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Kapitel 4
Der
Prototyp –
Sympathen
und Parasympathen
Ein frühes Trauma errichtet einen Prototypen oder eine Schablone, welche die Persönlichkeit formt und das Verhalten steuert. Abhängig von der Natur des Traumas wird das Nervensystem typischerweise in eine von zwei Richtungen - sympathisch oder parasympathisch – verschoben und formt eine Matrix für die „Persönlichkeit.“ Dieser Prototyp gilt ebenso in physiologischer Hinsicht.
Die
sympathisch-parasympathischen Systeme sind automatische Nervensysteme, die sich
ausgleichen. Das sympathische Alarmsystem, das sich in evolutionärer Hinsicht
zuerst entwickelte, ist für die schnelle Entwicklung des Nervensystems
verantwortlich; es warnt vor Gefahr und muss von früh an auf optimalem Niveau
funktionieren. Das parasympathische Hemmungssystem, das sich später
entwickelte, ist lethargischer und schwerer zu erregen, und es bedarf größeren
Inputs, um es in Gang zu setzen. Seine Aufgabe ist, die Abkoppelung
sympathischer Erregung zu unterstützen, so dass bestimmte Vitalfunktionen zum
Normalzustand zurückkehren, wie zum Beispiel unsere Atmung, Blutdruck, Körpertemperatur,
Blasenfunktion und Verdauung.
Diese
zwei Systeme werden vom Hypothalamus überwacht, zum Großteil vom rechten
Hypothalamus, einer Schlüsselstruktur im Gehirn.
Das sympathische und parasympathische System sind im Gleichgewicht, wenn
wir eine gute Verbindung mit unseren Gefühlen haben. Aber ein Geburts- oder
Vorgeburtstrauma kann diese Systeme zu der Zeit aus dem Gleichgewicht bringen,
wenn sie sich entwickeln und voll organisieren, so dass das eine über das
andere dominiert. Das kann durch die Natur, Intensität und den Zeitpunkt des
Traumas bestimmt sein.
Wenn
man zum Beispiel heftig kämpft, um Erfolg zu haben und geboren zu werden, wird
dadurch das Kämpfen-Erfolg-Syndrom eingeprägt. Das Ergebnis ist eine eher
sympathisch dominante, optimistisch gesteuerte Orientierung. Umgekehrt kann eine
andere Geburtserfahrung einen parasympathisch dominanten Prototyp
einprägen, der zum Aufgeben und zu Passivität neigt. Das ist der Anfang
dessen, was man Persönlichkeitsstruktur nennt; es ist unser Wesenskern. Die
Dominanz des jeweiligen Systems hängt von der Art und vom Zeitpunkt des frühen
Traumas ab.
Noch
bevor wir das Tageslicht erblicken, kann unser System eine Niederlage
registrieren; es gibt eine sehr reale Physiologie der Niederlage, die innerhalb
unseres Nervensystems existiert. Das kann passieren, wenn man einer Mutter während
der Geburt Betäubungsmittel verabreicht. Zuerst unternimmt das Baby große
Anstrengungen, um geboren zu werden. Um die Wehen der Mutter angenehmer zu
machen, wird Anästhesie angewandt, und das Medikament dringt auch in das System
des Babys ein und reduziert dadurch den Sauerstoff, der ihm zur Verfügung
steht. Das unterbricht die normale instinktive Reaktion, gegen die tödliche
Bedrohung bei der Geburt anzukämpfen, weil das die Gefahr erhöhen würde.
Energie sparen und nicht zu viel wertvollen Sauerstoff zu verbrauchen wird zu
einer biologischen Notwendigkeit. Also verlangsamt sich das Baby-System, um sich
selbst zu retten, und steht dann praktisch still.
Nicht
zu kämpfen ist eine prototypische parasympathische Reaktion, um Energie zu
sparen. Ihr psychologisches Äquivalent ist Verzweiflung, Resignation und
Niederlage. Diese Niederlage drückt sich im Fetus als nonverbale Empfindung
aus; das Baby gibt auf. Aber weil das Gesamtsystem als Überlebensmechanismus
zur parasympathischen Seite kippt, kann es den Menschen für den Rest seines
Lebens charakterisieren. Es kann zu einer Einprägung von Hilflosigkeit und
Hoffnungslosigkeit kommen: Ich habe alles getan, um zu leben, und alles, was ich
tue, ist zwecklos.“ Die Prägung formt, wie er späteren Hindernissen begegnet
(indem er schnell aufgibt). Übrigens kann sie auch bestimmen, wie er sexuell
funktioniert. Er hat nicht die biochemische Ausrüstung, um hartnäckig,
aggressiv, anspruchsvoll, optimistisch, zukunftsorientiert oder sexuell erregt
zu sein. Das kommt daher, dass der Prototyp globalen Einfluss auf sein ganzes
physiologisches System hat, und die Impotenz, die er bei der Geburt fühlte, ist
eine Impotenz, die in späteren Jahren sexuell zur Geltung kommen kann. Sein
Gesamtsystem tendiert zu weniger Testosteron, Dopamin, Glutamat und
Noradrenalin, zu niedrigerem Serotonin- und höherem Kortisolspiegel.
Forscher
haben alle möglichen Hormone mit Depression in Verbindung gebracht, sagt ein
Bericht im Scientific American
(Juni 1998, „The Neurobiology of
Depression,“ Seite 4-11). Forscher haben herausgefunden, dass der Spiegel des
Monoamins Norepinephrin (Noradrenalin) bei Depression niedrig ist, etwa 30
Prozent weniger als bei
einer normalen Population. Das führt dazu, dass
einige Fachleute Depression als „Gehirnkrankheit“ auffassen. Norepinephrin, ein
Monoamin, ist im Großen und Ganzen ein stimulierender Nervensaft. Er wird hauptsächlich von Schaltkreisen
hergestellt, die einer Hirnstamm-Struktur entspringen, dem locus ceruleus. Es
gibt Projektionen zu anderen Gehirnorten, vor allem ins Limbische System. Es
gibt bei Depression nicht genug davon, was zu der falschen Annahme führt, dass
dieser Mangel Depression verursacht. Wenn wir in Betracht ziehen, dass
Vorgeburts- und Geburtstraumen schwere Wirkung auf den locus ceruleus haben, der
in gewisser Hinsicht das Terrorzentrum des Gehirns ist, beginnen wir zu
verstehen, warum es zu solchen Mangelzuständen kommt. So kann ein frühes
Trauma den locus ceruleus beeinflussen und seinen Ausstoß dämpfen. Es gibt
eine andere Forschungsstudie, die herausfand, dass der Hippocampus im Gefühlszentrum
des Gehirns bei Depressiven kleiner ist als bei normalen Leuten. Wir wissen
jedoch, dass ein frühes Trauma dazu neigt, den Hippocampus schrumpfen zu
lassen; dieselbe Bedingung, die Depression erzeugt, lässt kurz gesagt den
Hippocampus schrumpfen. Auf einer Konferenz des American College of
Neuropsychopharmacology gab es einen Bericht, dass Leute, die durch Selbstmord
starben, nur ein Drittel der Anzahl präsynaptischer Serotoninzellen hatte. Ihre
Schlussfolgerung war, dass bei Menschen, die Suizid begehen, ein Serotoninmangel
vorherrscht; es gibt umfangreiches Beweismaterial dafür, wie das Geburtstrauma
sich auf spätere Depression auswirkt.
Wir
können über die „Gehirnkrankheit“-Hypothese hinausschauen, um zu erkennen,
warum bestimmte Neurochemikalien unterrepräsentiert sind. Hier finden wir die
Primärplattform für spätere Depression. Das Problem besteht darin, dass die
Zeitkluft zwischen Depression im Alter von 40 und einem Geburtstrauma im
Lebensalter von einem Tag, das die Sollwerte verändert und Norepinephrin und
Serotonin erschöpft, so groß ist, dass es sehr schwierig ist, die beiden in
Zusammenhang zu bringen. Und natürlich ist erschöpftes Serotonin, der
Neurohemmer, eine weitere Substanz, die in Depression verwickelt ist. Bei
chronisch Depressiven ist sie gering vorhanden. Tendenziell wird auch sie in den
ersten Lebensstunden aufgrund frühen Liebesmangels oder Traumas aufgebraucht.
Wenn man depressiven Patienten ein Medikament gibt, das dabei hilft, Serotonin
im Gehirn zu halten, fühlen sie sich besser. Sie sind besser in der Lage,
Schmerz zu unterdrücken, und leiden deshalb nicht so sehr. Was
Beruhigungsmittel und Antidepressiva
bewirken,
ist, dass sie den Serotoninmangel ausgleichen. Das ist bestenfalls von vorübergehender
Wirkung. Es gibt eine Möglichkeit, den Mangel dauerhaft auszugleichen: die
Ereignisse wiedererleben, welche die ursprüngliche Abweichung verursachten. Das
normalisiert, wie so viele unserer Forschungen herausgefunden haben. Mit normal
meine ich die Wiederherstellung früherer Normen – der Blutdruck und andere
Vitalfunktionen kehren zu Werten innerhalb akzeptierter Grenzen zurück, und die
Persönlichkeit, die früher vielleicht getrieben war, verlangsamt sich auf ein
moderates Niveau. Auf diese Weise wird der Mensch nicht mehr von unbewussten Kräften
getrieben. Im britischen Wissenschaftsmagazin
New Scientist vom 12.
April 2003 findet man unter der Überschrift „The Dreamcatcher“ auf Seite 46
ein Interview mit dem Psychologen Joe Griffin. Er behauptet: „Die Forschung
zeigt, dass jede Therapie oder Beratung, die Menschen zur Introspektion über
ihre Vergangenheit ermutigt, die Depression unweigerlich vertiefen wird.“ Das
steht in einem respektierten Wissenschaftsjournal! Mit diesem Ratschlag kann man
sich einzig auf das Hier-und-Jetzt konzentrieren, ohne dass es einem je besser
geht. Das ist das Wesen des historischen Solipsismus. Es gibt keine
Vergangenheit; nichts in unserer Geschichte beeinflusst uns.
Diese
prototypische Prägung kann auch stattfinden, wenn die Mutter während ihrer
Schwangerschaft Schmerztöter nimmt. Die Droge dringt in den Körper des Babys
ein und hat einen lebenslangen Verdrängungseffekt. Ebenso prägt eine Mutter,
die in der Schwangerschaft raucht, ein passives herunterreguliertes System in
ihren Nachwuchs ein, da Tabak eine Reihe von Schmerztötern enthält. Dasselbe
trifft auf eine Mutter zu, die schwere Medikamente wie Haldol nimmt; es führt
dazu, dass das Neugeborene eine parasympathische Dominanz entwickelt: Es wird
selten - wenn überhaupt - weinen oder stark reagieren. Das unter Drogen
stehende System der Mutter hat die aktivierenden Neurohormone unterdrückt, die
das Baby braucht, um wachsam und aggressiv zu sein. Haldol unterdrückt die
DopaminProduktion beim Baby, was bedeutet, dass es weniger Energie und
Aggressivität entfaltet. Es wird passiv geboren, es fehlt ihm an Energie, und
es reagiert nicht. Es ist so ein guter Junge, dass wir erst Monate später zögernd
begreifen, dass etwas nicht stimmt.
Die
Geburtserfahrung mangelnden Sauerstoffs kann die Tendenz verstärken, keine
Energie zu verbrauchen, die aufgrund der Tatsache bereits besteht, dass die
Mutter während ihrer Schwangerschaft geraucht hat. Aufgrund dessen wird der
parasympathische Prototyp umso stärker eingeprägt; das Ergebnis ist ein
passives Individuum, das sich nirgendwo zu sehr anstrengt. Dieser Mensch steckt
jetzt in einem unbeweglichen Tiegel fest, der seine Lebensentscheidungen
und-interessen lenkt. Er wird nicht extrovertiert und gesellig sein; er wird
kein Geschäftsmann sein. Passivität und Niederlage können auch in das Kind einer Mutter eingeprägt werden, die während der Schwangerschaft in einem depressiven, hoffnungslosen Stimmungsmodus ist. Der Fetus kann zusammen mit seiner Mutter in diesem Modus versinken und dann eine lebenslange Tendenz zur Passivität aufweisen. Mit 30 Jahren ist diese Person impotent und kann keine Erektion aufrecht erhalten. Sein Körper spricht die Sprache des Prototypen: „Ich bin hilflos und schwach. Ich kann nichts tun, um mir selbst zu helfen.“ Der Erektionsverlust spricht eine Sprache; es ist eine Sprache, die ständig zu uns spricht, obwohl wir ihre Syntax nicht verstehen. Und was noch schlimmer ist, sie redet die ganze Zeit mit uns, und wir können uns nie für die Gefälligkeit revanchieren.
Viele
Forschungen weisen auch darauf hin, dass das Stressniveau der Mutter in der
Schwangerschaft den Sexualhormon-Ausstoß des Nachwuchses ein Leben lang
beeinflussen kann. Das ist die Zeit, in der das Sexualhormonsystem des Fetus in
Erscheinung tritt und seine Sollwerte entwickelt. Ein andauerndes Trauma bei der
Mutter,
wie zum Beispiel vom
Ehemann verlassen zu werden, kann einen anderen Sollwert einprägen – eine
Hypo-oder Untersekretion – weil sich das System an das Niederlagen- und
Resignations-Gefühl der Mutter anpasst. Deshalb Jahrzehnte später die Impotenz
beim erwachsenen Mann. Es ist keine Überraschung, dass wir bei Männern, die
Parasympathen sind, niedrigere Testosteron-Ausgangswerte gefunden haben.
Im
Gegensatz zur ‚besiegten’ und passiven Prägung des Parasympathen steht der
„Alles-geben-was-du-hast“-Antrieb, der die Persönlichkeit des Sympathen
charakterisiert. Hier finden wir den Kampf ums Herauskommen bei der Geburt, wenn
es nur zäh vorwärts geht, ein verzweifeltes Kämpfen und der Einsatz der
letzten Energiereserven, um zu leben – das Kampf-und-Erfolg-Syndrom. Diese
sympathische Dominanz mit allen Systemen volle Kraft voraus wird zum Prototyp.
Der Mensch wird dann in anderen Lebensituationen immer wieder zu hartnäckig
sein und nicht wissen, wann er zurückstecken muss. Freunde werden dem
Sympathen sagen: „Lass es sein. Hör’ auf, dich selbst anzutreiben!“ Aber
er kann es nicht. Wie ich betont habe, ist Aufgeben für den Parasympathen am
untersten Glied der neuronalen Kette wirklich eine Überlebenssache. Für den
Sympathen kommt Aufgeben dem Tod gleich; weitermachen bedeutet Leben. Das ist
eine gute Eigenschaft, um Erfolg zu haben, aber keine so gute für
Langlebigkeit.
Nehmen
wir zum Beispiel an, dass ein Mann mit einer sympathisch dominanten Persönlichkeit
ein Projekt betreibt, das für ihn zu groß ist, als dass er es bewältigen könnte.
Er kann nicht aussteigen, noch kann er um Hilfe bitten, weil ein Teil der
Originaleinprägung lautete: „Es gibt keine Hilfe; ich muss das allein
machen.“
In der kognitiven
Therapie lernt er vielleicht, dass er loslasssen muss und sich nicht so sehr
anstrengen darf, aber tief in seinem Gehirn verweilt die eingeprägte Erinnerung
der Notwendigkeit, sich schwer anzustrengen und nie aufzugeben. Er lebt den
Prototyp aus, und er treibt sich vielleicht selbst in einen frühen Tod. In der
kognitiven Therapie (und Einsichtstherapie gehört dazu) gibt es das Dogma, dass
Gedanken Emotionen beeinflussen, so dass wir unsere Gefühle ändern können,
wenn wir die richtigen Gedanken denken. Das stimmt nicht und läuft der modernen
Neurowissenschaft zuwider, die sagt: „Der Hauptteil des Einflusses geht in die
andere Richtung.“ Es sind Gefühle, die Glaubensvorstellungen und Gedanken
kontrollieren. (siehe Paul Genova, „Cognitive Therapy’s Faulty Schema,“
Psychiatric
Times, Okt. 2003, Vol. XX, Ausgabe 10). Also werden wir niemanden aus seiner
Depression herausargumentieren können; noch werden wir depressive Gedanken
durch andere gesündere ersetzen können. Und bestimmt werden Einsichten, Teil
unseres Denkapparats, Depression nicht ändern.
Es
ist logisch, das herauszusuchen und zu machen, was vorher funktioniert hat. Das
ist der Grund, warum in einer lebensbedrohlichen Situation unser ganzes Leben
vor unseren Augen abläuft, da das Gehirn die ganze Lebensgeschichte nach einer
Überlebensstrategie durchsucht. Einige werden umtriebig; andere frieren ein.
Und von Tag zu Tag reagieren wir immer wieder auf Grundlage des vorherrschenden
Prototyps, entweder indem wir nach Bedürfnisbefriedigung streben (Sympath) oder
indem wir leicht aufgeben, ohne uns sehr zu bemühen (Parasympath). Die Nadel hängt
ein Leben lang auf der einen oder anderen Platte fest. Und es ist buchstäblich
eine Platte, die ewig spielt. Es ist die Platte unseres Lebens, die
Hintergrundmusik, nach der wir die ganze Zeit tanzen, ohne es zu wissen. Wir
bewegen uns zu einem langsamen Walzer, wenn wir Parasympathen sind, und zu
„beschwingterer“ Musik, wenn wir das nicht sind. Auch wenn wir die Musik
nicht hören können, tanzt der Körper denoch danach.
Wenn
sich die Einprägung durch fehlende Fürsorge und Berührung in den ersten
Lebenswochen bildet, lernen wir emotionalen Rückzug und Entfremdung als
charakteristisches Verhalten, und auch das ist bei den meisten Depressiven
offensichtlich. Das würde die bereits früher eingestempelte Tendenz bekräftigen,
ganz allein und von seinen Eltern emotional distanziert zu sein. Es kommt nun zu
einer Verstärkung. Wenn jemand mit einem Gefühl der Entfremdung und
emotionalen Losgelöstheit lebt, kann das daher kommen, dass das
parasympathische System der bei der Geburt eingeprägte Prototyp war; es
reflektiert das Bedürfnis des Selbst nach Rückzug und Dissoziation vom
Schmerz. Das geschieht, wenn Abkoppelung das Prinzip und die einzig mögliche
Abwehr bei der Geburt ist, zum Beispiel gegen die Strangulierung durch die
Nabelschnur. Das kann sich verstärken durch die fehlende Nähe zur Mutter
unmittelbar nach der Geburt. Somit können wir uns von uns selbst loslösen und
emotional distanziert werden, und das bereits im Mutterleib. Der Impuls, uns
selbst aus Erfahrungen herauszuholen, wird zu einem Prototyp. Wir werden
distanziert, abstrahiert – zuerst distanziert von uns selbst, dann von
anderen. Es ist möglich, dass sich im letzten Trimester der Schwangerschaft ein
Teil des Systems von den anderen Teilen abschottet. Das bedeutet, dass Verdrängung
einsetzt, um den Fetus von seinen Gefühlen abzuschirmen. Und wenn wir aufgrund
früher parasympathischer Einprägungen von uns selbst entfremdet sind, können
wir durchaus Partner wählen, die auch von ihren Gefühlen entfremdet sind. Es
gibt ein unerbittliches biologisches Gesetz, nach dem wir anderen umso näher
sein können, je näher wir uns selbst sind; je entfernter wir emotional von uns
selbst sind, umso entfernter werden wir in emotionaler Hinsicht von anderen
sein. Und das deshalb, weil die Beziehungen mit anderen letztlich eine innere
Erfahrung sind; Offenheit zu uns selbst ermöglicht uns Offenheit zu anderen.
Wenn wir also von uns selbst abgeschnitten sind, neigen unsere Beziehungen zu
Oberflächlichkeit, sind aber sicher und unbedrohlich und lösen nicht leicht
starke Emotionen aus.
Der
Parasympath zieht sich mit größerer Wahrscheinlichkeit zurück, ist scheuer
und furchtsamer und zögert eher. Wahrscheinlich überlegt er mehr und ist
weniger impulsiv als der Sympath, dessen Modus ganz nach außen gerichtet ist.
Als Erwachsener wird der Parasympath zurückscheuen, wenn ihm jemand zu nahe
kommt, weil das den Schmerz darüber hochbringen kann, dass er nie die Nähe
gehabt hatte, die er brauchte. Seine Scheu ist Schutz gegen Urschmerz, ein
Schmerz, an den er sich nicht einmal erinnern kann, der aber in jedem Teil von
ihm registriert ist: in seiner Haltung, seinem Gesichtsausdruck, Gang, Kadenz
und Tonfall seiner Sprache. Das sind alles Erinnerungsaspekte. Er hat den Zugang
zu diesen Erinnerungen verloren, aber der Prototyp bleibt als Erinnerung einer
vergangenen Zeit, und wer wir sind, ist fleischgewordene Erinnerung.
Der
Sympath konzentriert sich nach außen, während der Parasympath nach innen
schaut, poetischer und philosophischer ist. Wie wir später sehen werden, ist
die Außenorientierung eine Funktion des linken frontalkortikalen Gehirns, während
die nachdenkliche, introspektive, nach innen gerichtete Person tendenziell vom
rechten Frontalgehirn beherrscht wird. Und wenn die Verknüpfung durchtrennt
wird, ist die Person eher nach außen gerichtet und vernachlässigt, welche Gefühle
emotional im Inneren liegen. Der Sympath ist handlungsorientiert, wie er es seit
Geburt war, weil Handeln Überleben bedeutet. Er ist ehrgeizig und schaut ständig
nach vorne, weil ihm das bei der Geburt eingestempelt wurde. Alles an ihm ist in
eiliger Bewegung. Er spürt das Bedürfnis, sich zu beeilen, ist ungeduldig und
möchte jede Aufgabe sofort erledigt haben. Er muss die ganze Zeit in Bewegung
sein: Pläne, Projekte, Reisen. Er ist ständig aggressiv, lernt, dass ihm das
hilft, Erfolg zu haben, und es verstärkt sich. Er ist selten deprimiert, wenn überhaupt,
weil seine Physiologie nicht dazu neigt.
Im
Gegensatz dazu kann die Parasympathin nicht spontan reagieren und grübelt ständig
über ihr Leben. Sie ist ihrem Schmerz nahe und dennoch von ihm getrennt. Sie
ist selten so manisch wie der Sympath. Biologisch befindet sie sich im
herunterregulierten Modus; sie ist am Lebensanfang verlangsamt worden, es prägte
sich ein, und sie macht auf diesem Weg weiter. Ihre Vitalwerte sind einheitlich
niedrig. Sie ist depressiv, fühlt sich hoffnungslos und hilflos. Aber manchmal
fällt es ihr schwer zu weinen, da die Verdrängung es verhindert. Sie gerät
nur langsam in Erregung, was Gefühle allgemein und Sex betrifft. Sie ist
vorsichtig und wenig mitteilsam, weniger neugierig und abenteuerlustig; sie
sucht nicht nach Neuem und fühlt sich in ihrer alten Routine wohl. Sie ist
sesshaft.
Der
Sympath ist hartnäckig. Er lässt sich auf Auseinandersetzungen ein, die er
vermeiden sollte, weil Hartnäckigkeit Überleben bedeutet. Für ihn lautet die
unbewusste Formel aus der Geburt, dass fehlender Kampf und Drang den Tod
bedeutet.
Ein
Patient hatte den Geburts-Prototypen, um sein Leben kämpfen zu müssen, und das
setzte sich die ganze Kindheit hindurch mit seiner Mutter fort, die ihm das
Leben schwer machte. Er sagte mir, dass er immer nach einem Lebensgrund suchte,
nach einem Zeichen der Ermutigung, das ihm erlauben würde, weiterzumachen. Er
gab
„alles, was er hatte,“ aber
es war zwecklos. Er war zu aggressiv bei seiner Suche nach einem Grund, da er
von dem Bedürfnis getrieben wurde, bei der Geburt zu überleben. Er bemühte
sich bei Frauen zu sehr, was diese abschreckte. Er suchte immer nach
Komplimenten, weil er hoffte, einen Lebensgrund zu finden. Er sagte mir: „Man
konnte mich für ein kleines Kompliment kaufen.“
Sogar
die Stimme passt sich an das Ungleichgewicht an: Der Sympath hat die hohe,
quickende Stimme, während der Parasympath die tiefe, langsame, honigsüße hat.
Bestimmt das Geburtstrauma, wie wir sprechen? Oft ja. Sie bestimmt auch die
Kadenz. Die Parasympathin hat es nicht eilig, sich zu erklären. Sie kann ein
Sprechmuster haben, das sehr wenig Raum ergreift; ihre Worte füllen keinen
Raum, vielmehr entkommen sie kaum ihrem Mund. Im Gegensatz dazu purzeln die
Worte des Sympathen geradezu heraus, ein Wort auf das andere gestülpt.
Hinsichtlich
des linken und rechten Gehirns ist der Parasympath in seinen Rechtshirngefühlen
aufgelöst und nach innen zentriert. Der Sympath kann sich daraus erheben, in
sein linkes Gehirn eintauchen und sich nahezu ausschließlich nach außen
konzentrieren. Er kann nicht nach innen schauen und ist, was nicht überrascht,
weniger geeignet, zu einer Gefühlstherapie zu kommen. Wir sehen mehr
Parasympathen als Sympathen.
Wir
sehen an dem folgenden Fall von Timothy, dass er durch Primärtherapie in
relativ kurzer Zeit eine Besserung seines Gesundheitszustandes erreichen konnte,
weil es allgemein viel länger als sechs Monate dauert, sich von einer schweren
Depression zu erholen. (SSRIs wie Paxil senken den Grad der Verdrängung, die
den Schmerz zurückhält, und erhöhen den Zugang des Patienten zu ihm, so dass
der Patient glaubt, es gehe ihm schlechter, aber in Wirklichkeit hat er mehr
Zugang zu dem Schmerz, den er verdrängt hat.) ______________ Timothy
Ich
glaube, ich war ständig deprimiert, sogar als kleines Kind. Ich hatte ein
ernstes und betrübtes Wesen ohne spontanes Lächeln oder Lachen, das für
kleine Kinder charakteristisch ist. Die meiste Zeit war ich wie ein Roboter,
hatte keine wirklichen Freunde und kein Verlangen danach. Mein Äußeres wirkte
ungepflegt, und ich schlief nicht sehr viel. Ich war kalt und distanziert, wenn
mich Leute anlächelten, und ich verstand es nicht. Ich lächelte nicht zurück,
weil mir niemand beigebracht hatte, dass ich das tun sollte.
Ich
hätte mich selbst natürlich nie als depressiv bezeichnet, weil ich meinen
Zustand für normal hielt und alle anderen ihn einfach für einen Teil meines
Charakters hielten. Manche Kinder sind glücklich und andere sind traurig;
niemand hielt mich für abnormal, und so nahm ich keine Notiz von diesen Dingen.
Ich war wirklich nur sehr leicht deprimiert, und es verschlimmerte sich nicht
bis zu meinen College-Jahren.
Im College wachte ich eines Morgens auf und fand, dass ich gut genug geschlafen hatte, aber dennoch erschöpft war. Ein Schmerz ging durch meinen Körper, und mir war, als hätte ich keine Energie, als hätte ich etwas körperlich äußerst Anstrengendes gemacht, obwohl ich doch überhaupt nichts gemacht hatte. War ich krank? Das dachte ich bei mir, ignorierte es dann aber. Es ließ sich eh’ nichts machen, und ich musste aus dem Bett und zur Schule, ob ich wollte oder nicht.
In
den nächsten paar Wochen verschlimmerte sich die Lethargie sehr. Ich saß
herum und machte überhaupt nichts. Wellen der Erschöpfung liefen durch
meinen Körper. Sie begannen an meinen Füßen und bewegten sich nach oben
durch Beine und Rumpf, und ich beobachtete sie alle stillschweigend, konnte
aber nichts tun. Eines Tages geschah es, dass ich mehrere Stunden bewegungslos
in den Fernseher starrte, und der Fernseher war gar nicht an. Ich hatte die größte
Abneigung, auch nur einen einzigen Muskel zu bewegen! Ich war so müde, so müde.
Ich
schlief nur noch unregelmäßig, und Essen wurde sehr schwierig. Manchmal
verschluckte ich das Essen im Ganzen, ohne Kauen, und manchmal hatte ich das
Gefühl, als wollte ich nicht mehr atmen, weil es jetzt so ermüdend war und
ich bereits so erschöpft war. Mein Gedächtnis wurde allmählich schlechter.
Mein Äußeres wirkte noch schlampiger, und ich vernachlässigte meine
Schularbeiten total.
Manchmal
versuchte ich, gegen die Depression anzukämpfen. Ich glaubte, wenn ich diese
Dinge ignorierte, wenn ich sie bekämpfte und sie unterdrückte und sie zurück
ins Innere stieße, dann würden sie mich vielleicht in Frieden lassen.
„Genau dann, wenn mir nach Nichtstun zumute ist“, so dachte ich, „muss
ich mir selbst einen Stoß geben und nicht dieser Lethargie verfallen!“ Das
war ein Fehler, und ich fühlte mich genauso lethargisch wie zuvor.
Bald
fand ich heraus, dass mir das, was ich früher genossen hatte, keine Gefühle
mehr brachte. Ich war ein Bursche, der sehr der Ästhetik zugeneigt war. Ich
liebte schöne Landschaften, Kunst, Musik und wunderbar geschriebene Bücher.
Das waren die einzigen Dinge, die ich in meinem Leben hatte. Wenn ich jetzt in
ein Museum ging oder ein Buch las, gab mir das gar nichts. Das beunruhigte
mich, weil es meine einzige Freudenquelle war, und jetzt hatte ich sie nicht
mehr. Schlimmer noch, ich hatte allmählich das Gefühl, dass diese Dinge
wertlos oder vorgetäuscht waren, dass meine Glücklichkeit nur eine Illusion
gewesen war. „Es gibt nichts mehr,“ dachte ich, und ich akzeptierte es mit
düsterer Resignation.
Bald
infizierten schlimme Gedanken meinen Geist. Ich begann zu denken, dass es für
mich kein Glück mehr gibt, dass es nie real war und niemand es besaß. Ich
glaubte allmählich, dass mein Gehirn sich irgendwie verschlechtert hatte, und
das machte mir große Sorgen. Ich begann über all die Leute auf der Welt
nachzudenken, die litten: die Kinder, die Armen, die Hungernden und die
Gefolterten. Und ich lebte besser als sie, aber ich war dennoch so unglücklich.
Das ist uns bestimmt, dachte ich.
Bald
war ich in Gefahr, das College zu schwänzen, und ich dachte, dass diese
Depression mehr als weit genug gegangen war. Ich ging zu einem Psychiater und
bat um Medikamente. Er verschrieb Paxil, 20 mg, und fing am nächsten Tag an,
es zu nehmen. Die Lethargie ging nach einem Tag weg, und sie wurde durch etwas
viel Schlimmeres ersetzt.
Die
Lethargie verflüchtigte sich und wurde durch schreckliche Gefühle ersetzt.
Jeder kennt gelegentliche Traurigkeit oder Trauer, und mir waren diese Dinge
nicht fremd, aber dieses Mal war es ganz anders. Ein Gefühl, ein
schreckliches Gefühl von Einsamkeit oder Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung
traf mich. Es fegte nicht über mich hinweg sondern traf mich wie ein Fels; es
packte mich. Ich war entsetzt. Es erschreckte mich. Ich war in einem
emotionalen Schockzustand, weil ich nie geglaubt hatte, dass jemand so viel
emotionalen Schmerz auf einmal erleben könnte. Ich wusste nicht, dass sowas möglich
war. Mein Körper wand sich und verdrehte sich, und mein Kopf schwang zur
Seite, als würde ich versuchen, mich aus der Schmerz-Umklammerung zu befreien
oder ihn irgendwie aus dem Weg zu räumen. Die Agitation war immens, und mein
Herz begann sehr schnell und sehr laut zu schlagen. Tatsächlich schlug es
nahezu in meiner ganzen Brust. Ich dachte bei mir selbst: „Gottseidank
hab’ ich angefangen, Paxil zu nehmen, weil meine Depression noch viel, viel
schlimmer geworden ist!“ An diesem Abend nahm ich ein zweites Paxil. Am nächsten
Morgen wachte ich weinend auf, was für mich ungewöhnlich war. Ich hielt es für
gesund und ließ es zu, aber bald wuchs es an, und der Schmerz wurde überwältigend.
Ich sagte zu mir selbst: „Ich muss dieses Weinen beenden! Es ist zu viel,
und ich muss genau jetzt damit aufhören!“ Aber ich konnte nicht aufhören;
es war zu spät. Es kam weiterhin aus mir heraus, und ich fing an, meine ganze
Energie einzusetzen, um es wegzustoßen. Ich flog aus der Schule. Ich hörte
auf, Paxil zu nehmen, weil ich erkannte, dass es meinen Zustand
verschlechterte und nicht besserte. Ich verbrachte meine ganze Zeit vor dem
Fernseher, nahm Beruhigungsmittel und versuchte angestrengt, jedes Quentchen
meiner Aufmerksamkeit auf diesen Fernseher zu konzentrieren, um kein Stück
davon für den Schmerz übrig zu lassen. Ich saß da und zitterte, und die Tränen
liefen mir über die Wangen, obwohl ich nicht laut weinte und mich auf diesen
Fernseher konzentrierte. Lass’ dem Schmerz kein bisschen Raum, konzentriere
dich einfach auf den Fernseher.
So
ging es mir mehrere Wochen. Jeden Tag wachte ich auf und dachte: „Ich
kann’s keinen Tag länger aushalten. Ich kann nicht mehr! Ich hab’ endgültig
genug.“ Aber jedes Mal schaffte ich es durch einen weiteren Tag. Eine
Zeitlang schlief ich viele Tage lang überhaupt nicht. Ich ging ins Bett und
lag da stundenlang voller Angst, und ich versuchte zu vergessen, aber ich
schlief nicht. Ich bat Familienmitglieder zu kommen und mir vorlesen. Ich
versuchte angestrengt, mich auf das zu konzentrieren, was sie mir vorlasen,
und den Schmerz zu vergessen. Der Gedanke kam in mir auf, dass ich Selbstmord
begehen müsse, dass es keinen anderen Weg mehr gebe. Ich verstieß ihn. Das
werde ich niemals tun, dachte ich bei mir selbst. Aber der Gedanke kam zurück
und sagte zu mir: „Du musst es tun, du musst dich selbst töten, weil es
keinen anderen Weg gibt.“ Eines Tages weinte ich wieder, und der Schmerz
verging. Er verging sehr spontan und sehr schnell, innerhalb 24 Stunden. Die
Lethargie blieb, aber sie war nicht so schlimm wie zuvor.
Kurz
darauf begann ich am Primal Center in Santa Monica, Kalifornien, mit Primärtherapie.
Ich machte das, weil ich wusste, dass die ganzen Dinge in meinem Inneren waren
und ich ihnen niemals entrinnen konnte; ich musste ihnen gegenübertreten.
Dieser Gedanke entsetzte mich, aber es gab wirklich keine andere Wahl. In der
Primärtherapie kamen diese Dinge stückenweise heraus. Ich konnte über die
Einsamkeit ein Weilchen weinen, anstatt dass mich das alles auf einen Schlag
traf. Dieses Mal hatte ich nicht das Gefühl, dass ich es die ganze Zeit bekämpfen
müsse, dass es so entsetzlich sei. Stückchenweise konnte ich es auf mich
nehmen.
Ich
bin erst seit sechs Monaten Patient. Das Meiste hat sich etwas gebessert, ist
aber noch nicht ganz in Ordnung. Die Depression jedoch ist nicht zurückgekehrt.
Die Lethargie ist nahezu total verschwunden. Die Angst ist völlig weg. Ich
hatte gelegentliche Panikattacken, die mir von einer Panik-Erkrankung als
Teenager geblieben sind, was eine ganz andere Geschichte ist, aber sie sind
verschwunden. Ich bin noch immer tief unglücklich, und ich werde es
wahrscheinlich lange bleiben, aber eines Tages werde ich gesund sein.
Ende des Kapitels
Buchübersetzung: Bücher von A. Janov
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