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Kapitel 8
Wie
Depression die Macht ergreift
Damit
wir Glücklichkeit und Depression voll verstehen können, möchte ich mit einem
einfachen Lehrsatz beginnen: Erfahrung ist sowohl körperlich als auch
psychisch. Was mit uns im Leben geschieht, beeinflusst uns total und nicht nur
psychisch. Es ist keine Enthüllung, wenn man sagt, dass die Psyche Bestandteil
des Körpersystems und mit diesem verbunden ist, aber die Unfähigkeit, das zu
verstehen, hat zu einem Missverständnis darüber geführt, worum es bei Glücklichkeit
und Depression geht.
Ich
habe anderswo (Der Urschrei) darauf hingewiesen, dass frühe Ereignisse in
unseren Systemen registriert werden, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst
sind. Bei Neurose, wo zwischen Körper und Psyche eine Kluft besteht, kann die
Bewusstseins-Erfahrung ziemlich verschieden von der System-Erfahrung sein. Wenn
wir neurotisch sind, können wir uns selbst „belügen.“ Wir können glauben,
dass wir glücklich seien, während im Inneren lautlos der Schmerz tobt. Erst
wenn ein starkes Gegenwartsereignis alte Gefühle auslöst, werden wir uns des
Leidens bewusst. Wir sind uns nicht des exakten Gefühls bewusst, sondern wissen
lediglich, dass wir uns hundsmiserabel fühlen.
Vielleicht
können wir das klarer verstehen, indem wir hypnotische Zustände untersuchen.
Ein Hypnotiseur auf der Bühne kann sich einen mürrischen, erstarrten
Neurotiker aus dem Publikum suchen und in ein paar Sekunden oder Minuten eine
sprudelnde „glückliche“ Person „produzieren.“ Ist dieser Mensch
wirklich glücklich? Würde man ihn fragen, würde er sagen: „Ja, ich bin glücklich.“
Er scheint genau so glücklich,
wie jeder Neurotiker glücklich scheinen könnte. Er ist fröhlich, lächelt
und ist anscheinend sorglos. Die objektiven Kriterien sind vorhanden, aber wir
wissen, dass es ein falscher Zustand ist. Mit Hilfe der Hypnose konnte die
Person sich selbst belügen. Aus seinem hypnotischen Zustand befreit könnte er
durchaus sofort zu seiner natürlichen Depression zurückkehren. Das
unterscheidet sich nicht von Neurose, bei der Eltern pseudo-glückliche Kinder
„produzieren,“ denen nicht erlaubt wird, missmutig oder traurig zu sein. Gewöhnlich
dürfen sie nicht einmal mürrisch sein, weil das die Eltern an ihr Versagen
erinnert. Man könnte dieses Kinder fragen, ob sie glücklich sind, und würde
dieselbe positive Antwort bekommen, die hynotisierte Subjekte geben würden;
deshalb ist Hypnose einfach eine vorübergehende Neurose. Obgleich sowohl das
neurotische Kind als auch das hypnotisierte Subjekt bewusst von „Glücklichkeit“
berichten würden, würden ihre Körper dennoch große Spannung zeigen. Somit wäre
ihre „Glücklichkeit“ zerebral und nicht organismisch. „Glücklichkeit“
im neurotischen Sinn wäre dann eine wirkungsvolle Flucht aus dem Körper. Die
Flucht anzuhalten – den Neurotiker aus seiner „Hypnose“ zu befreien -
bedeutet, Primärerlebnisse und Primärelend zu produzieren – ein
organismischer Zustand.
Warum
ist der Neurotiker unglücklich? Weil er durch traumatische Erfahrungen in der
Schwangerschaft, bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren seiner selbst
beraubt worden ist. Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, wenn einem nicht
erlaubt wird, sich zwanglos und ehrlich zu äußern, dann kommt es zu
Traurigkeit. Primärpatienten weinen darüber, dass sie nicht in den Arm
genommen wurden, dass man ihnen nicht zuhörte, dass ihnen in ihren
Schlafzimmern keine Privatsphäre erlaubt war, denn als Kinder ertranken sie in
Vernachlässigung und waren sich der subtilen Tragödie nicht bewusst, die sich
gerade abspielte. Aber Stück für Stück wuchs die Tragödie, nur dass es
nichts Besonderes gab, auf das man hindeuten konnte, nichts, über das man
weinen konnte, nichts, das das Kind wissen ließ, dass es am Ertrinken war. Der
Körper des Individuums häufte Traurigkeit an, die sich später in Depression
übersetzte. Später dann fällt diesem Menschen eine Menge ein, um sich vor dem
erdrückenden Gewicht seiner Entbehrungen zu schützen. Er wird trinken, hart
arbeiten oder Drogen nehmen. Sobald man ihm jedoch ein Ventil wegnimmt, wird er
anfällig für Depression. Jeder Neurotiker ist traurig, ob er es weiß oder
nicht. Oft weiß er es nicht, weil der Zweck der Neurose darin besteht, die Tragödie
am Lebensanfang zu verbergen. Neurose macht uns andauernd ahistorisch.
Die
Funktion der Neurose ist, Primärgefühle in der Schwebe zu halten, bis sie
sicher integriert und aufgelöst werden können. Unterdessen ist das gesamte
System an diesen Gefühlen beteiligt und wird zu einem Teil von ihnen, entweder
um sie zu fühlen oder um ihnen zu entkommen. Eine gute Flucht nennt man „Glücklichkeit,“
eine wirkungslose heißt „Depression.“
Der
Depressive steckt in der Zeit fest. Er steckt in seiner Vergangenheit fest, ob
er sich dessen bewusst ist oder nicht, so dass alles, was er tut, ein
symbolisches Portrait dieser Vergangenheit ist. All die Jahre, die zwischen
seiner ursprünglichen Spaltung und dem Erwachsenenalter liegen, haben nur
hinsichtlich der Primärgefühle Bedeutung. Diese Gefühle werden nie ausgelöscht
(es sei denn durch Primärtherapie), und was man am besten machen kann, ist, sie
abzuwehren. Das bedeutet, dass wir alle für Traurigkeit offen sind, wenn unsere
Abwehr nachlässt. Wenn man plötzlich arbeitslos wird oder im Stich gelassen
wird oder von den Freunden ‚geschnitten’ wird, dann bereitet das alles den
Boden für die Depression. Was der Depressive fühlt, wenn seine Abwehr
zeitweise außer Funktion ist, ist die Depression, nicht aber das Gefühl,
deprimiert zu sein. Er spürt den Druck gegen jene Gefühle, den Druck, der
diese Gefühle tief in sein System zurückdrängt. Dieser Druck erzeugt mühseliges
Sprechen, schwerfällige Bewegung und totale Erschöpfung, so dass der
Depressive wenig Energie hat und in Zeitlupe herumläuft.
Gib
einem Depressiven ein neues Ventil, einen neuen Job, eine Party oder die Chance,
einkaufen zu gehen, und der gesamte nach innen gerichtete Druck ergießt sich in
manische Aktivität. Er „schmeißt sich“ buchstäblich in seine Arbeit. Er
ist in den Augenblicken „glücklich,“ wenn seine Arbeit ihn glücklich
macht. Was wirklich geschehen ist, ist, dass er ein Ventil gefunden hat, das ihm
hilft, seine Primärtraurigkeit zu verbergen. Hier sehen wir die Basis für die
bipolare Störung oder manische Depression. Das ist keine andere Krankheit,
sondern eine andere Art von Schablone: parasympathische Tiefen (bei der Geburt),
denen manische Energie folgt. Die Prägung ist dasselbe zyklische Ereignis wie
das bei der Geburt. Wenn die Depression versagt, setzt manische Aktivität ein.
Es ist dieselbe Energiequelle aber eine andere Art, damit umzugehen. Somit können
wir sehen, dass einige von uns sich früh im Leben verschließen und aufgrund
fehlender Ventile „tot“ und depressiv werden. Andere verschließen sich und
benehmen sich lebhaft. Wenn jemand seine Eltern dadurch erfreut, dass er oder
sie den „glücklichen Clown“ spielt, dann wird das zur Daueraktion. Wenn es
keine Möglichkeit gäbe, sie zu erfreuen, wenn man jedes Mal abgelehnt, unterdrückt
und zurückgewiesen würde, dann würden sich Leblosigkeit und Depression verstärken.
Gib dem „glücklichen Clown“ keine Gelegenheit für seine Vorführung und
die lauernde Traurigkeit kommt allmählich hoch. Das war nie zutreffender als
bei den Berufskomödianten, die ich behandelt habe. Ich behandle gerade einen
Depressiven, dessen Mutter chronisch krank war; er wurde zum Spaßvogel, weil er
sie damit aufmuntern wollte. Obwohl es nie lange wirkte, wurde es zu einem
Gewohnheitsmuster.
Manchmal
funktionieren Ventile nicht, und der Depressive hält sich an Drogen, die ihm
helfen, seine Gefühle zu verdrängen. Die Wahl fällt in der Regel auf
Aufputscher einschließlich Kokain. Wenn die Schwangere „Downers“ zur
Beruhigung nahm, ist es nahezu eine mathematische Gewissheit, dass der Nachwuchs
süchtig nach Aufputschern ist, angefangen mit Coca Cola bis hin zu den
Amphetaminen. Eine normale Person ist nie deprimiert; sie hat keine Rücklage an
Gefühlen, die unaufgelöst im Inneren liegen. Sie ist Gefühlen gegenüber
offen und verdrängt Unerfreuliches nicht. Sie wird traurig sein, wenn es
angemessen ist. Aber Traurigkeit ist ein „Jetzt“-Ereignis, ein wirkliches
Gefühl, das sich auf wirkliche Situationen bezieht. Depression ist ein
„Damals“-Gefühl, das sich nicht auf das „Jetzt“ bezieht. Wenn das
kleine Kind jede ursprüngliche Einprägung fühlen könnte, würde es in seinem
Leben nicht depressiv werden.
Heutzutage
ist Depression vielleicht noch verbreiteter als Angst. So viele Leute sind
depressiv (die Gesundheitsbehörden sagen, dass zu jedem gegebenen Zeitpunkt
etwa 19 Millionen Amerikaner Depressionen haben), dass man sie als „die Erkältungswelle
der Psyche“ bezeichnet hat, eine Bezeichnung, die das damit verbundene Leiden
trivialisiert. Die große Mehrheit an Selbstmorden geschieht bei Leuten, die
chronisch depressiv sind. Freud erklärte Depression damit, dass sie nach innen gerichtete Wut oder Feindseligkeit sei, eine unbewiesene Theorie, die noch immer viele Anhänger hat. Andere Theorien behaupten, dass sei „ungelöste Schuld“ sei oder ein oder mehrere Verluste, die man nicht richtig verarbeitet hat. Immer mehr Experten auf dem Gebiet sagen jetzt, Depression habe eine genetische Komponente, insbesonders wenn es sich um die manisch-depressive Variante handelt. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Auch wenn es eine vererbliche Anfälligkeit gibt, ist das keine Garantie für spätere Depression. ___________
Joliet
Mir
war immer so, als würde sich mein Leben davonstehlen, also habe ich oft
versucht, es wegzuwerfen. Mit 14 machte ich mir Sorgen, dass ich eine alte 15-jährige
Jungfrau sein werde, und so heiratete ich mit 19. Dann war ich besorgt, dass ich
eine uralte 22-jährige sein könnte, bevor wir uns ein Baby leisten könnten.
Mein erstes hatte ich mit 21. Wir konnten uns das Baby nicht leisten. Wir
konnten uns den kleinen Sarg nicht leisten, in dem es beerdigt wurde. Ich machte
mir Gedanken, wie es sein würde, 30 oder 40 zu werden. Dank der Primärtherapie
mache ich mir keine Sorgen darüber, 50 zu werden. Ich weine über die Jahre,
die mir gestohlen wurden, aber ich habe keine Panik.
Ich
habe zweimal Selbstmord versucht. Auf passive Weise bin ich noch immer ziemlich
suizidal, indem ich ein heißes Sonnenbad am Strand nehmen kann, mich sanft
streicheln lasse von der salzigen Gischt, die der Wind gelegentlich heranweht,
und dabei denke, was für ein wundervoller Tag zu sterben das wäre. Wie schön,
an einem Tag zu sterben, an dem ich mich gut fühle!
Ich
habe einen großen Kopf. Meine Mutter war kaum fünf Fuß groß, und sie gebar
ein 11 Pfund schweres Baby – nach Wehen, die so lange dauerten, dass wir beide
eigentlich hätten sterben müssen; ich weiß, dass ich beinahe gestorben wäre.
Ich wollte aufgeben, aber ich konnte es nicht. Ich wäre beinahe in der Flüssigkeit
ertrunken, die mich gepolstert hat. Ich erstickte, während mein Kopf gegen das
Becken meiner Mutter schlug. Von daher rührt ein Schmerz in meinem Nacken, Kopf
und Schultern, ein Schmerz, der meine Arme manchmal bis in die Fingerspitzen
kribbeln lässt. Sogar mein Rücken tut weh. Die Autopsie, die an meiner Mutter
nach ihrem Tod durch Abtreibung durchgeführt wurde, zeigte ein gesprungenes
Becken, das sich nach meiner Geburt nie wieder völlig geschlossen hatte. Ihre
Familie erinnert sich, dass sie „komisch“ ging, nachdem ich geboren war. Ich
weiß nicht, wie lange es nach meiner Geburt gedauert hat, bis sie überhaupt
wieder ging. Schließlich wurde ich durch meine eigenen Antrengungen geboren. Niemand und nichts war für mich da. Alles, was ich hatte, war meine arme bewusstlose Mutter. Ich lebte, und ich hatte nichts. Ich fühle mich oft hoffnungslos. Wenn der Tunnel mit dem Tageslicht an seinem Ende nur eine Metapher ist, warum weine ich dann, wenn ich diese Zeilen schreibe?
________
Randall
Vor
vielen Jahren hat mich eine Freundin schmerzlich fallen lassen, und meine
Reaktion darauf war gewaltig. Es hat mir so weh getan. Nachdem ich eine Woche
geweint hatte, erkannte ich, dass mein Schmerz damit zu tun hatte, dass ich von
meiner Mama getrennt wurde, als ich ein Baby war. Ich wäre beinahe freiwillig
in die Psychiatrie gegangen. Ich hielt mich aus der Klinik raus, indem ich in
der Lage war, alleine Primal-Wiedererlebnisse zu haben – jeden Tag sechs
Stunden lang. Ich verlor 15 Pfund. Ich weinte und hatte Primals, wenn ich mich
schlafen legte, in meinen Träumen und nach dem Aufwachen. Die Gefühle waren in
jedem Augenblick bei mir, ob ich wach war oder schlief. Ich war überlastet,
aber mir fehlte die Erkenntnis oder die Bewusstheit, dass ich Gefühle
wiedererlebte; ich war einfach IN den Gefühlen.
Eines
Morgens wachte ich um 3 Uhr morgens auf, und mir war, als würden meine
Eingeweide gleich explodieren, wie bei einer Blinddarmentzündung, aber im
gesamten Unterbauch. Ich preschte mit 50 Meilen durch Nebenstraßen, dachte, ich
würde gleich sterben. Erst als ich in der Notaufnahme ankam, war mir klar, dass
ich nicht sterben würde. Es war das $10-Benutzergebühr-Zeichen, das mich in
die Gegenwart zurückschnappen ließ. Mehrere Stunden saß ich dort schmerzgekrümmt,
bevor ich nach Hause fuhr.
Eine
oder zwei Wochen später hatte ich zwei Tage lang eine Reihe von
Wiedererlebnissen
über meine Geburt. Ich erinnerte mich an das Entsetzen, als ich grob
hochgezogen, an den Fußknöcheln gehalten und auf den Hintern geschlagen wurde;
und dann, nachdem ich das alles ausgehalten hatte (einschließlich bewusstlos
geboren worden zu sein), haben sie mich nicht einmal zu meiner Mutter gelegt.
Ich war als Baby in Schrecken aufgelöst, und ich war entsetzlich ALLEIN. Ich
kehrte einige Male zu dieser Szene zurück und erlebte das gewaltige Entsetzen
wieder, als ich von meiner Mutter getrennt wurde. Das entschärfte die Angst-Überlastung,
in der ich steckte. Auf einer gewissen Ebene wusste, das ich über den Berg war.
Die Primals dauerten einige weitere Wochen an, waren aber weniger intensiv und
hatten damit zu tun, dass ich von meiner Mutter allein gelassen wurde, in der frühen
Kindheit nicht in den Arm genommen wurde, usw. Leider habe ich diese
Primal-Sequenz nicht mit Hilfe eines Therapeuten vervollständigt. Ich konnte
nicht um therapeutische Hilfe bitten, was Teil des Ausagierens desselben Gefühls
war: ICH BIN ALLEIN. Ich hörte allmählich mit dem Fühlen auf und fing an, übermäßig
zu essen. Ich nahm die verlorenen 15 Pfund wieder zu und legte weitere 10 Pfund
zu.
Etwa
sechs Monate später kehrte ich nach Kanada zurück. Langsam und unbewusst
verschloss ich mich immer mehr. Ich glaube, meine Hauptabwehr war Isolation. Ich
hatte einfach das Gefühl, dass ich auf dieser Welt nicht funktionieren konnte.
Jahrelang kam ich finanziell nur mit Müh und Not über die Runden. Rückblickend
kann ich sehen, dass meine Gefühle sagten, dass ich nicht überleben könne,
was dann in folgendem Gefühl resultierte: „Ich kann den Konkurrenzkampf nicht
überleben.“ In den folgenden vier Jahren glitt ich langsam in eine tiefe
Depression: Ich hatte keine Freunde, traf mich mit niemanden, war suizidal und
wollte nichts versuchen. Je weiter ich mich von meinen Gefühlen entfernte, umso
depressiver wurde ich.
Mein
Arzt weigerte sich, mir Valium zu geben, also war ich ein Monat lang ständig
betrunken. Ich versuchte, am Leben zu bleiben. Die Selbstmordneigung wurde allmählich
überwältigend. Eines Nachts lag ich im Bett und klammerte mich an dieses Bett,
weil ich diesen gewaltigen Impuls hatte, aufzustehen, in die Küche zu gehen und
mir das Küchenmesser über meine Handgelenke zu ziehen. Ich klammerte mich
buchstäblich ans Bett, weil mir mein Leben lieb war. Ich habe nicht bei der
Telefonseelsorge angerufen oder mit sonst jemandem über meine Suizidalität
geredet. Ich habe noch immer ausagiert, dass ich allein war. Obwohl ich
Primal-Wiedererlebnisse übers Alleinsein nach der Geburt hatte, war da noch
mehr.
Ungefähr
zu dieser Zeit fing ich an, unter Migräne-Kopfschmerz zu leiden. Etwa einmal im
Jahr bekam ich eine Migräne, die mich völlig außer Gefecht setzte. Dieses
Muster hatte in der Kindheit begonnen, im Jugendalter aufgehört und sich dann
bis ins frühe Erwachsenenalter fortgesetzt. Ungewöhnlich war, dass ich in den
vergangenen sechs Monaten einige Attacken hintereinander hatte. Eines Nachts kam
die Migräne nach ein paar Tagen Atempause zurück. Sie begann etwa um 5 Uhr
nachmittags und dauerte bis ungefähr bis 2 Uhr früh. Ich dachte wirklich, dass
mein Kopf gleich explodieren würde. Ich ging umher, versuchte heiße
Kompressen, kalte Kompressen, übte mit meinen Händen und einem Kissen Druck
auf meinen Kof aus und rollte mich zusammen – und langsam hatte mich die
Agonie total im Griff. Ich dachte wirklich, dass ich gleich an diesen
Kopfschmerzen sterben werde, und ich suchte nicht nach Hilfe. Im Nachhinein
gesehen war das eine gute Sache, weil es mir die Möglichkeit gab, meinen Weg
durch ein Geburtsprimal spontan zu fühlen. Der Schmerz war so schlimm, dass ich
mich einfach unter meiner Bettdecke zusammenrollte und stundenlang unter Qualen
stöhnte. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf jeden Augenblick explodieren und
ich sterben würde. Stundenlang balancierte ich auf dem Grat dieses Gefühls:
Die Migräne wurde intensiver, und der Schmerz vergrößerte sich ums
Hundertfache. Mir war, als müsste ich gleich sterben (in der Gegenwart), und
dann ließ die Migräne gerade ein bisschen nach. Dieser Zyklus mit der Migräne
wiederholte sich ich weiß nicht wie oft.
An
einem bestimmten Punkt so gegen Mitternacht schaffte ich unwissentlich den Übergang
von der Gegenwart in die Vergangenheit, und während des tiefen Stöhnens unter
den Qualen öffnete sich etwas in meinem Gedächtnis, und ich erinnerte mich,
dass sich das genau so anfühlte, wie sich mein Kopf als Fetus angefühlt hatte,
als die Kontraktionen meiner Mutter gegen meinen Kopf schlugen. Ich hatte das
Gefühl, dass ich nicht herauskonnte; ich wurde gegen eine Wand gedrückt. Der
Kanal meiner Mutter öffnete sich nicht, und dennoch wurde ich dagegen gestoßen.
Mein Kopf wurde zusammen mit meinem Oberkörper eingequetscht. Mit dieser
Erinnerung ging ein Gefühl äußersten Entsetzens einher. Sie war drauf und
dran, mich umzubringen. Ich hatte das eindeutige Gefühl, dass ich am Sterben
war, und es war entsetzlich. An diesem Punkt des Gefühlserlebnisses fühlte ich
mich schrecklich allein. Die ganze Welt war gegen mich, und mein Überleben
stand auf dem Spiel.
Mit
der Verknüpfung, dass ich bei der Geburt beinahe getötet worden wäre, stand
ich in diesem Zusammenhang verängstigt und alleine da, so dass ich jemanden
anrief, den ich vor kurzem getroffen hatte und der Erfahrung mit Primärtherapie
hatte. Ich war noch immer benebelt von diesen Gefühlen. Der Kopfschmerz
verschwand allmählich, und ich musste jemandem erzählen, was ich gerade erlebt
hatte. Eine Stunde lang spuckte ich einfach aus, was geschehen war. Im
Nachhinein verstehe ich jetzt, dass ich genau das tat, was ich tun musste, um
die Einsichten an diesem Punkt rechtzeitig zu zementieren.
Die
Gleichung lautete, wie mir klar wurde, dass allein den Tod bedeutete. Ich hatte
nicht nur meine neonatale Isolation vor vielen Jahren wiedererlebt, sondern es
gab eine tiefere Komponente dieses lebensbedrohlichen Gefühlserlebnisses, und
das war bei der Geburt. Das war für mich ein Kardinalprimal. Kurz danach habe
ich angefangen, Freundschaften zu schließen. Ich hatte allmählich Interesse,
mich mit anderen zu treffen. Ich fing an, Freiwilligenarbeit zu machen. Ich
konnte für mich wieder Kameradschaft und Zuneigung zulassen. Ich konnte mit
Leuten reden und die schreckliche Isolation beenden, in der ich die meiste Zeit
meines Lebens steckte.
Zu
dem Baby-Isolationstrauma kam der Schmerz hinzu, dass mich mein Vater in der späteren
Kindheit schlug und mich nicht mit anderen Kindern spielen ließ. Ich war buchstäblich
in meinem eigenen Haus in Einzelhaft. Er saß in seinem Auto und folgte mir auf
der Kriechspur fahrend auf dem Nachhauseweg von der Schule. Wenn ich mit
jemandem redete, musste ich gewöhnlich einsteigen. Er untersagte meiner Mutter
oder meinem Bruder, zuhause mit mir zu reden: Ich musste mit 9 Jahren für die
Medizinschule lernen.
Seitdem
ich vor Jahren dieses Geburtsprimal hatte, habe ich diesen schrecklichen Drang
mich umzubringen nicht mehr gespürt. Tatsächlich habe ich jetzt den Drang, mir
Gutes zu tun. Ich habe mich suizidalen Gefühlen immer mit Vorsicht genähert.
Vor zwanzig Jahren hatte ich den Impuls, mich im Stadtzentrum zu prostituieren,
Nadeln in meine Arme zu stechen oder vor Autos zu laufen. Aber als ich diese
Impulse hatte, konnte ich mir immer ein Restbewusstsein bewahren, dass es ein
Impuls war, und ich konnte ihn dann aufhalten. Gegenwärtig erlebe ich ab und an
immer noch kurze Impulse (z.B. mich mit dem Auto von einer Klippe zu stürzen),
wenn tiefer Schmerz aufsteigt, aber ich kann kognitiv erkennen, dass ich nur den
Schmerz in seiner Ganzheit fühlen muss. Jetzt in der Gegenwart suche ich nicht
nur nach einer Therapie, wenn ich sie brauche, sondern ich bin auch wirklich
nett zu mir selbst, wenn wirklich übler Schmerz hochkommt. Ich nehme den ganzen
Stress aus meinem Leben, so gut ich kann. Ich gönne mir einen Film im Kino,
besuche Freunde, nehme ein Bad bei Kerzenlicht. Ich gehe nicht mehr so tief in
Überlastungszustände wie vorher. Ich erkenne viel früher, dass ich in einem
Feeling stecke, und ich lasse nicht zu, dass es sich aufbaut.
Um
die gleiche Zeit, als ich dieses Geburtsprimal hatte, vollzog sich
psychosomatisch eine Parallelentwicklung. Ich hatte an meinen Fingern so
schlimme Ekzeme entwickelt, dass meine Fingerspitzen ein Jahr lang ständig
aufrissen und bluteten. Irgendwas anzulangen war eine Qual. Ich probierte jede
Creme unter der Sonne aus, einschließlich Kortisoncreme, die meine Haut nur
papierdünn machte. Es wurde so schlimm, dass ich dünne Plastikhandschuhe
anziehen musste, um einzukaufen, um irgendwas anzufassen, sogar um ins Freie zu
gehen.
Inmitten
dieser extremen Isolation begann ich zu spüren, wie schlecht es sich anfühlte,
so lange so allein zu sein. Ich hatte wieder spontane Gefühle über meine erste
Lebenswoche: Vier Jahre, nachdem ich mit der Therapie aufgehört hatte, griff
ich genau dort wieder meine Gefühle auf, wo ich mit ihnen aufgehört hatte.
Eines
Nachts übermannte mich der Schmerz. Ich spürte die Agonie des kleinen Babys,
das allein war und seine Mama brauchte. Ich lag auf dem Rücken, brauchte sie
und weinte, als ich den Impuls verspürte, meine Hände auszustrecken und so
nach ihr zu flehen. Blitzartig war mir klar, dass ich das als Baby nie gemacht
hatte. Ich habe nie meine Arme gerade nach oben gestreckt, habe sie nie
angefleht, mich zu halten und zu berühren. Ich war schon als Baby zu
hoffnungslos. Also habe ich es jetzt getan.
Mitten
in dem Feeling hielt ich meine Arme hoch und flehte sie an. Es begann als
„Mama“ und endete einfach als qualvoller Schrei, der sich aus meinem
tiefsten Inneren wand. Nach einiger Zeit tiefen Weinens, entspannten sich plötzlich
meine Unterarmmuskeln. Tief in meinen Unterarmen ließ die lebenslange Einschnürung
(Abwehr gegen das Bedürfnis) nach. Ich spürte buchstäblich den Augenblick, in
dem sich meine Blutgefäße öffneten. Blut strömte in meine Hände und Finger
und füllte sie mit prickelnder Wärme. Ich wusste augenblicklich, dass meine
kalten Hände und Ekzeme mein altes Bedürfnis nach Berührung waren. Womit berührst
du deine Mutter? Mit deinen Fingerspitzen! Mit dem Primal kam eine Flut von
Erinnerungen, dass ich nie in den Arm genommen wurde. Sie hat mich nie genug
gehalten.
Innerhalb
weniger Tage heilten meine Finger vollständig ab. Bis heute, 12 Jahre später,
habe ich nur gelegentliche Ekzeme gehabt, wenn das Kindheitsbedürfnis nach Körperkontakt
hochkam, aber nichts, das mit den schweren Rissen vergleichbar ist. Meine Hände
blieben warm. Übrigens blieben auch meine chronisch kalten Füße warm.
Die
Verknüpfungen waren mir klar. Das Gefühl war immer dasselbe: ICH MUSSTE ES
ALLEIN MACHEN, ob es darum ging, geboren zu werden oder ohne die Fürsorge und
Berührung zu leben, die ich als kleines Baby brauchte. Die frühen Traumen
hatten eines gemeinsam: Sie waren lebensbedrohlich. ICH HATTE DAS GEFÜHL,
GLEICH ZU STERBEN - bei der Geburt und als ich sofort nach der Geburt von meiner
Mutter getrennt wurde. Und wann immer ich allein war, war mir nach Sterben
zumute, das heißt, dass ich sterben wollte. Ich glaube, der Stress jenes
Traumas hielt sich in meinen kalten Händen, Füßen und Fingerspitzen; Ekzeme
waren die Sprache, mit der mein Körper über das Trauma redete, das ich als
Neugeborener erlebt hatte.
Etwas
anderes ist mir klar geworden. Ich agierte durch meine Isolation genau den alten
Schmerz aus. Indem ich nicht um Hilfe bat, allein blieb, mir keine Freunde
suchte und keine Verabredungen traf oder keine Küsse und keinen Sex wollte,
erschuf ich den alten Schmerz wieder, mit nahezu nichts überleben zu müssen.
Hoffnungslosigkeit setzte sich bei mir bei der Geburt fest. Dass ich diese
Hoffnungslosigkeit nicht fühlte, führte dazu, dass ich in der Gegenwart
ausagierte, niemals das zu bekommen, was ich brauche. Solange ich diese Gefühl
mit mir herumgetragen habe, habe ich nie bekommen, was ich wollte.
Ich
neige noch immer gelegentlich dazu, die Hoffnungslosigkeit auszuagieren – das
Gefühl, dass ich allein bin. Ich werde nie Hilfe bekommen, und ich muss alles
selbst machen (wie bei der Geburt). Es fällt mir noch immer schwer, jemanden zu
bitten und mich verwundbar zu machen. Jetzt tut es zu sehr weh, es auszuagieren.
Ich bitte lieber um Hilfe, versuche vorwärts zu gehen und zu fühlen, was
hochkommt,
als
mein Scheitern neu zu inszenieren und im alten Schmerz festzusitzen. Ich möchte
jetzt ein paar gute Dinge im Leben haben: Liebe, eine Karriere, Zeit zu
entspannen und das Leben zu genießen. Das Traurige und Heimtückische an frühem Schmerz ist, dass es das alte Bedürfnis auslöst, wenn man in der Gegenwart etwas bekommt. Ich habe in meinem Leben eine Frau, die sich etwas aus mir macht, und ich habe sie verstoßen, weil Liebe zu akzeptieren bedeutet, dass man fühlen muss, nie eine Mutter gehabt zu haben. Somit funktioniert die Erholungsphase als eine Methode, mich von dem frühen Schmerz fernzuhalten, indem ich es hier in der Gegenwart schaffe. Ich muss noch immer auf meine Einzelgänger-Neigung aufpassen, mich zurückzuziehen, wenn ich verletzt bin oder etwas brauche. Aber ich weiß, ich muss mich nicht umbringen, wenn ich allein bin.
Ende des Kapitels
Buchübersetzung: Bücher von A. Janov
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