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DIE JANOV-LÖSUNG

THE JANOV SOLUTION  -  Lifting Depression Through Primal Therapy erschien 2007 bei SterlingHouse Books, Pittsburgh, PA 15218

© Copyright 2007 Dr. Arthur Janov

 

Kapitel 5

 

Die Chemie der Depression (wie sich Erinnerung einprägt)

 

 

  Die Konzeption der Einprägung wird durch neue Forschungen bekräftigt, die zeigen, dass ein extremes Gefühlstrauma am Lebensanfang in unser System als physiologisches Ereignis eingeprägt und eingeschlossen wird und fortdauernde physiologische Auswirkungen hat. Aus genau diesem Grund ist ein präverbales Trauma, das sich ereignet, bevor das frontale denkende Areal gereift ist, entscheidend für unsere Entwicklung und beeinflusst unsere Persönlichkeit, Verhalten und Gesundheit ein Leben lang.

James Mc Gaugh von der University of California in Irvine führt aus, wie im Fall schwerer Emotionen Katecholamine (Alarmsubstanzen, die Neurosäfte der Wachsamkeit) abgesondert werden, die die Erinnerung tendenziell versiegeln; sie also tatsächlich ins Gehirn eingravieren. Sie wird in meiner Terminologie zur Einprägung. Es bedeutet, dass ein extremes emotionales Trauma in unser System als psychophysiologisches Ereignis eingeschlossen wird. Es ist weder nur psychisch noch nur körperlich sondern vielmehr beides zugleich, und es kann ein Leben lang andauern. "Keiner will mich" besteht zum Beispiel fort, weil es zum Zeitpunkt des Traumas einfach zu viel war, als dass man es hätte fühlen und integrieren können; es hätte den lebenden Körper getötet. Die Einprägung verändert dann unser Gehirn und steuert unser Verhalten. Primärtherapie macht sich nun daran, wieder normale, gesunde Sollwerte und Gehirnschaltkreise einzurichten. Indem wir die abgewichenen Gehirnschaltkreise voll erleben, können wir Nervennetzwerke nunmehr normalisieren.

Forscher haben sowohl den Ort dieser traumatischen Einprägungen im Gehirn identifiziert als auch die Mechanismen, durch die sie permanent eingestempelt werden. Einprägungen in der kritischen Periode werden in der rechten Hemisphäre des Gehirns und besonders im rechten Limbischen System, im "fühlenden" Gehirn, eingraviert. Das rechte Gehirn entwickelt sich früher als das linke. Bei der Geburt ist unter den limbischen Strukturen die rechte Amygdala, die Roh-Information bewertet, gemeinsam mit dem Hirnstamm aktiv, dessen Entwicklung von der frühen Schwangerschaft bis zu den ersten sechs Lebensmonaten währt. Der Rest des Limbischen Systems wird bald danach aktiv, und das rechte Limbische System befindet sich bis zum zweiten Lebensjahr des Babys in einer beschleunigten Wachstumsphase. Der Hippocampus, eine andere limbische Struktur, die als Fakt registriert, was mit uns ganz früh geschieht, ist etwa im Alter von 2 Jahren reif.

Wenn es in den kritischen ersten Jahren ein Trauma gibt, helfen verschiedene Gehirnstrukturen, die mit Wachsamkeit zu tun haben, wie zum Beispiel der Locus caeruleus, bei der Organisation der chemischen Sekretionen für die Einprägung. Der Hippocampus hilft, die eingeprägte Erinnerung zu konsolidieren, während der innere Kern, das Wesentliche des Feelings von der Amygdala bereitgestellt wird. Zum Beispiel ist es die rechte Amygdala und der Hirnstamm, die jeden Unruhe- oder Erregungszustand eingravieren, in dem die Mutter sich befindet. (Übrigens ist die Vorstellung vom "Kern des Feelings" meine Vermutung, die auf der Gesamtheit verschiedener Forschungsstudien beruht. Es ist induktive Logik, keine etablierte Tatsache.) Vielleicht ist die Rolle der Amygdala einfach eine Metapher, aber es scheint keine andere Struktur zu geben, die diesem Anspruch genügen würde. Gefühle sind gewiss die Eigenart des Limbischen Systems, und die Amygdala vergrößert sich, wenn es ein präverbales Trauma gibt. Sie trägt die Hauptlast des Traumas und scheint aus den Nähten zu platzen.

Man muss sich auch fragen, warum die neurochemischen Alarmsubstanzen bei der Einprägung helfen. Zweifelsohne deshalb, weil man sich an große Gefahr als einen Führer für die Zukunft erinnern muss, als etwas, das man vermeiden muss. Und wenn wir später in Gefahr sind, durchforscht das Gehirn seine Geschichte nach den Schlüssel-Einprägungen und benutzt sie als Wegweiser.

Jules, dessen Geschichte folgt, intellektualisierte gewöhnlich und wälzte das Thema endlos herum, ohne je auf den Punkt zu kommen. In unseren letzten Gruppensitzung sagte ich zu Jules: „Die Grundlinie, Jules.“ Er zögerte einen Sekundenbruchteil, fiel mir in die Arme und rief: „Hilf mir – Ich leide!“ Und so machte er seinen ersten Schritt in Richtung Gesundheit.  

___________

 

 

Jules

Ich bin depressiv, fast soweit ich zurückdenken kann. Als kleines Kind fühlte ich mich die meiste Zeit verloren und leer, als ob etwas nicht stimmte oder fehlte. Es war, als würde ich mich ständig fragen: “Was soll ich tun? Was stimmt nicht?“ Später dann, als ich bemerkte, wie andere Kinder Spaß hatten und vertrauensvolle Freundschaften schlossen, änderten sich die Fragen zu: „Wann werde ich Spaß haben? Warum geht’s mir schlecht? Was stimmt nicht mit mir?" Ich verbrachte eine Menge Zeit damit, mit mir selbst zu spielen, mit imaginären Freunden zu reden oder tagzuträumen. Wenn ich mit anderen Kindern zusammen war, hielt ich mich entweder im Hintergrund oder war der Boss und riss die ganze Aufmerksamkeit an mich, so dass es keine angenehme Mitte für mich gab. Das Leben war erträglich, es sei denn, ich hatte Kummer oder wurde in der Schule schikaniert, wobei ich eine schreckliche Angst in meinen Eingeweiden spürte, wie ein andauernder Magenschmerz.

Ungefähr seit dem dreizehnten Lebensjahr bis vor einigen Jahren hatte ich in meinen wachen Stunden ab und an diese körperliche Angstempfindung. Mit Worten ausgedrückt lautete das Gefühl: „Ich habe Angst. Auch wenn ich keine Angst habe, scheint das Leben sinnlos. Ich wünschte, ich könnte einfach schlafen gehen, aufwachen und mich besser fühlen.“ Zur Schlafenszeit fantasierte ich von einem neueren, helleren Morgen. Tagsüber lenkte ich mich so gut wie möglich ab, um schlechte Gefühle zu vermeiden, wandte mich der Mathematik, Musik, Schach, Puzzles, Science Fiction oder dem Computer zu, den mir meine Eltern auf meinen Wunsch hin gekauft hatten. Ich tagträumte vom Leben anstatt es zu leben. Ich schob alle Hausaufgaben und Pflichten irrsinnig weit hinaus und erledigte sie erst im allerletzten Augenblick.

Meine Eltern waren sehr verdrängte Leute. Sie lebten ein sicheres, langweiliges Leben, hatten nahezu kein Sozialleben, keine Spontaneität oder Freude an irgendwas. Sie waren sich der Leere ihres Lebens erstaunlich unbewusst. Enttäuschungen begegneten sie mit stiller Resignation, eine Reaktion, die sich von früh an in mich eingraviert hatte. Immer, wenn wir zu einem Familienurlaub aufbrachen, wandte sich mein Vater an uns und sagte: „Denkt daran, wir alle werden jetzt eine wirklich schreckliche Zeit erleben, nicht wahr? Dadurch wird keiner enttäuscht sein.“ Er machte nur halbwegs Scherze. Sein Rat war eine selbsterfüllende Prophezeiung, weil er ungeachtet seiner Sorgfalt, mit der den Urlaub zu planen versuchte, immer etwas Wichtiges übersah und in Panik geriet, sobald auch nur das Geringste schief ging. Die Aktivitäten, auf die ich mich am meisten freute, wie Tennisspielen oder hoch in die Berge zu fahren, wurden immer aufgeschoben. Wenn ich zu meiner Mutter ging, nachdem eine meiner Spielsachen zerbrochen war oder mich etwas anderes durcheinandergebracht hatte, tröstete sie mich tatsächlich, aber ihre Haltung sagte: „Es musste passieren. So ist das Leben. Es macht nichts.“ Das verstärkte mein Gefühl, dass das Leben ziemlich sinlos war und dass es nicht viel gab, auf das man sich freuen könnte. Das Schweigen bei den Mahlzeiten ließ mich so unwohl fühlen, dass ich die Leerräume mit trivialem Geplapper füllte.

Ich hatte in der Schule ein paar Freunde, verbrachte aber eine Menge Zeit alleine. Auch wenn ich in einer Gruppe war, fühlte ich mich allein. Ich fühlte mich unwohl in der Nähe meiner Kameraden und wurde wegen einer stattlichen Reihe von „Fehlern“ verspottet, einschließlich körperlicher Schwäche, lausiger Sportleistungen, Katzbuckelei um das Wohlwollen des Lehrers, Vergesslichkeit, Sandwichessen mit abgeschnittener Kruste, Zur-Schule-Chauffiert-Werden (meine Eltern erlaubten mir das Fahrradfahren nicht, und ich war zu faul, um zu Fuß zu gehen), Schüchternheit gegenüber Mädchen, und so weiter. Alle guten Gefühle, die ich hatte, wenn ich in einem Lieblingsfach gute Leistungen zeigte, verschwanden, sobald etwas Schlechtes passierte, wenn man sich zum Beispiel über mich belustigte oder wenn ich dafür bestraft wurde, dass ich eine Hausaufgabe vergessen hatte oder dass ich in der Klasse zu viel redete. Ich wollte verzweifelt, dass man mich mochte, aber die meisten Leute mochten mich nicht. Ich hatte außerhalb der Schule fast kein Sozialleben. Es gab meine Hobbys, Hausaufgaben und den Fernseher, um die Stunden vor dem Schlafengehen auszufüllen. Meine Schwester und ich verbrachten einige Zeit miteinander, aber wir kamen uns nie nahe. Sie schien das Leben immer leichter als ich zu finden, und ich spürte, dass es Zeitverschwendung war, ihr zu sagen, wie ich mich fühlte. Der Gedanke, es meinen Eltern zu sagen, war ähnlich hoffnungslos. Meine Mutter pflegte einfach irgendwas zu sagen, das mich schnell aufmuntern sollte, so dass sie nicht der Tatsache ins Auge sehen musste, dass es mir die meiste Zeit schlecht ging. Einer der Lieblingssätze meines Vaters war: „Wr hat denn eigentlich gesagt, dass das Leben Spaß machen soll?“

Mit der Zeit verwandte ich immer mehr Zeit darauf, zwanghaft über vergangene Fehler zu grübeln und schmerzhafte Unterhaltungen nachzuspielen, wobei ich kluge Erwiderungen gegen die Leute formulierte, die mich verletzt hatten. Anstatt mir beim Einschlafen ein besseres Morgen zu wünschen, kam in mir der Wunsch auf, in der Zeit zurückzugehen und ein paar Dinge zurechtzubiegen, die in meinem Leben schiefgelaufen waren. Auch in meinen Teenjahren hatte ich Angst, dass das Leben an mir vorbeigehen könnte. Ich fing an zu masturbieren und ließ mein Fingergelenke zwanghaft knacken. Ich schob die Dinge immer weiter von mir, hob mir die Hausaufgaben manchmal bis spät nachts auf. Wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich sehen, warum ich das getan habe. Nachdem ich eine Aufgabe spät nachts erledigt hatte, konnte ich erleichtert ins Bett sinken, war sogar ein wenig glücklich, anstatt mich elend zu fühlen. Bei der Arbeit fühlte ich mich so einsam, dass ich aufhörte und durch ein Hobby zu entfliehen versuchte; wenn ich nicht arbeitete, konnte ich auch keinen Spaß haben, weil ich mich dafür schuldig fühlte, dass ich nicht arbeitete – eine perfekte Zwickmühle.

Es wurde immer schlimmer. Mit 15 oder 16 begann ich, in der Nacht über Selbstmord nachzudenken. Ich hatte die Vision, mich vom Dach zu stürzen und mit dem Kopf auf dem Gehweg darunter aufzuschlagen. Ich war zu zimperlich, um das auszuführen, aber ich plante es Nacht um Nacht. Wenn etwas Schönes geschah, war es eine Begnadigung für ein paar Tage: „Nun, ich könnte ebenso dableiben, für den Fall, dass das Leben anfängt gut zu werden.“ In meinem letzten Jahr auf der Highschool, verlor ich an jedem Fach das Interesse, mit Ausnahme der Mathematik (das abstrakteste Fach), und meine Noten fielen von gut auf mittelmäßig.

Am College hatte ich eine Menge Hoffnung darin investiert, „mich selbst zu finden.“ Der Gedanke, eine berufliche Laufbahn anzustreben und mich um mich selbst zu kümmern, war entsetzlich, und somit war das College eine große Chance, sich vor dem realen Leben drei oder vier Jahre zu verstecken, Neues zu sehen und zu tun, vielleicht eine Freundin bekommen, und so fort. Mein erstes Jahr am College war ein Albtraum.Ich war das erste Mal von zuhause weg, und meine Einsamkeit war so extrem, dass ich mich verzweifelt an Leute klammerte, die mich erniedrigten (mich betrunken machten und überredeten, Strip-Poker zu spielen). Ich vernarrte mich in ein hübsches Mädchen aus meinem Wohnheim und fragte sie aus. Sie gab vor, mich ernst zu nehmen, während sie mit anderen im Gebäude über mich lachte und mich über Nacht zu einer Witzfigur machte. Ich konnte nicht aufhören, an sie zu denken, gleich, wie oft sie gemein zu mir war. Es ging so weit, dass ich die Psychologie-Abteilung einer Buchhandlung aufsuchte, um die Antwort auf meine Probleme zu finden. Ich fand den Urschrei und war von dem Buch sehr berührt. Aber dann vergingen weitere dreieinhalb Jahre, bevor ich der Tatsache ins Auge sah, dass meine Depression ohne Therapie oder ein Wunder nicht verschwinden würde.

Nach dem ersten College-Jahr wechselte ich in eine ganz andere Studienrichtung und machte einen Neuanfang. Eine Zeit lang schien alles in Ordnung – Ich war mit an der Klassenspitze, war in der Musikgesellschaft aktiv und populär, begleitete den Chor und gab Konzerte. Aber dennoch wusste ich noch immer nicht näher, was ich mit meinem Leben machen sollte, und die Gefühle von Langeweile und Vergeblichkeit kehrten zurück. Es gab Wochen, in denen ich jeden Tag bis spät nachmittags im Bett blieb, weil ich dem Leben nicht begegnen konnte. Die Angst, vom College zu fliegen, drängte mich zu normalerer Routine zurück. Ich gab viel zu viel Geld für Mitnahme-Gerichte aus, weil ich mich erschöpft und elend fühlte, wenn ich mir das Essen selbst zubereitete. Einmal versuchte ich, mit den Süßigkeiten aufzuhören, weil das zu einer Sucht geworden war, aber innerhalb 48 Stunden gab ich auf, weil ich keine Energie hatte und an großen Stimmungsschwankungen litt (zwischen Sterbenwollen und Tötenwollen). Ein oder zwei Jahre lang wurde ich praktisch zum Alkoholiker, weil ich meine glücklichsten Zeiten hatte, wenn ich mit Freunden trank. Allmählich fühlte ich mich von den Leuten allgemein immer mehr bedroht, und so ging ich weniger oft aus dem Haus. Jedes Mal, wenn ich mich gut und entspannt fühlte, ruinierte ich mir den Tag, indem mir ein Unglück passierte oder ich etwas Wichtiges vergaß. Ich gab vor, dass alles in Ordnung sei, wenn ich mit meinen Eltern redete.

 

Die meisten meiner Freunde verließen das College ein Jahr vor mir, so dass ich in meinem Abschlussjahr sehr einsam war. Im Bett begann ich wieder, zwanghaft an Selbstmord zu denken. Dieses Mal war mir danach, mich im Fluß zu ertränken, der durch die Stadt lief. Ich wollte weinen, aber ich konnte nicht. Ich hatte Angst, dass mich beim Versuch, mich zu ertränken, vielleicht ein starker Lebensdrang ergreifen würde, wenn mir die Luft ausging, und der Gedanke, in einem Zustand von Bedauern und Entsetzen zu sterben, war mehr als ich ertragen konnte. Ich betrank mich vor einer wichtigen Abschlussprüfung und schwänzte sie. Ich schaffte den Abschluss mit knapper Not und stand nun vor der überwältigenden Aufgabe, überleben zu müssen.

 

Zu diesem Zeitpunkt litt ich an Agoraphobie und Paranoia. Ich blieb meistens im Haus, und wenn unsere Eltern nicht da waren, ließ ich meine jüngere Schwester ans Telefon gehen oder zur Haustür, wenn jemand läutete. Wenn ich in der Stadt unterwegs war, fiel es mir schwer, das Gefühl abzuschütteln, dass sich die Leute über mich lustig machten. Nachdem ich es einige Monate später aufgegeben hatte, mich um Jobs zu bewerben, überzeugte ich meine Eltern, mir eine Therapie zu bezahlen. Was mich mehr als alles andere antrieb, war die Angst, eines Tages im Alter von 40 oder 50 aufzuwachen und erkennen zu müssen, dass mein Leben eine tragische Vergeudung war.

 

An meinem ersten Tag in L.A. machte mir alles Angst: Leute, Hunde, Insekten, Autos, wohin ich gehen und was ich in jeder neuen Situation tun sollte, die Dunkelheit und die Einsamkeit. An diesem Abend fing ich an, mit meinem Stofftier (das nur als Maskottchen gedacht war) zu reden wie mit einem engen Freund, was ich nur ein paar Tage vorher für sehr kindisch gehalten hätte. Das Spielzeug, ein Krokodil mit einem hoffnungsvollen, lächelnden Gesicht, genau wie meins als Kind, war seitdem ein wichtiges Symbol in meiner Therapie. Meine Eltern waren sehr reserviert und vermieden es, ihre wahren Gefühle zu zeigen, und so fiel es mir schwer, die Scham zu überwinden, die ich immer fühle, wenn ich kindliche Bedürfnisse ausdrücke. Mit einem Spielzeug zu reden (das die Kindheits-Unschuld repräsentierte, die ich von früh an verloren hatte), ermöglichte mir zu fühlen, dass ich Aufmerksamkeit brauchte, etwas Besonderes sein und Freunde haben wollte als kleines Kind.

 

Ich bin ein ziemlich schwieriger Fall für die Primärtherapie, weil ich gut abgewehrt bin. Es war ziemlich angenehm für mich, isoliert in einem Hotelzimmer zu wohnen, und so ermutigte man mich, auszugehen und der Fußgängerzone einen Besuch abzustatten, mir Freunde zu suchen und das Herumsitzen im Apartment zu vermeiden. Eine Zeit lang berührten mich Filme mehr als mein eigenes Leben. Szenen mit Eltern, die Zärtlichkeit gegenüber ihren Kindern zeigen, oder ein Darsteller, der auf eine glückliche Kindheit zurückblickte, riefen fast garantiert Tränen in mir hervor. Das war sehr willkommen für jemanden, der zwischen dem Alter von 8 Jahren und dem Therapiebeginn vielleicht vier Mal geweint hat!

 

Nach ein paar Monaten begann ich, mich auf meinen „Primärstil“ festzulegen, mein eigener Weg, um in einer Sitzung Zugang zu meinen Gefühlen zu finden. Einfach hinlegen und reden funktioniert selten, weil in mir so viel Wut brodelt. Ich versuche mich zu entspannen, und gewöhnlich kommt die Erinnerung von selbst hoch – eine Zeit, als ich verletzt, erniedrigt oder verschreckt war – und es beginnt in mir zu kochen. „Wenn ich jetzt nochmal dort wäre, würde ich .......sagen“, und ich lasse den Frust heraus, indem ich schreie, auf die Wand einschlage und dabei die Worte gebrauche, die meine Frustration ausdrücken. Das ist bei weitem keine leere Handlung, obwohl es sich die ersten Male, als ich es versuchte, so anfühlte. Ich bin in meinem Leben so sehr verletzt worden, dass ich in einem ständigen Überlastungszustand bin; die Schmerzlast ist zu groß, als dass ich sie fühlen könnte. Wenn ich etwas von dieser Wut freigesetzt habe (jede Menge Wut!), dann kann ich über den Schmerz weinen, der darunter liegt. Wann immer der Therapeut mir gegenüber Freundlichkeit zeigt (vor allem auf eine spontane Art, die man unmöglich nachmachen kann, denn ich bin sehr misstrauisch), kann ich darüber weinen, dass ich das bekomme, was ich als Kind vermisst habe – was das Primal Center als  „negativen Schmerz“ bezeichnet.

 

Meistens geht es bei meinen Gefühlen um den Kampf, dass ich mich um mich selbst kümmern muss und um meine Zukunftsangst, aber aus den Gründen, die ich gerade beschrieben habe, sind es manchmal eher erfreuliche Ereignisse als schmerzhafte, die ein Feeling ergeben. Lange Zeit war ich süchtig nach Schokoladentrüffelkuchen, den eine lokale Bäckerei verkaufte. Am Abend fühlte ich mich elend, bis ich mir einen kaufte und ihn aß; dann ging es mir gut. Eines Tages redete ich mit meinem Zimmergenossen über die glücklichsten Zeiten in meiner Kindheit, als ich in den  Sommerferien auf den Bermudas lebte. Wir schienen alle Zeit der Welt zu haben, und wir hatten die Freiheit, fast alles zu tun, was wir wollten. Unsere Mutter verbrachte viel Zeit mit uns, und machmal nahm sie uns an einen Ort mit, der Neil’s Bäckerei hieß, und kaufte jedem von uns eine Schoktrüffel. Mitten im Satz begannen die Tränen zu fließen und hörten nicht mehr auf. Eine Weile ging es in meiner Therapie ausschließlich darum, wie sicher und glücklich ich auf den Bermudas war, und wie sehr ich mich wieder so fühlen wollte. Heutzutage esse ich selten Schokolade, und wenn mir nach Süßem zumute ist, entscheide ich mich gewöhnlich für Früchte anstatt für Bäckereiprodukte.

 

Es gab eine fünfmonatige Periode, in der ich Prozac verschrieben bekam, weil ich eine Menge Schmerz erlebte und nicht mehr mit meinem Job zurecht kam. Zu dieser Zeit war es ein echter Kampf, am Morgem aus dem Bett zu kommen. Beim Autofahren war ich sehr ängstlich, und ich holte mir ständig blaue Flecken und ließ alles fallen. Prozac linderte alle diese Symptome und die Depression bis zu einem gewissen Grad, aber wahrscheinlich reduzierte es meinen Zugang zu Gefühlen. Ein paar Wochen, nachdem ich Prozac abgesetzt hatte, war ich dem Selbstmord sehr nahe, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass mein Leben je lebenswert sein würde. Zu der Zeit hatte ich das Gefühl, dass die beste Methode für mich eine Überdosis Schlaftabletten wäre – sanft und langsam. Ohne Primärtherapie hätte ich den Selbstmord wohl durchgezogen, aber dank einiger wichtiger Kindheits-Primals (bis dahin hatte ich noch überhaupt keine Geburtserlebnisse) habe ich keine Selbstmordgedanken mehr, und ich funktioniere ohne Prozac auch viel besser als zu der Zeit, als ich es nahm.

 

Drei Primals treten in meiner Erinnerung hervor. Eines war das erste Mal, das ich ein ein Urerlebnis außerhalb des Primal Centers hatte. Ich sah den Film „It’s a Wonderful Life“. Es war kurz vor dem Ende, als der Charakter, den Jimmy Stewart spielt, die Inschrift in dem Buch liest, das ihm der Engel gibt: „Denke daran, keiner, der Freunde hat, ist ein Versager.“ Ich war in dieser Samstag- Nacht allein, und die Einsamkeit war unerträglich. Ich weinte etwa eine halbe Stunde, tiefer als je zuvor seit jener Zeit, als ich sehr klein war – der pure Kummer eines Kindes, das niemanden hat, der sich kümmert.

 

Das zweite Feeling ereignete sich, als das starke Bild von mir als heimatlose Person auftauchte, die um Hilfe bat, was ich in einer Gruppensitzung ausagierte. (In Halloween-Gruppensitzungen kommt jede Person als sein oder ihr „geheimes Selbst.“ A.J.) Als ich die Tasse in meiner Hand hielt und in der Gruppe in die Gesichter der Leute sah, durchfloss mich ein riesiges Stück des Schreckens, dass ich nicht fähig war, für mich selbst zu sorgen. Es lässt sich schwer erklären, aber stellen sie sich vor, dass sie ohne Job und Geld auf der Straße sitzen, nirgendwo bleiben können, keine Freunde oder Verwandten haben, an die sie sich wenden können. Plötzlich lesen Sie diese Worte nicht mehr, sondern finden sich tatsächlich auf dieser Straße wieder.  Auch wenn Sie sich noch so sehr die Augen reiben oder sich kneifen – es ändert daran nichts. „Nein“, sagen Sie, weil Sie es noch immer nicht glauben. „Das kann nicht mein Leben sein.“ Ihnen ist kalt, Sie sind hungrig und haben Angst. Obwohl Sie sich fürs Betteln schämen, gehen Sie nach einer Weile auf Leute zu und bitten sie um Hilfe. Die ignorieren Sie, und Sie fühlen, wie Ihr Leben dahinfließt. Sie sterben ganz allein, und allen ist es scheißegal. Die Traurigkeit darüber, dass alle Ihre Hoffnungen und Träume den Bach hinunter gehen, und der Schmerz, dass Sie keinen Trost finden, lassen Sie um Ihr Leben weinen.

 

Das dritte und jüngste große Gefühlserlebnis war kurz nach einem Mini-Retreat am Center, ein Ereignis, bei dem Institutsangehörige und Patienten das Wochenende zusammen verbringen. Dieser Samstag war einer der besten Tage meines Lebens. Nach einer ziemlich guten Freitag-Nacht-Gruppe erwachte ich aus einem erholsamen Schlaf. Der Samstagmorgen und –nachmittag war uns zur Selbstgestaltung überlassen. Ein paar Leute fragten mich, ob ich an einem Strandspaziergang nach dem Früstück interessiert sei. Ich sagte, ich werde es mir überlegen, aber ich versuchte noch immer eine Entscheidung zu treffen, was ich mit dem Tag anfangen sollte, wenn sie weg waren. Bei früheren Mini-Retreats neigte ich dazu, mich alleine und sogar leer zu fühlen, wenn ich etwas mit anderen Leuten unternahm, wie immer in meinem Leben. (Manchmal fällt es mir schwer, mit anderen zusammen zu sein. Auch wenn ich Gesellschaft brauche, gehe ich allein voran, oder  ich gehe in ein anderes Zimmer, um die Distanz wiederherzustellen, die ich in meiner Familie kannte.) An diesem Tag jedoch trieb mich etwas, nicht defätistisch zu sein, und so schnappte ich mir einen Saft und lief den den Strand hinunter, um die anderen einzuholen. Wir splitterten uns in kleinere Gruppen auf und nach kurzem Zögern schloss ich mich schließlich ein paar Leuten an, die ich ziemlich gut kannte und bei denen ich mich wohl fühlte. Wir gingen und redeten, und nach einer Weile dämmerte es mir, dass ich einfach ich selbst war – eine ungewöhnliche Sache zu der Zeit. Alles in Santa Monica schien heller, farbiger und interessanter als zuvor. Ich hatte um 11 Uhr eine Sitzung am Center und begann darüber zu reden, wie lebendig ich mich fühlte. Eine Menge kindlicher Impulse und Gedanken gingen mir durch den Kopf, und es war aufregend und erschreckend zugleich, darüber zu reden. Ich stand so unter Strom, dass ich mich wie ein Verrückter angehört haben muss, aber mein Therapeut hörte einfach zu und stellte ein paar Fragen, genau die richtigen. Ich weinte nicht in der Sitzung, aber ich war erstaunlich entspannt hinterher. Die Tränen flossen in Strömen, als ich am Center den Nachmittagsfilm „Little Woman“ anschaute.

 

An diesem Abend fand eine Talentshow statt; die Leute lasen Poesie, sangen Lieder, stellten ihre Künste und ihr Handwerk aus und spielten Instrumente. Für mich und jemand anderen, der spielen wollte, gab es ein Leihklavier. Ich war zuerst dran und spielte ein ruhiges Stück – ziemlich schlecht aufgrund meiner Nervosität. Ich hatte vor, ein zweites, schwierigeres Stück zu spielen, aber ich hatte zu viel Angst. Mir war schrecklich zumute, und ich wollte sterben, aber wieder hielt mich etwas vom Aufgeben ab, und ich fragte eine Therapeutin, ob sie eine Weile in einem anderen Raum bei mir bleiben könne. Ich weinte einige Minuten lang, fühlte mich wie ein Versager und bat um eine zweite Chance. Ich ging ins Hauptzimmer zurück und fragte David, diese Nacht der Conferencier und Videograph, ob ich später ein anderes Stück spielen könne. Natürlich lächelte er freundlich und sagte ja. Für die nächste Stunde oder so lehnte ich mich zurück und genoss den Rest der Talentshow, die wundervoll war. Einge der Poesielesungen rührten mich zu Tränen. Am Ende spielte ich das schwierige Stück – Granados "El Pelele", das ein junges Liebespaar repräsentiert, das spielerisch eine Vogelscheuche oder eine Schaufensterpuppe hin und her wirft. Trotz einiger falscher Noten hier und da erheiterte mich meine Aufführung, weil ich so viel Lebensliebe mit meinem Spiel vermitteln konnte. Was für ein Erlebnis! Der Applaus war lang und laut.

 

Montagmorgen kehrte ich zur Arbeit zurück. Es tat wirklich weh, dass das Wochenende vorbei war und dass die Schinderei wieder begann. Ich fuhr allein mit dem Auto und weinte nach meiner Mutter. Ich scheute mich immer, meinen Job zu machen, aber zum ersten Mal hatte ich darüber spontane Gefühle; ich konnte die tiefen Gefühle ohne einen Therapeuten erreichen. (Das ist das Ziel der Primärtherapie). Jedes Mal, wenn ich mit Leuten zu tun hatte, konnte ich die Tränen unterbinden, aber jedes Mal, wenn ich mit dem Auto davonfuhr, fing ich wieder zu weinen an. Gegen Mittag hörten die Tränen auf, und ich verspürte Erleichterung in meinem Magen. Diesen Nachmittag rief ich einen potentiellen Kunden an (was ich gewöhnlich wie die Pest vermied, da Zurückweisung drohte), machte eine superglatte Präsentation und bekam den Auftrag. Danach war das Leben für einige Tage eine lässige Sache.

 

Wenn ich zurückblicke, wie ich zu Beginn der Therapie war, kann ich erkennen, wie viel sich verändert hat. Ich beginne damit, dass ich über ein Inch gewachsen bin seit meinem 23sten Geburtstag. Allgemein bin ich viel entspannter, kann ausgehen und mein Leben ohne zu viel Angst leben. Ich bin nicht annähernd so menschenscheu, wie ich vorher war, und ich lasse nicht zu, dass mich jemand herumschubst oder ausnützt. Ich bin spontaner und folge meinen Impulsen, wann immer ich das Gefühl habe, dass es sicher und angemessen ist. Ich habe Phasen voller Optimismus und Lebensenthusiasmus, in denen es mir scheint, als hätte man mir eine zweite Kindheit gegeben. In diesen Phasen fühlt sich das Leben gut an, ob ich Sport mache, Musik spiele oder höre, einen Film sehe, mit Freunden rede oder einfach still dasitze und nichts tue. Ich habe mehr Freunde, und ich kann in ihrer Mitte ich selbst sein, anstatt zu versuchen, sie zu beeindrucken oder sie dazu zu bringen, dass sie mich mögen. Ich habe in Stress-Situationen weniger Angst, und ich treffe bei Problemlösungen bessere Entscheidungen. Mein Gedächtnis hat sich verbessert; ich hadere nicht mehr damit, für mich selbst sorgen zu müssen. Ich bin weniger „kopflastig“ und mir mehr bewusst, was sich um mich herum abspielt. (Die Leute hielten mich gewöhnlich für dumm, weil sie etwas zwei oder drei Mal sagen mussten, bevor ich sie hörte). Beim Klavierspiel habe ich eine bessere Koordination, obwohl mir die Praxis fast völlig fehlt, und ich habe entdeckt, dass ich ein ziemliches Talent für Ballsportarten habe. Ich kann jetzt für mich selbst kochen, was eine ganz neue und aufregende Entwicklung ist. Auch schmeckt das Essen anders. Ich musste mein Essen mit Kräutern und Gewürzen eindecken, um ihm Geschmack zu verleihen, während jetzt ein kleine Menge lange vorzuhalten scheint. Von Zeit zu Zeit habe ich Depressionen, aber auch wenn ich mich wirklich schlecht fühle, weiß ich, dass es nur ein Gefühl ist, und ich denke nicht an Selbstmord. Ich bemerke mein Ausagieren und halte es im Zaum. Wenn zum Beispiel mein Job schlecht läuft, verbeiße ich mich in den Gedanken, in der Lotterie zu gewinnen. Wenn es mir schlecht geht, neige ich dazu, von Therapeut zu Therapeut zu springen, weil ich Angst habe, bei derselben Person zu bleiben, für den Fall, dass er oder sie die Geduld mit mir verliert. Gegen meine Ängste anzugehen ist der Weg zu Gefühlen. Am wichtigsten ist, dass ich tief drinnen das Gefühl habe, dass mit mir alles in Ordnung sein wird, was ich vor einigen Jahren nie hätte sagen können.

 

Als Schlussfolgerung würde ich sagen, dass Depression ein Zustand emotionaler Flachheit ist, der aus einem starken Abwehrsystem resultiert. Unterhalb des Bewusstseins gibt es eine Stimme, die sich darüber beklagt, dass alles hoffnungslos sei und das Leben keinen Sinn habe, aber man hört sie nie, weil die Abwehr Überstunden macht. Wie heilt man Depression? Die Plattheiten, mit denen meine Eltern mich fütterten, hatten sicher keinen Zweck, und ich vermute, dass die meisten Selbsthilfesysteme die „Stimme des Untergangs“ nur noch weiter ins Dunkle verdrängen, wo sie letztlich genauso schädlich ist. Die einzigen wirklichen Veränderungen in meinem Leben geschahen nach dem Fühlen und nach  der Verknüpfung mit den Ursachen meines Schmerzes. Die Stimme kann man zum Teil hören; man fühlt  sich nicht traurig ohne offensichtlichen Grund sondern aus einem Grund, der bekannt ist und gefühlt werden kann. Diese zweite Kindheit ist ein großes Geschenk. Ich möchte allen, die das lesen und weit davon entfernt sind, Therapie machen zu können, sagen, dass es wirklich Hoffnung gibt. Findet vor allem Freunde, die euch so akzeptieren, wie ihr seid, und kümmert euch um euch selbst. Ihr verdient das Beste.

__________

 

Chloe

 

Ich bin, was man gemeinhin als „Inkubatorbaby“ bezeichnet. Nachdem ich auf die Welt gebracht worden bin, hielten die Ärzte und Schwestern es für nötig, mich von dem Wesen zu trennen, das für mich am lebenswichtigsten war: meine Mutter. Nur weil meine Fingernägel nicht voll entwickelt waren, legten sie mich in diesen Kasten mit seitlichen Glasfenstern und einer offenen Oberseite, durch die ich die Klinikdecke anstarren konnte. Manchmal müssen Krankenschwestern in meinem Gesichtsfeld aufgetaucht sein, um zu überprüfen, ob die Schläuche in meiner Nase noch an Ort und Stelle waren oder ob meine Windeln gewechselt werden mussten. Sie müssen mich und mein verzweifeltes Bedürfnis nach meiner Mutter vergessen haben. Andernfalls kann ich nicht verstehen, warum sie sie nicht kommen und mich sehen  ließen. Sie ließen sich fünf Wochen Zeit, bis sie den Bitten meiner Mutter nachgaben und mich gehen ließen. An dem Tag, als sie kam und mich aufnahm, sah und hielt sie mich, ihre Tochter, zum ersten Mal und erkannte mich nicht. Ich stehe jeden Tag meines Lebens unter dem Einfluss dieser ersten fünf Wochen.

 

Wenn ich am Morgen aufwache, stehe ich unter Schmerz. Es gibt keinen unmittelbaren Grund für diesen Schmerz, und ich kann ihm keine Worte geben. Ich stehe auf, mache mir eine Tasse Kaffee und lege mich wieder ins Bett, in der Hoffnung, dass der Schmerz verschwindet. Ich denke darüber nach, wie lange ich mich schon so fühle, und ich träume manchmal von einem Morgen, an dem ich aufwachen und aus meinem Fenster sehen und keinen Schmerz mehr spüren werde. Ich träume davon, den Schmerz meiner frühesten Erinnerung zu vergessen, dass ich fünf Wochen jeden Tag aufwachte und meine Mutter nicht da war.

 

Die Leere des Tages fülle ich mit Warten auf. Ich warte, dass der Tag vorbeigeht und sich in das „morgen“ wandelt. Morgen wird alles dasselbe sein. Die Leere füllt mich und lässt keinen Raum für irgendwas oder irgendjemanden. Sie tötet meine Gedanken und meine Gefühle. Ich habe keinen Platz für Menschen, Bücher, Musik, die Sonne oder den Regen, weil ich warte. Ich drehe mich im Kreis, Minute um Minute. Der Kreis dreht sich um nichts, und wenn ich damit durch bin, beginnt er von Neuem, weil nichts ihn aufhält. Nichts hält ihn in Bewegung, und ich wünschte, er würde anhalten, so dass ich hinaus und im Regen spazierengehen könnte, gedankenleer, nur mit dem Gefühl von Regentropfen in meinem Gesicht, die sich nach jahrelangem Warten in Tränen der Verzweiflung wandeln. Wie ich so gehe, wandern meine Gedanken zu dem kleinen Baby, das so lange auf seine Mutter wartete und das nichts hatte, das seinen Schmerz gelindert hätte.

 

Ich habe das Bedürfnis, dass die Leute verstehen, wie sehr ich leide. Wenn du mir in die Augen schaust, hoffe ich, dass du den Schmerz sehen kannst. Ich hoffe, du bist nicht zu streng mit mir, weil ich schon so leide. Wenn ich schreibe, hoffe ich, du kannst zwischen den Zeilen den Schmerz lesen, den ich jetzt fühle. Jedes Wort, das ich schreibe, ist eine Reflexion meines Schmerzes und voller Hoffnung, dass jemand den stummen Schrei vernimmt, der auf diesem Papier geschrieben steht. Es ist bedeutungslos, worüber ich schreibe. Es könnte alles Mögliche sein: die Wirkung der Inflation auf die Beschäftigungslage, Argumente für oder gegen die Todesstrafe oder der Symbolismus in St.Exuperys „Der kleine Prinz“. Bei allem, worüber ich schreibe, geht es um mich, denn ich hoffe, dass jemand das Baby hören kann, das nach seiner Mutter schreit, die zu weit weg ist, als dass sie es hören könnte. Vielleicht wird der Mensch, der das liest, derjenige sein, der es endlich versteht und ihm seine Mutter bringt.

 

Wenn ich Erleichterung suche, brauche ich nur zur Zigarette zu greifen. Sie macht mich taub und benommen, aber sie unterdrückt meinen Schmerz für ein paar Minuten. Wenn ich auf meiner Veranda sitze, den Rauch inhaliere und exhaliere, starre ich in den Himmel und denke übers Leben nach. Ich denke über mein Leben nach, wie es für mich ist und wie es hätte sein können. Das ständige Leiden hat mich erschöpft. Meine ganze Energie geht da hinein. Nichts anderes hat noch Bedeutung. Ich kümmere mich nicht um die Prüfungen, die ich nächste Woche schreiben muss, und ich kümmere mich nicht um Weihnachten. Ich spüre ein bisschen Traurigkeit, wenn ich an eine Straße denke, die von kleinen warmen Lichtern auf den Bäumen erleuchtet wird und jeden auf die kommenden Freudentage vorbereitet. All diese Dinge scheinen nicht für mich gemacht. Als Zuschauer beobachte ich aus der Ferne, wie anderen Leute ihr Leben leben. Das Leben ist für mich irgendwo da draußen, auf der anderen Seite dieser Glasfenster. Das Leben ist dort, wo die warmen Lichter sind, aber ich kann dort nicht hin, weil jedes Mal, wenn ich danach greife, die Glasfenster im Weg sind.

 

Ich hoffe, du verstehst. Das ist mein Leben. Fünf Wochen -  vor 25 Jahren – hinterließen jeden einzelnen Tag in mir ein verzweifeltes Bedürfnis nach meiner Mutter. Aber meine Mutter war nicht da und ist nicht da. (Ihre Mutter starb.) Ich kann schreien, so viel ich will, aber sie hört mich nicht. Wenn du sie siehst, kannst du ihr bitte sagen, wie sehr ihre Tochter leidet? Bitte erzähle  ihr von meiner Katze, wie ich sie aufnehme und „Baby“ sage. Wie ich ihr ins Ohr flüstere: „Ich weiß, es ist okay.“ Wie ich sie lange Zeit im Arm halte. Vielleicht wird sie dann verstehen, wie sehr ich es brauchte, dass sie mich hochnehmen, im Arm halten und mir ins Ohr flüstern würde: „ Ich liebe dich, Baby. Es ist jetzt alles in Ordnung. Ich bin hier.“ Ich möchte mein Gesicht in ihren Schoß vergraben und über die fünf Wochen weinen, die mein Leben ruinierten. Ich möchte, dass sie die Tränen in meinem Gesicht trocknet und mir das zurückgibt, was ich vor langer Zeit verloren habe. Aber ich muss die Hoffnung aufgeben, dass sie kommen wird, weil sie auch damals nicht gekommen ist. Das ist der Tag, an dem meine Hand das Licht erreichen wird und kein Glasfenster mehr mich vom Leben trennen kann. Das ist der Tag, an dem ich aus Freude und nicht aus Schmerz weinen werde.

 

Meine Depression ist für mich wie ein Faden, der sich durch mein ganzes Leben zieht, manchmal kaum wahrnehmbar und dann wieder so überwältigend, dass ich mich völlig in ihm verwoben fühle.

 

Wie fühlt sie sich für mich an? Das Grundgewebe ist ein Gefühl des Versagens, völligen Versagens. Ich habe es nicht geschafft. Gewöhnlich werde ich mir dieses Gefühls bewusst, wenn ich die Leistungen anderer Leute sehe, die sich gewöhnlich auf Karriere/Bildung beziehen. Ich habe das Gefühl, als hätte ich in meinem Leben nichts geleistet, als wüsste ich nichts. Ich habe einen Abschluss in einem Programm gemacht, das sehr anspruchsvoll war, aber es fühlt sich nie gut genug an – ich fühle mich nie gut genug.

 

Ich weiß nicht, was genau das überwältigende Gefühl der Depression verursacht, das irgendwo zwischen Stunden und Tagen andauert. Es scheint ein Teil des Themas meiner Depression zu sein, dass ich nicht kontrollieren kann, wann sie einsetzt. Dann fühlt sie sich wie ein großes schwarzes gefühlloses Loch an, in das ich falle und aus dem ich nicht heraus kann. Ich fühle mich völlig leer, hoffnungslos und hilflos. Ich habe das Gefühl, dass es mein Fehler ist, dass ich da drin bin und nicht heraus kann. Ich gebe mir die Schuld, dort drin zu stecken. Es ist ein Ort, der mir nahezu unwirklich vorkommt, wenn ich nicht in ihm bin, als würde ich ihn erfinden, als würde ich Lügen über ihn erzählen. Es ist ein Ort, der sich sehr düster und verhängnisvoll anfühlt. Es ist ein Ort, wo ich suizidal bin, wo ich einen suizidalen Traum träume. Es gab Zeiten, als ich mich nicht bewegen konnte, wenn ich an diesen Ort gelangte. Ich fühle mich von allen anderen verschieden, abseits, abgetrennt und entfernt. Mein Gesicht wird zur Maske, und meine Mundwinkel hängen herab. Lächeln scheint mir so fremd wie Lachen auf einer Beerdigung.

 

Mich allein und isoliert zu fühlen macht einen Großteil meiner Depression aus.Gegenwärtig stecke ich so tief in diesem Loch, dass es schwer ist, darüber zu schreiben. Ich bin mit meinem ersten Kind schwanger, das in drei Monaten geboren werden soll, und ich bin überwältigt von der Angst darüber, wie meine Depression, Einsamkeit und Isolation sein Leben beeiflussen wird. Ein Großteil meines Schmerzes wurzelt in der frühen Kindheit, und ich mache mir Sorgen, wie dieser frühe Schmerz meine Mutterfähigkeiten beeinflussen wird. Ich bin sehr besorgt über Wochenbettdepression, weil ich weiß, wenn ich mein eigenes Kind in meinen Armen halte, nachdem es geboren worden ist, und es auf dieser Welt willkommen heiße, dann wird es meinen Schmerz auslösen, nicht gehalten und nicht auf dieser Welt willkommen geheißen worden zu sein. Der Schmerz darin ist so riesig, dass ich in nur in kleinen Stücken ertasten kann. Ich habe immer geglaubt, ich würde ein einziges gigantisches Primal haben, dass auf magische Weise alles wegräumen würde, aber in meinem Fall ist diese Therapie ein langsamer Prozess. Die Bücher, die ich las und die mich veranlassten, mit dieser Therapie zu beginnen, erzählen eine Menge darüber, „den Schmerz“ zu fühlen. Ich glaube, ich habe vergessen, dass Schmerz weh tut, und auch jetzt nach dreißig Jahren kann ich nur so und so viel von ihm ertragen.

 

Warum dann fühlen, wenn es weh tut? Ich bin mir selbst näher, wenn ich den Schmerz fühle. Ich bin unter meinem Schmerz verborgen, und die einzige Möglichkeit mich aufzudecken besteht darin, meinen Schmerz aufzudecken.

 

Wie hat die Therapie mir bei meiner Depression geholfen? Zuerst einmal half sie mir zu identifizieren, dass ich deprimiert bin/werde. Vorher lief ich herum und wusste nicht, was mit mir los war. Wissen hat etwas Tröstliches an sich. Das Wichtigste, das ich für mich entdeckt habe, ist, wenn ich weinen kann, dann hebt sich die Depression früher oder später, es hängt davon ab, wie tief ich hineingefallen war. Der Weg zu den Tränen ist jedoch nicht immer kerzengerade, und solange ich nicht weinen kann, leide ich.

 

Meinen Schmerz zu fühlen hat Raum für neue, gute Gefühle geschaffen, die ebenso lohnend sind, wie der Weg zu ihnen  schwierig ist. Ein Beispiel dafür ist mein 30ster Geburtstag, der vor nicht allzu langer Zeit stattfand. Monate zuvor fing ich an, mich mit dem Gedanken zu quälen, was ich mit diesem Tag wohl machen solle, und je näher der Tag rückte, umso einsamer fühlte ich mich. Es endete damit, dass ich gar nichts machte, da ich von dem Gefühl zu überwältigt war, und einen Großteil meines Geburtstages weinend in dieser Einsamkeit verbrachte. Mein Mann und ich vereinbarten, dass wir zum Essen ausgehen würden – nur wir zwei. Schließlich überraschte er mich mit einem ganz besonderen Abend. Die Freude, das Glück und die Vollkommenheit, die ich an diesem Abend erlebte, war etwas, das ich nie zuvor erfahren hatte, und ich sagte zu ihm, dass das Glück dieses Abends jede Träne wert war, die ich weinte. Sein Geschenk für mich war ein Gefühl, das ich nie zuvor erlebt hatte, und ich schätze dieses Gefühl mehr als alles andere. Die Depression hat mich der guten Dinge beraubt, die das Leben zu bieten hat. Den Schmerz zu fühlen ist ein Weg, um ihnen Raum zu geben.

 

Die andere große Sache ist, dass ich immer noch suizidal sein  kann, aber ich würde das nicht in die Tat umsetzen wollen. Der Selbstmordgedanke liegt am Grund meiner Depression, und ich benutze ihn als Fantasie, die mir erlaubt, ihre Leere aufzufüllen. Es war mein Traum von einem Ausweg. Ich weiß jetzt, dass Gefühle mein Ausweg sind, wie verzwickt und schwierig sie auch manchmal werden können.

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Einprägungen verbiegen uns physiologisch

Unsere Emotionen beeinflussen unser System viel eher, als unsere Denkprozesse dies tun. Es ist die rechte Seite, mit der wir von Anfang an Stress bewältigen, und das bestimmt vielleicht, wie das Gesamtsystem reagieren wird. Der Prototyp "verbiegt" unsere physiologischen Prozesse auf globaler Ebene. Es ist das Netz aus rechten limbischen Zellen und Hirnstammzellen, das die Hormonsekretion und andere physiologischen Prozesse beeinflusst; dort werden unsere Gefühle direkt in unsere Biochemie übersetzt. Auf diese Weise können unsere frühen Erlebnisse bestimmen, welche Hormone in zu hohem Maß und welche in zu geringem Maß abgesondert werden und welche Neurotransmitter-Spiegel normal und ausgeglichen sind oder nicht.

Für den sympathischen Prototyp scheint ein Übermaß an Sekretion zu gelten. Jemand ist vielleicht ziemlich oft "aufgedreht" wegen einer Übersekretion von Aggressionshormonen aufgrund von Einprägungen der ersten Ebene; Ereignisse der ersten Linie beziehen sich auf die Schwangerschaftsperiode und beziehen Ereignisse mit ein, die sechs bis acht Monate nach der Geburt geschehen. „Erste Linie“ ist mein Ausdruck für Ereignisse, die während der Schwangerschaft und in den ersten paar Monaten nach der Geburt verankert werden. Wenn ich kritische Perioden erörtere, beziehe ich mich auf die Zeit, in der bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden müssen, die später nicht mehr erfüllt werden können. Wenn die kritische Periode vorüber ist, können wir nicht zurückkehren und die von Beginn an fehlende Liebe nachholen. Alles, was wir hinterher tun können, ist, ausagieren, symbolisch reagieren und symbolische Liebe (Applaus) bekommen. Es wird das Grundbedürfnis nie befriedigen. Keine Liebe in der Gegenwart kann eine Depression beseitigen. Sie kann sie nur zudecken. Wenn eine Einprägung einmal an Ort und Stelle festsitzt, besteht sie ein Leben lang, es sei denn, wir befassen uns wieder mit ihr, und zwar mit jedem Teil von uns, der in das ursprüngliche Ereigniss verwickelt war. Kurz gesagt müssen wir es wiedererleben.

Beim Sympathen kann dieses Übermaß später auch eine Rolle bei der Entwicklung chauvinistischer Attitüden spielen: „Wir müssen diese Bastarde kriegen!“ Im Gegensatz dazu bleibt der Parasympath im "Hypo"-Modus. Viele seiner wesentlichen Hormone und Neurotransmitter liegen unterhalb des normalen Ausstoßes: Hypothyreoidismus, weniger Testosteron, niedrige Serotoninspiegel, eine chronisch niedrige Körpertemperatur und so fort. Während wir bei Parasympathen niedrige Testosteronwerte fanden, war bei Sympathen das Gegenteil der Fall. Als Resultat dieser Prototypen und ihrer systemischen Effekte tendiert der Parasympath vielleicht zu Impotenz; der Sympath hat vielleicht ein Problem mit vorzeitiger Ejakulation. All das rührt von Sollwerten für biochemische Sekretion her, die vielleicht weit zurück in der frühen Kindheit oder bereits zuvor festgelegt worden waren. Wir erkennen sofort, dass Persönlichkeit nicht  einfach ein psychologisches Ereignis ist; sie beinhaltet auch Verzerrungen in unserer Biologie. Wir haben nicht bloß abweichende Gedanken. Diese Gedanken sind das Endergebnis einer Gesamtheit psychophysischer Entwicklung.

  Es ist nicht so, dass wir eine Erinnerung haben und dann Hormonänderungen erfolgen; diese Änderungen sind Teil des Erlebnisses. Und die Veränderungen in der Biochemie beeinflussen wiederum unsere Gedanken und Einstellungen und unser Verhalten. Zum Beispiel beeinflussen Gefühle den Hypothalamus, der über den Ausstoß der "Liebeshormone" Oxytozin und Vasopressin wacht. Diese Hormone helfen uns, liebevolle Beziehungen einzugehen, und sie funktionieren auch als partielle Schmerzkiller. Liebe kann das leisten. Liebe ist für ein kleines Kind der Hauptschmerztöter, und somit ist es kein Zufall, dass unsere "Liebeshormone" im Fall früher Liebe in Hülle und Fülle vorhanden sind. Aber wenn niemand kam und uns früh im Leben liebhatte, als wir einsam waren oder uns vernachlässigt fühlten, werden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit chronisch unter einem niedrigen Ausstoß dieser Hormone leiden. Das zugrunde liegende Gefühl wird sein: "Niemand will mich" oder "Niemand liebt mich." Edas Leben war und ist hoffnungslos. Das Gefühl "Niemand will mich" regiert unser Leben. Es macht uns scheu in sozialen Situationen, verleiht uns eine Arme-Sünder-Miene und eine ‚besiegte’ Körperhaltung. Letztlich brauchen wir Beruhigungsmittel, um das Gefühl zu unterdrücken. Das Ganze wird nicht als Gedanke sondern als Gefühl eingraviert.

Hormon- oder Neurotransmitter-Mangel kann auch Anfälligkeiten begründen, so dass ein späteres Trauma ein voll ausgewachsenes Leiden erzeugt. Wenn das Kind 5 Jahre alt ist, sehen wir keine offensichtliche Krankheit, aber die Saat ist bereits ausgestreut.

Später sagen wir vielleicht: "Anorexie wird durch zu viel Noradrenalin verursacht" oder zu wenig von diesem oder jenem. Aber das sind keine Ursachen; es sind Begleiterscheinungen des ursprünglichen Traumas - Weggenossen eines Traumas, das wir nicht mehr sehen können und uns in einem Menschen nicht mehr vorstellen können, der 40 Jahre alt ist. Die Einprägung erzeugt Abweichungen der Persönlichkeit und Physiologie, die letztendlich auf spezifische Symptome hinauslaufen. So kann der aggressive Sympath also ein Übermaß an Noradrenalin haben. Es verursacht Anorexie nicht; es ist Teil des Reaktions-Ensembles des Originalereignisses. Wenn Patienten frühe Traumen wiedererleben, kommt es zu einer Reaktions-Kaskade, die wieder zurück zur Normalität führt. Das zeigt uns unmissverständlich, wie frühe Traumen ihre Tentakeln durch das ganze System ausbreiten. Wenn wir nicht an das Primärtrauma gelangen, müssen wir jedes Symptom (hoher Blutdruck, Allergie und Depression) für sich mit verschiedenen Medikamenten behandeln. Oft lassen sich diese unterschiedlichen Symptome mit demselben Medikament behandeln. Der Grund: Sie sind alle Ableger desselben Traumas.

Gleichermaßen ist es nicht so, dass jemand, der deprimiert ist, seine Wut unterdrückt, wie die Freudianer es gerne hätten. Es ist so, dass bei einem Parasympathen die Substanzen, die für Wut verantwortlich sind, vermindert sind, wogegen diejenigen erhöht sind, die für Depression  verantwortlich sind, während seine Neurotransmitter-Spiegel im Kampf gegen seinen Schmerz tendenziell fallen. Chronisch Depressive haben zum Beispiel niedrige Serotoninspiegel, weil sie große Mengen dieses Nervensaftes im Unterdrückungskampf gegen den Schmerz aufgebraucht haben.

Migräne beim Parasympathen ist ein anderes Beispiel. Moglichst wenig Anstrengung bei der Geburt war lebensrettend wegen des relativen Mangels an Sauerstoff, aber jetzt kann jeder Stress das Symptom aktivieren. Somit kann uns etwas Triviales passieren – der Chef „lässt uns keine Luft“ – und es beginnt mit dem ursprünglichen Erstickungsgefühl zu resonieren. Der Chef bereitet uns Kopfschmerzen, weil seine Handlungen den Schaltkreis auslösen. Die Schablone oder der Prototyp verbleibt aufgrund der Einprägung des Sauerstoffmangels im Energiespar-Modus. Jede gegenwärtige Widrigkeit kann die alte Erinnerung an reduzierten Sauerstoff und die Migräne auslösen. Denken Sie daran, dass der Prototyp das erste bedeutende Lebensrettungs-Manöver unseres Lebens ist. Ein Manöver wie dasjenige, das vielleicht mit dem Zusammenziehen von Blutgefäßen gegen Hypoxie aufgrund reduzierten Sauerstoffs bei der Geburt einhergeht, wird ins System eingeprägt. Dem Menschen fehlt es dann im ganzen Leben an Energie,  er neigt zu Depression und leidet unter Migräne. Passivität führt nicht zu Migräne; Sauerstoffmangel bei der Geburt kann zu dem Bedürfnis führen, nicht tief Luft zu holen. Alles, was das Neugeborene tun konnte, war, sich zu verschließen und keine Energie zu verbrauchen; die totale Verdrängung war ursprünglich erforderlich, da  damals keine Verhaltensoptionen möglich waren. Das wird zu einer Persönlichkeitstendenz,  auf die sich spätere Traumen schichten. Die Person wird zu einem Flachatmer, Energiesparer, zu einem passiven Menschen, der deprimiert ist und keine Alternativen oder Auswege aus seinem Dilemma sieht. Oft kann jede Drucksituation – eine letzte Frist – eine Migräne hervorrufen. Der ursprüngliche Druck, herauskommen zu müssen aber blockiert zu werden, resoniert mit der Gegenwart (und umgekehrt) und führt zu Symptomen.

 

Stellen Sie sich die Einprägung als Dirigent vor. Weil Erfahrung nahezu jedes unserer Systeme von den Muskeln über das Blut bis zu den Gehirnzellen beeinflusst, erzeugt die Einprägung zwangsweise überall ihre Wirkung. Dieselbe Einprägung kann und wird das Zentralnervensystem beeinflussen, das Herz und den Blutzucker, und kann chronische Schweißausbrüche erzeugen. Es kann alle Überlebensfunktionen ändern, weil das Überleben auf dem Spiel stand. Wenn sich unser früher Schmerz durch spätere Erlebnisse verstärkt, werden Symptome manifest, hoher Blutdruck entsteht, Diabetes, Migräne-Kopfschmerz, Hypothyreoidismus. Die einfache Tatsache chronisch hoher Kortisolwerte, die die Einprägung etabliert hat, kann sich später im Leben schwer auf das Gedächtnis auswirken, ganz zu schweigen davon, dass es uns anfälliger macht für kardiovaskuläre Krankheiten.

 

Wenn die stimulierenden Stresshormone überaktiv werden, wie es bei chronischem Schmerz der Fall ist, können sie sich auf Gehirnzellen auswirken und zum Zelltod führen - vielleicht nicht sofort aber mit der Zeit. Zellen sterben, wenn sie ständiger und unaufhörlicher Aktivierung ausgesetzt werden. Wenn wir zu viel Stress erleben und zu lange im Überlebensmodus verweilen, wird es uns umbringen. Für das Gehirn ist früh in der Entwicklung erlebter extremer Schmerz wahrlich eine Sache auf Leben und Tod. Nichts alarmiert uns so sehr wie Schmerz, vor allem, wenn wir von Schmerz alarmiert werden, den wir nicht fühlen.

 

Wir haben Kenntnis von der Rolle der Einprägung bei der Orchestrierung von Funktions-Veränderungen bei multiplen Systemen einerseits daher, dass es nach dem Wiedererleben der Einprägung zu entscheidenden und positiven Änderungen bei vielen psychophysischen Systemen kommt - einschließlich der Überlebensfunktionen Herzschlag und Blutdruck. Anders gesagt ist Wiedererleben in vielen Fällen der Schlüssel zum Überleben. Warum wiedererleben?  Weil wir ohne Zugang auf den Agonie-Bestandteil der Erinnerung nie vollständig reagiert haben. In der Therapie reagieren wir jetzt voll auf den Prototypen. Wir bewahren die Erinnerungen nicht länger im Speicher auf, wo sie ihren Schaden angerichtet hat. Wir leiden deshalb nicht mehr unter tiefen Depressionen, die aus dem Nirgendwo kommen, weil wir endlich wissen, wo nirgendwo ist! Es ist gewiss irgendwo.

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Roy

 

Ich hatte mein ganzes Leben mit Depression zu tun. Damit meine ich, dass ich einen Weg finden musste, damit zu leben. Sie kam über mich wie eine mächtige Krankheit, beeinträchtigte mich emotional, geistig und körperlich.  Es war, als hätte Finsternis Einlass in meinen Blutstrom gefunden. Ich konnte fast nicht mehr geradeaus sehen oder denken. Es fiel mir immer schwer, mich zu bewegen oder zu atmen (deshalb meine wiederholten tiefen Seufzer). Ich verlor meinen Appetit und konnte nachts nicht schlafen. Es gab dafür nie einen offensichtlichen Grund. Es war einfach ein schwarzer Nebel, der über mich kam. Ich erlebte dann ein Gefühl äußerster Sinnlosigkeit. Zuerst ergab ich mich ihm einfach. Es ist erschreckend, wenn du spürst, wie du dir selbst auf diese Weise entgleitest. Du kannst oder willst nicht dagegen ankämpfen, also gibst du eine Zeit lang nach, und du fängst an wegzutreiben. Es ist, als würdest du auf ein schwarzes Loch zutreiben. Und das ging jedesmal tagelang so weiter. Ich machte dann nur das absolute Minimum: zur Arbeit gehen, nach Hause, ein bisschen was essen. Aber mein ganzes Leben schien an mir vorbei zu gehen. Es machte mir Angst, aber ich war hilflos und konnte es nicht aufhalten. An einem gewissen Punkt musste ich schließlich auf einen Willensakt zurückgreifen. Ich musste den Entschluss fassen, mir selbst einen Ruck zu geben – auszugehen, Squash zu spielen, mit Leuten zu reden. Ich musste mir selbst sagen, dass ich vergessen soll, wie mir zumute ist, und mich anschubsen. Wenn ich es nicht tat, fiel ich in dieses Loch und kam nie zurück. Und gewöhnlich funktionierte es in gewisser Hinsicht. Es ließ mich weitermachen. Aber meine Depression kam immer zurück. Und es hatte seinen Preis, mich durch sie hindurch zu kämpfen: Es war ein eigenartiges Gefühl, wenn ich mich zum Handeln gezwungen habe, als ob die weiter ins Innere verdrängte Dunkelheit an mir zehren würde, mich verletzen würde – auch wenn ich mich vorwärts bewegte.

 

Es gibt so etwas, wie sich ziellos vorwärts zu bewegen; es ist eine Vorwärtsbewegung, die dein reales Selbst hinter sich lässt. Ich begann jedoch erst dann mein reales Selbst zu entdecken, als ich zur Primärtherapie kam. Das mag sich übertrieben dramatisch und naiv anhören, aber es ist absolut wahr. In der Primärtherapie lernte ich, in meinen Schmerz hineinzufühlen, tief zu fühlen. Ich lernte, dass der Schmerz Schichten hat. Hinter der gegenwärtigen Verletzung könnten mehrere alte Kindheitsschmerzen liegen (oder noch frühere). Dieser Gefühlsprozess, der tief in den Schmerz hineingeht, ist ein Prozess, der dich in deine Geschichte führt. Je weiter du gehst, umso mehr siehst du von dir. Was ich prinzipiell lernte, ist, dass ich als Kind viel verletzlicher war, als mir je klar war. Die Dinge hatten große Wirkung auf mich. Dieses verletzte Selbst war mein reales Selbst. Ganz allmählich beginne ich das zu verstehen. Und erstaunlicherweise hat sich herausgestellt, dass meine Depression durch diesen fortdauernden Prozess tatsächlich verschwunden ist. Ich bin jetzt fast nie deprimiert. Ich werde wütend oder traurig. Ich erlebe gewaltige Anspannung in meinem Körper. Und am schlimmsten ist, dass ich oft das große Zittern bekomme. Aber ich bekomme nicht mehr die Art von Depression, wie ich sie früher hatte. Diese anderen Dinge – Wut, Spannung, Zittern – kann ich jetzt fühlen. Ich habe die Technik dazu. Diesen Dingen liegen alte Schmerzen zugrunde, sehr alte und sehr tiefe Schmerzen. Soweit ich diese Verletzungen fühlen kann, erfahre ich dramatische Erleichterung. (Mein Zittern hört zum Beispiel auf). Ich bin nicht mehr gelähmt oder gezwungen, mir absichtlich einen Stoß zu verpassen, die Zähne zusammenzubeißen, wie es früher der Fall war. Das Fühlen an sich hilft mir jetzt voran. Ich fühle mich wirklich gut. Ich bin weit davon entfernt, mich selbst zurückzulassen, und mein ganzes Selbst bringt mich auf natürliche Weise voran. Das wirft ein ganz neues Licht darauf, was Depression für mich war.

 

Ich bin jetzt froh, dass ich lebe, dass ich fühlen kann, denn es gibt kein größeres Geschenk. Und das konnte ich nicht sagen, wenn die Depression über mich kam.

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Der Parasympath und Depression

 

Die Symptome der Depression sind im Großen und Ganzen die Charakteristika des Parasympathen:  eine anhaltend bedrückte Stimmung, Energieverlust und Lethargie, fehlendes Interesse an allem, geringe Motivation, Unfähigkeit, den Dingen, die einem selbst passieren, Bedeutung beizufügen oder die eigenen Aktivitäten zu genießen, Schlafverlust oder noch öfters ständige Versuche, einzuschlafen, verminderter Sexualtrieb, Appetitveränderungen, Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme, ein Gefühl der Isolation, Probleme, klar zu denken, Gefühle der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit und des drohenden Untergangs. Je ernster die Depression ist, umso wahrscheinlicher kommt es zu Gedanken wie „ Was hat das alles für einen Sinn“ und ebenso zu einem Gefühl fehlender Optionen oder Alternativen und zu einer hauptsächlichen Beschäftigung mit Tod und Selbstmord. Zusätzlich kann Depression schwerfällige Bewegungen, seichtes, mühseliges Atmen und abgesenkte Vitalfunktionen verursachen: Blutdruck, Herzschlag und Körpertemperatur.  Die Lösung jenes Originaltraumas bedeutete den Tod. Es bedeutete den Tod und es bedeutet jetzt den Tod – das heißt, das Gefühl des drohenden Untergangs. Der Suizidfall führt die Sequenz zu ihrem logischen Schluss: Tod. In gewisser Weise  errichtet Schmerz einen Wegweiser für eine unvollendete Sequenz, die ursprünlich aufgrund ihrer massiven Schmerzladung  unterbrochen wurde. Unser System kehrt ständig dorthin zurück, um das zu vollenden und zu integrieren, was damals zu Beginn nicht integriert werden konnte. Das ist eine wichtige Quelle obsessiv-zwanghaften Verhaltens. Eine Frau, die jahrelang immer einen Tisch neben der Ausgangstür eines Restaurants wählte, begriff das schließlich als das Bedürfnis, bei der Geburt hinaus zu gelangen und als Bedürfnis, aus einem gewalttätigen Elternhaus herauszukommen. Sie brauchte immer einen Ausweg; es war zwanghaftes Verhalten. Eine andere Person weigerte sich zu heiraten, weil sie einen leichten Ausweg wollte, falls die Dinge nicht gut liefen.

 

Wenn wir tief verdrängen und von unseren Gefühlen abgeschnitten sind, spüren wir das Leben in uns nicht; es hat keine Bedeutung. Deshalb ist der Depressive so verzweifelt; nichts bedeutet ihm etwas. Es hat keinen Sinn weiterzumachen, „weil mir das Leben nichts gibt,“ was bedeutet, dass mir mein Innenleben nichts gibt.

 

Sich niedergeschlagen und entmutigt zu fühlen als Reaktion, wenn man den Job verliert oder mit seinem Partner Schluss macht oder den Tod eines geliebten Menschen  erlebt, unterscheidet sich von einer chronischen, endlosen Depression. Ersteres ist vielleicht das, was gemeinhin als „Trauer“ oder „schmerzlicher Verlust“ bekannt ist und einige Wochen oder Monate dauert. Der Mensch reagiert normal: Betrübtheit, Traurigkeit, weinen und sich schrecklich fühlen,  was nach einiger Zeit aufhört. Was geschieht, ist, dass der Mensch mit realen Gefühlen reagiert. „Traurig“ ist zum Beispiel ein Gefühl; Depression ist keines.  Depression kommt zustande, wenn Sie die wirklichen Gefühle nicht empfinden. Deshalb sagt man oft, dass deprimierte Leute „flach“ seien oder nicht darauf reagieren, was sich um sie herum abspielt. Das kommt daher, weil sie von innen her unter Belagerung stehen; es gibt zu viele Gefühle, die alle auf einmal um den Zugang ins Bewusstsein wetteifern.

 

Bei Depression  gibt es das Gefühl der „Schwere“, ein Energiemangel, der so groß sein kann, dass sogar das Aufstehen wie eine monumentale Aufgabe scheint. Und wie wir an einer nachfolgenden Patientengeschichte sehen werden, ist sogar das Kauen fester Nahrung zu viel der Anstrengung. Depression macht alles zu einer Herkules-Aufgabe, so dass sogar sprechen oder den Arm heben zu einer großen Anstrengung werden kann. Es bleibt wenig oder keine Energie für Vergnügen, Freude, Sextrieb oder, wenn wir schon dabei sind, für irgendeinen anderen Trieb als den Wunsch, einen Weg zu finden, um das Leiden zu beenden. Somit geht eine Frau zu einem Therapeuten und bittet um Hilfe. Was sie bekommt, ist Ermutigung und die Hoffnung, dass der Therapeut alles zum Besseren wenden wird, wie einer, der zaubern kann. Sie möchte aus ihrem Zustand „herausgezogen werden“, ein symbolisches Gefühl, das existierte, als das Originalereignis – das Geburtstrauma – stattfand. Die Passivität der Patientin erfordert einen aktiven, durchsetzungsfähigen Therapeuten. Der Therapeut wird zu ihrem „Freund,“ weil sie sich selten hinausgewagt hat, um Freunde zu gewinnen.

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Jane

Ich glaube, ich bin seit Beginn meines Lebens depressiv. Ich wurde zurückgehalten, weil sie den Arzt nicht finden konnten, als bei meiner Mutter die Wehen einsetzten. Seit damals empfinde ich es als vergeblich, irgendwas zu versuchen. Mein Puls ist sehr niedrig und ebenso meine Körpertemperatur. Ich weiß jetzt, dass das alles ein Teil fehlender Energie von meinem Lebensanfang her ist. Mein ganzes System schien zu kollabieren, als würde sich mein Körper mühselig von einer Sache zur anderen schleppen. Ich weiß, dass meine chronische Erschöpfung und Niedergeschlagenheit eine Erinnerung ist, die alle meine Vitalfunktionen einbezog. Ich weiß es, denn als ich dieses entsetzliche Erlebnis fühlte, kam ich plötzlich aus meiner Depression heraus und mir war, als wollte ich hundert Dinge tun. Ich weiß, dass mein emotionaler Rückzug begann, als ich mich von Schmerz zurückziehen musste, schon als Fetus, als ich noch nicht einmal wusste, dass Schmerz da war. Bei meinen kalten Eltern war Rückzug dann alles, was ich tun konnte. Ich habe mich nie gefreut. „Was hat’s für einen Zweck“ ist meine Erkennungsmelodie. Wenn nur der Arzt wüsste, welche lebenslangen Auswirkungen er in einem Menschen erzeugte, weil er nicht da war, als sie ihn brauchte.

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Jane war in ihren Wiederlebnissen wiederum erschöpft,  nachdem sie sich so sehr angestrengt hatte, um geboren zu werden. Sie war ohne Sauerstoff und wurde in den parasympathischen Modus geworfen, damit sie ihre Energie sparen konnte. Sie ist dort ein Leben lang geblieben. Die Einprägung wirkte sich lebenslang aus. Sie konnte durch keine Handlung in der Gegenwart  verändert werden, eine Tatsache, welche die Hier-und-Jetzt-Bemühungen der Psychotherapie ignorieren; die Einprägung ereignet sich in einer kritischen Periode, in der es zur Befriedigung kommen muss. Einprägungen werden in bestimmten Hirnnetzwerken gespeichert und verändern diese Netzwerke auch. Sie können bestimmen, wie schwerfällig unser Denkapparat später sein wird, wie scharfsinnig und wachsam oder wie verwirrt wir sind. Diese Patientin hatte das chronische Gefühl von: „Ich schaffe es nicht.“ Sie brauchte ständigen Ansporn, andernfalls wär sie in Mattigkeit verfallen. Wiederum bildet ein lebensrettender Trick am Lebensanfang (keine Anstrengung, kein Kampf, aufgeben und sich besiegt fühlen) das Grundgerüst für spätere Depression.  Indem sie alle ihre Erwachsenen-Gefühle in ihren richtigen Zusammenhang brachte, war es ihr möglich, die Grundlage für ihre Depressionen zu verstehen und sich von ihen zu befreien. Depression ist kein Gefühl an sich; sie ist ein Gemisch von Gefühlen, die gut abgeschirmt und allzu oft nicht erreichbar sind. Es gibt keine Einzelreaktion, keine einzelne Verhaltensweise, die sie da rausholen kann, genau wie es ursprünglich der Fall war. Die Natur der Depression ist eine Erfahrungs-Fragmentation, eine Entfremdung von Gefühlen. Die Heilung liegt darin, sich hoffnungslos zu fühlen – das Originalgefühl. Der Versuch, normal zu agieren, bedeutet, dass man alle Hoffnung aufgibt, zum Genotyp zu gelangen, zu dem Prototyp, mit dem alles anfing. Freunde oder ein Therapeut können uns ständig auffordern: „Es wird Zeit, dass du dich in Bewegung setzt. Krieg’ dein Leben in den Griff. Bewege deinen Arsch und mach’ etwas.“ Das Problem ist, dass der Depressive nie gelernt hat, wie man das macht. Wenn jemand bei der Geburt durch Anästhesie außer Gefecht gesetzt wird, ergibt sich ein Prototyp, der durch den Verlust des Selbstgefühls gekennzeichnet ist. Es kann damals angefangen haben und sich durch Eltern verschlimmern, die sich nie um die Gefühle des Mädchens kümmern, nie mit ihm reden und somit sein Lebensgefühl verstärken. Kämpfen bringt ihr nichts. Je mehr sie kämpft/sich bewegt, umso schwächer wird sie, weil der Tod lauert. Deshalb vermeiden diese Individuen anstrengende Körperübungen oder alles, was den Metabolismus hochdreht. Rast und  Stille sind der einzige Ort, wo sie sich entspannen können. Wenn das Neugeborene schließlich aus dieser Feuerprobe herauskommt,  fühlt es sich schrecklich allein. Keiner weiß, was es durchgemacht hat. Das Mädchen war nie ein Selbststarter, als sie aufwuchs. Sie war ständig im Überlebensmodus, und das bedeutete, auf den „Kickstart“ zu warten. Sie bemühte sich eifrig, alles zu vermeiden, das ihr System an das Geburtsdesaster erinnerte. Sie hat nie versucht „voranzukommen“ - die Geburtsanalogie - und aufgrund ihrer Passivität stritt sie mit ihrer älteren Schwester nie um Aufmerksamkeit. Das Ergebnis war, dass sie sehr wenig davon bekam, was ihre Verdrossenheit und Isolation noch verstärkte.

 

 

 

Der Sympath und Depression

 

Selten findet man einen Sympathen, der deprimiert ist. Sympathen sind dafür viel zu mobilisiert und nach außen orientiert; sie laufen emsig vor ihren Gefühlen davon. Oft haben sie undichte Schleusen im Gehirn, die dazu führen, dass sie mehr von Impulsen getrieben werden. Ihre Verdrängung ist nicht so total und global wie beim Parasympathen. Sie konnten kämpfen, um bei der Geburt herauszukommen. Es gab Alternativen. Der Sympath ist nur dann deprimiert, wenn er nicht ausagieren kann, wenn er sich in Bewegung halten kann, nicht geschäftig sein kann, wenn all sein Flehen ihm die Freundin nicht zurückbringt, wenn seine Alternativen aufgebraucht sind und er ohne Ausweg in die Ecke gedrängt wird. Dann und nur dann wird er an einer zeitweiligen Depression leiden; er hat sich selbst in eine Situation gebracht, die der Ursprungssituation des Parasympathen sehr ähnelt. Er ist blockiert und kann sich nicht rühren.

 

Einer unserer Patienten, ein Langzeit-Depressiver, wurde geboren, nachdem seine Mutter mit Äther narkotisiert worden war. (Er ist ein älterer Patient, und seine Mutter fiel einer Prozedur zum Opfer, die damals allgemein gebräuchlich war.) Das führte natürlich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Verschließen seines Systems während der Geburt, der Prototyp für ein parasympathisches Muster, das ein Leben lang andauert. Nach der Geburt mussten sie seine Sohlen wund reiben, um ihn wach zu halten. Dann bekam seine Mutter eine Infektion und wurde drei Wochen von ihm entfernt. Er wurde ohne seine Mutter gelassen, war allein und verängstigt. Später im Leben machte ihn das kleinste Problem äußerst hoffnungslos, weil sich ständig wiederholte, was er bei der Geburt und bald danach gefühlt hatte. Wenn ein Freund in den Urlaub fuhr, bekam er Depressionen. Jeder Anflug von Alleinsein löste ein Gefühl massiver Entfremdung aus (jenes katastrophale Alleinsein, als er nach der Geburt keine Mutter hatte). Was alles noch schlimmer machte, war, dass sein Vater seine Mutter verließ und sie fünf Jahre lang in eine schwere Depression verfiel. Was immer er versuchte, er konnte keine Reaktion von ihr bekommen. Schließlich gab er den Versuch auf und befand sich dann wirklich in einem chronischen Zustand von Hoffnungslosigkeit. Er wurde genauso unzugänglich wie sie.

 

Er hatte seine Kindheit mit dem Versuch verbracht, nach irgendwas zu greifen, obwohl er nicht wusste, wonach. Als es ihm schließlich dämmerte, dass er nie die Erfüllung finden würde, die er wollte, resignierte er völlig. Seine späteren Depressionen waren kein Geheimnis. Für ihn war Depression angemessen. Genau wie bei der Geburt und in der Kindheit verhinderte Verdrängung (Unterdrückung aller Reaktionen), dass sein Leben oder zumindest sein Bewusstsein von Schmerz überflutet wurde. Sein Gefühl, von jeder Lebensfreude angeschnitten zu sein – vom Fühlen abgeschnitten zu sein – währte, bis er zur Primärtherapie kam und mit dem ganzen schrecklichen Schmerz, den es mit sich brachte, wieder seine Arme nach seiner Mutter ausstrecken musste ( die eingeprägte Erinnerung war in seinem Nervensystem und in seinen Armen verschlüsselt).

 

Es muss nicht unbedingt ein Geburtstrauma gegeben haben, um Depression hervorzurufen. Gleichgültigkeit und fehlender Körperkontakt von Beginn an reichen, um sie zu erzeugen. Vielleicht ist sie nicht so tief wie bei jemanden, der eine parasympathische Geburt hatte, aber nichtsdestotrotz kann sie vernichtend sein. Es gibt verschiedene Depressionsgrade. Wenn es auf drei unterschiedlichen Ebenen – auf der instinktiven, emotionalen und intellektuellen – ein Trauma gibt, ist die Depression tief und schwer. Die Depression wäre weniger schwer, wenn sie nur auf dem Geburtstrauma mit einer nachfolgenden liebevollen Kindheit beruhen würde. Tatsächlich kann eine liebevolle Kindheit Depression erheblich bessern. Aber Liebe kann nie eine basale prototypische Prägung auslöschen; man kann Depression nicht weglieben. Der Grund besteht darin, dass nach Ablauf der kritischen Periode ein dauerhaftes Loch in der Persönlichkeit bleibt, das nie so gefüllt werden kann, wie es ursprünglich möglich gewesen wäre.

 

 

Rosalind

 

Ich bin deprimiert, solange ich mich zurückerinnern kann. Es fühlt sich wie tiefes Grauen an, als ob gleich etwas Schreckliches passieren würde, nur dass ich nicht weiß, was. Ich ging jeden Tag mit dem Gefühl in die Schule, dass ich gleich sterben werde. Manchmal tröstete mich der Gedanke, dass ich sterben könnte, dass die Dinge so schlecht laufen würden, dass ich nicht mehr weitermachen könnte. Ich versuchte immer, morgens aufzuwachen, bevor ich aufstehen musste, so dass ich mich darauf vorbereiten konnte, den Tag anzugehen. Wenn ich aufwachte, lag ich im Bett und versuchte, so weit in die Gänge zu kommen, dass ich aufstehen konnte. An Tagen, an denen ich just aufwachte, wenn es Zeit war aufzustehen, befiel mich Panik, und ich fühlte mich völlig unvorbereitet, dem Tag zu begegnen. Ich konnte kaum sprechen am Morgen. Ich fühlte mich so nervös und elend, war aber völlig unfähig, meine Gefühle mitzuteilen. Ich konnte nie frühstücken, aber nach dem Willen meiner Mutter musste ich immer eine Tasse Tee trinken, bevor ich das Haus verließ. Die meisten Nächte weinte ich mich in den Schlaf, fühlte mich total elend und allein. Ich wollte nicht, dass meine Mutter mich weinen hörte, weil sie mich gefragt hätte, was mir fehle, und ich keine Ahnung gehabt hätte, was ich ihr sagen sollte.

 

Wenn Freitag Nacht gekommen war, brachte mir der Gedanke ans Wochenende und nicht in die Schule gehen zu müssen etwas Erleichterung, aber am Samstag Morgen verschlechterte sich meine Stimmung und am Abend war ich wieder hoffnungslos deprimiert. Jahrelang ging ich Samstag Nacht nicht aus, weil ich mich so schlecht fühlte.

 

Meine Depression schien sich immer mit Angst abzuwechseln.  Ich glaube, meine deprimierten Gefühle und meine Angst gehen bis auf meine Geburt zurück, wegen des Gefühls, sterben zu müssen, und wegen der ständigen Angst, unter der ich litt. Meine Mutter wusste, dass ich Angst hatte, weil ich als kleines Mädchen buchstäblich an ihrem Schürzenzipfel oder an einem anderen Teil von ihr hing. Ich hatte zu viel Angst, um anderen Leuten vorgestellt zu werden, und fürchtete mich vor allem und jedem. Sie sagte mir, dass ich die Schüchternheit ihrer  Schwester geerbt habe und dass ich da rauswachsen werde und dass mit mir alles in Ordnung sei. Unterdessen war mir jeden Tag nach Sterben zumute. Ich hatte niemanden, dem ich meine Gefühle mitteilen konnte, da sie alle unter der Überschrift ‚Schüchternheit’ zusammengefasst worden waren, was alle einstimmig für keine große Sache hielten. Natürlich fragte mich niemand, wie ich mich wirklich fühle, und ich meinerseits habe es nie jemandem gesagt.

 

Als ich ungefähr 12 war, fing ich zu stottern an, und das wurde größtenteils zum Brennpunkt meiner Depression, das heißt, wenn ich nur das Stotter-Problem nicht hätte, dann wäre alles in Ordnung. Am nächsten dran, jemandem zu sagen, wie ich mich fühlte, war ich, als ich als Teenager meine Mutter um Hilfe wegen meines Stotterns bat, und ich saß wirklich auf ihrem Schoß und weinte. Sie konnte mir überhaupt nicht helfen, und ich erinnere mich, wie ich dachte: „Mama kann mir nicht helfen.“

 

Ich glaube, ich habe gewartet, bis ich alt genug war, um die Konfrontation mit der totalen Nutzlosigkeit meiner Mutter ertragen zu können, bevor ich sie direkt um Hilfe bat. Mama behauptete, dass Schüchternheit eine Form von Einbildung sei, dass ich mir einbilde, alle würden mich beobachten, was dazu führen würde, dass ich mich selbst schlechter fühle. Meine Mutter hat es gut hingekriegt, mich zu beruhigen, indem sie mir sagte, ich habe kein Problem, aber sie ließ mich in der Falle meiner Gefühle zurück.

 

Wenn ich rückblickend mein Leben überdenke, sehe ich, dass ich viele bedeutende Entscheidungen über mein Leben selbst treffen musste; zum Beispiel musste ich mich entscheiden, welche Schulfächer ich mit 14 nehmen sollte, ich musste mit 18 versuchen, mich für eine Berufslaufbahn zu entscheiden und ich musste mich für irgendeine Art von Empfängisverhütung entscheiden. Soweit ich mich erinnere, hat mir meine Mutter nie bei irgendwelchen Entscheidungen geholfen. Als die Jahre vergingen und ich nicht starb, begriff ich schließlich, dass es nicht geschehen würde: Ich hatte lediglich dieses Gefühl.

 

Meine deprimierten Gefühle blieben mein ganzes Leben so ziemlich die gleichen. Wenn es ganz schlimm kommt, habe ich immer das Gefühl, gleich sterben zu müssen, oder dass ich langsam sterbe und dass alles hoffnungslos ist. Ich kann nichts dagegen tun. Es gibt keinen Ausweg. Ich könnte ebenso gut aufgeben. Manchmal fühle ich mich, als stecke ich von allen Menschen losgelöst in einer Blase, und dass ich jemanden brauche, der zu mir hereinkommt und mich rettet. Wenn ich deprimiert bin, neige ich dazu, körperlich ganz langsam zu werden, und es fühlt sich an, als würde ich mich in Zeitlupe bewegen. Ich hielt mich für einen melancholischen Menschen, bis ich den Urschrei  las. Ich habe immer gehofft, dass Lebensereignisse, wie vielleicht einen Mann zu treffen oder einen Job zu bekommen, der mir gefällt, dazu führen würden, dass ich mich schließlich besser fühle.

 

Ich war als Kind immer sehr ruhig und drückte meine Depression dadurch aus, dass ich launisch und mürrisch war und mich absonderte. Es überrascht nicht, dass ich in der Therapie Zugang zu meinen Gefühlen dadurch finde, dass ich viel Lärm mache – so viel wie möglich – und mein Inneres nach außen stülpe, was ich zuvor nie tun konnte. Ich habe viel Zeit in der Fantasiewelt von Büchern verbracht. Meine Mutter machte eine große Sache daraus, dass sie mich körperlich nie von sich gestoßen hat, wie es ihre Mutter getan hatte,  aber andererseits hat sie mich auch nie getröstet. Ich hatte Gefühlserlebnisse darüber, dass ich gehalten und getröstet werden wollte, und dass bessert meine Angst. Sie sagte mir auch, dass die einzige Methode, meine Ängste zu besiegen,  darin bestehe,  ihnen gegenüberzutreten, und ich erinnere mich, dass ich mich in meinen späten Teenjahren auf die kolossale Anstrengung eingelassen habe, die erforderlich ist, um sich selbst zu zwingen, die ganzen Dinge zu tun, vor denen man Angst hat, aber ich habe mich dabei immer entsetzlich gefühlt. Wenn ich in den letzten Monaten mit Angst in eine Sitzung gegangen bin, konnte ich die Verbindung herstellen und mich wie ein kleines Baby fühlen, das ganz verlassen und völlig verängstigt ist. Es gibt dabei keine Worte. Eine Kindheitskomponente dieses Gefühls ist, nach meiner Mutter zu weinen, mich an sie zu klammern aber keinen Trost zu bekommen.

 

Wenn ich in meinem Leben ein Problem habe und etwas machen kann und dabei das Gefühl habe, dass ich vorwärts komme, bin ich nicht deprimiert. Sobald ein Plan schief läuft oder ich enttäuscht werde oder mir keine Lösung einfällt, bin ich wieder deprimiert und will aufgeben. Als ich am Anfang, als ich nach L.A. kam, Probleme hatte, an meine Gefühle zu gelangen, war ich deprimiert darüber, dass ich keine Hilfe bekommen konnte, und hatte das Gefühl, als würde mich niemand verstehen. Ich steckte fest. Ich werde auch depressiv, wenn ich das Gefühl habe, dass ich den Leuten nicht zeigen kann, wie schlecht es mir geht, genau wie ich es damals als Kind nicht konnte. Wann immer ich etwas nicht fühlen kann, wandelt es sich in Depression und Hoffnungslosigkeit.

 

Ich war niemals aktiv suizidal, trotz der Tatsache, dass mir oft so zumute ist, als würde ich sterben. Es ist eher so, als würde ich zum Stillstand kommen oder als würde die Erde mich verschlucken oder als würde jemand sagen: „Leg dich in diese Grube, und du wirst keinen Schmerz mehr fühlen.“ Ich stelle mir vor, dass ich es tue, und es ist alles vorbei. Sollte ich versuchen mich umzubringen, würde ich eine schmerzlose Methode wählen, wie zum Beispiel Schlaftabletten, weil ich keinen körperlichen Schmerz mag und weil ich mit Schlaftabletten sanft dahingehen könnte. Meine Einprägung ist aufhören und neu beginnen, weil ich in meinem Leben so bin:  Ich gebe auf, rapple mich wieder hoch und mache weiter.

 

Meine Depression besteht zu einem Großteil aus massiver Hoffnungslosigkeit. Je mehr ich davon fühle, umso weniger Depression gibt es.

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Ende des Kapitels

 

 

 

 

 Buchübersetzung: Bücher von A. Janov