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Kapitel 7
Die
Wurzeln der Depression erforschen
(Wiedererleben)
Bei
einem Wiedererlebnis als Bestandteil der Primärtherapie beginnen wir die
Sitzung in der Gegenwart und bewegen uns vom linken Gehirn zum rechten - von
gegenwärtigen Wahrnehmungen zum Kontext der Vergangenheit, von einer
Unerfreulichkeit wie "Meine Freundin hat mich verlassen" zu den
tiefsten Zonen des Gehirns hinab, indem wir für einen Zugangskanal in unsere
Kindheit sorgen, wo wir fühlen: "Meine Mutter verließ mich, um eine neue
Familie zu gründen." Wir reisen wie in einer Zeitmaschine durch die
Geschichte und ermöglichen damit, dass Gefühle endlich aufsteigen und sich mit
dem linken frontalen Kortex verknüpfen. In der Tat
ist das Gehirn eine
Zeitmaschine, die Äonen evolutionärer Geschichte widerspiegelt. Hier wird
jeder Schmerz nach Datum und Stärke verschlüsselt und etikettiert. Das System
reist auf natürliche Weise zurück; erst zu späterem und weniger intensivem
Schmerz, und dann tiefer zu qualvollerem früheren Schmerz. Wir können diese
De-Evolution nicht erzwingen. Der Patient kann und sollte Stufen seiner eigenen
Evolution nicht überspringen; er sollte nicht mit der Absicht, direkt in das
Geburtserlebnis einzutauchen, spätere Schlüsselereignisse umgehen. Genau das
machen leider die Rebirther heutzutage. Sie überspringen Entwicklungsstufen des
Gehirns und tauchen den Patienten in chaotische Geburtsempfindungen, ohne dass
eine richtige Verknüpfung zustande kommt. Diese Haltepunkte sind vom Gehirn
programmiert worden. Man muss uns nicht dorthin führen; das System ist ein
sorgfältiger Führer. In der Primärtherapie sorgen wir zuverlässig dafür,
dass Schmerz nicht blockiert wird, weil das Gehirn Gefühle und die dazu gehörenden
frühen Szenen unangetastet aufbewahrt. Weil jede höhere Gehirnebene dieselbe
Empfindung/ dasselbe Gefühl unterschiedlich ausarbeitet, können wir auf ihm
von der obersten Ebene aus hinabgleiten, und es wird uns schließlich bis zum
Grund bringen - zu den Ursprüngen. Dort unten angelangt wird sich das System
von sich aus automatisch nach oben auf die Verknüpfung zubewegen, indem es den
Pfaden der Evolution folgt. Wir bewegen uns dann wieder nach oben auf den
rechten orbitofrontalen Kortex (OBFK) zu, der direkt hinter den Augen liegt, und
dann zum linken präfrontalen Kortex zur endgültigen Verknüpfung. Der rechte
OBFC enthält eine Karte unserer Geschichte und unseres Gefühlslebens. Wie
verifizieren wir das? Wir stellen fest, dass bei nahezu jedem Wiedererlebnis die
Vitalwerte auf ein übermäßig hohes Niveau ansteigen; dieses Niveau fällt mit
der Verknüpfung auf normale, gesunde Werte. In einem Gefühlserlebnis ohne
Kontext - eine Abreaktion - kommte es nie zu dieser Art von organisierter,
koordinierter Bewegung der Vitalfunktionen. Eine Gehirnstruktur, die sehr viel
mit Depression zu tun hat, ist der linke präfrontale Kortex, das nach außen
orientierte, gedankenbildende, rationalisierende Areal, das dabei hilft, Gefühle
auf der rechten Seite gut unter Verschluss zu halten. Es kann
Hoffnungslosigkeit/Depression mit einem Wirbel von Gedanken, Projekten und Plänen
für die Zukunft in Schach halten. Anstatt auf innere Prozesse/Gefühle zu
achten, konzentriert es sich auf das Äußere im Hier-und-Jetzt. Bei unserer
eigenen Gehirnforschung haben wir bei Patienten, die einen Zugang zu ihren Gefühlen
entwickelt haben, ein harmonischeres Gehirn festgestellt. Es gab keine Kontrolle
mehr durch eine dominante linke Hemisphäre.
Niemand
kann einem anderen befehlen, dass er oder sie fühlt. Gefühle haben ihre eigene
Intelligenz. Wenn der Brennpunkt beim Therapeuten bleibt, ist alles verloren. Es
bedeutet, dass es weniger inneren Brennpunkt gibt. Alle unseren Techniken zielen
seit jeher darauf ab, den inneren Brennpunkt zu verstärken. Wenn ein Therapeut
im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und viel reden und erklären muss, ist
das umso schlimmer für den Patienten, weil der Brennpunkt jetzt außerhalb
seiner selbst liegt und seine oder ihre Gefühle längst wieder verschwunden
sind. Was Albert Ellis betrifft, den Vater der rational-emotiven
Verhaltenstherapie, haben wir in Filmen gesehen, dass er in den Sitzungen viel
mehr als der Patient redet. Seine Gedanken sind der zentrale Mittelpunkt. Die
Gefühle des Patienten ziehen sich in einen dämmrigen Halbschatten zurück.
In
der Primärtherapie sagt der Therapeut einige wenige Worte, weil Worte dazu
benutzt werden, die Abwehr des Patienten zu blockieren. Während eines Primals
(Wiedererlebnisses) weicht der linke präfrontale Kortex zugunsten der Gefühle
zurück. Unsere Aufgabe ist, den Patienten auf die richtige Spur zu bringen;
danach ist sie oder er auf sich gestellt. Sein oder ihr System weiß es besser
als wir. Es bedarf guter wissenschaftlicher Kenntnisse und braucht ein wenig
Vertrauen in den Patienten, um seinem oder ihrem tieferen Gehirn zu gestatten,
die Regie zu übernehmen. Die Gefühlskette ist wirklich eine neuronale Spur,
die sich ihren Weg hinab zum Hirnstamm und in die ferne Vergangenheit bahnt. Bei
einem Wiedererlebnis haben wir es mit umgekehrter Evolution zu tun, weshalb ich
unsere Therapie als "umgekehrte Neurose" bezeichne. Der Schaltkreis
verläuft vom linken frontalen Kortex zum rechten frontalen Kortex (OBFK), hinab
zum Hippocampus, der die Geschichte nach ähnlichen Gefühlen durchsucht und für
eine Anleitung sorgt, wie man auf diese Gefühle reagieren soll; er macht dies
im Verbund mit der Amygdala, die den emotionalen Sinn des Gefühls beisteuert.
Zusammen mit anderen limbischen Strukturen setzt der Schaltkreis dann
verschiedene Erinnerungs-Bestandteile zusammen und läuft weiter zu
Hirnstamm-Strukturen, wo er sich erheblich auf Atmung, Herzschlag und Blutdruck
auswirkt. Schließlich wird eine Verknüpfung zurück nach oben zum OBFK der
rechten Seite und dann zu seinem linken Gegenüber hergestellt. Jetzt ist der
Kreis verknüpft. Der linke frontale Kortex übernimmt mit seinen Einsichten die
Regie. Er denkt darüber nach, welches Verhalten von Gefühlen gesteuert wurde.
Er setzt die Stücke zusammen. Er verbindet innere Realität mit äußerem
Verhalten und erklärt, welche Gefühle hinter einem bestimmten Verhalten und
Ausagieren stecken. Und das ist der Grund, warum Verknüpfung das Ende der
Depression bedeutet. Das sollte der Dreh- und Angelpunkt für alle
Psychotherapien sein.
Wenn
das Gefühl die Grundebene der Einprägung erreicht, macht es den Menschen zu
einem historischen Wesen mit genau den Vitalwerten und physischen Attributen,
wie sie bei dem frühen traumatischen Ereignis auftraten. Es bedarf hoher
Energie und der Freisetzung aktivierender Katecholamine, um das Originaltrauma
zu versiegeln und einer gleich großen Energie, um es wiederzuerleben und aufzulösen.
Es ähnelt sehr einem Vergnügungspark, wo man einen Hammer nimmt und auf einen
Sockel schlägt, um eine Kugel nach oben zu befördern, damit sie die Glocke ertönen
lässt. Wenn diese Kraft zu schwach ist, ertönt sie nie. Das gilt auch für die
Therapie. Wir können unsere Biologie nicht betrügen. Wenn das Energieniveau in
einer Sitzung nicht ausreicht, werden auf tieferen Ebenen im Gehirn des
Patienten keine Gefühle/Empfindungen ausgelöst, und wir werden die Primärglocke
niemals treffen; es wird keine Auflösung und Integration des Gefühls geben.
Deshalb sehen wir in konventioneller oder kognitiver
Einsichtstherapie diese Schmerzen nicht, vor allem die nicht, die aus dem
Geburtstrauma entstanden, und zwar wegen des niedrigen Energieniveaus, das mit
diesen Therapien verbunden ist. Sie können keine Heilung erzielen, weil das
Energieniveau in einer Sitz-und-Rede-Methode nicht ausreicht, um tiefe
Hirnstamm-Traumen zu aktivieren. Sie bleibt deshalb unterhalb der
Heilungschwelle. ‚Feeling is healing’, Fühlen ist Heilung.
Wenn der konventionelle Therapeut einen Patienten in sexuelle Erregung
versetzen könnte, wäre er vielleicht in der Lage, diese Erregung in ein
wirkliches Gefühlserlebnis umzuwandeln, aber ich bin mir nicht sicher, ob die
Person das begrüßen würde. An dem Wiedererlebnis ist das Gesamtsystem
beteiligt, wie es der Fall war, als die Erinnerung registriert wurde. Deshalb
finden wir bei unseren Bluthochdruck-Patienten ein durchschnittliches Absinken
der systolischen Werte um 24 Punkte. Es ist auch der Grund, warum wir in einer
Sitzung ein so enormes Absinken des Blutdrucks sehen, sobald das sympathische
Nervensystem, das für die Hypertension verantwortlich ist, dem
parasympathischen System weicht, das den Blutdruck senkt. Deshalb erlebt ein
parasympathisch-dominanter Patient (ein Depressiver), der die Sitzung mit einer
radikal angesenkten Körpertemperatur beginnt, nach der Sitzung einen Anstieg um
zwei oder drei Grad (F), da Fühlen das System normalisiert. Übrigens messen
wir die Vitalwerte eines Patienten vor und nach jeder Sitzung, so dass wir, wenn
jemand sich völlig hoffnungslos fühlt und mit einer Körpertemperatur von 95,5
Grad (F) hereinkommt, nach Auflösung eines Feelings einen Anstieg auf 98 Grad
(F) sehen.
Ein
Wiedererlebnis von Vorgeburts- und Geburts-Einprägungen wird genau dieselben
Reaktionen hervorrufen wie zur Zeit des Originaltraumas. Aber auch wenn kein
Wiedererlebnis stattfindet, bestehen die Reaktionen oder Fragmente der
Erinnerung fort, wie zum Beispiel schneller Herzschlag oder hoher Blutdruck.
Wenn wir eine vollständige frühe Vorgeburts-Erinnerung wiedererleben, deren
Bestandteil hoher Blutdruck war, dann wird auch dieses Erinnerungsfragment in
das vollständige Wiedererlebnis einbezogen sein, und der Patient sollte
folglich Erleichterung von dem aufdringlichen Symptom erleben. Wenn Aspekte der
Originalreaktion fehlen, ist das Wiederlebnis nicht vollständig und deshalb
nicht heilsam. Wenn wir den Blutdruck medikamentös behandeln und die
Hochdruck-Reaktion unter Verschluss halten, ist kein vollständiges
Wiedererleben möglich.
Wer
keine Therapie macht, braucht Beruhigungsmittel aus demselben Grund, aus dem
sie vielleicht unsere Patienten brauchen, wenn sie sich Gefühlen nähern: Die
Verdrängung ist schwach, und man benötigt chemische Hilfe, um sie zu stützen.
Die Drogen helfen, unsere innere schmerztötende Pharmazie zu normalisieren. Wir
wollen nicht, dass unsere Patienten im freien Fall in fernen und
hochenergetischen Schmerzen der ersten Ebene landen. Medikamente erlauben einen
langsamen methodischen Abstieg; sie halten den Patienten in der Primal-Zone.
Wenn Patienten ihre schmerzvolle Geschichte ausreichend wiedererlebt haben,
brauchen sie Alkohol, Drogen, Zigaretten oder Schmerztöter nicht mehr. Weniger
Schmerz bedeutet geringeres Verlangen nach Schmerztötern. Der Unterschied
besteht darin, dass die Medikation bei der konventionellen Therapie zum
Endspiel, zur alleinigen Masche wird. Bei unserer Therapie benutzen wir
Medikamente, um unser Ziel zu erreichen, und nicht als Therapie an sich. Wir benutzen
Medikamente, um die Therapie zu unterstützen, und nicht, um sie zu ersetzen.
Die
Einprägung ist wirklich ein Reaktions-Ensemble, das gleichzeitig in das
Gesamtsystem eingeprägt wird. Es ist eine totale Erfahrung - anders als
intellektuelles Erinnern, das weitgehend geistig ist, das heißt, eine Operation
des linken frontalen Kortex. Wir können uns nicht
an eine Einprägung
erinnern. Wir können sie nur mit unserem Gesamtsystem erinnern - mit
unseren Muskeln, Eingeweiden und unserem Blutsystem - weil alle diese
Komponenten eines jeden von uns in die ursprüngliche Erfahrung verwickelt
waren; deshalb muss man sie mit allen Systemen wiedererleben, die ursprünglich
involviert waren, als sie verankert wurde. Nicht nur das, sondern sie muss mit
derselben Intensität wiedererlebt werden, mit der sie eingeprägt wurde,
weshalb man sie kaum jemals in konventioneller oder kognitiver Therapie gesehen
hat, wo die emotionale Ebene ziemlich unterjocht wird. Aus diesem Grund findet
der Patient in unserer Therapie am Anfang selten Erinnerungen von hoher
Leben-und-Tod-Valenz wieder.
Wir
haben einen Weg gefunden, um auf die Tiefen des Unbewussten in einer geordneten,
methodischen Weise zuzugreifen, so dass der Patient nicht von Schmerz überwältigt
wird. Wir wissen, dass der Schmerz höherer Valenz tief im Nervensystem liegt,
und deshalb umgehen wir am Anfang der Therapie jeden ‚Ausflug’ zu dieser
Ebene. Wir suchen die Vergangenheit in maßvollen Schritten wieder auf:
Kindheitsereignisse werden vor der Babyphase gefühlt, die Babyzeit vor der
Geburt und die Geburt vor der Schwangerschaftsphase. Und wir korrigieren und
beseitigen die Abweichungen, die uns durch ein frühes Trauma aufgezwungen
wurden, indem wir die Ereignisse erleben, welche die entscheidenden Abweichungen
verursachten. Die Einprägung ist das Problem und die Lösung. Die Saat der Lösung
liegt im Schmerz und nur dort. Zurückzugehen und uns von unseren Eltern
ungeliebt zu fühlen ist das Mittel zum Fühlen; erst wenn das erledigt
ist, können wir Liebe hereinlassen.
Limbisch
festgehaltene Ereignisse erlauben uns, unsere Kindheit wieder aufzuspüren -
Vaters Aftershave riechen, spüren, wie sich sein Bart anfühlt, unser
Kindheits-Zuhause sehen und uns erinnern, wie wir uns zu Hause beim Essen fühlten.
Wir sehen die Szenen von Familienkämpfen, von früher Angst und frühem
Schrecken. Wenn wir auf tiefere limbische Ebenen hinabsteigen, sehen wir
deutlich die Farbe des Teppichs, wir sehen den Ausdruck in Vaters Gesicht, und
wir spüren Mutters Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit. Wir sind wieder
das verletzliche, sensible Kind. Patienten in einer primärtherapeutischen
Sitzung können sich bis ins kleinste Detail an Szenen erinnern, als sie 6 Jahre
alt oder jünger waren, Szenen, an die sie sich andernfalls nie hätten erinnern
können. Alles, was draußen war, ist drinnen; alles, was Patienten brauchen,
ist Zugang. Ich finde es erstaunlich, dass irgendwo in diesem Gehirn der Geruch
von Vaters Pfeife steckt und unser Kindbedürfnis danach, dass er sich uns
zuwendet und nur eine Minute mit uns spricht; eine gewisse Anerkennung, dass wir
existieren und für jemanden wichtig sind. Wenn es nie geschah, hören wir auf
zu erwarten, dass es geschieht. Wir machen uns wieder an unsere lieblosen Geschäfte.
Das
ist der Schlüssel: Am bemerkenswertesten in unserer Therapie ist, dass
biologisch kein Unterschied zu sein scheint, ob das Kind von Beginn an geliebt
wird oder ob man den Liebesmangel später wiedererlebt. Was in primärtherapeutischen
Sitzungen geschieht, ist eine Analogie unserer evolutionären Geschichte. Wenn
ein Patient in die Tiefen der Hoffnungslosigkeit taucht, hinab auf den Grund
seiner tiefen Depression, kommt es zu einem Wechsel, und es
dominiert das sympathische System mit häufigem Urinieren, hohem Blutdruck,
schnellem Herzschlag, Magenkrämpfen und Muskelspannung. Das System reagiert auf
den eingeprägten Schmerz und ist hochgradig erregt. Das erwachsene System kann
jetzt mit dem Schmerz fertig werden, wozu das System des Kleinkinds nicht fähig
war. Der Schmerz kann jetzt erlebt werden, weil die kritische Periode vorbei
ist.
Es
reicht nicht, in der Therapie Schmerz zu fühlen, denn wir müssen verstehen,
dass innerhalb des Schmerzes das Bedürfnis liegt, das Bedürfnis, das sich
anfangs zu Schmerz wandelte, als es nicht erfüllt wurde. Es ist ein Bedürfnis,
das letzlich voll erlebt werden muss. Zum Beispiel existiert - unartikuliert -
das Saugbedürfnis, sobald wir geboren sind. Wenn Mutter die Brust
anbietet, gibt es Befriedigung und Entspannung. Ohne Befriedigung bleiben wir
vielleicht in einem sympathisch dominanten Zustand mit beschleunigten Funktionen
und haben immer noch das Bedürfnis zu saugen. Es gibt nichts in der Umgebung,
das dem parasympathischen Nervensystem erlauben würde, einzuschreiten und
dieses Bedürfnis zu zerstreuen. Wenn jemand im Zusammenhang so kontinuierlich
saugt wie dieses bedürftige Kleinkind, kann er oder sie schließlich das unaufhörliche
Bedürfnis zu saugen (an Zigaretten, Bierflaschen, und so fort) auflösen. Das
Ausagieren, das in diesem Fall vielleicht involviert, Frauen zu bekommen, die
uns bemuttern, erinnert uns ständig daran. Damals brauchten wir eine Mutter.
Jetzt brauchen wir keine Mutter, es sei denn, wir hatten damals keine gute. Wenn
das Bedürfnis nicht erfüllt wird, agieren wir es symbolisch aus. Weil die Erfüllung
symbolisch ist, ist sie nie befriedigend oder lösend. Der Fortschritt in der
primärtherapeutischen Behandlung eines Depressiven verläuft von vagem Leiden
zu spezifischem Schmerz/Bedürfnis, das zu einem Gefühl wird, welches dann mit
Gedanken verknüpft wird und zu einer Einsicht wird. „Im Zusammenhang“ ist
hier entscheidend, denn wir können Woche um Woche den ganzen Tag lang saugen -
wie wir es beim Zigarettenrauchen machen – ohne das Bedürfnis aufzulösen.
Das Bedürfnis liegt in der Geschichte zurück und muss in dieser Geschichte mit
dem damals funktionsfähigen Gehirn und keinem anderen gefühlt werden.
In
meinem Buch Die Biologie der Liebe
erörterte ich die Experimente, die
wir am UCLA Lungenlaboratorium durchführten. Das Ergebnis war, dass Patienten,
die Anoxie (Sauerstoffmangel) bei der Geburt wiedererlebten, ohne
Hyperventilationssyndrom 20 Minuten lang tief, schnell und schwer atmen konnten.
Wenn sie nicht in dem Feeling steckten, waren sie nach zwei Minuten benommen,
schienen gleich bewusstlos zu werden und hatten klauenförmige Finger wie Leute
mit rheumatischer Arthritis. Solange sie mit dem Gehirn, das Sauerstoff
brauchte, tief in ihrer Geschichte zurück waren, hatten sie keine Probleme mit
tiefem Atmen. Diese Forschungsstudie erklärt eindeutig, was ein Wiedererlebnis
ist und was nicht. Es ist kein Nachmachen und keine Abrektion; es ist ein
wirkliches Ereignis. Es ist Auflösung, weil Wiedererleben die gesamte
psychotische Originalszenerie einschließt. Wenn man sich in seine Geschichte
vertieft und wieder zur kritischen Periode zurückgeht, dann ist das heilsam;
alles andere ist symbolisch. Sobald ein Mensch seine Vergangenheit gefühlt hat,
braucht er
keinen anderen mehr, der
oder die ihm „Leben einhaucht,“ was das Kennzeichen eines Depressiven ist.
Es gibt kein Bedürfnis mehr nach anderen, die uns Schwung geben, uns
provozieren und stimulieren.
Das
Bedürfnis zu fühlen ist das Entscheidende, weil das Bedürfnis zur Warnung in
Schmerz umgewandelt wird. Das Bedürfnis zu fühlen bedeutet, das Bedürfnis
nach Sauerstoff zu fühlen, wenn er bei der Geburt wegen der Betäubungsmittel
fehlte. Der Patient keucht und würgt vielleicht und läuft rot an, wenn er das
Ereignis wiedererlebt. Er erlebt das Bedürfnis wieder, ohne dass Worte fallen,
und das reicht. Der Schmerz lässt nicht nach, bis das Grundbedürfnis gefühlt
wird. Ja, wir müssen Schmerz fühlen, aber das ist eine Station in Richtung Bedürfnis.
Wenn ich das Bedürfnis, dass ich die Hilfe meiner Mutter brauche, immer wieder
fühle, dann höre ich auf, das dadurch auszuagieren, dass ich versuche, eine
Frau zu bekommen, die mich bemuttert. Wir können es nicht nur ein einziges Mal
fühlen und dann Veränderung erwarten; wir müsssen es fast so oft fühlen, wie
unsere Mutter uns Hilfe verweigerte. Genau das meine ich mit Schichtung; das Bedürfnis
und die nachfolgende Deprivation verstärkten sich Jahr für Jahr. Es wird
beinahe zu einer gigantischen Aufgabe, den Schmerz zu fühlen. Er lässt sich
nur in kleinen Stückchen wiedererleben. Wenn jemand versucht, ihn mit Hilfe von
Drogen in seiner Gesamtheit zu fühlen, ist es nahezu gewiss, dass er oder sie
scheitert. Das System ist nicht dafür gemacht, sich mit
überwältigenden Gefühlen zu verknüpfen.
Nach
der Verknüpfung – nach dem Gefühl „Niemand will mich, sie haben mich nie
gewollt“ – wechselt das System in einen parasympathisch dominanten Zustand.
Das System kann jetzt zur Ruhe kommen, weil die Gefahr Vergangenheit ist und
sich in der Vergangenheit befindet. Wenn wir uns mit der Leidenskomponente der
Erinnerung verbinden und die fremde Kraft integriert wird, beginnt sich die
„Kaskade“ von Abweichungen in
mehreren
Körpersystemen zu normalisieren.
Wenn
man Schmerz und Bedürfnis voll wiedererlebt, erzeugt man ein physiologisches
System, das so funktioniert, als sei dieses Bedürfnis immer erfüllt worden. Es
befreit die Parasympathin, so dass sich ihr Gesichtskreis erweitert und sie mehr
Chancen ergreift. Es ermöglicht dem Sympathen, mit dem unaufhörlichen Kampf
aufzuhören, der ihn nie entspannen lässt. Schließlich bringt es unser System
ins Gleichgewicht zurück, so dass wir keine Gefangenen von Medikament um
Medikament, Droge um Droge mehr sind. Ein ausgeglichenes System bedeutet, dass
der chronisch niedrige Testosteronspiegel des männlichen Parasympathen sich
normalisiert, was sich nach einem Jahr Primärtherapie herausgestellt hat. Es
bedeutet, dass er jetzt durchsetzungsfähiger und weniger depressiv ist. Ein
ausgeglichenes System bedeutet, dass man keine fünf Tassen Kaffee am Tag
trinken muss und nicht mehr süchtig nach Coca Cola ist. Es bedeutet, dass man
nicht rauchen muss – eine Gewohnheit, die letztlich unser Leben verkürzt. Es
ist die wahre Bedeutung von Freisein.
Wir
sind fast alle Gefangene unseres Prototyps. Die kognitive Therapie geht von der
Annahme aus, dass wir sehr viel Willensfreiheit haben. Ich bin mir da nicht so
sicher. Wir haben innerhalb unseres Prototyps eine gewisse Wahlfreiheit, aber es
ist ein enges Spektrum. Wir haben aber die Freiheit zurückzukehren und
herauszufinden, wie das alles angefangen hat. Das wird schließlich unsere Wahlmöglichkeiten
im Leben erweitern.
Die
Physiologie der Hoffnungslosigkeit
Schauen
wir uns einige physio-chemischen Effekte einer Einprägung an.
Nehmen wir an, bei der Geburt und während der Schwangerschaft gab es
Sauerstoffmangel, wie er zum Beispiel von einer schwangeren Frau verursacht
wird, die in der Schwangerschaft Zigaretten rauchte und zusätzlich Betäubungsmittel
erhielt, um den Schmerz während der Wehen abzutöten. Diese zwei Faktoren
etablieren eine physiologische Aufzeichnung im System ihres Babys. Diese
Aufzeichnung orchestriert eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen; jede
Reaktion ist eine Anpassung an die urspüngliche Bedrohung des Überlebens. So
kommt es zu einem geringeren Sauerstoffbedarf, der sich durch Atmungsveränderungen
wie zum Beipiel seichtes und kurzes Atmen ausdrückt. Es ergibt sich auch ein
geringerer Ausstoß der Schilddrüse, niedrigerer Blutdruck und niedrigere Körpertemperatur
und Erschöpfung, wie zum Beispiel beim Syndrom der chronischen Ermüdung. Zusätzlich
findet man viele Phänomene, die von Hirnstamm-Funktionen gesteuert werden, wie
Schmetterlinge im Bauch, Benommenheit und Orientierungslosigkeit und ein vages
Schreckensgefühl. Wenn sich früh im Leben Schrecken festsetzt, hat der Fetus
oder das Neugeborene keinerlei kortikale Fähigkeit, dessen Auswirkungen
abzuschwächen. Die Natur tiefen Terrors oder Schreckens ist so profund, dass
man ihn im Wiedererlebnis Jahrzehnte später nur für jeweils kurze Augenblicke
fühlen kann.
Hoffnungslosigkeit,
Hilflosigkeit, Verzweiflung und Resignation können durch verminderten
Sauerstoff eingeprägt werden; alle diese realen Empfindungen begleiten die
Erinnerung. Das ist Depression, ein Zustand der sich durch ein
diktatorisches Elternhaus verschlimmerte, wo das Kind niemanden hatte, an die
oder den es sich mit seinen Gefühlen wenden hätte können. Es ist nicht
unbedingt so, dass die Eltern die Gefühle des Kindes unterdrückten, sondern
sie waren vielleicht emotional nicht präsent. Das Ergebnis ist das gleiche: Es
gibt niemanden, dem wir unsere Gefühle mitteilen können. Wieder sind wir
hilflos und hoffnungslos. Keine wesentliche Anstrengung zu unternehmen, nicht für
den Erfolg zu kämpfen, weil kämpfen bei der Geburt die Möglichkeit zu sterben
bedeutete, ist auch Teil des Anpassungsprozesses - Energie sparen fürs Überleben. Ich erinnere mich, dass ich in meinen psychoanalytischen Tagen Patienten sagte, sie hätten eine "maskierte Depression," weil sie nicht einmal wussten, dass sie sich deprimiert und hoffnungslos fühlten. Aber sie wussten es doch. Jetzt muss ich den Patienten gar nichts sagen. Sie finden es selbst heraus. Sie fühlen die frühe Hoffnungslosigkeit, die sich fast immer durch eine sehr niedrige Körpertemperatur ankündigt, und sie kommen langsam aus ihrer Depression
Frühes
Trauma
Vor
kurzem behandelte ich einen tief depressiven Patienten, der viele
charakteristische Symptome aufwies, wie zum Beispiel Lethargie und ein Gefühl
der Hoffnungslosigkeit. Am Anfang der Sitzung war er entmutigt, weil er einen
Job nicht bekommen hatte, und gefangen im „Was-hat-das-für-einen-Sinn“-Syndrom. Während
seiner Sitzung glitt er in seine Kindheit hinab und fühlte, wie allein er in
seinem ganzen frühen Leben war. Von da fiel er weiter in DAS Ereignis zurück
– in sein Geburtstrauma. Das wird einigen Lesern bizarr scheinen, aber ich
versichere Ihnen, das ist es nicht. Das Geburtstrauma ist ein messbares Ereignis
mit quantifizierbaren neurochemischen Effekten, die ein Leben lang anhalten. Es
verschiebt das Nervensystem und den Rest unserer Physiologie in Richtung
Hypo-Modus, ein Ereignis, das viele der Empfindungen und Gefühle, die
Depression kennzeichnen, in unserem Nervensystem versiegelt. Das vielleicht häufigste Trauma, das einem Baby zustößt, ereignet sich, wenn die Mutter bei der Geburt Betäubungsmittel erhält, um ihren Schmerz zu lindern. Die Dosis, die sie erhält, mag für ihr Körpergewicht von 130 Pfund und ihren Gesundheitszustand angemessen sein, aber für das Neugeborene ist sie überwältigend. Das Baby wiegt sechs Pfund und erhält durch die Mutter eine Dosis, die für sein System zu massiv ist. Viele seiner Systeme einschließlich des ganz wichtigen Atmungssystems verschließen sich dann. Dieses Ereignis hat viele andere schädliche Auswirkungen, nicht zuletzt Asthma, ein Phänomen, das ich in Kürze erörtern werde. ___________________________________
Ende des Kapitels
Buchübersetzung: Bücher von A. Janov
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