Kapitel
9
Depression
und Angst:
Verschiedene
Wege, um mit demselben Schmerz fertig zu werden?
In evolutionärer Hinsicht ist Depression eine spätere Entwicklung als Angst.
Angst, die in Wirklichkeit der Ausdruck verdrängten unbewussten Schreckens ist,
kann sich im Gehirn des Fetus nach dem dritten Schwangerschaftsmonat bilden,
wenn zwar die Schmerzbahnen im Nervensystem angelegt sind, die interne
Opiatproduktion aber noch nicht voll funktioniert. Sie kann ihr Leben beginnen,
wenn das viszerale System die höchste Ebene neuraler Organisation ist. Wenn
also jemand ein Atmungsproblem hat, Schmetterlinge im Bauch, Druck auf der Brust
und andere innere Schreckensreaktionen, müssen wir daran denken, dass der
Ursprung vielleicht in der Zeit im Mutterleib liegt.
Wenn wir verstehen, dass Depression die Wirkung von Verdrängung ist,
erkennen wir auch, dass der Körper
funktionierende Verdrängungssysteme eingerichtet haben muss, bevor sich
Depression entwickeln kann. Somit muss das Alarmsystem des Körpers, das dem Überleben
dient, funktionieren, bevor die Mechanismen zur Kontrolle dieser
Wachsamkeit einsatzbereit sind.
Kurz gesagt existiert zuerst die Fähigkeit, voll auf Gefahr zu reagieren, bevor
das Körpersystem so funktionieren kann, dass es diese Reaktion kontrolliert.
Warum muss der Körper seine eigene Reaktion auf Gefahr kontrollieren? Weil die
Reaktion an sich einen Schwall von biochemischen Substanzen im Körper
freisetzt, der toxische Wirkung hat, wenn er zu lange andauert. Wenn also die
Reaktion auf Gefahr selbst gefährlich wird, zum Beispiel erhöhte Vitalwerte
wie schneller Herzschlag, dann muss der Körper ein System zur Verfügung haben,
dass diese Funktion reguliert und den Herzschlag verlangsamt – ein Wächter in
gewisser Hinsicht.
Denken Sie an die Angstsymptome.
Sie haben meistens damit zu tun, den Organismus viszeral zu elektrisieren:
ein aufgewühlter Magen, schneller Herzschlag und hoher Blutdruck, Zittern, ein
rasender Geist, die Unfähigkeit, ruhig zu atmen, Schlaflosigkeit, Schwitzen,
diffuse Furcht oder diffuser Schrecken. Beinahe alle diese Funktionen sind bei
der Geburt reif, was darauf hindeutet, dass das Trauma, das sie auslösen kann,
zur Zeit der Geburt oder zuvor geschehen kann. Die Merkmale der Depression sind
das Gegenteil: Stilllegung und Verlangsamung von allem, vom Energieniveau bis zu
den Trieben, von der kognitiven Aktivität bis zu den Vitalfunktionen. Der
Depressive redet vielleicht mit dumpfer, monotoner Stimme, während die ängstliche
Person vielleicht mehr Klang oder Leben in ihrer Stimme hat. Bei der ängstlichen
Person hat die Verdrängungsfähigkeit viele Löcher, und das ist das Problem.
Ihre Schleusen im Gehirn funktionieren nicht richtig (oft als „undichte
Schleusen“ bezeichnet), so dass Schmerz und Schrecken die ganze Zeit ins
Bewusstsein eindringen können. Der Depressive wird nur dann ängstlich, wenn
seine Depression/Verdrängung der Aufgabe nicht mehr gerecht wird, Angst zurückzuhalten.
So könnte bei einem Depressiven ein bestimmtes Ereignis, wenn zum Beispiel der
Partner geht oder stirbt, eine Angstattacke hervorrufen oder schlimmer noch eine
agitierte Depression.
Depression
und Angst sind nicht zwangsläufig sparate "Krankheiten;" sie sind Reaktionen auf
unterschiedlichen Stufen der
Persönlichkeitsentwicklung, die beide Schmerz und Furcht und ein gestresstes
Nervensystem involvieren. Wenn wir Tiere untersuchen, scheint es, dass sie ängstlich
sind, bis man sie einer Situation ohne Verhaltensoptionen aussetzt, in der sie
dann Symptome von Depression zeigen. Man hielt Ratten auf einem glitschigen
Abhang über einem Wassergraben gefangen. Wenn sie erschöpft waren, fielen sie
ins Wasser. Nach kurzer Zeit konnten sie sich nicht mehr bewegen und waren nicht
mehr neugierig und abenteuerlustig. Sie schienen deprimiert.
Da die Symptome von Angst und Depression so unterschiedlich
scheinen, ist man versucht, sie als zwei unterschiedliche
Krankheiten zu bezeichnen. Aber die Tatsache, dass hemmende
Medikamente sowohl bei Depression als auch bei Angst helfen können,
zeigt, dass es einfach verschiedene Wege sind, die der Körper
beschreitet, um mit derselben Art Schmerz umzugehen. Medikamente
können bei beiden Zuständen helfen, aber aus verschiedenen Gründen.
Bei Angst geht es darum, die Löcher im Deich zu stopfen, um den
Schmerz daran zu hindern, ins volle Bewusstsein durchzusickern. Bei
Depressiven besteht die Wirkung darin, einen Teil der Arbeit zu
übernehmen, so dass der Körper nicht so sehr mit Verdrängungsarbeit
belastet wird. Der Körper fühlt sich besser, weil er nicht alles
selbst machen muss.
Der Depressive sagt oft zum
Therapeuten: „Ich schaffe es einfach nicht. Ich stecke fest.“ Und der
Therapeut ist warmherzig, macht ihm Mut und sagt: „Doch, Sie schaffen es.“
Der Therapeut beschönigt unwissentlich das reale Gefühl des Patienten, das die
Einprägung ist. Die Einprägung, die sich als Gefühl von „Ich stecke fest,
ich schaffe es nicht“ ausdrückt, regiert, weil der Mensch diese Einprägung
und Prägung nicht ändern kann, ganz gewiss nicht, indem er mit einem
Therapeuten redet. Niemand hat sich die Einprägung ausgedacht. Sie gehört zum
Geburtserlebnis.
Damit Psychotherapie wirken
kann, müssen wir das Herz des Gefühls - „Ich schaffe es nicht“ –
nehmen und es zu seinem Ursprung im Hirnstamm zurückverfolgen; genau das macht
Primärtherapie. Wenn wir einfach versuchen, eine Patientin durch eine Gesprächstherapie-Sitzung
davon zu überzeugen, dass sie es schaffen kann, erweitern wir den Spalt
zwischen ihrem Verstand und ihren Gefühlen. Ihre Gefühle sind real und Teil
ihrer Neurophysiologie. Aber in der Psychotherapie müssen wir darauf achten,
dass wir nicht zum Anfeuerer für den Patienten werden und nicht einfach
versuchen, durch verbalen Trost dafür zu sorgen, dass er oder sie sich besser fühlt.
Der Patient schätzt unsere Aufmunterung, blüht auf, will noch mehr davon und
entfremdet sich jeden Tag mehr von sich selbst. Er wird dadurch nicht gesünder.
Und was ist „gesünder“? Man selbst zu sein, im Einklang mit den eigenen Gefühlen
zu stehen; gesünder kann kein Mensch sein. Unsere verbale Ermutigung jedoch
macht Patienten nicht „zu sich selbst,“ und wenn wir uns nur auf freundliche
Worte verlassen, werden sie nicht im Einklang mit ihren wirklichen Gefühlen
stehen.
Als Psychotherapeuten wollen wir
in dem Maß die guten Eltern für die Patienten sein, in dem sie das von uns wünschen.
Wir wissen, dass Eltern ihre Kinder ermutigen und unterstützen sollten. Aber
die Gefühle sind ins System des Patienten eingraviert worden; danach ist es zu
spät, um durch den Gebrauch freundlicher Worte und verbaler Aufmunterungen
leicht Veränderungen herbeizuführen. Das Zeitfenster der günstigen
Gelegenheit hat sich geschlossen. Wenn wir das Postulat von kritischen Perioden
in der Gehirnentwicklung ignorieren, in denen Kernsysteme des Gehirns erfordern,
dass bestimmte Bedürfnisse – z.B. das Bedürfnis nach Körperkontakt –
befriedigt werden, dann werden wir nie verstehen, warum Aufmunterung in der
Gegenwart nicht funktioniert, auch wenn sie von einem Psychotherapeuten kommt.
Noch wichtiger ist, dass diese Gegenwarts-Ermutigung den (von mir so genannten)
Janovschen Spalt oder die Distanz zwischen den Gefühlen eines Patienten und
seiner bewussten Psyche erweitert.
Um diesen Punkt zu
veranschaulichen, habe ich die „Sitzungs-Nachbemerkungen“ eines meiner
Patienten eingefügt, ein Mann in den Vierzigern, der seit einiger Zeit
depressiv war. Nachdem er ein Primal-Feeling erlebt hatte, setzte sich der
Patient oft auf, und wir redeten über das, was er durchgemacht hatte, über
seine Einsichten und Erklärungen, wie diese Gefühle ihn beeinflussten. Hier
lesen Sie, was er zu sagen hatte:
„Ich
denke, was in der Therapie passiert, ist, dass ich ein ganz kleines Kind werde
und dass also diese Teile meines Gehirns nicht arbeiten, die funktionieren
sollten, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht entwickelt haben. Anders
gesagt kannst du nicht denken; du bist in einem Gehirn ohne Gedanken, und
deshalb hat die Angst meine Fähigkeit vernebelt, etwas zu begreifen. Diese Gefühle
kommen, bevor ich verbale Fähigkeiten hatte. Es kam mir nie zuvor in den Sinn,
dass diese Sache, die ich Depression nenne, wirklich ein Gefühl ist; je näher
ich ihm komme, umso größer wird es, und das ist der Grund, warum ich in
letzter Zeit so deprimiert bin.
Bei der Depression werde ich so
müde, dass ich nicht denken kann. Ich bin lethargisch und will gar nichts tun.
Ich weiß, dass ich bei der Geburt schwer betäubt wurde, und irgendwie scheine
ich dorthin zurückzugehen. Ich glaube, dass ich diesem ursprünglichen Todesgefühl
näher komme. Man hat mir gesagt, dass ich bei der Geburt klinisch tot war und
dass sie alles getan haben, um mich wiederzubeleben. Ich beschreibe das Gefühl
bei Depression so, als ob man halb schläft oder halb tot ist. Aber als jemand
das „Dämmerschlaf“-Medikament Scopolamin erwähnte, fiel mir alles wieder
ein. Mutter bekam eine schwere Dosis „Dämmerschlaf“ und ich als Baby bekam
auch eine schwere Dosis ab. Ich habe eine Art Narkolepsie, bei der ich ohne
Vorwarnung einfach einschlafe. Ich bin wieder in einer Art Dämmerschlaf. Das
Gefühl, das ich erlebe, ist: <<Ich sterbe, und ich kann nichts tun.
Nichts kann mich aus dieser Situation rausbringen.>> Das traf auf die
Geburt zu, und es trifft auf meine Depressionen zu, die jene Zeit
widerzuspiegeln scheinen.
Ich habe immer ausagiert, nach jemandem gesucht, der mich
rettet. Ich baue Mist, und dann schaue ich mich um Hilfe um. Das
Ergebnis ist, dass ich emotional sehr abhängig bin. Weißt du, es
gibt eine Menge emotional toter Leute, die jemanden suchen, der sie
rettet, und sie fallen leicht in eine Depression. Ich wurde so
betäubt geboren, und jetzt warte ich auf Leute, die Leben in mich
pumpen, Vorschläge machen, dass wir hierhin oder dorthin gehen, dass
sie die Pläne für mein Leben machen, dass sie herumscherzen. Ich
will, dass sie mich aus meiner Verstimmung herausholen.
Weil ich nicht aus eigener Kraft auf die Welt kommen
konnte, war in meine Psyche eingeprägt, dass ich nichts selbst
machen kann. Das war die Grundlage, dass ich kein Selbstvertrauen
hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie erfolgreich sein könnte.
Die Leute sagen mir, dass ich großartig bin, aber ich kann es nie
fühlen. Ich habe immer das Gefühl, dass etwas schieflaufen wird,
egal, wie gut ich etwas erledige. Und am Anfang war das natürlich
so. Wenn du nicht leben kannst, ist das ein ziemlich großer
Misserfolg. Ich schleppte immer dieses Weltuntergangs-Gefühl mit mir
herum. Jetzt weiß ich, woher es kommt. Es war wie diese Karikatur,
wo die schwarze Wolke über dem Kopf des kleinen Kerls hängen bleibt,
egal, wohin er geht.
Bestandteil meiner Depression ist auch, dass ich
mich allein fühle. Es ist unbedeutend, ob ich in einem Haufen von 20 Leuten bin
– ich fühle mich dennoch allein. Das scheint über mich hinwegzufegen. Für dieses
Gefühl des Alleinseins gibt es verschiedene Zeiten und Zusammenhänge. Ich wurde
als Baby gleich nach der Geburt und die meiste Zeit meiner Kindheit allein
gelassen. Meine Eltern waren nirgendwo zugegen, und ich war mir selbst
überlassen. Ich hatte immer dieses Gefühl, aus meiner Mutter herausgeschnitten
worden zu sein
(er hatte eine
Kaiserschnitt-Geburt - A.J.,
und jetzt bin ich nie für irgendwas bereit. Ich plane Tage im Voraus, wenn ich
eine Reise mache. Ich konnte einen Urlaub nicht nehmen wegen der Angst, da ich
dieses Gefühl hatte, dass ich es nie zurück schaffen würde. Das war das
Geburtsgefühl, das wieder hochkam, wie in die Hölle zu fahren ohne Wiederkehr.
Es ist so ein Gefühl, das ich
nie mit Worten ausdrücken konnte......ich schaffe es nicht aus eigener Kraft.
Meine Eltern gaben mir dieses Gefühl....es war alles so hoffnungslos von Anfang
an, und das ist ein dicker Brocken von der Depression – die
Hoffnungslosigkeit. Es gibt keinen Ausweg, nichts, was ich tun könnte. Gleich,
was ich tue, nichts wird sich ändern, weder in meiner Kindheit noch am
Lebensanfang. Ich konnte das Gefühl nie abschütteln, dass etwas mit mir nicht
stimmt. Aber keiner wusste, was zu tun war, um mir zu helfen, weil niemand
wusste, was – falls überhaupt- nicht stimmte.
Ich glaube, was Primärtherapie
getan hat, ist, dass sie meine Chemikalien neu eingestellt hat, vielleicht die
Sollwerte meines Dopamins und Serotonins. Mit Drogen wie Kokain fühlte ich mich
besser, wie normal. Meine Hirnsubstanzen waren alle nicht in Ordnung. Die Drogen
haben dieses Gefühl beendet, dass etwas mit mir nicht stimmt. Die Drogen
normalisierten meine Hirnsubstanzen und dann hatte ich nicht mehr das Gefühl,
dass mit mir etwas nicht stimmt.“
Es ist bemerkenswert, dass
dieser Patient alle seine Einsichten – und mehr – aus einer einzigen Sitzung
erhielt. Seine Gefühle erklärten so viel. Für mich als Therapeut blieb da
wenig zu tun. Er artikulierte seine Erlebnisse und die Wirkungen dieser
Erlebnisse so gut, dass er mich der Chance beraubte, brillant zu sein. Es fällt
einem Therapeuten nicht leicht, die Kontrolle über die Therapie aufzugeben und
auf seine Weisheiten zu verzichten, aber der Patient ist auf dem Weg, ein
bewusstes Leben zu führen. Das ist die Bedeutung eines bewussten Lebens: nicht
länger vom Unbewussten gelenkt und getrieben werden. Keine Gereiztheit,
Ungeduld und keine Unfähigkeit mehr, still zu sitzen und sich zu entspannen.
Keine Weltuntergangsgefühle mehr; sie gehörten zu einem bestimmten Ereignis,
das er sein ganzes Leben mit sich schleppte.
Solche Einsichten bleiben
vielleicht jahrzehntelang wort- und begrifflos. Wir können uns hoffnungslos fühlen
und keinen Begriff dafür haben, wir können aufgeben, ohne eine Idee zu haben,
warum das so ist, und wir können von solchen Gefühlen beherrscht werden, lange
bevor wir erkennen, was sie sind. Ich erinnere mich, dass ich in meiner Zeit als
Psychoanalytiker Patienten sagte, sie hätten eine „maskierte Depression,“
weil sie nicht einmal wussten, dass sie deprimiert und ohne Hoffnung waren.
Nichtsdestotrotz finden es Patienten in einer primärtherapeutischen Sitzung
selbst heraus und fühlen die frühe Hoffnungslosigkeit, die nahezu immer ein
Signal dafür ist, dass die Körpertemperatur bei der Geburt niedrig war; schließlich
kommen sie langsam aus ihrer Depression heraus.
Bei der Geburt erzeugte Depression ist ein Zustand,
der sich durch traumatische Erfahrungen während der ersten drei Lebensjahre nach
der Geburt verstärken kann, wenn man zum Beispiel in einem gefühlskalten,
diktatorischen häuslichen Umfeld aufwächst. Nicht immer ist es einfach so, dass
Eltern vielleicht die Gefühle eines Kindes durch strikte Disziplin unterdrücken;
ein Trauma kann auch weitergegeben werden, wenn die Eltern emotional nicht
präsent sind. Das Ergebnis ist für das Kind, das seine Gefühle niemandem
mitteilen kann, dasselbe. So wird das Kind zu einem Erwachsenen und fühlt sich
abermals hilflos und hoffnungslos.
_______________________
Ende des Kapitels
Buchübersetzung:
Bücher von A. Janov