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Kapitel 13
Schlussfolgerung:
Die Depression besiegen
Ich
habe versucht, mir ein paar akademische Formulierungen für die
Schlussfolgerungen zu diesem Buch auszudenken, aber es gibt keine kultiviertere
Ausdrucksart dafür, was meine Patienten so gut erklärt haben. Depression ist
ein schrecklicher Zustand. Sie fühlt sich entsetzlich an, aber glücklicherweise
muss das nicht länger so sein. Es gibt einen Ausweg, und dieser Ausweg ist der
Weg hinein. Aber wir brauchen eine Wegkarte; andernfalls sind wir verloren. Wir
sorgen für den Zugang zu uns selbst, nicht mehr, nicht weniger. Aber das ist
eine ganze Menge, denn es bedeutet das Ende der Depression. Der Grund, warum so
viele Therapeuten glauben, sie sei außer mit Medikamenten nicht zu behandeln,
besteht darin, dass sie bis jetzt keine Methode haben, um die inneren Tiefen
ihrer Patienten zu erforschen. Und darin liegt das Problem. Bei Depression
scheint es, als sei sie ein Gegenwartsproblem; aber in Wirklichkeit ist es die
Vergangenheit, die den Menschen verschlingt und ihn zwingt, sie ständig zu
wiederholen. So offensichtlich das auch scheint - für Fachleute ist es dennoch
nicht so offensichtlich, wie es sein sollte. Wir helfen dem Patienten, die
Vergangenheit in die Geschichte zurück zu versetzen und ihn somit – jetzt
lastenfrei -
in die Gegenwart zu bringen. Wir können unsere Vergangenheit nicht durch
Willensanstrengung hinter uns lassen, und sei sie auch noch so groß. Tatsächlich
ist jeder Versuch, das mit Willenskraft zu machen, garantiert zum Scheitern
verurteilt. Wir müssen von diesem starken Willen loslassen und uns in unsere
Gefühle versenken.
Ich
verwende für meine Therapie die Begriffe ‚radikal’ und ‚revolutionär’
mit Vorsicht; dennoch glaube ich, dass sie das ist, und ich werde erklären
warum. Sie ist in Form und Inhalt revolutionär, eine radikale Abkehr von den
meisten Psychotherapien. Die involvieren gewöhnlich einen auf Einsicht
versessenen Plausch zwischen zwei ungleichen Partnern, der eine mit Wortwissen
und unfehlbarer Moralhaltung ausgerüstet, der andere ein williger Novize, der
psychisch auf die Knie fällt, um das zu lernen, was der Wortgewaltige
verabreicht, und sich dabei in das Äußere fügt anstatt in das Innere. Ich weiß
es. Ich war dort, habe viele Jahre lang Einsichtstherapie praktiziert. Die
Majestät all dessen ist berauschend für den Therapeuten. Die Macht, über das
Leben eines anderen zu bestimmen, ist verführerisch – und falsch!
Wir
sollten nicht über das Leben anderer bestimmen, ihnen sagen, was falsch und
richtig ist. Das ist die Aufgabe eines Priesters, nicht die eines
psychologischen Wissenschaftlers. Unsere Aufgabe nennt man Selbstbestimmung -
anderen helfen, dass sie ihren eigenen Weg finden, ihre eigenen Einsichten
finden, indem sie dem Gefährt ihrer Gefühle zu einer eingeprägten
Vergangenheit folgen, die unverfälscht und von nachfolgenden Erlebnissen
unbeeinflusst daliegt. Sie wartet auf ihre Freiheitschance: darauf, das volle
Bewusstsein zu erreichen und endgültig integriert zu werden. Genau das befreit:
Bewusstsein. Wenn wir das in der Psychotherapie übersehen, leidet der Patient,
denn dann pfuschen wir nur an der Abwehr herum, während wir den Schmerz
unangetastet lassen.
Wiedererleben
scheint einen Gefühlsansatz einzubeziehen, der anscheinend dem widerspricht, an
das viele Therapeuten glauben, nämlich an die übergeordnete Bedeutung von
Gedanken, Einsichten und Glaubensüberzeugungen bei der Bewertung von
Fortschritt in der Psychotherapie. Sie nehmen dafür den Patienten beim Wort.
Das sollte das letzte sein, was wir tun sollten, denn die intellektuelle
Linkshirnseite und der linkshirndominante Depressive können alle möglichen
Heilungen und Offenbarungen ersinnen, während der Subtext, das Unbewusste, von
Qual gebeutelt wird. Wir können Menschen nie beim Wort nehmen, wenn sie
praktisch vom Rechtshirn abgetrennt sind. Bei der konventionellen Therapie verstärken
wir diese Durchtrennung durch endlose Diskussionen und Einsichten.
Wenn
wir in der Psychotherapie nichts Besseres leisten als religiöse Offenbarungen,
haben wir nicht viel gewonnen. In religiösen Zuständen fühlen sich Menschen
oft viel besser; sie sind optimistischer und funktionsbereit. Wenigstens hat
unser Fachgebiet ein paar wichtige Fortschritte beim Verständnis der
lebenslangen Auswirkungen früher nonverbaler oder präverbaler Ereignisse auf
das Erwachsenenverhalten gemacht.
Wir
brauchen eine Theorie und Technik, die in die Tiefe geht, und vor allem brauchen
wir die dazu passende Behandlungszimmer-Struktur: einen ruhigen, schalldichten
Raum mit gedämpftem Licht und einer bequemen Matratze. Keine Ablenkung. Kein
„Geh' doch aus und besuche Freunde.“ Ein in Depression versunkener Mensch kann das
nicht machen, weil ihm dafür keine Energie bleibt und weil es oft den Schmerz
verschärft, wenn er Leute besucht.
Wissenschaftliche
Sitzungskontrollen sind wesentlich. Jede Sitzung eines jeden Patienten wird
hinsichtlich der Vitalfunktionen kontrolliert, die uns einen Maßstab für die
Integration und Auflösung von Gefühlen zur Hand geben. Die Körpertemperatur
kann während eines Primals – ein totales Wiedererlebnis – binnen Minuten um
mehrere Grad ansteigen, und sie steigt entsprechend der Valenz des eingeprägten
Schmerzes. Je mehr Schmerz vorhanden ist, umso höher liegen die Vitalwerte.
Umgekehrt
kann der Patient mit einer Körpertemperatur von 95 bis 96 Grad (F) in eine
Sitzung kommen, die sich nach der Sitzung auf 98 Grad normalisieren kann. Hier
muss man die Therapie fein nuancieren, denn sobald der Patient in ein schweres
Feeling fällt, werden die ursprünglichen Abwehrmechanismen wieder lebendig.
Unsere Aufgabe besteht darin, die Abwehr zu blockieren, so dass ein Teil des Gefühls
erlebt werden kann. Das kann man nicht unter eigener Regie machen, und es ist
gefährlich in untrainierten Händen; jemand kann die Abwehr einreißen, und die
Person ist dann einem Übermaß an Schmerz ausgesetzt.
Was also ist beim
Wiedererleben so wichtig, was ist in der Tat die sine qua non jeder
wirkungsvollen Psychotherapie? Und was ist am Bewusstsein so überaus wichtig? Es
bedeutet, die Evolution des Gehirns anzuerkennen. Das scheint nun klar, aber
stillschweigend behandeln die meisten aktuellen Therapien den Patienten dennoch
auf ahistorische Weise – als habe er keine Geschichte. Das ist Kreationismus als
Wissenschaft verkleidet. Machen das nicht die Kreationisten? Wenn die Geschichte
nicht das Primärziel der Psychotherapie ist sondern eher als Beigabe zum
Gegenwartsleben des Patienten gesehen wird, dann kann es ihm unmöglich besser
gehen. Was heißt überhaupt besser? Ich sage, es heißt, dass wir uns selbst
zurückbekommen. Es gibt kein wirkliches „besser.“ Es gibt nur mehr und mehr von
uns selbst unter unserer Kontrolle, mehr und mehr Bewusstsein und immer weniger Unbewusstheit. Psychotherapeuten
verneigen sich vor der Geschichte, aber nur symbolisch. Dennoch ist die
Geschichte - die Vergangenheit des Patienten - Medizin, und sie ist die einzige
Medizin, die heilt. Die Vertiefung in die Vergangenheit ist Pflicht für den
Therapeuten; ohne sie sind wir wieder bei der alten Psychotherapie der frühen
1900er Jahre.
Wenn
ich von Evolution rede, meine ich, dass sie die sine qua non
jeder
korrekten Therapie ist. Darin inbegriffen ist die Evolution des Menschen und die
Evolution der Menschheit als ein und dasselbe. Wenn wir Patienten ihr Leben seit
ihren Tagen im Mutterleib wiedererleben lassen, werden wir zugleich Zeuge der
Menschheitsevolution über die Jahrtausende. Die persönliche Evolution ist
wirklich die Rekapitulation der Menschheitsgeschichte. Wir sehen die delphinähnlichen
Bewegungen unserer uralten Vorfahren im Wiedererlebnis ganz frühen Lebens. So
etwas kann man nicht nachmachen. Wir haben versucht, diese Bewegung in
Experimenten auf Verlangen nachzuvollziehen, aber als Willensakt ist es nie
gelungen.
Eine
neue Psychotherapie bedeutet, die Evolution des Gehirns, und wie sie Depression
ausspeit, zu verstehen. Wenn wir diese Evolution nicht in Betracht ziehen,
werden wir nicht begreifen, dass es in der Persönlichkeitsentwicklung Zeiten
gibt, in denen wir ein weit offenes sensorisches Fenster mit engen kritischen
Perioden haben, während derer bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden müssen,
Bedürfnisse, für die es keine spätere Wiedergutmachung gibt. Einmal beraubt,
immer beraubt, und der Schmerz der Entbehrung wird auf verschiedenen
Gehirnebenen mit unterschiedlicher Stärke registriert. Die Einprägung kann
dann alle biologischen Funktionen und Hirnwellenmuster fehlregulieren, ganz zu
schweigen von der Persönlichkeit. Nichts kann das Bedürfnis erfüllen. Nun, es
gibt etwas, eine der stärksten Kräfte auf Erden, die Menschen unaufhörlich
antreiben kann. Diese starke Kraft ist Erinnerung, die in den emotionalen
Speicherzonen des Gehirns auf Abruf bereit steht, die Kraft, die ein Leben lang
an uns nagt, später ernste Krankheit hervorruft und Ursache von Albträumen, Überarbeitung
und vorzeitigem Tod bei denjenigen ist, die sich zu Tode arbeiten. Erinnerung
heilt auch bei Depression, Angst, Phobien, Obsessionen, Impulsivität und Wut.
Das hört sich nach Großmaul an, aber es stimmt. Fangen wir also ganz von vorne
an.
Wenn
wir, wie ich sagte, die Evolution des Gehirns nicht verstehen, sind wir wenig
mehr als Kreationisten, die glauben, dass das Unbewusste in uns von irgendeiner
Kraft eingerichtet wurde – von Gott, der Natur oder was auch immer – und
dass wir nichts dagegen tun können. Deshalb rühren wir es nicht an und trauen
uns nicht in seine Nähe aus Angst, die Dämonen wachzurütteln, die zuerst von
den Religionsführern dort hingesetzt wurden, um den Glaubensgenossen Angst zu
machen und sie somit unter Kontrolle zu halten. „Wenn du dich nicht anständig
benimmst und nicht genug betest, werden dich diese Dämonen kriegen.“ Die
Freudsche Wendung lautet: „Wenn du darauf bestehst, in die Vergangenheit zu
gehen, werden dich die Dämonen einholen und deine Psyche zerstören.“ Es ist
eine Rückkehr zur alten religiösen Auffassung der 1800er Jahre. Das ist ein
Grund, warum Therapeuten sich vom Unbewussten fernhalten. Aber sollten sie diese
Warnung je missachten und Patienten in ihre Vergangenheit schlüpfen lassen, würden
sie sehen, was im Unbewussten liegt. Was sie fänden, ist nichts anderes als
unsere Geschichte, ordentlich dargelegt von der Gegenwart bis zur frühesten
Vergangenheit, einschließlich der Geburt und des Lebens im Mutterleib. Und es wäre
keine Näherungslösung; es wäre eine präzise Angelegenheit mit Erinnerungen,
die auf Lager liegen und darauf warten, dass sie an die Reihe kommen und mit dem
vollen Bewusstsein verknüpft werden. Und da wir gerade beim Thema Bewusstsein
sind, gestatten Sie mir zu sagen, dass ein zentraler Unterschied zwischen dem
Primal-Ansatz und anderen Einsichtsmethoden die Bewusstseinsfrage ist. Sie
argumentieren, dass das Unbewusste nicht von speziellen Ereignissen in unserem
Leben herrührt sondern aus genetischen Quellen stammt, die nie allzu spezifisch
sind. Ja, es gibt genetische Kräfte, aber verwechseln wir nicht neun
entscheidende Lebensmonate im Mutterleib mit genetischen Kräften. Ohne
Fundament in der Evolution können wir nie verstehen, wie sich Neurose
entwickelt und wie eine geeignete Psychotherapie umgekehrte Neurose ist, indem
sie sich mit den schmerzvollen Einprägungen in der umgekehrten Reihenfolge
befasst, in der sie angelegt worden war. Es geht nicht nur um Schmerz aus
unserer Kindheit sondern auch aus unserer Babyzeit und, was am wichtigsten ist,
auch aus unserer Zeit im Mutterleib. Und es geht nicht einfach darum, sich mit
diesen Ereignissen vom Standpunkt eines Erwachsenen zu befassen, sondern
- weitaus wichtiger -
darum, diese Ereignisse mit dem Gehirn wiederzuerleben, das damals die höchste
Ebene neuraler Organisation war. Wir hatten im Mutterleib ein Gehirn, dass in
der Lage war, schädliche Ereignisse wie Schmerz aufzuzeichnen, zu verschlüsseln
und einzuprägen und sie ein Leben lang zu behalten. Und diese Ereignisse
bestimmen Jahrzehnte später unser Leben.
Wenn
wir einmal ein festes Verständnis von Geschichte und ihrer Evolution haben,
werden wir wissen, dass sich mit psychischer Krankheit zu befassen nicht
bedeutet, sie einfach zu verstehen sondern in sie einzutauchen, uns in unsere
Geschichte und ihre Gefühle zu versenken, ihrer Macht zu weichen, bis Worte
nicht mehr ausreichen. Worte können die Aufgabe schlichtweg nicht erledigen;
Worte sind tatsächlich die Antithese der Heilung, denn sie schaden jedem
therapeutischen Fortschritt, so seltsam das klingen mag. Da liegt der Haken.
Denn es bedeutet, sich über die Freudsche Warnung hinwegzusetzen, dass man
Patienten nicht ins tiefe Unbewusste versenken solle, ein Unbewusstes, von dem
die Freudianer sagen, dass es unwiderruflich die Psyche zerrüttet. Und es ist
diese Warnung, die zusammen mit vielen anderen gleichermaßen falschen dafür
gesorgt hat, dass die Praxis der Psychotherapie im Mittelalter verharrt, weil
man glaubt, dass es dunkle Mächte gibt, die uns hierhin und dorthin jenseits
unserer Kontrolle treiben. Dafür muss man selbst Augen haben; Ich habe viele
Jahre lang Psychotherapie Freudscher Richtung praktiziert. Ein Hauptgrund, warum
ich das gemacht habe, war, dass es so gut wie keinen anderen Weg für die Praxis
dynamischer Psychotherapie gab. Zumindest postulierte Freud ein Unbewusstes, und
würde er heute leben, wäre er kein Freudianer, da bin ich mir sicher.
Ein
neues Paradigma für die Psychotherapie
Ich
habe gesagt, dass wir nur dort gesund werden können, wo wir verletzt worden
sind. Wir wissen jetzt, dass emotionale Wunden tief im Gehirn außerhalb des
Bewusstseins liegen. Sie werden weit unten ins Gehirnsystem eingeprägt, lange
bevor wir Worte haben, um sie zu beschreiben. Wir können diese Wunden heilen,
wenn wir sie direkt angehen können und nicht durch ein Wortlabyrinth reisen müssen.
Theorien
haben eine Entwicklung. Bleiben wir nicht in der Vergangenheit und in einer
zeitlich eingefrorenen Theorie stecken, die sich nicht grundlegend verändert
hat oder vorangekommen ist. Die Freudsche Theorie hat in 100 Jahren sehr wenig
Änderung erlebt. Der Versuch, eine aktuelle Theorie zu nehmen und sie einem
vergangenen Bezugsrahmen anzufügen, bedeutet, eine neue Wissenschaft zu nehmen
und sie einer alten Theorie anzufügen, die keine Gültigkeit mehr hat. Das ist
kein Fortschritt. Wie ich vorhin gesagt habe, bezweifle ich, dass Freud ein
Freudianer wäre, würde er heute leben. Können wir uns einen anderen
Medizinzweig vorstellen, der noch immer im Griff der Wissenschaft der 1920er
Jahre ist? Freud schrieb sein Hauptwerk, Die Traumdeutung, zu Beginn des letzten
Jahrhunderts. Gewiss hat es seitdem ein wenig Fortschritt gegeben.
Primärtherapie
ist eine Rückfahrkarte zum Startpunkt unseres Lebens, während die meisten
anderen Therapien nur einfache Fahrkarten sind, die uns nur sehen lassen,
wohin wir unterwegs sind, und nicht, wo wir gewesen sind. Mit der Primärtherapie
können wir „wieder nach Hause fahren“. Die Unterdrückung von Gefühlen führt
zu Depression; ihr Ausdruck, nicht unbedingt mit Worten, führt zum Leben.
Halten wir also die Depression an, bevor sie uns anhält.
Vernachlässigen
wir nicht die Vergangenheit im Bemühen, die gegenwärtige Praxis zu
modernisieren. Öffnen wir die Seiten unseres persönlichen Archivs, spüren wir
die Dämonen auf, die jetzt einen Namen haben, lassen wir sie Freiheit
schnuppern, nehmen wir die Schmerzfesseln ab und machen wir mit unserem Leben
weiter. Ende
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Ende des Kapitels
Buchübersetzung: Bücher von A. Janov
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