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DIE JANOV-LÖSUNG

THE JANOV SOLUTION  -  Lifting Depression Through Primal Therapy erschien 2007 bei SterlingHouse Books, Pittsburgh, PA 15218

© Copyright 2007 Dr. Arthur Janov

 

 

Kapitel 13

 

Schlussfolgerung: Die Depression besiegen

 

 

Ich habe versucht, mir ein paar akademische Formulierungen für die Schlussfolgerungen zu diesem Buch auszudenken, aber es gibt keine kultiviertere Ausdrucksart dafür, was meine Patienten so gut erklärt haben. Depression ist ein schrecklicher Zustand. Sie fühlt sich entsetzlich an, aber glücklicherweise muss das nicht länger so sein. Es gibt einen Ausweg, und dieser Ausweg ist der Weg hinein. Aber wir brauchen eine Wegkarte; andernfalls sind wir verloren. Wir sorgen für den Zugang zu uns selbst, nicht mehr, nicht weniger. Aber das ist eine ganze Menge, denn es bedeutet das Ende der Depression. Der Grund, warum so viele Therapeuten glauben, sie sei außer mit Medikamenten nicht zu behandeln, besteht darin, dass sie bis jetzt keine Methode haben, um die inneren Tiefen ihrer Patienten zu erforschen. Und darin liegt das Problem. Bei Depression scheint es, als sei sie ein Gegenwartsproblem; aber in Wirklichkeit ist es die Vergangenheit, die den Menschen verschlingt und ihn zwingt, sie ständig zu wiederholen. So offensichtlich das auch scheint - für Fachleute ist es dennoch nicht so offensichtlich, wie es sein sollte. Wir helfen dem Patienten, die Vergangenheit in die Geschichte zurück zu versetzen und ihn somit – jetzt lastenfrei -  in die Gegenwart zu bringen. Wir können unsere Vergangenheit nicht durch Willensanstrengung hinter uns lassen, und sei sie auch noch so groß. Tatsächlich ist jeder Versuch, das mit Willenskraft zu machen, garantiert zum Scheitern verurteilt. Wir müssen von diesem starken Willen loslassen und uns in unsere Gefühle versenken.

 

Ich verwende für meine Therapie die Begriffe ‚radikal’ und ‚revolutionär’ mit Vorsicht; dennoch glaube ich, dass sie das ist, und ich werde erklären warum. Sie ist in Form und Inhalt revolutionär, eine radikale Abkehr von den meisten Psychotherapien. Die involvieren gewöhnlich einen auf Einsicht versessenen Plausch zwischen zwei ungleichen Partnern, der eine mit Wortwissen und unfehlbarer Moralhaltung ausgerüstet, der andere ein williger Novize, der psychisch auf die Knie fällt, um das zu lernen, was der Wortgewaltige verabreicht, und sich dabei in das Äußere fügt anstatt in das Innere. Ich weiß es. Ich war dort, habe viele Jahre lang Einsichtstherapie praktiziert. Die Majestät all dessen ist berauschend für den Therapeuten. Die Macht, über das Leben eines anderen zu bestimmen, ist verführerisch – und falsch!

 

Wir sollten nicht über das Leben anderer bestimmen, ihnen sagen, was falsch und richtig ist. Das ist die Aufgabe eines Priesters, nicht die eines psychologischen Wissenschaftlers. Unsere Aufgabe nennt man Selbstbestimmung - anderen helfen, dass sie ihren eigenen Weg finden, ihre eigenen Einsichten finden, indem sie dem Gefährt ihrer Gefühle zu einer eingeprägten Vergangenheit folgen, die unverfälscht und von nachfolgenden Erlebnissen unbeeinflusst daliegt. Sie wartet auf ihre Freiheitschance: darauf, das volle Bewusstsein zu erreichen und endgültig integriert zu werden. Genau das befreit: Bewusstsein. Wenn wir das in der Psychotherapie übersehen, leidet der Patient, denn dann pfuschen wir nur an der Abwehr herum, während wir den Schmerz unangetastet lassen.

 

Wiedererleben scheint einen Gefühlsansatz einzubeziehen, der anscheinend dem widerspricht, an das viele Therapeuten glauben, nämlich an die übergeordnete Bedeutung von Gedanken, Einsichten und Glaubensüberzeugungen bei der Bewertung von Fortschritt in der Psychotherapie. Sie nehmen dafür den Patienten beim Wort. Das sollte das letzte sein, was wir tun sollten, denn die intellektuelle Linkshirnseite und der linkshirndominante Depressive können alle möglichen Heilungen und Offenbarungen ersinnen, während der Subtext, das Unbewusste, von Qual gebeutelt wird. Wir können Menschen nie beim Wort nehmen, wenn sie praktisch vom Rechtshirn abgetrennt sind. Bei der konventionellen Therapie verstärken wir diese Durchtrennung durch endlose Diskussionen und Einsichten.

 

Wenn wir in der Psychotherapie nichts Besseres leisten als religiöse Offenbarungen, haben wir nicht viel gewonnen. In religiösen Zuständen fühlen sich Menschen oft viel besser; sie sind optimistischer und funktionsbereit. Wenigstens hat unser Fachgebiet ein paar wichtige Fortschritte beim Verständnis der lebenslangen Auswirkungen früher nonverbaler oder präverbaler Ereignisse auf das Erwachsenenverhalten gemacht.

 

Wir brauchen eine Theorie und Technik, die in die Tiefe geht, und vor allem brauchen wir die dazu passende Behandlungszimmer-Struktur: einen ruhigen, schalldichten Raum mit gedämpftem Licht und einer bequemen Matratze. Keine Ablenkung. Kein „Geh' doch aus und besuche Freunde.“ Ein in Depression versunkener Mensch kann das nicht machen, weil ihm dafür keine Energie bleibt und weil es oft den Schmerz verschärft, wenn er Leute besucht.

 

Wissenschaftliche Sitzungskontrollen sind wesentlich. Jede Sitzung eines jeden Patienten wird hinsichtlich der Vitalfunktionen kontrolliert, die uns einen Maßstab für die Integration und Auflösung von Gefühlen zur Hand geben. Die Körpertemperatur kann während eines Primals – ein totales Wiedererlebnis – binnen Minuten um mehrere Grad ansteigen, und sie steigt entsprechend der Valenz des eingeprägten Schmerzes. Je mehr Schmerz vorhanden ist, umso höher liegen die Vitalwerte.

 

Umgekehrt kann der Patient mit einer Körpertemperatur von 95 bis 96 Grad (F) in eine Sitzung kommen, die sich nach der Sitzung auf 98 Grad normalisieren kann. Hier muss man die Therapie fein nuancieren, denn sobald der Patient in ein schweres Feeling fällt, werden die ursprünglichen Abwehrmechanismen wieder lebendig. Unsere Aufgabe besteht darin, die Abwehr zu blockieren, so dass ein Teil des Gefühls erlebt werden kann. Das kann man nicht unter eigener Regie machen, und es ist gefährlich in untrainierten Händen; jemand kann die Abwehr einreißen, und die Person ist dann einem Übermaß an Schmerz ausgesetzt.

 

Was also ist beim Wiedererleben so wichtig, was ist in der Tat die sine qua non jeder wirkungsvollen Psychotherapie? Und was ist am Bewusstsein so überaus wichtig? Es bedeutet, die Evolution des Gehirns anzuerkennen. Das scheint nun klar, aber stillschweigend behandeln die meisten aktuellen Therapien den Patienten dennoch auf ahistorische Weise – als habe er keine Geschichte. Das ist Kreationismus als Wissenschaft verkleidet. Machen das nicht die Kreationisten? Wenn die Geschichte nicht das Primärziel der Psychotherapie ist sondern eher als Beigabe zum Gegenwartsleben des Patienten gesehen wird, dann kann es ihm unmöglich besser gehen. Was heißt überhaupt besser? Ich sage, es heißt, dass wir uns selbst zurückbekommen. Es gibt kein wirkliches „besser.“ Es gibt nur mehr und mehr von uns selbst unter unserer Kontrolle, mehr und mehr Bewusstsein und immer weniger Unbewusstheit. Psychotherapeuten verneigen sich vor der Geschichte, aber nur symbolisch. Dennoch ist die Geschichte - die Vergangenheit des Patienten - Medizin, und sie ist die einzige Medizin, die heilt. Die Vertiefung in die Vergangenheit ist Pflicht für den Therapeuten; ohne sie sind wir wieder bei der alten Psychotherapie der frühen 1900er Jahre.

 

Wenn ich von Evolution rede, meine ich, dass sie die sine qua non  jeder korrekten Therapie ist. Darin inbegriffen ist die Evolution des Menschen und die Evolution der Menschheit als ein und dasselbe. Wenn wir Patienten ihr Leben seit ihren Tagen im Mutterleib wiedererleben lassen, werden wir zugleich Zeuge der Menschheitsevolution über die Jahrtausende. Die persönliche Evolution ist wirklich die Rekapitulation der Menschheitsgeschichte. Wir sehen die delphinähnlichen Bewegungen unserer uralten Vorfahren im Wiedererlebnis ganz frühen Lebens. So etwas kann man nicht nachmachen. Wir haben versucht, diese Bewegung in Experimenten auf Verlangen nachzuvollziehen, aber als Willensakt ist es nie gelungen.

 

Eine neue Psychotherapie bedeutet, die Evolution des Gehirns, und wie sie Depression ausspeit, zu verstehen. Wenn wir diese Evolution nicht in Betracht ziehen, werden wir nicht begreifen, dass es in der Persönlichkeitsentwicklung Zeiten gibt, in denen wir ein weit offenes sensorisches Fenster mit engen kritischen Perioden haben, während derer bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden müssen, Bedürfnisse, für die es keine spätere Wiedergutmachung gibt. Einmal beraubt, immer beraubt, und der Schmerz der Entbehrung wird auf verschiedenen Gehirnebenen mit unterschiedlicher Stärke registriert. Die Einprägung kann dann alle biologischen Funktionen und Hirnwellenmuster fehlregulieren, ganz zu schweigen von der Persönlichkeit. Nichts kann das Bedürfnis erfüllen. Nun, es gibt etwas, eine der stärksten Kräfte auf Erden, die Menschen unaufhörlich antreiben kann. Diese starke Kraft ist Erinnerung, die in den emotionalen Speicherzonen des Gehirns auf Abruf bereit steht, die Kraft, die ein Leben lang an uns nagt, später ernste Krankheit hervorruft und Ursache von Albträumen, Überarbeitung und vorzeitigem Tod bei denjenigen ist, die sich zu Tode arbeiten. Erinnerung heilt auch bei Depression, Angst, Phobien, Obsessionen, Impulsivität und Wut. Das hört sich nach Großmaul an, aber es stimmt. Fangen wir also ganz von vorne an.

 

Wenn wir, wie ich sagte, die Evolution des Gehirns nicht verstehen, sind wir wenig mehr als Kreationisten, die glauben, dass das Unbewusste in uns von irgendeiner Kraft eingerichtet wurde – von Gott, der Natur oder was auch immer – und dass wir nichts dagegen tun können. Deshalb rühren wir es nicht an und trauen uns nicht in seine Nähe aus Angst, die Dämonen wachzurütteln, die zuerst von den Religionsführern dort hingesetzt wurden, um den Glaubensgenossen Angst zu machen und sie somit unter Kontrolle zu halten. „Wenn du dich nicht anständig benimmst und nicht genug betest, werden dich diese Dämonen kriegen.“ Die Freudsche Wendung lautet: „Wenn du darauf bestehst, in die Vergangenheit zu gehen, werden dich die Dämonen einholen und deine Psyche zerstören.“ Es ist eine Rückkehr zur alten religiösen Auffassung der 1800er Jahre. Das ist ein Grund, warum Therapeuten sich vom Unbewussten fernhalten. Aber sollten sie diese Warnung je missachten und Patienten in ihre Vergangenheit schlüpfen lassen, würden sie sehen, was im Unbewussten liegt. Was sie fänden, ist nichts anderes als unsere Geschichte, ordentlich dargelegt von der Gegenwart bis zur frühesten Vergangenheit, einschließlich der Geburt und des Lebens im Mutterleib. Und es wäre keine Näherungslösung; es wäre eine präzise Angelegenheit mit Erinnerungen, die auf Lager liegen und darauf warten, dass sie an die Reihe kommen und mit dem vollen Bewusstsein verknüpft werden. Und da wir gerade beim Thema Bewusstsein sind, gestatten Sie mir zu sagen, dass ein zentraler Unterschied zwischen dem Primal-Ansatz und anderen Einsichtsmethoden die Bewusstseinsfrage ist. Sie argumentieren, dass das Unbewusste nicht von speziellen Ereignissen in unserem Leben herrührt sondern aus genetischen Quellen stammt, die nie allzu spezifisch sind. Ja, es gibt genetische Kräfte, aber verwechseln wir nicht neun entscheidende Lebensmonate im Mutterleib mit genetischen Kräften. Ohne Fundament in der Evolution können wir nie verstehen, wie sich Neurose entwickelt und wie eine geeignete Psychotherapie umgekehrte Neurose ist, indem sie sich mit den schmerzvollen Einprägungen in der umgekehrten Reihenfolge befasst, in der sie angelegt worden war. Es geht nicht nur um Schmerz aus unserer Kindheit sondern auch aus unserer Babyzeit und, was am wichtigsten ist, auch aus unserer Zeit im Mutterleib. Und es geht nicht einfach darum, sich mit diesen Ereignissen vom Standpunkt eines Erwachsenen zu befassen, sondern  - weitaus wichtiger -  darum, diese Ereignisse mit dem Gehirn wiederzuerleben, das damals die höchste Ebene neuraler Organisation war. Wir hatten im Mutterleib ein Gehirn, dass in der Lage war, schädliche Ereignisse wie Schmerz aufzuzeichnen, zu verschlüsseln und einzuprägen und sie ein Leben lang zu behalten. Und diese Ereignisse bestimmen Jahrzehnte später unser Leben.

 

Wenn wir einmal ein festes Verständnis von Geschichte und ihrer Evolution haben,  werden wir wissen, dass sich mit psychischer Krankheit zu befassen nicht bedeutet, sie einfach zu verstehen sondern in sie einzutauchen, uns in unsere Geschichte und ihre Gefühle zu versenken, ihrer Macht zu weichen, bis Worte nicht mehr ausreichen. Worte können die Aufgabe schlichtweg nicht erledigen; Worte sind tatsächlich die Antithese der Heilung, denn sie schaden jedem therapeutischen Fortschritt, so seltsam das klingen mag. Da liegt der Haken. Denn es bedeutet, sich über die Freudsche Warnung hinwegzusetzen, dass man Patienten nicht ins tiefe Unbewusste versenken solle, ein Unbewusstes, von dem die Freudianer sagen, dass es unwiderruflich die Psyche zerrüttet. Und es ist diese Warnung, die zusammen mit vielen anderen gleichermaßen falschen dafür gesorgt hat, dass die Praxis der Psychotherapie im Mittelalter verharrt, weil man glaubt, dass es dunkle Mächte gibt, die uns hierhin und dorthin jenseits unserer Kontrolle treiben. Dafür muss man selbst Augen haben; Ich habe viele Jahre lang Psychotherapie Freudscher Richtung praktiziert. Ein Hauptgrund, warum ich das gemacht habe, war, dass es so gut wie keinen anderen Weg für die Praxis dynamischer Psychotherapie gab. Zumindest postulierte Freud ein Unbewusstes, und würde er heute leben, wäre er kein Freudianer, da bin ich mir sicher.

 

 

Ein neues Paradigma für die Psychotherapie

 

Ich habe gesagt, dass wir nur dort gesund werden können, wo wir verletzt worden sind. Wir wissen jetzt, dass emotionale Wunden tief im Gehirn außerhalb des Bewusstseins liegen. Sie werden weit unten ins Gehirnsystem eingeprägt, lange bevor wir Worte haben, um sie zu beschreiben. Wir können diese Wunden heilen, wenn wir sie direkt angehen können und nicht durch ein Wortlabyrinth reisen müssen.

 

Theorien haben eine Entwicklung. Bleiben wir nicht in der Vergangenheit und in einer zeitlich eingefrorenen Theorie stecken, die sich nicht grundlegend verändert hat oder vorangekommen ist. Die Freudsche Theorie hat in 100 Jahren sehr wenig Änderung erlebt. Der Versuch, eine aktuelle Theorie zu nehmen und sie einem vergangenen Bezugsrahmen anzufügen, bedeutet, eine neue Wissenschaft zu nehmen und sie einer alten Theorie anzufügen, die keine Gültigkeit mehr hat. Das ist kein Fortschritt. Wie ich vorhin gesagt habe, bezweifle ich, dass Freud ein Freudianer wäre, würde er heute leben. Können wir uns einen anderen Medizinzweig vorstellen, der noch immer im Griff der Wissenschaft der 1920er Jahre ist? Freud schrieb sein Hauptwerk, Die Traumdeutung, zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Gewiss hat es seitdem ein wenig Fortschritt gegeben.

 

Primärtherapie ist eine Rückfahrkarte zum Startpunkt unseres Lebens, während die meisten anderen Therapien nur einfache Fahrkarten sind, die uns nur sehen lassen,  wohin wir unterwegs sind, und nicht, wo wir gewesen sind. Mit der Primärtherapie können wir „wieder nach Hause fahren“. Die Unterdrückung von Gefühlen führt zu Depression; ihr Ausdruck, nicht unbedingt mit Worten, führt zum Leben. Halten wir also die Depression an, bevor sie uns anhält.

 

Vernachlässigen wir nicht die Vergangenheit im Bemühen, die gegenwärtige Praxis zu modernisieren. Öffnen wir die Seiten unseres persönlichen Archivs, spüren wir die Dämonen auf, die jetzt einen Namen haben, lassen wir sie Freiheit schnuppern, nehmen wir die Schmerzfesseln ab und machen wir mit unserem Leben weiter.

 

 

 

Ende

 

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Ende des Kapitels

 

 

 

 

 Buchübersetzung: Bücher von A. Janov