte konzentrieren wollen. Wenn wir das
tun, sind wir in der Psychotherapie gezwungen, das Biest im Inneren mit
Gedanken, Einsichten und Medikamenten
zu bezwingen – alles einfach unterdrücken. Das Gegenteil muss man tun:
die Schmerzdämonen für alle Zeit aus dem System herauslassen! Sie haben einen
Namen; wir können sie auf ihren verschiedenen Reisen erkennen.
Wir sind wandelnde
Archive, die im Dort-und-Damals leben. Wir haben uns auf die Gegenwart
und auf Worte konzentriert, weil sie am leichtesten zu erreichen sind
und keine große Anstrengung erfordern. Obendrein haben wir nicht
gewusst, wie wir Zugang zur Geschichte und zu den tiefsten Zonen des
Gehirns finden können. Wir wissen jetzt, dass wir die emotionale Reise
zu unserer Geschichte antreten und den Schaden durch Wiedererleben (was
ich als „Primal“ bezeichne) beheben müssen, wenn wir gesünder werden
wollen. Dieser Ausflug ist nicht schwierig, weil wir auf dem Gefährt des
Fühlens in die Vergangenheit reisen können. Dort beginnen unsere
Probleme und dort liegt die Lösung. Zu wissen, wie man auf das Gefährt
des Fühlens gelangt, ist ein wenig komplizierter. Wenn wir in den
richtigen Zug einsteigen, ist jeder Halt unterwegs der richtige. Wenn
wir in den falschen Zug einsteigen, ist jeder Halt der falsche.
Das ist von Bedeutung, weil es uns ein ganzes Universum eröffnen kann hinsichtlich der Tiefe des menschlichen Unbewussten. Es bestätigt, dass sehr frühe Erfahrung in uns eingeprägt ist, nicht nur als Erinnerung sondern als Wunde, die nach Heilung verlangt. Sie ist von Dauer. Wiederleben ist ein reales Ereignis; das Baby-Weinen in einer Sitzung kann der Patient nachher niemals wiederholen. Die Male, die ursprünglich während des Geburtstraumas auftauchten, können später in einer Therapiesitzung wieder erscheinen. Das ist eindeutig keine Simulation. Anders ausgedrückt bleibt die Vergangenheit und ihre Neurobiologie in unserem Inneren eingekapselt. Das kann für eine Reihe schleichender Krankheiten im Erwachsenenleben verantwortlich sein. Bemerkenswert ist, dass die Einprägung sich nie ändert; sie ist unempfindlich gegen Erfahrung. Es ist egal, wie viel Beifall ein Schauspieler bekommt; er braucht immer mehr. Deshalb behaupte ich, dass nur das Verweilen im Kontext einer alten traumatischen Erinnerung heilen kann. Bedenken Sie, dass das Gehirn während der Sitzung trotz des angemessenen Sauerstoffgehalts im Raum einen ernsten Mangel signalisiert und dass der Körper entsprechend reagiert. Er schnappt nach Luft – was alles mit dem zu tun hat, das in der Erinnerung eingeprägt ist. Das spricht für sich selbst. Trotz gegenwärtiger Realität reagieren wir ständig auf die alte eingeprägte Erinnerung (Realität).
Der
Körper raucht, um den Schmerz der Anoxie abzutöten, oder er nimmt Drogen
jenseits aller Kontrolle durch die oberen kortikalen Bereiche. Es ist ein
Reagieren auf innere Ereignisse. Deshalb nützen Vorträge übers Rauchen
herzlich wenig. Das kleine Mädchen in der Frau nimmt Drogen, um ihren Schmerz
abzutöten, was wir nie sehen. Es ist etwas, das der Mensch nie sieht, weil er
von dieser Jugend und ihren Gefühlen abgetrennt ist.
Hier
haben wir es anscheinend mit einem Paradox zu tun: Würde ich die früher
kalte, gleichgültige Mutter hereinbringen und sie ihren Sohn in der ganzen
Sitzung umarmen und berühren lassen, würde absolut gar nichts passieren.
Aber wenn der Patient ihre fehlende Liebe wiedererlebt, passiert alles;
es kommt zu einer Normalisierung vieler Parameter, und die Depression beginnt
sich zu heben! Warum? Weil sich die Verdrängung ebenso hebt, wenn man den
Schmerz fühlt. Somit ist das Ergebnis das gleiche, ob die Mutter das Kind nun
ursprünglich liebt oder ob es den Liebesmangel jetzt nach 30 Jahren fühlt.
Anders gesagt werden wir von der Geschichte beherrscht, und die Methode,
Schmerz aufzulösen, besteht darin, wieder in ihn zu versinken. Wir haben
wirklich an Tausenden Patienten Untersuchungen der Vitalfunktionen
vorgenommen, um diese definitive Aussage machen zu können.
Warum
müssen wir diesen Bericht dringend beachten? Um unnötiges Leiden zu beenden.
Lassen Sie mich ein Beispiel anführen. Ich habe gesagt, dass Gehirnchirurgie
eine neue Behandlung für Depression ist, die zur endlosen Zahl verschriebener
Antidepressiva hinzukommt. Der Grund, warum einige Psychologen darauf zurückgreifen,
ist, dass alle aktuellen Therapien keine Möglichkeit haben, auf die tiefen
Zonen des Gehirns zuzugreifen, wo Depression vielleicht organisiert wird; von
daher das Verlangen nach einer Operation. Ich wiederhole, dass wir auf diese
tiefen Gehirnareale zugreifen und dadurch sehr gute Ergebnisse bei der
Behandlung von Depression erzielen können. Wenn das stimmt, dann kann und
sollte man Gehirnchirurgie, eine sehr drastische Angelegenheit, vermeiden. Das
soll kein Vorwurf gegen die Chirurgen sein. Sie tun ihr Bestes, um Leiden zu
lindern. Aber es gibt einen anderen, natürlichen Weg, der weit weniger
drastisch ist und ohne Medikamente oder Operation auskommt. Wir müssen viel
tiefer gehen, um Gefühle zu sehen und zu erfahren. Das wirkt auflösend. Es
bedeutet, elementare Ursachen zu erforschen und zu erfahren. Genau das nenne
ich „Heilung.“
Solange
wir keinen Zugang zu diesen Tiefen haben, können wir niemals von Heilung
sprechen; oder um es anders auszudrücken, wenn wir Zugang zu diesen Tiefen
haben, dann können wir von Heilung sprechen.
♦♦♦
Ende des Kapitels
Buchübersetzung: Bücher von A. Janov
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