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DIE JANOV-LÖSUNG

THE JANOV SOLUTION  -  Lifting Depression Through Primal Therapy erschien 2007 bei SterlingHouse Books, Pittsburgh, PA 15218

© Copyright 2007 Dr. Arthur Janov

 

Kapitel 7

 

Die Wurzeln der Depression erforschen

(Wiedererleben)

 

Bei einem Wiedererlebnis als Bestandteil der Primärtherapie beginnen wir die Sitzung in der Gegenwart und bewegen uns vom linken Gehirn zum rechten - von gegenwärtigen Wahrnehmungen zum Kontext der Vergangenheit, von einer Unerfreulichkeit wie "Meine Freundin hat mich verlassen" zu den tiefsten Zonen des Gehirns hinab, indem wir für einen Zugangskanal in unsere Kindheit sorgen, wo wir fühlen: "Meine Mutter verließ mich, um eine neue Familie zu gründen." Wir reisen wie in einer Zeitmaschine durch die Geschichte und ermöglichen damit, dass Gefühle endlich aufsteigen und sich mit dem linken frontalen Kortex verknüpfen. In der Tat ist das Gehirn eine Zeitmaschine, die Äonen evolutionärer Geschichte widerspiegelt. Hier wird jeder Schmerz nach Datum und Stärke verschlüsselt und etikettiert. Das System reist auf natürliche Weise zurück; erst zu späterem und weniger intensivem Schmerz, und dann tiefer zu qualvollerem früheren Schmerz. Wir können diese De-Evolution nicht erzwingen. Der Patient kann und sollte Stufen seiner eigenen Evolution nicht überspringen; er sollte nicht mit der Absicht, direkt in das Geburtserlebnis einzutauchen, spätere Schlüsselereignisse umgehen. Genau das machen leider die Rebirther heutzutage. Sie überspringen Entwicklungsstufen des Gehirns und tauchen den Patienten in chaotische Geburtsempfindungen, ohne dass eine richtige Verknüpfung zustande kommt. Diese Haltepunkte sind vom Gehirn programmiert worden. Man muss uns nicht dorthin führen; das System ist ein sorgfältiger Führer. In der Primärtherapie sorgen wir zuverlässig dafür, dass Schmerz nicht blockiert wird, weil das Gehirn Gefühle und die dazu gehörenden frühen Szenen unangetastet aufbewahrt. Weil jede höhere Gehirnebene dieselbe Empfindung/ dasselbe Gefühl unterschiedlich ausarbeitet, können wir auf ihm von der obersten Ebene aus hinabgleiten, und es wird uns schließlich bis zum Grund bringen - zu den Ursprüngen. Dort unten angelangt wird sich das System von sich aus automatisch nach oben auf die Verknüpfung zubewegen, indem es den Pfaden der Evolution folgt. Wir bewegen uns dann wieder nach oben auf den rechten orbitofrontalen Kortex (OBFK) zu, der direkt hinter den Augen liegt, und dann zum linken präfrontalen Kortex zur endgültigen Verknüpfung. Der rechte OBFC enthält eine Karte unserer Geschichte und unseres Gefühlslebens. Wie verifizieren wir das? Wir stellen fest, dass bei nahezu jedem Wiedererlebnis die Vitalwerte auf ein übermäßig hohes Niveau ansteigen; dieses Niveau fällt mit der Verknüpfung auf normale, gesunde Werte. In einem Gefühlserlebnis ohne Kontext - eine Abreaktion - kommte es nie zu dieser Art von organisierter, koordinierter Bewegung der Vitalfunktionen. Eine Gehirnstruktur, die sehr viel mit Depression zu tun hat, ist der linke präfrontale Kortex, das nach außen orientierte, gedankenbildende, rationalisierende Areal, das dabei hilft, Gefühle auf der rechten Seite gut unter Verschluss zu halten. Es kann Hoffnungslosigkeit/Depression mit einem Wirbel von Gedanken, Projekten und Plänen für die Zukunft in Schach halten. Anstatt auf innere Prozesse/Gefühle zu achten, konzentriert es sich auf das Äußere im Hier-und-Jetzt. Bei unserer eigenen Gehirnforschung haben wir bei Patienten, die einen Zugang zu ihren Gefühlen entwickelt haben, ein harmonischeres Gehirn festgestellt. Es gab keine Kontrolle mehr durch eine dominante linke Hemisphäre.

Niemand kann einem anderen befehlen, dass er oder sie fühlt. Gefühle haben ihre eigene Intelligenz. Wenn der Brennpunkt beim Therapeuten bleibt, ist alles verloren. Es bedeutet, dass es weniger inneren Brennpunkt gibt. Alle unseren Techniken zielen seit jeher darauf ab, den inneren Brennpunkt zu verstärken. Wenn ein Therapeut im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und viel reden und erklären muss, ist das umso schlimmer für den Patienten, weil der Brennpunkt jetzt außerhalb seiner selbst liegt und seine oder ihre Gefühle längst wieder verschwunden sind. Was Albert Ellis betrifft, den Vater der rational-emotiven Verhaltenstherapie, haben wir in Filmen gesehen, dass er in den Sitzungen viel mehr als der Patient redet. Seine Gedanken sind der zentrale Mittelpunkt. Die Gefühle des Patienten ziehen sich in einen dämmrigen Halbschatten zurück.

In der Primärtherapie sagt der Therapeut einige wenige Worte, weil Worte dazu benutzt werden, die Abwehr des Patienten zu blockieren. Während eines Primals (Wiedererlebnisses) weicht der linke präfrontale Kortex zugunsten der Gefühle zurück. Unsere Aufgabe ist, den Patienten auf die richtige Spur zu bringen; danach ist sie oder er auf sich gestellt. Sein oder ihr System weiß es besser als wir. Es bedarf guter wissenschaftlicher Kenntnisse und braucht ein wenig Vertrauen in den Patienten, um seinem oder ihrem tieferen Gehirn zu gestatten, die Regie zu übernehmen. Die Gefühlskette ist wirklich eine neuronale Spur, die sich ihren Weg hinab zum Hirnstamm und in die ferne Vergangenheit bahnt.

Bei einem Wiedererlebnis haben wir es mit umgekehrter Evolution zu tun, weshalb ich unsere Therapie als "umgekehrte Neurose" bezeichne. Der Schaltkreis verläuft vom linken frontalen Kortex zum rechten frontalen Kortex (OBFK), hinab zum Hippocampus, der die Geschichte nach ähnlichen Gefühlen durchsucht und für eine Anleitung sorgt, wie man auf diese Gefühle reagieren soll; er macht dies im Verbund mit der Amygdala, die den emotionalen Sinn des Gefühls beisteuert. Zusammen mit anderen limbischen Strukturen setzt der Schaltkreis dann verschiedene Erinnerungs-Bestandteile zusammen und läuft weiter zu Hirnstamm-Strukturen, wo er sich erheblich auf Atmung, Herzschlag und Blutdruck auswirkt. Schließlich wird eine Verknüpfung zurück nach oben zum OBFK der rechten Seite und dann zu seinem linken Gegenüber hergestellt. Jetzt ist der Kreis verknüpft. Der linke frontale Kortex übernimmt mit seinen Einsichten die Regie. Er denkt darüber nach, welches Verhalten von Gefühlen gesteuert wurde. Er setzt die Stücke zusammen. Er verbindet innere Realität mit äußerem Verhalten und erklärt, welche Gefühle hinter einem bestimmten Verhalten und Ausagieren stecken. Und das ist der Grund, warum Verknüpfung das Ende der Depression bedeutet. Das sollte der Dreh- und Angelpunkt für alle Psychotherapien sein.

Wenn das Gefühl die Grundebene der Einprägung erreicht, macht es den Menschen zu einem historischen Wesen mit genau den Vitalwerten und physischen Attributen, wie sie bei dem frühen traumatischen Ereignis auftraten. Es bedarf hoher Energie und der Freisetzung aktivierender Katecholamine, um das Originaltrauma zu versiegeln und einer gleich großen Energie, um es wiederzuerleben und aufzulösen. Es ähnelt sehr einem Vergnügungspark, wo man einen Hammer nimmt und auf einen Sockel schlägt, um eine Kugel nach oben zu befördern, damit sie die Glocke ertönen lässt. Wenn diese Kraft zu schwach ist, ertönt sie nie. Das gilt auch für die Therapie. Wir können unsere Biologie nicht betrügen. Wenn das Energieniveau in einer Sitzung nicht ausreicht, werden auf tieferen Ebenen im Gehirn des Patienten keine Gefühle/Empfindungen ausgelöst, und wir werden die Primärglocke niemals treffen; es wird keine Auflösung und Integration des Gefühls geben.

 

 Deshalb sehen wir in konventioneller oder kognitiver Einsichtstherapie diese Schmerzen nicht, vor allem die nicht, die aus dem Geburtstrauma entstanden, und zwar wegen des niedrigen Energieniveaus, das mit diesen Therapien verbunden ist. Sie können keine Heilung erzielen, weil das Energieniveau in einer Sitz-und-Rede-Methode nicht ausreicht, um tiefe Hirnstamm-Traumen zu aktivieren. Sie bleibt deshalb unterhalb der Heilungschwelle. ‚Feeling is healing’, Fühlen ist Heilung.  Wenn der konventionelle Therapeut einen Patienten in sexuelle Erregung versetzen könnte, wäre er vielleicht in der Lage, diese Erregung in ein wirkliches Gefühlserlebnis umzuwandeln, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Person das begrüßen würde. An dem Wiedererlebnis ist das Gesamtsystem beteiligt, wie es der Fall war, als die Erinnerung registriert wurde. Deshalb finden wir bei unseren Bluthochdruck-Patienten ein durchschnittliches Absinken der systolischen Werte um 24 Punkte. Es ist auch der Grund, warum wir in einer Sitzung ein so enormes Absinken des Blutdrucks sehen, sobald das sympathische Nervensystem, das für die Hypertension verantwortlich ist, dem parasympathischen System weicht, das den Blutdruck senkt. Deshalb erlebt ein parasympathisch-dominanter Patient (ein Depressiver), der die Sitzung mit einer radikal angesenkten Körpertemperatur beginnt, nach der Sitzung einen Anstieg um zwei oder drei Grad (F), da Fühlen das System normalisiert. Übrigens messen wir die Vitalwerte eines Patienten vor und nach jeder Sitzung, so dass wir, wenn jemand sich völlig hoffnungslos fühlt und mit einer Körpertemperatur von 95,5 Grad (F) hereinkommt, nach Auflösung eines Feelings einen Anstieg auf 98 Grad (F) sehen.

Ein Wiedererlebnis von Vorgeburts- und Geburts-Einprägungen wird genau dieselben Reaktionen hervorrufen wie zur Zeit des Originaltraumas. Aber auch wenn kein Wiedererlebnis stattfindet, bestehen die Reaktionen oder Fragmente der Erinnerung fort, wie zum Beispiel schneller Herzschlag oder hoher Blutdruck. Wenn wir eine vollständige frühe Vorgeburts-Erinnerung wiedererleben, deren Bestandteil hoher Blutdruck war, dann wird auch dieses Erinnerungsfragment in das vollständige Wiedererlebnis einbezogen sein, und der Patient sollte folglich Erleichterung von dem aufdringlichen Symptom erleben. Wenn Aspekte der Originalreaktion fehlen, ist das Wiederlebnis nicht vollständig und deshalb nicht heilsam. Wenn wir den Blutdruck medikamentös behandeln und die Hochdruck-Reaktion unter Verschluss halten, ist kein vollständiges Wiedererleben möglich.

Wer keine Therapie macht, braucht Beruhigungsmittel aus demselben Grund, aus dem sie vielleicht unsere Patienten brauchen, wenn sie sich Gefühlen nähern: Die Verdrängung ist schwach, und man benötigt chemische Hilfe, um sie zu stützen. Die Drogen helfen, unsere innere schmerztötende Pharmazie zu normalisieren. Wir wollen nicht, dass unsere Patienten im freien Fall in fernen und hochenergetischen Schmerzen der ersten Ebene landen. Medikamente erlauben einen langsamen methodischen Abstieg; sie halten den Patienten in der Primal-Zone. Wenn Patienten ihre schmerzvolle Geschichte ausreichend wiedererlebt haben, brauchen sie Alkohol, Drogen, Zigaretten oder Schmerztöter nicht mehr. Weniger Schmerz bedeutet geringeres Verlangen nach Schmerztötern. Der Unterschied besteht darin, dass die Medikation bei der konventionellen Therapie zum Endspiel, zur alleinigen Masche wird. Bei unserer Therapie benutzen wir Medikamente, um unser Ziel zu erreichen, und nicht als Therapie an sich. Wir benutzen Medikamente, um die Therapie zu unterstützen, und nicht, um sie zu ersetzen.

Die Einprägung ist wirklich ein Reaktions-Ensemble, das gleichzeitig in das Gesamtsystem eingeprägt wird. Es ist eine totale Erfahrung - anders als intellektuelles Erinnern, das weitgehend geistig ist, das heißt, eine Operation des linken frontalen Kortex. Wir können uns nicht an eine Einprägung  erinnern. Wir können sie nur mit unserem Gesamtsystem erinnern - mit unseren Muskeln, Eingeweiden und unserem Blutsystem - weil alle diese Komponenten eines jeden von uns in die ursprüngliche Erfahrung verwickelt waren; deshalb muss man sie mit allen Systemen wiedererleben, die ursprünglich involviert waren, als sie verankert wurde. Nicht nur das, sondern sie muss mit derselben Intensität wiedererlebt werden, mit der sie eingeprägt wurde, weshalb man sie kaum jemals in konventioneller oder kognitiver Therapie gesehen hat, wo die emotionale Ebene ziemlich unterjocht wird. Aus diesem Grund findet der Patient in unserer Therapie am Anfang selten Erinnerungen von hoher Leben-und-Tod-Valenz wieder.

Wir haben einen Weg gefunden, um auf die Tiefen des Unbewussten in einer geordneten, methodischen Weise zuzugreifen, so dass der Patient nicht von Schmerz überwältigt wird. Wir wissen, dass der Schmerz höherer Valenz tief im Nervensystem liegt, und deshalb umgehen wir am Anfang der Therapie jeden ‚Ausflug’ zu dieser Ebene. Wir suchen die Vergangenheit in maßvollen Schritten wieder auf: Kindheitsereignisse werden vor der Babyphase gefühlt, die Babyzeit vor der Geburt und die Geburt vor der Schwangerschaftsphase. Und wir korrigieren und beseitigen die Abweichungen, die uns durch ein frühes Trauma aufgezwungen wurden, indem wir die Ereignisse erleben, welche die entscheidenden Abweichungen verursachten. Die Einprägung ist das Problem und die Lösung. Die Saat der Lösung liegt im Schmerz und nur dort. Zurückzugehen und uns von unseren Eltern ungeliebt zu fühlen ist das Mittel zum Fühlen; erst wenn das erledigt ist, können wir Liebe hereinlassen.

 

Limbisch festgehaltene Ereignisse erlauben uns, unsere Kindheit wieder aufzuspüren - Vaters Aftershave riechen, spüren, wie sich sein Bart anfühlt, unser Kindheits-Zuhause sehen und uns erinnern, wie wir uns zu Hause beim Essen fühlten. Wir sehen die Szenen von Familienkämpfen, von früher Angst und frühem Schrecken. Wenn wir auf tiefere limbische Ebenen hinabsteigen, sehen wir deutlich die Farbe des Teppichs, wir sehen den Ausdruck in Vaters Gesicht, und wir spüren Mutters Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit. Wir sind wieder das verletzliche, sensible Kind. Patienten in einer primärtherapeutischen Sitzung können sich bis ins kleinste Detail an Szenen erinnern, als sie 6 Jahre alt oder jünger waren, Szenen, an die sie sich andernfalls nie hätten erinnern können. Alles, was draußen war, ist drinnen; alles, was Patienten brauchen, ist Zugang. Ich finde es erstaunlich, dass irgendwo in diesem Gehirn der Geruch von Vaters Pfeife steckt und unser Kindbedürfnis danach, dass er sich uns zuwendet und nur eine Minute mit uns spricht; eine gewisse Anerkennung, dass wir existieren und für jemanden wichtig sind. Wenn es nie geschah, hören wir auf zu erwarten, dass es geschieht. Wir machen uns wieder an unsere lieblosen Geschäfte.

Das ist der Schlüssel: Am bemerkenswertesten in unserer Therapie ist, dass biologisch kein Unterschied zu sein scheint, ob das Kind von Beginn an geliebt wird oder ob man den Liebesmangel später wiedererlebt. Was in primärtherapeutischen Sitzungen geschieht, ist eine Analogie unserer evolutionären Geschichte. Wenn ein Patient in die Tiefen der Hoffnungslosigkeit taucht, hinab auf den Grund seiner tiefen Depression, kommt es zu einem Wechsel, und es dominiert das sympathische System mit häufigem Urinieren, hohem Blutdruck, schnellem Herzschlag, Magenkrämpfen und Muskelspannung. Das System reagiert auf den eingeprägten Schmerz und ist hochgradig erregt. Das erwachsene System kann jetzt mit dem Schmerz fertig werden, wozu das System des Kleinkinds nicht fähig war. Der Schmerz kann jetzt erlebt werden, weil die kritische Periode vorbei ist.

Es reicht nicht, in der Therapie Schmerz zu fühlen, denn wir müssen verstehen, dass innerhalb des Schmerzes das Bedürfnis liegt, das Bedürfnis, das sich anfangs zu Schmerz wandelte, als es nicht erfüllt wurde. Es ist ein Bedürfnis, das letzlich voll erlebt werden muss. Zum Beispiel existiert - unartikuliert -  das Saugbedürfnis, sobald wir geboren sind. Wenn Mutter die Brust anbietet, gibt es Befriedigung und Entspannung. Ohne Befriedigung bleiben wir vielleicht in einem sympathisch dominanten Zustand mit beschleunigten Funktionen und haben immer noch das Bedürfnis zu saugen. Es gibt nichts in der Umgebung, das dem parasympathischen Nervensystem erlauben würde, einzuschreiten und dieses Bedürfnis zu zerstreuen. Wenn jemand im Zusammenhang so kontinuierlich saugt wie dieses bedürftige Kleinkind, kann er oder sie schließlich das unaufhörliche Bedürfnis zu saugen (an Zigaretten, Bierflaschen, und so fort) auflösen. Das Ausagieren, das in diesem Fall vielleicht involviert, Frauen zu bekommen, die uns bemuttern, erinnert uns ständig daran. Damals brauchten wir eine Mutter. Jetzt brauchen wir keine Mutter, es sei denn, wir hatten damals keine gute. Wenn das Bedürfnis nicht erfüllt wird, agieren wir es symbolisch aus. Weil die Erfüllung symbolisch ist, ist sie nie befriedigend oder lösend. Der Fortschritt in der primärtherapeutischen Behandlung eines Depressiven verläuft von vagem Leiden zu spezifischem Schmerz/Bedürfnis, das zu einem Gefühl wird, welches dann mit Gedanken verknüpft wird und zu einer Einsicht wird. „Im Zusammenhang“ ist hier entscheidend, denn wir können Woche um Woche den ganzen Tag lang saugen - wie wir es beim Zigarettenrauchen machen – ohne das Bedürfnis aufzulösen. Das Bedürfnis liegt in der Geschichte zurück und muss in dieser Geschichte mit dem damals funktionsfähigen Gehirn und keinem anderen gefühlt werden.

In meinem Buch Die Biologie der Liebe erörterte ich die Experimente, die wir am UCLA Lungenlaboratorium durchführten. Das Ergebnis war, dass Patienten, die Anoxie (Sauerstoffmangel) bei der Geburt wiedererlebten, ohne Hyperventilationssyndrom 20 Minuten lang tief, schnell und schwer atmen konnten. Wenn sie nicht in dem Feeling steckten, waren sie nach zwei Minuten benommen, schienen gleich bewusstlos zu werden und hatten klauenförmige Finger wie Leute mit rheumatischer Arthritis. Solange sie mit dem Gehirn, das Sauerstoff brauchte, tief in ihrer Geschichte zurück waren, hatten sie keine Probleme mit tiefem Atmen. Diese Forschungsstudie erklärt eindeutig, was ein Wiedererlebnis ist und was nicht. Es ist kein Nachmachen und keine Abrektion; es ist ein wirkliches Ereignis. Es ist Auflösung, weil Wiedererleben die gesamte psychotische Originalszenerie einschließt. Wenn man sich in seine Geschichte vertieft und wieder zur kritischen Periode zurückgeht, dann ist das heilsam; alles andere ist symbolisch. Sobald ein Mensch seine Vergangenheit gefühlt hat, braucht er  keinen anderen mehr, der oder die ihm „Leben einhaucht,“ was das Kennzeichen eines Depressiven ist. Es gibt kein Bedürfnis mehr nach anderen, die uns Schwung geben, uns provozieren und stimulieren.

Das Bedürfnis zu fühlen ist das Entscheidende, weil das Bedürfnis zur Warnung in Schmerz umgewandelt wird. Das Bedürfnis zu fühlen bedeutet, das Bedürfnis nach Sauerstoff zu fühlen, wenn er bei der Geburt wegen der Betäubungsmittel fehlte. Der Patient keucht und würgt vielleicht und läuft rot an, wenn er das Ereignis wiedererlebt. Er erlebt das Bedürfnis wieder, ohne dass Worte fallen, und das reicht. Der Schmerz lässt nicht nach, bis das Grundbedürfnis gefühlt wird. Ja, wir müssen Schmerz fühlen, aber das ist eine Station in Richtung Bedürfnis. Wenn ich das Bedürfnis, dass ich die Hilfe meiner Mutter brauche, immer wieder fühle, dann höre ich auf, das dadurch auszuagieren, dass ich versuche, eine Frau zu bekommen, die mich bemuttert. Wir können es nicht nur ein einziges Mal fühlen und dann Veränderung erwarten; wir müsssen es fast so oft fühlen, wie unsere Mutter uns Hilfe verweigerte. Genau das meine ich mit Schichtung; das Bedürfnis und die nachfolgende Deprivation verstärkten sich Jahr für Jahr. Es wird beinahe zu einer gigantischen Aufgabe, den Schmerz zu fühlen. Er lässt sich nur in kleinen Stückchen wiedererleben. Wenn jemand versucht, ihn mit Hilfe von Drogen in seiner Gesamtheit zu fühlen, ist es nahezu gewiss, dass er oder sie scheitert. Das System ist nicht dafür gemacht, sich mit  überwältigenden Gefühlen zu verknüpfen.

Nach der Verknüpfung – nach dem Gefühl „Niemand will mich, sie haben mich nie gewollt“ – wechselt das System in einen parasympathisch dominanten Zustand. Das System kann jetzt zur Ruhe kommen, weil die Gefahr Vergangenheit ist und sich in der Vergangenheit befindet. Wenn wir uns mit der Leidenskomponente der Erinnerung verbinden und die fremde Kraft integriert wird, beginnt sich die „Kaskade“ von Abweichungen in  mehreren Körpersystemen zu normalisieren.

Wenn man Schmerz und Bedürfnis voll wiedererlebt, erzeugt man ein physiologisches System, das so funktioniert, als sei dieses Bedürfnis immer erfüllt worden. Es befreit die Parasympathin, so dass sich ihr Gesichtskreis erweitert und sie mehr Chancen ergreift. Es ermöglicht dem Sympathen, mit dem unaufhörlichen Kampf aufzuhören, der ihn nie entspannen lässt. Schließlich bringt es unser System ins Gleichgewicht zurück, so dass wir keine Gefangenen von Medikament um Medikament, Droge um Droge mehr sind. Ein ausgeglichenes System bedeutet, dass der chronisch niedrige Testosteronspiegel des männlichen Parasympathen sich normalisiert, was sich nach einem Jahr Primärtherapie herausgestellt hat. Es bedeutet, dass er jetzt durchsetzungsfähiger und weniger depressiv ist. Ein ausgeglichenes System bedeutet, dass man keine fünf Tassen Kaffee am Tag trinken muss und nicht mehr süchtig nach Coca Cola ist. Es bedeutet, dass man nicht rauchen muss – eine Gewohnheit, die letztlich unser Leben verkürzt. Es ist die wahre Bedeutung von Freisein.

Wir sind fast alle Gefangene unseres Prototyps. Die kognitive Therapie geht von der Annahme aus, dass wir sehr viel Willensfreiheit haben. Ich bin mir da nicht so sicher. Wir haben innerhalb unseres Prototyps eine gewisse Wahlfreiheit, aber es ist ein enges Spektrum. Wir haben aber die Freiheit zurückzukehren und herauszufinden, wie das alles angefangen hat. Das wird schließlich unsere Wahlmöglichkeiten im Leben erweitern.

 

Die Physiologie der Hoffnungslosigkeit

Schauen wir uns einige physio-chemischen Effekte einer Einprägung an.  Nehmen wir an, bei der Geburt und während der Schwangerschaft gab es Sauerstoffmangel, wie er zum Beispiel von einer schwangeren Frau verursacht wird, die in der Schwangerschaft Zigaretten rauchte und zusätzlich Betäubungsmittel erhielt, um den Schmerz während der Wehen abzutöten. Diese zwei Faktoren etablieren eine physiologische Aufzeichnung im System ihres Babys. Diese Aufzeichnung orchestriert eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen; jede Reaktion ist eine Anpassung an die urspüngliche Bedrohung des Überlebens. So kommt es zu einem geringeren Sauerstoffbedarf, der sich durch Atmungsveränderungen wie zum Beipiel seichtes und kurzes Atmen ausdrückt. Es ergibt sich auch ein geringerer Ausstoß der Schilddrüse, niedrigerer Blutdruck und niedrigere Körpertemperatur und Erschöpfung, wie zum Beispiel beim Syndrom der chronischen Ermüdung. Zusätzlich findet man viele Phänomene, die von Hirnstamm-Funktionen gesteuert werden, wie Schmetterlinge im Bauch, Benommenheit und Orientierungslosigkeit und ein vages Schreckensgefühl. Wenn sich früh im Leben Schrecken festsetzt, hat der Fetus oder das Neugeborene keinerlei kortikale Fähigkeit, dessen Auswirkungen abzuschwächen. Die Natur tiefen Terrors oder Schreckens ist so profund, dass man ihn im Wiedererlebnis Jahrzehnte später nur für jeweils kurze Augenblicke fühlen kann.

Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Verzweiflung und Resignation können durch verminderten Sauerstoff eingeprägt werden; alle diese realen Empfindungen begleiten die Erinnerung. Das ist Depression, ein Zustand der sich durch ein diktatorisches Elternhaus verschlimmerte, wo das Kind niemanden hatte, an die oder den es sich mit seinen Gefühlen wenden hätte können. Es ist nicht unbedingt so, dass die Eltern die Gefühle des Kindes unterdrückten, sondern sie waren vielleicht emotional nicht präsent. Das Ergebnis ist das gleiche: Es gibt niemanden, dem wir unsere Gefühle mitteilen können. Wieder sind wir hilflos und hoffnungslos. Keine wesentliche Anstrengung zu unternehmen, nicht für den Erfolg zu kämpfen, weil kämpfen bei der Geburt die Möglichkeit zu sterben bedeutete, ist auch Teil des Anpassungsprozesses - Energie sparen fürs Überleben.

Ich erinnere mich, dass ich in meinen psychoanalytischen Tagen Patienten sagte, sie hätten eine "maskierte Depression," weil sie nicht einmal wussten, dass sie sich deprimiert und hoffnungslos fühlten. Aber sie wussten es doch. Jetzt muss ich den Patienten gar nichts sagen. Sie finden es selbst heraus. Sie fühlen die frühe Hoffnungslosigkeit, die sich fast immer durch eine sehr niedrige Körpertemperatur ankündigt, und sie kommen langsam aus ihrer Depression

 

Frühes Trauma

Vor kurzem behandelte ich einen tief depressiven Patienten, der viele charakteristische Symptome aufwies, wie zum Beispiel Lethargie und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Am Anfang der Sitzung war er entmutigt, weil er einen Job nicht bekommen hatte, und gefangen im „Was-hat-das-für-einen-Sinn“-Syndrom. Während seiner Sitzung glitt er in seine Kindheit hinab und fühlte, wie allein er in seinem ganzen frühen Leben war. Von da fiel er weiter in DAS Ereignis zurück – in sein Geburtstrauma. Das wird einigen Lesern bizarr scheinen, aber ich versichere Ihnen, das ist es nicht. Das Geburtstrauma ist ein messbares Ereignis mit quantifizierbaren neurochemischen Effekten, die ein Leben lang anhalten. Es verschiebt das Nervensystem und den Rest unserer Physiologie in Richtung Hypo-Modus, ein Ereignis, das viele der Empfindungen und Gefühle, die Depression kennzeichnen, in unserem Nervensystem versiegelt.

Das vielleicht häufigste Trauma, das einem Baby zustößt, ereignet sich, wenn die Mutter bei der Geburt Betäubungsmittel erhält, um ihren Schmerz zu lindern. Die Dosis, die sie erhält, mag für ihr Körpergewicht von 130 Pfund und ihren Gesundheitszustand angemessen sein, aber für das Neugeborene ist sie überwältigend. Das Baby wiegt sechs Pfund und erhält durch die Mutter eine Dosis, die für sein System zu massiv ist. Viele seiner Systeme einschließlich des ganz wichtigen Atmungssystems verschließen sich dann. Dieses Ereignis hat viele andere schädliche Auswirkungen, nicht zuletzt Asthma, ein Phänomen, das ich in Kürze erörtern werde.

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Ende des Kapitels

 

 

 

 

 Buchübersetzung: Bücher von A. Janov