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DIE JANOV-LÖSUNG

THE JANOV SOLUTION  -  Lifting Depression Through Primal Therapy erschien 2007 bei SterlingHouse Books, Pittsburgh, PA 15218

© Copyright 2007 Dr. Arthur Janov

 

Kapitel 4

 

Der Prototyp – Sympathen und Parasympathen

 

 

    Ein frühes Trauma errichtet einen Prototypen oder eine Schablone, welche die Persönlichkeit formt und das Verhalten steuert. Abhängig von der Natur des Traumas wird das Nervensystem typischerweise in eine von zwei Richtungen - sympathisch oder parasympathisch – verschoben und formt eine Matrix für die „Persönlichkeit.“ Dieser Prototyp gilt ebenso in physiologischer Hinsicht.

 

Die sympathisch-parasympathischen Systeme sind automatische Nervensysteme, die sich ausgleichen. Das sympathische Alarmsystem, das sich in evolutionärer Hinsicht zuerst entwickelte, ist für die schnelle Entwicklung des Nervensystems verantwortlich; es warnt vor Gefahr und muss von früh an auf optimalem Niveau funktionieren. Das parasympathische Hemmungssystem, das sich später entwickelte, ist lethargischer und schwerer zu erregen, und es bedarf größeren Inputs, um es in Gang zu setzen. Seine Aufgabe ist, die Abkoppelung sympathischer Erregung zu unterstützen, so dass bestimmte Vitalfunktionen zum Normalzustand zurückkehren, wie zum Beispiel unsere Atmung, Blutdruck, Körpertemperatur, Blasenfunktion und Verdauung.

 

Diese zwei Systeme werden vom Hypothalamus überwacht, zum Großteil vom rechten Hypothalamus, einer Schlüsselstruktur im Gehirn.  Das sympathische und parasympathische System sind im Gleichgewicht, wenn wir eine gute Verbindung mit unseren Gefühlen haben. Aber ein Geburts- oder Vorgeburtstrauma kann diese Systeme zu der Zeit aus dem Gleichgewicht bringen, wenn sie sich entwickeln und voll organisieren, so dass das eine über das andere dominiert. Das kann durch die Natur, Intensität und den Zeitpunkt des Traumas bestimmt sein.

 

Wenn man zum Beispiel heftig kämpft, um Erfolg zu haben und geboren zu werden, wird dadurch das Kämpfen-Erfolg-Syndrom eingeprägt. Das Ergebnis ist eine eher sympathisch dominante, optimistisch gesteuerte Orientierung. Umgekehrt kann eine andere Geburtserfahrung einen parasympathisch dominanten Prototyp  einprägen, der zum Aufgeben und zu Passivität neigt. Das ist der Anfang dessen, was man Persönlichkeitsstruktur nennt; es ist unser Wesenskern. Die Dominanz des jeweiligen Systems hängt von der Art und vom Zeitpunkt des frühen Traumas ab.

 

Noch bevor wir das Tageslicht erblicken, kann unser System eine Niederlage registrieren; es gibt eine sehr reale Physiologie der Niederlage, die innerhalb unseres Nervensystems existiert. Das kann passieren, wenn man einer Mutter während der Geburt Betäubungsmittel verabreicht. Zuerst unternimmt das Baby große Anstrengungen, um geboren zu werden. Um die Wehen der Mutter angenehmer zu machen, wird Anästhesie angewandt, und das Medikament dringt auch in das System des Babys ein und reduziert dadurch den Sauerstoff, der ihm zur Verfügung steht. Das unterbricht die normale instinktive Reaktion, gegen die tödliche Bedrohung bei der Geburt anzukämpfen, weil das die Gefahr erhöhen würde. Energie sparen und nicht zu viel wertvollen Sauerstoff zu verbrauchen wird zu einer biologischen Notwendigkeit. Also verlangsamt sich das Baby-System, um sich selbst zu retten, und steht dann praktisch still.

 

Nicht zu kämpfen ist eine prototypische parasympathische Reaktion, um Energie zu sparen. Ihr psychologisches Äquivalent ist Verzweiflung, Resignation und Niederlage. Diese Niederlage drückt sich im Fetus als nonverbale Empfindung aus; das Baby gibt auf. Aber weil das Gesamtsystem als Überlebensmechanismus zur parasympathischen Seite kippt, kann es den Menschen für den Rest seines Lebens charakterisieren. Es kann zu einer Einprägung von Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit kommen: Ich habe alles getan, um zu leben, und alles, was ich tue, ist zwecklos.“ Die Prägung formt, wie er späteren Hindernissen begegnet (indem er schnell aufgibt). Übrigens kann sie auch bestimmen, wie er sexuell funktioniert. Er hat nicht die biochemische Ausrüstung, um hartnäckig, aggressiv, anspruchsvoll, optimistisch, zukunftsorientiert oder sexuell erregt zu sein. Das kommt daher, dass der Prototyp globalen Einfluss auf sein ganzes physiologisches System hat, und die Impotenz, die er bei der Geburt fühlte, ist eine Impotenz, die in späteren Jahren sexuell zur Geltung kommen kann. Sein Gesamtsystem tendiert zu weniger Testosteron, Dopamin, Glutamat und Noradrenalin, zu niedrigerem Serotonin- und höherem Kortisolspiegel.

 

Forscher haben alle möglichen Hormone mit Depression in Verbindung gebracht, sagt ein Bericht im Scientific American (Juni 1998, „The Neurobiology of Depression,“ Seite 4-11). Forscher haben herausgefunden, dass der Spiegel des Monoamins Norepinephrin (Noradrenalin) bei Depression niedrig ist, etwa 30 Prozent weniger als bei  einer normalen Population. Das führt dazu, dass einige Fachleute Depression als „Gehirnkrankheit“ auffassen. Norepinephrin, ein Monoamin, ist im Großen und Ganzen ein stimulierender Nervensaft. Er wird hauptsächlich von Schaltkreisen hergestellt, die einer Hirnstamm-Struktur entspringen, dem locus ceruleus. Es gibt Projektionen zu anderen Gehirnorten, vor allem ins Limbische System. Es gibt bei Depression nicht genug davon, was zu der falschen Annahme führt, dass dieser Mangel Depression verursacht. Wenn wir in Betracht ziehen, dass Vorgeburts- und Geburtstraumen schwere Wirkung auf den locus ceruleus haben, der in gewisser Hinsicht das Terrorzentrum des Gehirns ist, beginnen wir zu verstehen, warum es zu solchen Mangelzuständen kommt. So kann ein frühes Trauma den locus ceruleus beeinflussen und seinen Ausstoß dämpfen. Es gibt eine andere Forschungsstudie, die herausfand, dass der Hippocampus im Gefühlszentrum des Gehirns bei Depressiven kleiner ist als bei normalen Leuten. Wir wissen jedoch, dass ein frühes Trauma dazu neigt, den Hippocampus schrumpfen zu lassen; dieselbe Bedingung, die Depression erzeugt, lässt kurz gesagt den Hippocampus schrumpfen. Auf einer Konferenz des American College of Neuropsychopharmacology gab es einen Bericht, dass Leute, die durch Selbstmord starben, nur ein Drittel der Anzahl präsynaptischer Serotoninzellen hatte. Ihre Schlussfolgerung war, dass bei Menschen, die Suizid begehen, ein Serotoninmangel vorherrscht; es gibt umfangreiches Beweismaterial dafür, wie das Geburtstrauma sich auf spätere Depression auswirkt.

 

Wir können über die „Gehirnkrankheit“-Hypothese hinausschauen, um zu erkennen, warum bestimmte Neurochemikalien unterrepräsentiert sind. Hier finden wir die Primärplattform für spätere Depression. Das Problem besteht darin, dass die Zeitkluft zwischen Depression im Alter von 40 und einem Geburtstrauma im Lebensalter von einem Tag, das die Sollwerte verändert und Norepinephrin und Serotonin erschöpft, so groß ist, dass es sehr schwierig ist, die beiden in Zusammenhang zu bringen. Und natürlich ist erschöpftes Serotonin, der Neurohemmer, eine weitere Substanz, die in Depression verwickelt ist. Bei chronisch Depressiven ist sie gering vorhanden. Tendenziell wird auch sie in den ersten Lebensstunden aufgrund frühen Liebesmangels oder Traumas aufgebraucht. Wenn man depressiven Patienten ein Medikament gibt, das dabei hilft, Serotonin im Gehirn zu halten, fühlen sie sich besser. Sie sind besser in der Lage, Schmerz zu unterdrücken, und leiden deshalb nicht so sehr. Was Beruhigungsmittel und Antidepressiva  bewirken, ist, dass sie den Serotoninmangel ausgleichen. Das ist bestenfalls von vorübergehender Wirkung. Es gibt eine Möglichkeit, den Mangel dauerhaft auszugleichen: die Ereignisse wiedererleben, welche die ursprüngliche Abweichung verursachten. Das normalisiert, wie so viele unserer Forschungen herausgefunden haben. Mit normal meine ich die Wiederherstellung früherer Normen – der Blutdruck und andere Vitalfunktionen kehren zu Werten innerhalb akzeptierter Grenzen zurück, und die Persönlichkeit, die früher vielleicht getrieben war, verlangsamt sich auf ein moderates Niveau. Auf diese Weise wird der Mensch nicht mehr von unbewussten Kräften getrieben. Im britischen Wissenschaftsmagazin New Scientist vom 12. April 2003 findet man unter der Überschrift „The Dreamcatcher“ auf Seite 46 ein Interview mit dem Psychologen Joe Griffin. Er behauptet: „Die Forschung zeigt, dass jede Therapie oder Beratung, die Menschen zur Introspektion über ihre Vergangenheit ermutigt, die Depression unweigerlich vertiefen wird.“ Das steht in einem respektierten Wissenschaftsjournal! Mit diesem Ratschlag kann man sich einzig auf das Hier-und-Jetzt konzentrieren, ohne dass es einem je besser geht. Das ist das Wesen des historischen Solipsismus. Es gibt keine Vergangenheit; nichts in unserer Geschichte beeinflusst uns.

 

Diese prototypische Prägung kann auch stattfinden, wenn die Mutter während ihrer Schwangerschaft Schmerztöter nimmt. Die Droge dringt in den Körper des Babys ein und hat einen lebenslangen Verdrängungseffekt. Ebenso prägt eine Mutter, die in der Schwangerschaft raucht, ein passives herunterreguliertes System in ihren Nachwuchs ein, da Tabak eine Reihe von Schmerztötern enthält. Dasselbe trifft auf eine Mutter zu, die schwere Medikamente wie Haldol nimmt; es führt dazu, dass das Neugeborene eine parasympathische Dominanz entwickelt: Es wird selten - wenn überhaupt - weinen oder stark reagieren. Das unter Drogen stehende System der Mutter hat die aktivierenden Neurohormone unterdrückt, die das Baby braucht, um wachsam und aggressiv zu sein. Haldol unterdrückt die Dopamin­Produktion beim Baby, was bedeutet, dass es weniger Energie und Aggressivität entfaltet. Es wird passiv geboren, es fehlt ihm an Energie, und es reagiert nicht. Es ist so ein guter Junge, dass wir erst Monate später zögernd begreifen, dass etwas nicht stimmt.

 

Die Geburtserfahrung mangelnden Sauerstoffs kann die Tendenz verstärken, keine Energie zu verbrauchen, die aufgrund der Tatsache bereits besteht, dass die Mutter während ihrer Schwangerschaft geraucht hat. Aufgrund dessen wird der parasympathische Prototyp umso stärker eingeprägt; das Ergebnis ist ein passives Individuum, das sich nirgendwo zu sehr anstrengt. Dieser Mensch steckt jetzt in einem unbeweglichen Tiegel fest, der seine Lebensentscheidungen und-interessen lenkt. Er wird nicht extrovertiert und gesellig sein; er wird kein Geschäftsmann sein.

 

    Passivität und Niederlage können auch in das Kind einer Mutter eingeprägt werden, die während der Schwangerschaft in einem depressiven, hoffnungslosen Stimmungsmodus ist. Der Fetus kann zusammen mit seiner Mutter in diesem Modus versinken und dann eine lebenslange Tendenz zur Passivität aufweisen. Mit 30 Jahren ist diese Person impotent und kann keine Erektion aufrecht erhalten. Sein Körper spricht die Sprache des Prototypen: „Ich bin hilflos und schwach. Ich kann nichts tun, um mir selbst zu helfen.“ Der Erektionsverlust spricht eine Sprache; es ist eine Sprache, die ständig zu uns spricht, obwohl wir ihre Syntax nicht verstehen. Und was noch schlimmer ist, sie redet die ganze Zeit mit uns, und wir können uns nie für die Gefälligkeit revanchieren.

 

Viele Forschungen weisen auch darauf hin, dass das Stressniveau der Mutter in der Schwangerschaft den Sexualhormon-Ausstoß des Nachwuchses ein Leben lang beeinflussen kann. Das ist die Zeit, in der das Sexualhormonsystem des Fetus in Erscheinung tritt und seine Sollwerte entwickelt. Ein andauerndes Trauma bei der Mutter,  wie zum Beispiel vom Ehemann verlassen zu werden, kann einen anderen Sollwert einprägen – eine Hypo-oder Untersekretion – weil sich das System an das Niederlagen- und Resignations-Gefühl der Mutter anpasst. Deshalb Jahrzehnte später die Impotenz beim erwachsenen Mann. Es ist keine Überraschung, dass wir bei Männern, die Parasympathen sind, niedrigere Testosteron-Ausgangswerte gefunden haben.

 

Im Gegensatz zur ‚besiegten’ und passiven Prägung des Parasympathen steht der „Alles-geben-was-du-hast“-Antrieb, der die Persönlichkeit des Sympathen charakterisiert. Hier finden wir den Kampf ums Herauskommen bei der Geburt, wenn es nur zäh vorwärts geht, ein verzweifeltes Kämpfen und der Einsatz der letzten Energiereserven, um zu leben – das Kampf-und-Erfolg-Syndrom. Diese sympathische Dominanz mit allen Systemen volle Kraft voraus wird zum Prototyp. Der Mensch wird dann in anderen Lebensituationen immer wieder zu hartnäckig sein und nicht wissen, wann er zurückstecken muss. Freunde werden dem Sympathen sagen: „Lass es sein. Hör’ auf, dich selbst anzutreiben!“ Aber er kann es nicht. Wie ich betont habe, ist Aufgeben für den Parasympathen am untersten Glied der neuronalen Kette wirklich eine Überlebenssache. Für den Sympathen kommt Aufgeben dem Tod gleich; weitermachen bedeutet Leben. Das ist eine gute Eigenschaft, um Erfolg zu haben, aber keine so gute für Langlebigkeit.

 

Nehmen wir zum Beispiel an, dass ein Mann mit einer sympathisch dominanten Persönlichkeit ein Projekt betreibt, das für ihn zu groß ist, als dass er es bewältigen könnte. Er kann nicht aussteigen, noch kann er um Hilfe bitten, weil ein Teil der Originaleinprägung lautete: „Es gibt keine Hilfe; ich muss das allein machen.“  In der kognitiven Therapie lernt er vielleicht, dass er loslasssen muss und sich nicht so sehr anstrengen darf, aber tief in seinem Gehirn verweilt die eingeprägte Erinnerung der Notwendigkeit, sich schwer anzustrengen und nie aufzugeben. Er lebt den Prototyp aus, und er treibt sich vielleicht selbst in einen frühen Tod. In der kognitiven Therapie (und Einsichtstherapie gehört dazu) gibt es das Dogma, dass Gedanken Emotionen beeinflussen, so dass wir unsere Gefühle ändern können, wenn wir die richtigen Gedanken denken. Das stimmt nicht und läuft der modernen Neurowissenschaft zuwider, die sagt: „Der Hauptteil des Einflusses geht in die andere Richtung.“ Es sind Gefühle, die Glaubensvorstellungen und Gedanken kontrollieren. (siehe Paul Genova, „Cognitive Therapy’s Faulty Schema,“ Psychiatric Times, Okt. 2003, Vol. XX, Ausgabe 10). Also werden wir niemanden aus seiner Depression herausargumentieren können; noch werden wir depressive Gedanken durch andere gesündere ersetzen können. Und bestimmt werden Einsichten, Teil unseres Denkapparats, Depression nicht ändern.

 

Es ist logisch, das herauszusuchen und zu machen, was vorher funktioniert hat. Das ist der Grund, warum in einer lebensbedrohlichen Situation unser ganzes Leben vor unseren Augen abläuft, da das Gehirn die ganze Lebensgeschichte nach einer Überlebensstrategie durchsucht. Einige werden umtriebig; andere frieren ein. Und von Tag zu Tag reagieren wir immer wieder auf Grundlage des vorherrschenden Prototyps, entweder indem wir nach Bedürfnisbefriedigung streben (Sympath) oder indem wir leicht aufgeben, ohne uns sehr zu bemühen (Parasympath). Die Nadel hängt ein Leben lang auf der einen oder anderen Platte fest. Und es ist buchstäblich eine Platte, die ewig spielt. Es ist die Platte unseres Lebens, die Hintergrundmusik, nach der wir die ganze Zeit tanzen, ohne es zu wissen. Wir bewegen uns zu einem langsamen Walzer, wenn wir Parasympathen sind, und zu „beschwingterer“ Musik, wenn wir das nicht sind. Auch wenn wir die Musik nicht hören können, tanzt der Körper denoch danach.

 

Wenn sich die Einprägung durch fehlende Fürsorge und Berührung in den ersten Lebenswochen bildet, lernen wir emotionalen Rückzug und Entfremdung als charakteristisches Verhalten, und auch das ist bei den meisten Depressiven offensichtlich. Das würde die bereits früher eingestempelte Tendenz bekräftigen, ganz allein und von seinen Eltern emotional distanziert zu sein. Es kommt nun zu einer Verstärkung. Wenn jemand mit einem Gefühl der Entfremdung und emotionalen Losgelöstheit lebt, kann das daher kommen, dass das parasympathische System der bei der Geburt eingeprägte Prototyp war; es reflektiert das Bedürfnis des Selbst nach Rückzug und Dissoziation vom Schmerz. Das geschieht, wenn Abkoppelung das Prinzip und die einzig mögliche Abwehr bei der Geburt ist, zum Beispiel gegen die Strangulierung durch die Nabelschnur. Das kann sich verstärken durch die fehlende Nähe zur Mutter unmittelbar nach der Geburt. Somit können wir uns von uns selbst loslösen und emotional distanziert werden, und das bereits im Mutterleib. Der Impuls, uns selbst aus Erfahrungen herauszuholen, wird zu einem Prototyp. Wir werden distanziert, abstrahiert – zuerst distanziert von uns selbst, dann von anderen. Es ist möglich, dass sich im letzten Trimester der Schwangerschaft ein Teil des Systems von den anderen Teilen abschottet. Das bedeutet, dass Verdrängung einsetzt, um den Fetus von seinen Gefühlen abzuschirmen. Und wenn wir aufgrund früher parasympathischer Einprägungen von uns selbst entfremdet sind, können wir durchaus Partner wählen, die auch von ihren Gefühlen entfremdet sind. Es gibt ein unerbittliches biologisches Gesetz, nach dem wir anderen umso näher sein können, je näher wir uns selbst sind; je entfernter wir emotional von uns selbst sind, umso entfernter werden wir in emotionaler Hinsicht von anderen sein. Und das deshalb, weil die Beziehungen mit anderen letztlich eine innere Erfahrung sind; Offenheit zu uns selbst ermöglicht uns Offenheit zu anderen. Wenn wir also von uns selbst abgeschnitten sind, neigen unsere Beziehungen zu Oberflächlichkeit, sind aber sicher und unbedrohlich und lösen nicht leicht starke Emotionen aus.

 

Der Parasympath zieht sich mit größerer Wahrscheinlichkeit zurück, ist scheuer und furchtsamer und zögert eher. Wahrscheinlich überlegt er mehr und ist weniger impulsiv als der Sympath, dessen Modus ganz nach außen gerichtet ist. Als Erwachsener wird der Parasympath zurückscheuen, wenn ihm jemand zu nahe kommt, weil das den Schmerz darüber hochbringen kann, dass er nie die Nähe gehabt hatte, die er brauchte. Seine Scheu ist Schutz gegen Urschmerz, ein Schmerz, an den er sich nicht einmal erinnern kann, der aber in jedem Teil von ihm registriert ist: in seiner Haltung, seinem Gesichtsausdruck, Gang, Kadenz und Tonfall seiner Sprache. Das sind alles Erinnerungsaspekte. Er hat den Zugang zu diesen Erinnerungen verloren, aber der Prototyp bleibt als Erinnerung einer vergangenen Zeit, und wer wir sind, ist fleischgewordene Erinnerung.

 

Der Sympath konzentriert sich nach außen, während der Parasympath nach innen schaut, poetischer und philosophischer ist. Wie wir später sehen werden, ist die Außenorientierung eine Funktion des linken frontalkortikalen Gehirns, während die nachdenkliche, introspektive, nach innen gerichtete Person tendenziell vom rechten Frontalgehirn beherrscht wird. Und wenn die Verknüpfung durchtrennt wird, ist die Person eher nach außen gerichtet und vernachlässigt, welche Gefühle emotional im Inneren liegen. Der Sympath ist handlungsorientiert, wie er es seit Geburt war, weil Handeln Überleben bedeutet. Er ist ehrgeizig und schaut ständig nach vorne, weil ihm das bei der Geburt eingestempelt wurde. Alles an ihm ist in eiliger Bewegung. Er spürt das Bedürfnis, sich zu beeilen, ist ungeduldig und möchte jede Aufgabe sofort erledigt haben. Er muss die ganze Zeit in Bewegung sein: Pläne, Projekte, Reisen. Er ist ständig aggressiv, lernt, dass ihm das hilft, Erfolg zu haben, und  es verstärkt sich. Er ist selten deprimiert, wenn überhaupt, weil seine Physiologie nicht dazu neigt.

 

Im Gegensatz dazu kann die Parasympathin nicht spontan reagieren und grübelt ständig über ihr Leben. Sie ist ihrem Schmerz nahe und dennoch von ihm getrennt. Sie ist selten so manisch wie der Sympath. Biologisch befindet sie sich im herunterregulierten Modus; sie ist am Lebensanfang verlangsamt worden, es prägte sich ein, und sie macht auf diesem Weg weiter. Ihre Vitalwerte sind einheitlich niedrig. Sie ist depressiv, fühlt sich hoffnungslos und hilflos. Aber manchmal fällt es ihr schwer zu weinen, da die Verdrängung es verhindert. Sie gerät nur langsam in Erregung, was Gefühle allgemein und Sex betrifft. Sie ist vorsichtig und wenig mitteilsam, weniger neugierig und abenteuerlustig; sie sucht nicht nach Neuem und fühlt sich in ihrer alten Routine wohl. Sie ist sesshaft.

 

Der Sympath ist hartnäckig. Er lässt sich auf Auseinandersetzungen ein, die er vermeiden sollte, weil Hartnäckigkeit Überleben bedeutet. Für ihn lautet die unbewusste Formel aus der Geburt, dass fehlender Kampf und Drang den Tod bedeutet.

 

Ein Patient hatte den Geburts-Prototypen, um sein Leben kämpfen zu müssen, und das setzte sich die ganze Kindheit hindurch mit seiner Mutter fort, die ihm das Leben schwer machte. Er sagte mir, dass er immer nach einem Lebensgrund suchte, nach einem Zeichen der Ermutigung, das ihm erlauben würde, weiterzumachen. Er gab  „alles, was er hatte,“ aber es war zwecklos. Er war zu aggressiv bei seiner Suche nach einem Grund, da er von dem Bedürfnis getrieben wurde, bei der Geburt zu überleben. Er bemühte sich bei Frauen zu sehr, was diese abschreckte. Er suchte immer nach Komplimenten, weil er hoffte, einen Lebensgrund zu finden. Er sagte mir: „Man konnte mich für ein kleines Kompliment kaufen.“

 

Sogar die Stimme passt sich an das Ungleichgewicht an: Der Sympath hat die hohe, quickende Stimme, während der Parasympath die tiefe, langsame, honigsüße hat. Bestimmt das Geburtstrauma, wie wir sprechen? Oft ja. Sie bestimmt auch die Kadenz. Die Parasympathin hat es nicht eilig, sich zu erklären. Sie kann ein Sprechmuster haben, das sehr wenig Raum ergreift; ihre Worte füllen keinen Raum, vielmehr entkommen sie kaum ihrem Mund. Im Gegensatz dazu purzeln die Worte des Sympathen geradezu heraus, ein Wort auf das andere gestülpt.

 

Hinsichtlich des linken und rechten Gehirns ist der Parasympath in seinen Rechtshirngefühlen aufgelöst und nach innen zentriert. Der Sympath kann sich daraus erheben, in sein linkes Gehirn eintauchen und sich nahezu ausschließlich nach außen konzentrieren. Er kann nicht nach innen schauen und ist, was nicht überrascht, weniger geeignet, zu einer Gefühlstherapie zu kommen. Wir sehen mehr Parasympathen als Sympathen.

 

Wir sehen an dem folgenden Fall von Timothy, dass er durch Primärtherapie in relativ kurzer Zeit eine Besserung seines Gesundheitszustandes erreichen konnte, weil es allgemein viel länger als sechs Monate dauert, sich von einer schweren Depression zu erholen. (SSRIs wie Paxil senken den Grad der Verdrängung, die den Schmerz zurückhält, und erhöhen den Zugang des Patienten zu ihm, so dass der Patient glaubt, es gehe ihm schlechter, aber in Wirklichkeit hat er mehr Zugang zu dem Schmerz, den er verdrängt hat.)  

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Timothy

 

Ich glaube, ich war ständig deprimiert, sogar als kleines Kind. Ich hatte ein ernstes und betrübtes Wesen ohne spontanes Lächeln oder Lachen, das für kleine Kinder charakteristisch ist. Die meiste Zeit war ich wie ein Roboter, hatte keine wirklichen Freunde und kein Verlangen danach. Mein Äußeres wirkte ungepflegt, und ich schlief nicht sehr viel. Ich war kalt und distanziert, wenn mich Leute anlächelten, und ich verstand es nicht. Ich lächelte nicht zurück, weil mir niemand beigebracht hatte, dass ich das tun sollte.

 

Ich hätte mich selbst natürlich nie als depressiv bezeichnet, weil ich meinen Zustand für normal hielt und alle anderen ihn einfach für einen Teil meines Charakters hielten. Manche Kinder sind glücklich und andere sind traurig; niemand hielt mich für abnormal, und so nahm ich keine Notiz von diesen Dingen. Ich war wirklich nur sehr leicht deprimiert, und es verschlimmerte sich nicht bis zu meinen College-Jahren.

 

Im College wachte ich eines Morgens auf und fand, dass ich gut genug geschlafen hatte, aber dennoch erschöpft war. Ein Schmerz ging durch meinen Körper, und mir war, als hätte ich keine Energie, als hätte ich etwas körperlich äußerst Anstrengendes gemacht, obwohl ich doch überhaupt nichts gemacht hatte. War ich krank? Das dachte ich bei mir, ignorierte es dann aber. Es ließ sich eh’ nichts machen, und ich musste aus dem Bett und zur Schule, ob ich wollte oder nicht.

 

In den nächsten paar Wochen verschlimmerte sich die Lethargie sehr. Ich saß herum und machte überhaupt nichts. Wellen der Erschöpfung liefen durch meinen Körper. Sie begannen an meinen Füßen und bewegten sich nach oben durch Beine und Rumpf, und ich beobachtete sie alle stillschweigend, konnte aber nichts tun. Eines Tages geschah es, dass ich mehrere Stunden bewegungslos in den Fernseher starrte, und der Fernseher war gar nicht an. Ich hatte die größte Abneigung, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen! Ich war so müde, so müde.

 

Ich schlief nur noch unregelmäßig, und Essen wurde sehr schwierig. Manchmal verschluckte ich das Essen im Ganzen, ohne Kauen, und manchmal hatte ich das Gefühl, als wollte ich nicht mehr atmen, weil es jetzt so ermüdend war und ich bereits so erschöpft war. Mein Gedächtnis wurde allmählich schlechter. Mein Äußeres wirkte noch schlampiger, und ich vernachlässigte meine Schularbeiten total.

 

Manchmal versuchte ich, gegen die Depression anzukämpfen. Ich glaubte, wenn ich diese Dinge ignorierte, wenn ich sie bekämpfte und sie unterdrückte und sie zurück ins Innere stieße, dann würden sie mich vielleicht in Frieden lassen. „Genau dann, wenn mir nach Nichtstun zumute ist“, so dachte ich, „muss ich mir selbst einen Stoß geben und nicht dieser Lethargie verfallen!“ Das war ein Fehler, und ich fühlte mich genauso lethargisch wie zuvor.

 

Bald fand ich heraus, dass mir das, was ich früher genossen hatte, keine Gefühle mehr brachte. Ich war ein Bursche, der sehr der Ästhetik zugeneigt war. Ich liebte schöne Landschaften, Kunst, Musik und wunderbar geschriebene Bücher. Das waren die einzigen Dinge, die ich in meinem Leben hatte. Wenn ich jetzt in ein Museum ging oder ein Buch las, gab mir das gar nichts. Das beunruhigte mich, weil es meine einzige Freudenquelle war, und jetzt hatte ich sie nicht mehr. Schlimmer noch, ich hatte allmählich das Gefühl, dass diese Dinge wertlos oder vorgetäuscht waren, dass meine Glücklichkeit nur eine Illusion gewesen war. „Es gibt nichts mehr,“ dachte ich, und ich akzeptierte es mit düsterer Resignation.

 

Bald infizierten schlimme Gedanken meinen Geist. Ich begann zu denken, dass es für mich kein Glück mehr gibt, dass es nie real war und niemand es besaß. Ich glaubte allmählich, dass mein Gehirn sich irgendwie verschlechtert hatte, und das machte mir große Sorgen. Ich begann über all die Leute auf der Welt nachzudenken, die litten: die Kinder, die Armen, die Hungernden und die Gefolterten. Und ich lebte besser als sie, aber ich war dennoch so unglücklich. Das ist uns bestimmt, dachte ich.

 

Bald war ich in Gefahr, das College zu schwänzen, und ich dachte, dass diese Depression mehr als weit genug gegangen war. Ich ging zu einem Psychiater und bat um Medikamente. Er verschrieb Paxil, 20 mg, und fing am nächsten Tag an, es zu nehmen. Die Lethargie ging nach einem Tag weg, und sie wurde durch etwas viel Schlimmeres ersetzt.

 

Die Lethargie verflüchtigte sich und wurde durch schreckliche Gefühle ersetzt. Jeder kennt gelegentliche Traurigkeit oder Trauer, und mir waren diese Dinge nicht fremd, aber dieses Mal war es ganz anders. Ein Gefühl, ein schreckliches Gefühl von Einsamkeit oder Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung traf mich. Es fegte nicht über mich hinweg sondern traf mich wie ein Fels; es packte mich. Ich war entsetzt. Es erschreckte mich. Ich war in einem emotionalen Schockzustand, weil ich nie geglaubt hatte, dass jemand so viel emotionalen Schmerz auf einmal erleben könnte. Ich wusste nicht, dass sowas möglich war. Mein Körper wand sich und verdrehte sich, und mein Kopf schwang zur Seite, als würde ich versuchen, mich aus der Schmerz-Umklammerung zu befreien oder ihn irgendwie aus dem Weg zu räumen. Die Agitation war immens, und mein Herz begann sehr schnell und sehr laut zu schlagen. Tatsächlich schlug es nahezu in meiner ganzen Brust. Ich dachte bei mir selbst: „Gottseidank hab’ ich angefangen, Paxil zu nehmen, weil meine Depression noch viel, viel schlimmer geworden ist!“ An diesem Abend nahm ich ein zweites Paxil. Am nächsten Morgen wachte ich weinend auf, was für mich ungewöhnlich war. Ich hielt es für gesund und ließ es zu, aber bald wuchs es an, und der Schmerz wurde überwältigend. Ich sagte zu mir selbst: „Ich muss dieses Weinen beenden! Es ist zu viel, und ich muss genau jetzt damit aufhören!“ Aber ich konnte nicht aufhören; es war zu spät. Es kam weiterhin aus mir heraus, und ich fing an, meine ganze Energie einzusetzen, um es wegzustoßen. Ich flog aus der Schule. Ich hörte auf, Paxil zu nehmen, weil ich erkannte, dass es meinen Zustand verschlechterte und nicht besserte. Ich verbrachte meine ganze Zeit vor dem Fernseher, nahm Beruhigungsmittel und versuchte angestrengt, jedes Quentchen meiner Aufmerksamkeit auf diesen Fernseher zu konzentrieren, um kein Stück davon für den Schmerz übrig zu lassen. Ich saß da und zitterte, und die Tränen liefen mir über die Wangen, obwohl ich nicht laut weinte und mich auf diesen Fernseher konzentrierte. Lass’ dem Schmerz kein bisschen Raum, konzentriere dich einfach auf den Fernseher.

 

So ging es mir mehrere Wochen. Jeden Tag wachte ich auf und dachte: „Ich kann’s keinen Tag länger aushalten. Ich kann nicht mehr! Ich hab’ endgültig genug.“ Aber jedes Mal schaffte ich es durch einen weiteren Tag. Eine Zeitlang schlief ich viele Tage lang überhaupt nicht. Ich ging ins Bett und lag da stundenlang voller Angst, und ich versuchte zu vergessen, aber ich schlief nicht. Ich bat Familienmitglieder zu kommen und mir vorlesen. Ich versuchte angestrengt, mich auf das zu konzentrieren, was sie mir vorlasen, und den Schmerz zu vergessen. Der Gedanke kam in mir auf, dass ich Selbstmord begehen müsse, dass es keinen anderen Weg mehr gebe. Ich verstieß ihn. Das werde ich niemals tun, dachte ich bei mir selbst. Aber der Gedanke kam zurück und sagte zu mir: „Du musst es tun, du musst dich selbst töten, weil es keinen anderen Weg gibt.“ Eines Tages weinte ich wieder, und der Schmerz verging. Er verging sehr spontan und sehr schnell, innerhalb 24 Stunden. Die Lethargie blieb, aber sie war nicht so schlimm wie zuvor.

 

Kurz darauf begann ich am Primal Center in Santa Monica, Kalifornien, mit Primärtherapie. Ich machte das, weil ich wusste, dass die ganzen Dinge in meinem Inneren waren und ich ihnen niemals entrinnen konnte; ich musste ihnen gegenübertreten. Dieser Gedanke entsetzte mich, aber es gab wirklich keine andere Wahl. In der Primärtherapie kamen diese Dinge stückenweise heraus. Ich konnte über die Einsamkeit ein Weilchen weinen, anstatt dass mich das alles auf einen Schlag traf. Dieses Mal hatte ich nicht das Gefühl, dass ich es die ganze Zeit bekämpfen müsse, dass es so entsetzlich sei. Stückchenweise konnte ich es auf mich nehmen.

 

Ich bin erst seit sechs Monaten Patient. Das Meiste hat sich etwas gebessert, ist aber noch nicht ganz in Ordnung. Die Depression jedoch ist nicht zurückgekehrt. Die Lethargie ist nahezu total verschwunden. Die Angst ist völlig weg. Ich hatte gelegentliche Panikattacken, die mir von einer Panik-Erkrankung als Teenager geblieben sind, was eine ganz andere Geschichte ist, aber sie sind verschwunden. Ich bin noch immer tief unglücklich, und ich werde es wahrscheinlich lange bleiben, aber eines Tages werde ich gesund sein.

 

 

 

 

Ende des Kapitels

 

 

 

 

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