Janov Solution

Home    Artikel und Buchauzüge      Übersetzungen aus A. Janovs Webseite     Neue Beiträge       Primärtheorie und Primärtherapie         Buchübersetzung: Bücher von A. Janov  

 

20 Kernthesen der Primärtheorie und Primärtherapie        ArthurJanov.com         Facebook          Studien und Statistiken            Primalpage                             Primaltherapy.com

 

Primal Mind                 Epilepticjourney

DIE JANOV-LÖSUNG

THE JANOV SOLUTION  -  Lifting Depression Through Primal Therapy erschien 2007 bei SterlingHouse Books, Pittsburgh, PA 15218

© Copyright 2007 Dr. Arthur Janov

 

 

Kapitel 8

Wie Depression die Macht ergreift

 

Damit wir Glücklichkeit und Depression voll verstehen können, möchte ich mit einem einfachen Lehrsatz beginnen: Erfahrung ist sowohl körperlich als auch psychisch. Was mit uns im Leben geschieht, beeinflusst uns total und nicht nur psychisch. Es ist keine Enthüllung, wenn man sagt, dass die Psyche Bestandteil des Körpersystems und mit diesem verbunden ist, aber die Unfähigkeit, das zu verstehen, hat zu einem Missverständnis darüber geführt, worum es bei Glücklichkeit und Depression geht.

Ich habe anderswo (Der Urschrei) darauf hingewiesen, dass frühe Ereignisse in unseren Systemen registriert werden, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Bei Neurose, wo zwischen Körper und Psyche eine Kluft besteht, kann die Bewusstseins-Erfahrung ziemlich verschieden von der System-Erfahrung sein. Wenn wir neurotisch sind, können wir uns selbst „belügen.“ Wir können glauben, dass wir glücklich seien, während im Inneren lautlos der Schmerz tobt. Erst wenn ein starkes Gegenwartsereignis alte Gefühle auslöst, werden wir uns des Leidens bewusst. Wir sind uns nicht des exakten Gefühls bewusst, sondern wissen lediglich, dass wir uns hundsmiserabel fühlen.

Vielleicht können wir das klarer verstehen, indem wir hypnotische Zustände untersuchen. Ein Hypnotiseur auf der Bühne kann sich einen mürrischen, erstarrten Neurotiker aus dem Publikum suchen und in ein paar Sekunden oder Minuten eine sprudelnde „glückliche“ Person „produzieren.“ Ist dieser Mensch wirklich glücklich? Würde man ihn fragen, würde er sagen: „Ja, ich bin glücklich.“ Er scheint genau so glücklich,  wie jeder Neurotiker glücklich scheinen könnte. Er ist fröhlich, lächelt und ist anscheinend sorglos. Die objektiven Kriterien sind vorhanden, aber wir wissen, dass es ein falscher Zustand ist. Mit Hilfe der Hypnose konnte die Person sich selbst belügen. Aus seinem hypnotischen Zustand befreit könnte er durchaus sofort zu seiner natürlichen Depression zurückkehren. Das unterscheidet sich nicht von Neurose, bei der Eltern pseudo-glückliche Kinder „produzieren,“ denen nicht erlaubt wird, missmutig oder traurig zu sein. Gewöhnlich dürfen sie nicht einmal mürrisch sein, weil das die Eltern an ihr Versagen erinnert. Man könnte dieses Kinder fragen, ob sie glücklich sind, und würde dieselbe positive Antwort bekommen, die hynotisierte Subjekte geben würden; deshalb ist Hypnose einfach eine vorübergehende Neurose. Obgleich sowohl das neurotische Kind als auch das hypnotisierte Subjekt bewusst von „Glücklichkeit“ berichten würden, würden ihre Körper dennoch große Spannung zeigen. Somit wäre ihre „Glücklichkeit“ zerebral und nicht organismisch. „Glücklichkeit“ im neurotischen Sinn wäre dann eine wirkungsvolle Flucht aus dem Körper. Die Flucht anzuhalten – den Neurotiker aus seiner „Hypnose“ zu befreien - bedeutet, Primärerlebnisse und Primärelend zu produzieren – ein organismischer Zustand.

Warum ist der Neurotiker unglücklich? Weil er durch traumatische Erfahrungen in der Schwangerschaft, bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren seiner selbst beraubt worden ist. Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, wenn einem nicht erlaubt wird, sich zwanglos und ehrlich zu äußern, dann kommt es zu Traurigkeit. Primärpatienten weinen darüber, dass sie nicht in den Arm genommen wurden, dass man ihnen nicht zuhörte, dass ihnen in ihren Schlafzimmern keine Privatsphäre erlaubt war, denn als Kinder ertranken sie in Vernachlässigung und waren sich der subtilen Tragödie nicht bewusst, die sich gerade abspielte. Aber Stück für Stück wuchs die Tragödie, nur dass es nichts Besonderes gab, auf das man hindeuten konnte, nichts, über das man weinen konnte, nichts, das das Kind wissen ließ, dass es am Ertrinken war. Der Körper des Individuums häufte Traurigkeit an, die sich später in Depression übersetzte. Später dann fällt diesem Menschen eine Menge ein, um sich vor dem erdrückenden Gewicht seiner Entbehrungen zu schützen. Er wird trinken, hart arbeiten oder Drogen nehmen. Sobald man ihm jedoch ein Ventil wegnimmt, wird er anfällig für Depression. Jeder Neurotiker ist traurig, ob er es weiß oder nicht. Oft weiß er es nicht, weil der Zweck der Neurose darin besteht, die Tragödie am Lebensanfang zu verbergen. Neurose macht uns andauernd ahistorisch.

Die Funktion der Neurose ist, Primärgefühle in der Schwebe zu halten, bis sie sicher integriert und aufgelöst werden können. Unterdessen ist das gesamte System an diesen Gefühlen beteiligt und wird zu einem Teil von ihnen, entweder um sie zu fühlen oder um ihnen zu entkommen. Eine gute Flucht nennt man „Glücklichkeit,“ eine wirkungslose heißt „Depression.“

Der Depressive steckt in der Zeit fest. Er steckt in seiner Vergangenheit fest, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, so dass alles, was er tut, ein symbolisches Portrait dieser Vergangenheit ist. All die Jahre, die zwischen seiner ursprünglichen Spaltung und dem Erwachsenenalter liegen, haben nur hinsichtlich der Primärgefühle Bedeutung. Diese Gefühle werden nie ausgelöscht (es sei denn durch Primärtherapie), und was man am besten machen kann, ist, sie abzuwehren. Das bedeutet, dass wir alle für Traurigkeit offen sind, wenn unsere Abwehr nachlässt. Wenn man plötzlich arbeitslos wird oder im Stich gelassen wird oder von den Freunden ‚geschnitten’ wird, dann bereitet das alles den Boden für die Depression. Was der Depressive fühlt, wenn seine Abwehr zeitweise außer Funktion ist, ist die Depression, nicht aber das Gefühl, deprimiert zu sein. Er spürt den Druck gegen jene Gefühle, den Druck, der diese Gefühle tief in sein System zurückdrängt. Dieser Druck erzeugt mühseliges Sprechen, schwerfällige Bewegung und totale Erschöpfung, so dass der Depressive wenig Energie hat und in Zeitlupe herumläuft.

Gib einem Depressiven ein neues Ventil, einen neuen Job, eine Party oder die Chance, einkaufen zu gehen, und der gesamte nach innen gerichtete Druck ergießt sich in manische Aktivität. Er „schmeißt sich“ buchstäblich in seine Arbeit. Er ist in den Augenblicken „glücklich,“ wenn seine Arbeit ihn glücklich macht. Was wirklich geschehen ist, ist, dass er ein Ventil gefunden hat, das ihm hilft, seine Primärtraurigkeit zu verbergen. Hier sehen wir die Basis für die bipolare Störung oder manische Depression. Das ist keine andere Krankheit, sondern eine andere Art von Schablone: parasympathische Tiefen (bei der Geburt), denen manische Energie folgt. Die Prägung ist dasselbe zyklische Ereignis wie das bei der Geburt. Wenn die Depression versagt, setzt manische Aktivität ein. Es ist dieselbe Energiequelle aber eine andere Art, damit umzugehen. Somit können wir sehen, dass einige von uns sich früh im Leben verschließen und aufgrund fehlender Ventile „tot“ und depressiv werden. Andere verschließen sich und benehmen sich lebhaft. Wenn jemand seine Eltern dadurch erfreut, dass er oder sie den „glücklichen Clown“ spielt, dann wird das zur Daueraktion. Wenn es keine Möglichkeit gäbe, sie zu erfreuen, wenn man jedes Mal abgelehnt, unterdrückt und zurückgewiesen würde, dann würden sich Leblosigkeit und Depression verstärken. Gib dem „glücklichen Clown“ keine Gelegenheit für seine Vorführung und die lauernde Traurigkeit kommt allmählich hoch. Das war nie zutreffender als bei den Berufskomödianten, die ich behandelt habe. Ich behandle gerade einen Depressiven, dessen Mutter chronisch krank war; er wurde zum Spaßvogel, weil er sie damit aufmuntern wollte. Obwohl es nie lange wirkte, wurde es zu einem Gewohnheitsmuster.

Manchmal funktionieren Ventile nicht, und der Depressive hält sich an Drogen, die ihm helfen, seine Gefühle zu verdrängen. Die Wahl fällt in der Regel auf Aufputscher einschließlich Kokain. Wenn die Schwangere „Downers“ zur Beruhigung nahm, ist es nahezu eine mathematische Gewissheit, dass der Nachwuchs süchtig nach Aufputschern ist, angefangen mit Coca Cola bis hin zu den Amphetaminen. Eine normale Person ist nie deprimiert; sie hat keine Rücklage an Gefühlen, die unaufgelöst im Inneren liegen. Sie ist Gefühlen gegenüber offen und verdrängt Unerfreuliches nicht. Sie wird traurig sein, wenn es angemessen ist. Aber Traurigkeit ist ein „Jetzt“-Ereignis, ein wirkliches Gefühl, das sich auf wirkliche Situationen bezieht. Depression ist ein „Damals“-Gefühl, das sich nicht auf das „Jetzt“ bezieht. Wenn das kleine Kind jede ursprüngliche Einprägung fühlen könnte, würde es in seinem Leben nicht depressiv werden.

Heutzutage ist Depression vielleicht noch verbreiteter als Angst. So viele Leute sind depressiv (die Gesundheitsbehörden sagen, dass zu jedem gegebenen Zeitpunkt etwa 19 Millionen Amerikaner Depressionen haben), dass man sie als „die Erkältungswelle der Psyche“ bezeichnet hat, eine Bezeichnung, die das damit verbundene Leiden trivialisiert. Die große Mehrheit an Selbstmorden geschieht bei Leuten, die chronisch depressiv sind.

Freud erklärte Depression damit, dass sie nach innen gerichtete Wut oder Feindseligkeit sei, eine unbewiesene Theorie, die noch immer viele Anhänger hat. Andere Theorien behaupten, dass sei „ungelöste Schuld“ sei oder ein oder mehrere Verluste, die man nicht richtig verarbeitet hat. Immer mehr Experten auf dem Gebiet sagen jetzt, Depression habe eine genetische Komponente, insbesonders wenn es sich um die manisch-depressive Variante handelt. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Auch wenn es eine vererbliche Anfälligkeit gibt, ist das keine Garantie für spätere Depression.

___________

 

Joliet

Mir war immer so, als würde sich mein Leben davonstehlen, also habe ich oft versucht, es wegzuwerfen. Mit 14 machte ich mir Sorgen, dass ich eine alte 15-jährige Jungfrau sein werde, und so heiratete ich mit 19. Dann war ich besorgt, dass ich eine uralte 22-jährige sein könnte, bevor wir uns ein Baby leisten könnten. Mein erstes hatte ich mit 21. Wir konnten uns das Baby nicht leisten. Wir konnten uns den kleinen Sarg nicht leisten, in dem es beerdigt wurde. Ich machte mir Gedanken, wie es sein würde, 30 oder 40 zu werden. Dank der Primärtherapie mache ich mir keine Sorgen darüber, 50 zu werden. Ich weine über die Jahre, die mir gestohlen wurden, aber ich habe keine Panik.

Ich habe zweimal Selbstmord versucht. Auf passive Weise bin ich noch immer ziemlich suizidal, indem ich ein heißes Sonnenbad am Strand nehmen kann, mich sanft streicheln lasse von der salzigen Gischt, die der Wind gelegentlich heranweht, und dabei denke, was für ein wundervoller Tag zu sterben das wäre. Wie schön, an einem Tag zu sterben, an dem ich mich gut fühle!

Ich habe einen großen Kopf. Meine Mutter war kaum fünf Fuß groß, und sie gebar ein 11 Pfund schweres Baby – nach Wehen, die so lange dauerten, dass wir beide eigentlich hätten sterben müssen; ich weiß, dass ich beinahe gestorben wäre. Ich wollte aufgeben, aber ich konnte es nicht. Ich wäre beinahe in der Flüssigkeit ertrunken, die mich gepolstert hat. Ich erstickte, während mein Kopf gegen das Becken meiner Mutter schlug. Von daher rührt ein Schmerz in meinem Nacken, Kopf und Schultern, ein Schmerz, der meine Arme manchmal bis in die Fingerspitzen kribbeln lässt. Sogar mein Rücken tut weh. Die Autopsie, die an meiner Mutter nach ihrem Tod durch Abtreibung durchgeführt wurde, zeigte ein gesprungenes Becken, das sich nach meiner Geburt nie wieder völlig geschlossen hatte. Ihre Familie erinnert sich, dass sie „komisch“ ging, nachdem ich geboren war. Ich weiß nicht, wie lange es nach meiner Geburt gedauert hat, bis sie überhaupt wieder ging.

Schließlich wurde ich durch meine eigenen Antrengungen geboren. Niemand und nichts war für mich da. Alles, was ich hatte, war meine arme bewusstlose Mutter. Ich lebte, und ich hatte nichts. Ich fühle mich oft hoffnungslos. Wenn der Tunnel mit dem Tageslicht an seinem Ende nur eine Metapher ist, warum weine ich dann, wenn ich diese Zeilen schreibe?

________

 

Randall

Vor vielen Jahren hat mich eine Freundin schmerzlich fallen lassen, und meine Reaktion darauf war gewaltig. Es hat mir so weh getan. Nachdem ich eine Woche geweint hatte, erkannte ich, dass mein Schmerz damit zu tun hatte, dass ich von meiner Mama getrennt wurde, als ich ein Baby war. Ich wäre beinahe freiwillig in die Psychiatrie gegangen. Ich hielt mich aus der Klinik raus, indem ich in der Lage war, alleine Primal-Wiedererlebnisse zu haben – jeden Tag sechs Stunden lang. Ich verlor 15 Pfund. Ich weinte und hatte Primals, wenn ich mich schlafen legte, in meinen Träumen und nach dem Aufwachen. Die Gefühle waren in jedem Augenblick bei mir, ob ich wach war oder schlief. Ich war überlastet, aber mir fehlte die Erkenntnis oder die Bewusstheit, dass ich Gefühle wiedererlebte; ich war einfach IN den Gefühlen.

Eines Morgens wachte ich um 3 Uhr morgens auf, und mir war, als würden meine Eingeweide gleich explodieren, wie bei einer Blinddarmentzündung, aber im gesamten Unterbauch. Ich preschte mit 50 Meilen durch Nebenstraßen, dachte, ich würde gleich sterben. Erst als ich in der Notaufnahme ankam, war mir klar, dass ich nicht sterben würde. Es war das $10-Benutzergebühr-Zeichen, das mich in die Gegenwart zurückschnappen ließ. Mehrere Stunden saß ich dort schmerzgekrümmt, bevor ich nach Hause fuhr.

Eine oder zwei Wochen später hatte ich zwei Tage lang eine Reihe von Wiedererlebnissen  über meine Geburt. Ich erinnerte mich an das Entsetzen, als ich grob hochgezogen, an den Fußknöcheln gehalten und auf den Hintern geschlagen wurde; und dann, nachdem ich das alles ausgehalten hatte (einschließlich bewusstlos geboren worden zu sein), haben sie mich nicht einmal zu meiner Mutter gelegt. Ich war als Baby in Schrecken aufgelöst, und ich war entsetzlich ALLEIN. Ich kehrte einige Male zu dieser Szene zurück und erlebte das gewaltige Entsetzen wieder, als ich von meiner Mutter getrennt wurde. Das entschärfte die Angst-Überlastung, in der ich steckte. Auf einer gewissen Ebene wusste, das ich über den Berg war. Die Primals dauerten einige weitere Wochen an, waren aber weniger intensiv und hatten damit zu tun, dass ich von meiner Mutter allein gelassen wurde, in der frühen Kindheit nicht in den Arm genommen wurde, usw. Leider habe ich diese Primal-Sequenz nicht mit Hilfe eines Therapeuten vervollständigt. Ich konnte nicht um therapeutische Hilfe bitten, was Teil des Ausagierens desselben Gefühls war: ICH BIN ALLEIN. Ich hörte allmählich mit dem Fühlen auf und fing an, übermäßig zu essen. Ich nahm die verlorenen 15 Pfund wieder zu und legte weitere 10 Pfund zu.

Etwa sechs Monate später kehrte ich nach Kanada zurück. Langsam und unbewusst verschloss ich mich immer mehr. Ich glaube, meine Hauptabwehr war Isolation. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich auf dieser Welt nicht funktionieren konnte. Jahrelang kam ich finanziell nur mit Müh und Not über die Runden. Rückblickend kann ich sehen, dass meine Gefühle sagten, dass ich nicht überleben könne, was dann in folgendem Gefühl resultierte: „Ich kann den Konkurrenzkampf nicht überleben.“ In den folgenden vier Jahren glitt ich langsam in eine tiefe Depression: Ich hatte keine Freunde, traf mich mit niemanden, war suizidal und wollte nichts versuchen. Je weiter ich mich von meinen Gefühlen entfernte, umso depressiver wurde ich.

Mein Arzt weigerte sich, mir Valium zu geben, also war ich ein Monat lang ständig betrunken. Ich versuchte, am Leben zu bleiben. Die Selbstmordneigung wurde allmählich überwältigend. Eines Nachts lag ich im Bett und klammerte mich an dieses Bett, weil ich diesen gewaltigen Impuls hatte, aufzustehen, in die Küche zu gehen und mir das Küchenmesser über meine Handgelenke zu ziehen. Ich klammerte mich buchstäblich ans Bett, weil mir mein Leben lieb war. Ich habe nicht bei der Telefonseelsorge angerufen oder mit sonst jemandem über meine Suizidalität geredet. Ich habe noch immer ausagiert, dass ich allein war. Obwohl ich Primal-Wiedererlebnisse übers Alleinsein nach der Geburt hatte, war da noch mehr.

Ungefähr zu dieser Zeit fing ich an, unter Migräne-Kopfschmerz zu leiden. Etwa einmal im Jahr bekam ich eine Migräne, die mich völlig außer Gefecht setzte. Dieses Muster hatte in der Kindheit begonnen, im Jugendalter aufgehört und sich dann bis ins frühe Erwachsenenalter fortgesetzt. Ungewöhnlich war, dass ich in den vergangenen sechs Monaten einige Attacken hintereinander hatte. Eines Nachts kam die Migräne nach ein paar Tagen Atempause zurück. Sie begann etwa um 5 Uhr nachmittags und dauerte bis ungefähr bis 2 Uhr früh. Ich dachte wirklich, dass mein Kopf gleich explodieren würde. Ich ging umher, versuchte heiße Kompressen, kalte Kompressen, übte mit meinen Händen und einem Kissen Druck auf meinen Kof aus und rollte mich zusammen – und langsam hatte mich die Agonie total im Griff. Ich dachte wirklich, dass ich gleich an diesen Kopfschmerzen sterben werde, und ich suchte nicht nach Hilfe. Im Nachhinein gesehen war das eine gute Sache, weil es mir die Möglichkeit gab, meinen Weg durch ein Geburtsprimal spontan zu fühlen. Der Schmerz war so schlimm, dass ich mich einfach unter meiner Bettdecke zusammenrollte und stundenlang unter Qualen stöhnte. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf jeden Augenblick explodieren und ich sterben würde. Stundenlang balancierte ich auf dem Grat dieses Gefühls: Die Migräne wurde intensiver, und der Schmerz vergrößerte sich ums Hundertfache. Mir war, als müsste ich gleich sterben (in der Gegenwart), und dann ließ die Migräne gerade ein bisschen nach. Dieser Zyklus mit der Migräne wiederholte sich ich weiß nicht wie oft.

An einem bestimmten Punkt so gegen Mitternacht schaffte ich unwissentlich den Übergang von der Gegenwart in die Vergangenheit, und während des tiefen Stöhnens unter den Qualen öffnete sich etwas in meinem Gedächtnis, und ich erinnerte mich, dass sich das genau so anfühlte, wie sich mein Kopf als Fetus angefühlt hatte, als die Kontraktionen meiner Mutter gegen meinen Kopf schlugen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht herauskonnte; ich wurde gegen eine Wand gedrückt. Der Kanal meiner Mutter öffnete sich nicht, und dennoch wurde ich dagegen gestoßen. Mein Kopf wurde zusammen mit meinem Oberkörper eingequetscht. Mit dieser Erinnerung ging ein Gefühl äußersten Entsetzens einher. Sie war drauf und dran, mich umzubringen. Ich hatte das eindeutige Gefühl, dass ich am Sterben war, und es war entsetzlich. An diesem Punkt des Gefühlserlebnisses fühlte ich mich schrecklich allein. Die ganze Welt war gegen mich, und mein Überleben stand auf dem Spiel.

Mit der Verknüpfung, dass ich bei der Geburt beinahe getötet worden wäre, stand ich in diesem Zusammenhang verängstigt und alleine da, so dass ich jemanden anrief, den ich vor kurzem getroffen hatte und der Erfahrung mit Primärtherapie hatte. Ich war noch immer benebelt von diesen Gefühlen. Der Kopfschmerz verschwand allmählich, und ich musste jemandem erzählen, was ich gerade erlebt hatte. Eine Stunde lang spuckte ich einfach aus, was geschehen war. Im Nachhinein verstehe ich jetzt, dass ich genau das tat, was ich tun musste, um die Einsichten an diesem Punkt rechtzeitig zu zementieren.

Die Gleichung lautete, wie mir klar wurde, dass allein den Tod bedeutete. Ich hatte nicht nur meine neonatale Isolation vor vielen Jahren wiedererlebt, sondern es gab eine tiefere Komponente dieses lebensbedrohlichen Gefühlserlebnisses, und das war bei der Geburt. Das war für mich ein Kardinalprimal. Kurz danach habe ich angefangen, Freundschaften zu schließen. Ich hatte allmählich Interesse, mich mit anderen zu treffen. Ich fing an, Freiwilligenarbeit zu machen. Ich konnte für mich wieder Kameradschaft und Zuneigung zulassen. Ich konnte mit Leuten reden und die schreckliche Isolation beenden, in der ich die meiste Zeit meines Lebens steckte.

Zu dem Baby-Isolationstrauma kam der Schmerz hinzu, dass mich mein Vater in der späteren Kindheit schlug und mich nicht mit anderen Kindern spielen ließ. Ich war buchstäblich in meinem eigenen Haus in Einzelhaft. Er saß in seinem Auto und folgte mir auf der Kriechspur fahrend auf dem Nachhauseweg von der Schule. Wenn ich mit jemandem redete, musste ich gewöhnlich einsteigen. Er untersagte meiner Mutter oder meinem Bruder, zuhause mit mir zu reden: Ich musste mit 9 Jahren für die Medizinschule lernen.

Seitdem ich vor Jahren dieses Geburtsprimal hatte, habe ich diesen schrecklichen Drang mich umzubringen nicht mehr gespürt. Tatsächlich habe ich jetzt den Drang, mir Gutes zu tun. Ich habe mich suizidalen Gefühlen immer mit Vorsicht genähert. Vor zwanzig Jahren hatte ich den Impuls, mich im Stadtzentrum zu prostituieren, Nadeln in meine Arme zu stechen oder vor Autos zu laufen. Aber als ich diese Impulse hatte, konnte ich mir immer ein Restbewusstsein bewahren, dass es ein Impuls war, und ich konnte ihn dann aufhalten. Gegenwärtig erlebe ich ab und an immer noch kurze Impulse (z.B. mich mit dem Auto von einer Klippe zu stürzen), wenn tiefer Schmerz aufsteigt, aber ich kann kognitiv erkennen, dass ich nur den Schmerz in seiner Ganzheit fühlen muss. Jetzt in der Gegenwart suche ich nicht nur nach einer Therapie, wenn ich sie brauche, sondern ich bin auch wirklich nett zu mir selbst, wenn wirklich übler Schmerz hochkommt. Ich nehme den ganzen Stress aus meinem Leben, so gut ich kann. Ich gönne mir einen Film im Kino, besuche Freunde, nehme ein Bad bei Kerzenlicht. Ich gehe nicht mehr so tief in Überlastungszustände wie vorher. Ich erkenne viel früher, dass ich in einem Feeling stecke, und ich lasse nicht zu, dass es sich aufbaut.

Um die gleiche Zeit, als ich dieses Geburtsprimal hatte, vollzog sich psychosomatisch eine Parallelentwicklung. Ich hatte an meinen Fingern so schlimme Ekzeme entwickelt, dass meine Fingerspitzen ein Jahr lang ständig aufrissen und bluteten. Irgendwas anzulangen war eine Qual. Ich probierte jede Creme unter der Sonne aus, einschließlich Kortisoncreme, die meine Haut nur papierdünn machte. Es wurde so schlimm, dass ich dünne Plastikhandschuhe anziehen musste, um einzukaufen, um irgendwas anzufassen, sogar um ins Freie zu gehen.

Inmitten dieser extremen Isolation begann ich zu spüren, wie schlecht es sich anfühlte, so lange so allein zu sein. Ich hatte wieder spontane Gefühle über meine erste Lebenswoche: Vier Jahre, nachdem ich mit der Therapie aufgehört hatte, griff ich genau dort wieder meine Gefühle auf, wo ich mit ihnen aufgehört hatte.

Eines Nachts übermannte mich der Schmerz. Ich spürte die Agonie des kleinen Babys, das allein war und seine Mama brauchte. Ich lag auf dem Rücken, brauchte sie und weinte, als ich den Impuls verspürte, meine Hände auszustrecken und so nach ihr zu flehen. Blitzartig war mir klar, dass ich das als Baby nie gemacht hatte. Ich habe nie meine Arme gerade nach oben gestreckt, habe sie nie angefleht, mich zu halten und zu berühren. Ich war schon als Baby zu hoffnungslos. Also habe ich es jetzt getan.

Mitten in dem Feeling hielt ich meine Arme hoch und flehte sie an. Es begann als „Mama“ und endete einfach als qualvoller Schrei, der sich aus meinem tiefsten Inneren wand. Nach einiger Zeit tiefen Weinens, entspannten sich plötzlich meine Unterarmmuskeln. Tief in meinen Unterarmen ließ die lebenslange Einschnürung (Abwehr gegen das Bedürfnis) nach. Ich spürte buchstäblich den Augenblick, in dem sich meine Blutgefäße öffneten. Blut strömte in meine Hände und Finger und füllte sie mit prickelnder Wärme. Ich wusste augenblicklich, dass meine kalten Hände und Ekzeme mein altes Bedürfnis nach Berührung waren. Womit berührst du deine Mutter? Mit deinen Fingerspitzen! Mit dem Primal kam eine Flut von Erinnerungen, dass ich nie in den Arm genommen wurde. Sie hat mich nie genug gehalten.

Innerhalb weniger Tage heilten meine Finger vollständig ab. Bis heute, 12 Jahre später, habe ich nur gelegentliche Ekzeme gehabt, wenn das Kindheitsbedürfnis nach Körperkontakt hochkam, aber nichts, das mit den schweren Rissen vergleichbar ist. Meine Hände blieben warm. Übrigens blieben auch meine chronisch kalten Füße warm.

Die Verknüpfungen waren mir klar. Das Gefühl war immer dasselbe: ICH MUSSTE ES ALLEIN MACHEN, ob es darum ging, geboren zu werden oder ohne die Fürsorge und Berührung zu leben, die ich als kleines Baby brauchte. Die frühen Traumen hatten eines gemeinsam: Sie waren lebensbedrohlich. ICH HATTE DAS GEFÜHL, GLEICH ZU STERBEN - bei der Geburt und als ich sofort nach der Geburt von meiner Mutter getrennt wurde. Und wann immer ich allein war, war mir nach Sterben zumute, das heißt, dass ich sterben wollte. Ich glaube, der Stress jenes Traumas hielt sich in meinen kalten Händen, Füßen und Fingerspitzen; Ekzeme waren die Sprache, mit der mein Körper über das Trauma redete, das ich als Neugeborener erlebt hatte.

Etwas anderes ist mir klar geworden. Ich agierte durch meine Isolation genau den alten Schmerz aus. Indem ich nicht um Hilfe bat, allein blieb, mir keine Freunde suchte und keine Verabredungen traf oder keine Küsse und keinen Sex wollte, erschuf ich den alten Schmerz wieder, mit nahezu nichts überleben zu müssen. Hoffnungslosigkeit setzte sich bei mir bei der Geburt fest. Dass ich diese Hoffnungslosigkeit nicht fühlte, führte dazu, dass ich in der Gegenwart ausagierte, niemals das zu bekommen, was ich brauche. Solange ich diese Gefühl mit mir herumgetragen habe, habe ich nie bekommen, was ich wollte.

Ich neige noch immer gelegentlich dazu, die Hoffnungslosigkeit auszuagieren – das Gefühl, dass ich allein bin. Ich werde nie Hilfe bekommen, und ich muss alles selbst machen (wie bei der Geburt). Es fällt mir noch immer schwer, jemanden zu bitten und mich verwundbar zu machen. Jetzt tut es zu sehr weh, es auszuagieren. Ich bitte lieber um Hilfe, versuche vorwärts zu gehen und zu fühlen, was hochkommt,  als mein Scheitern neu zu inszenieren und im alten Schmerz festzusitzen. Ich möchte jetzt ein paar gute Dinge im Leben haben: Liebe, eine Karriere, Zeit zu entspannen und das Leben zu genießen.

Das Traurige und Heimtückische an frühem Schmerz ist, dass es das alte Bedürfnis auslöst, wenn man in der Gegenwart etwas bekommt. Ich habe in meinem Leben eine Frau, die sich etwas aus mir macht, und ich habe sie verstoßen, weil Liebe zu akzeptieren bedeutet, dass man fühlen muss, nie eine Mutter gehabt zu haben. Somit funktioniert die Erholungsphase als eine Methode, mich von dem frühen Schmerz fernzuhalten, indem ich es hier in der Gegenwart schaffe. Ich muss noch immer auf meine Einzelgänger-Neigung aufpassen, mich zurückzuziehen, wenn ich verletzt bin oder etwas brauche. Aber ich weiß, ich muss mich nicht umbringen, wenn ich allein bin.

_____________________________

 

 

 

Ende des Kapitels

 

 

 

 

 Buchübersetzung: Bücher von A. Janov