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Einsichten in die Praxis tiefer Gefühlsarbeit

 

Buchauszug aus "Facing The Wolf" von Theresa Sheppard Alexander

(von mir übersetzt)

 

Theresa Sheppard Alexander:   Facing The Wolf - Inside The Process Of Deep Feeling Therapy

Dutton Adult, 1996, und Plume, 1997, ISBN-10: 052594060X und 0452257210

                                                                                                          

 

Anmerkung der Autorin

Im Kontext dieses Buches haben die Begriffe „fühlen,“ „ein Gefühl haben,“ „ein Gefühl fühlen“ und „verknüpftes Fühlen“ eine sehr spezifische Bedeutung. Für mich bedeuten diese Begriffe einen verknüpften totalen Abstieg in die emotionale Realität eines vergangenen traumatischen Ereignisses. Der Patient kehrt zum Augenblick des Traumas zurück und „fühlt“ die Emotion von damals, die zu schmerzvoll oder furchterregend war, um sie voll zu erleben, als sie sich ereignete. Mit „verknüpft“ meine ich, dass definitive Bewusstheit besteht, was das Trauma in der Vergangenheit war, und auch eine klare Wahrnehmung des aktivierenden Ereignisses in der Gegenwart, falls es eines gibt. Viele Sitzungen beginnen ohne diese Klarheit der Wahrnehmung, aber mit dem Zugang zu tieferen Gefühlsebenen kommt es definitiv zu dieser Erkenntnis.

 

Teil I

Die Tiefengefühlstherapie in der Praxis

Sitzung 1: Die Patientin spricht

 

Mir war früh im Leben klar, dass etwas in meiner Familie nicht stimmte. Ich war mir sicher, dass es nicht in Ordnung war, dass mein Vater uns so oft so sehr heftig geschlagen hat. Nach diesen Prügeln versammelten uns wir Kinder und untersuchten unser Beulen und Blutergüsse. Wir weinten und versuchten einander zu trösten. Wir versprachen uns gegenseitig, dass wir nie im Leben unsere Kinder so behandeln würden. Meine Mutter stritt manchmal heftig mit meinem Vater darüber, dass er uns verprügelte; aber ein anderes Mal wieder war sie diejenige, die die Prügel anzettelte. Ich wusste nie sicher, welche Richtung sie einschlagen würde.

Ich wollte unbedingt wissen, was mit meinen Eltern nicht stimmte, aber noch mehr wollte ich wissen, was mit mir nicht stimmte. Meine Brüder und Schwestern konnten oft lachen und spielen; aber ich schien nie zu anderen Kindern zu passen. Oft war ich ängstlich und scheu. Ich fühlte mich nicht frei, herumzulaufen und zu spielen, wie viele in meinem Alter es anscheinend taten. Ich hatte das Gefühl, ich müsse stillsitzen, ruhig sein – nur keinen Ärger machen. Ich sollte helfen und keine Probleme verursachen.

Ich erinnere mich an viele Beispiele in meinem Leben, als ich Hilfe brauchte und zu ängstlich und verschämt war, darum zu bitten. Die langen Tentakeln diese Gefühls offenbarten sich mir, kurz nachdem meine eigene Gefühlsarbeit begann. Eine gewaltige Erinnerung war, dass ich mich eines Tages nach der Schule im U-Bahn- und Bussystem meiner Heimatstadt verirrte. Ich konnte niemanden nach dem richtigen Weg fragen – keinen Busschaffner oder irgendjemanden mit einem freundlichen Gesicht. Warum? Die Therapiesitzung, die folgt, beantwortet diese Frage. Da sich Primärgefühle auf Besonderheiten beziehen – besondere Erinnerungen und Vorfälle, die dauerhafte Auswirkung auf die Wahrnehmung eines Kindes von sich selbst und von der Welt haben – wird das Folgende minuziös wiedergegeben.

Wie die meisten Leute, die sich in der Kindheit ständig ungewollt und ungeliebt fühlten, betrat ich den Therapieraum und suchte nach Zeichen, dass meine Therapeutin mich entweder hasste oder liebte; ich nahm die leichteste Veränderung in ihrer Aufmerksamkeit als sicheres Zeichen, gehasst zu werden oder unerwünscht zu sein. Ein Lächeln oder Aufhellen der Augen erleichterte mich und ließ mich für wenige Augenblicke sicher fühlen.

An diesem speziellen Tag schien meine Therapeutin nachdenklich und lächelte nicht. Ich wurde ängstlich. Nach ein wenig Schweigen fragte sie: „Wie geht es dir?“

„Oh, mir geht‘s gut,“ antwortete ich mit heller, fröhlicher Stimme.

SCHWEIGEN

„Wirklich gut oder höflich gut?“ fragte sie ruhig.

„Höflich,“ sagte ich, ein bisschen weniger hell.

„Warum sagst du mir nicht, wie es dir wirklich geht?“

Ein Krisenmoment! Konnte ich wirklich sagen, dass ich vor ihr Angst hatte? Dass ich mir sicher war, dass sie mich nicht mochte? Dass ich mir sicher war, sie wünschte sich, aus diesem Raum rauszukommen und sich im Sonnenschein Kaliforniens zu vergnügen? Natürlich nicht. Ich log.

„Oh, ich bin nur ein wenig nervös.“

SCHWEIGEN

Ich füllte das Schweigen mit der Überlegung aus, sie denke, ich sei eine Idiotin, sie frage sich, wie sie nur so eine schwierige und dumme Patientin bekommen habe, und sie wisse, dass ich gelogen hatte.

„ ‚Nervös‘. Was bedeutet das?“

Oh-oh. Ich konnte fühlen, wie sie mich umzingelte. Jetzt wollte ich aus diesem Raum raus.

„Du weißt schon – Schmetterlinge in deinem Bauch, dein Herz schlägt schneller – solche Sachen.“

„Nein, ich weiß nicht, wie das für dich ist. Sag‘s mir.“

„Nun, nervös ist, wenn du ein wenig Angst hast.“

„Und jetzt hast du Angst?“

„Ängstlich, vielleicht.“

„Was ist es, das dich nervös und ängstlich macht?“

Ich konnte noch immer nicht sagen: „Ich habe Angst, dass du mich nicht magst und nicht willst, dass ich hier bin.“ Also kam ich der Wahrheit ein wenig näher aber sagte sie dennoch nicht. „Hier zu sein,“ murmelte ich.

„Was am Hiersein macht es für dich aus?“

SCHWEIGEN

Mein Verstand hastete herum, versuchte zu denken. Ich hatte Angst vor ihr. Ich hatte Angst, dass sie mich nicht mochte. Ich hatte Angst, ihr zu sagen, dass ich Angst hatte, und ich hatte Angst, dass ich das falsch machte.

„Ich vermisse mein Zuhause.“ Ich sagte eine Wahrheit, aber nicht die Wahrheit.

„Oh,“ sagte sie. „Ist es schwer, so weit von zuhause weg zu sein?“ Ihre Stimme hörte sich sanft an.

„Ich will nach Hause gehen.“ Tränen traten in meine Augen, und ich legte meine Hand über meinen Mund, presste meine Lippen zusammen. Ich hatte Angst, irgendein Geräusch zu machen. Dann stutzte mein Fühlen abrupt. Ich war verwirrt.

„Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht, weswegen ich weine.“

„Du hast geweint, als du sagtest ‚Ich will nach Hause gehen.‘ „

Wieder traten mir die Tränen in die Augen, als ich sagte: „Ich möchte nach Hause gehen.“ ich weinte für ein paar Sekunden, hörte dann wieder auf.
Schweigen regierte.

„Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“

„Lass‘ dich das weiter sagen,“ wies mich meine Therapeutin an.

„Ich will nach Hause gehen…….Ich will nach Hause gehen.“

Nichts geschah.

„Woran hast du gedacht, als du zuerst geweint hast?“ fragte sie.

Ich wurde sofort wieder traurig, als ich mich an den gelben Briefkasten vor meinem Haus erinnerte, der gelbe Briefkasten, der dreitausend Meilen weg war in einem anderen Staat, denn ich war in Los Angeles und hatte meine Drei-Wochen-Intensivphase. „Ich fühle mich so weit von Zuhause weg. Ich weiß nicht, wann ich dort wieder hinkomme oder wann ich meinen Freund sehen werde.“

Jetzt weinte ich richtig, Tränen strömten über mein Gesicht. Ich redete immer noch sehr leise; kein Ton des Weinens kam über meine Lippen. Meine Gedanken fingen an zu wandern, und ich dachte an meinen Freund. Ich fühlte mich nicht schlecht, als ich an ihn dachte. Dann peilte mein geistiges Auge wieder den gelben Briefkasten an, und ich versank in Traurigkeit. Irgendwie bedeutete dieser Briefkasten daheim sein. „Ich will nach Hause gehen,“ sagte ich immer wieder und sah dabei den Briefkasten mit meinem inneren Auge. Nachdem ich ungefähr zehn Minuten sehr leise geweint hatte, hörte ich auf, schnäuzte mir die Nase und erzählte meiner Therapeutin von der Bedeutung des gelben Briefkastens, dass er zu Hause sein bedeutet.

„Ja,“ sagte sie, „du wirst herausfinden, dass es normalerweise ein visuelles Bild oder einen Ausdruck gibt, der dich mit deinem Gefühl verknüpft hält. Es tut mehr weh, wenn du daran denkst. Wenn du zulässt, in die Richtung zu gehen, wo es weh tut, bedeutet das, dem Gefühl zu folgen. Gibt es noch etwas, an das du gedacht hast oder an das du dich erinnert hast, als du geweint hast?“

„Ja, ich habe überlegt, warum zu Hause sein so wichtig ist. Deshalb, weil du zuhause Hilfe bekommen kannst.“

„Und fühlst du jetzt das Bedürfnis nach Hilfe?“ fragte meine Therapeutin. Ich spürte einen Angstschauer. Sie kam sehr nahe heran. Irgendwie schien es nicht so schwer, ihr dieses Mal die Wahrheit zu sagen. „Ja, und das macht mir ziemlich Angst. Ich habe das Gefühl, dass du mich nicht magst und dass du nicht willst, dass du mir helfen musst.“ Heimlich warf ich einen schnellen Blick auf ihr Gesicht. Sie sah nicht verärgert aus, was ich eigentlich erwartete.

„Warum sollte ich dir nicht helfen wollen?“

„Ich weiß es nicht.“

Es gab eine lange Pause. Die Augenblicke verrannen, und ich fühlte mich immer elender; ein schweres Gefühl saß hoch in meiner Brust, und meine Nase und mein Hals fühlten sich dick an. Die Zeit verging, und ich wurde allmählich sehr traurig. Warum sollte sie mir nicht helfen wollen? Es schien einfach nicht möglich, dass sie es tun würde.

„Willst du, dass ich dir helfe?“

Noch eine lange Pause, weil es mir wieder sehr schwer fiel, es zuzugeben.

„Ja.“

„Bitte mich.“ Ihre Stimme klang freundlich.

Meine geistige Stimme schrie „Hilf mir!“, aber als ich endlich redete, sagte ich es nicht so. „Hilf mir,“ sagte ich sehr ruhig, dann: „Niemand will mir helfen.“

Als ich diese Worte sagte, heulte ich los. Tränen strömten aus meinen Augen. Ich war sehr ruhig, wie immer, aber es war schwierig, so zu bleiben. Die Traurigkeit war so tief, dass meine Brust schier zerspringen wollte. Aber was ich gesagt hatte, war die Wahrheit. Niemand wollte mir helfen. Ich wusste es. Ich war mir dessen völlig sicher. Ich drehte mich auf der Couch auf die Seite und weinte und weinte, dachte: „Niemand will mir helfen.“ Schluchzen erschütterte meinen Körper. Meine Therapeutin blieb ruhig. Dann dachte ich: „Warum will mir niemand helfen? Warum? Warum? Warum?“

Als ich weinte, fühlte ich mich mehr und mehr allein und immer ungewollter. Zuerst dachte ich weiterhin an meine Therapeutin und wollte, dass sie mir hilft, dass sie mir helfen will. Mein Herz tat weh.

Ich fing an zu sagen: „Mein Herz tut weh.“

Jedes Mal, wenn ich den Satz wiederholte, schien mir mein Herz mehr weh zu tun. Plötzlich gab es einen Wechsel bei dem, was ich in meinem geistigen Auge sah. Aus irgendeinem Grund dachte ich an meinen Vater. Es war eine solche Überraschung, dass mein Weinen zum Stillstand kam. Warum dachte ich an ihn?

Ich griff nach ein paar Papiertaschentüchern aus der Schachtel in der Nähe. Ich schnäuzte mich wiederholt, war verblüfft, dass so viel Schleim aus meinem Körper kommen konnte. Als ich so dalag und ruhig über das nachdachte, was soeben geschehen war, konnte ich kaum glauben, dass ich diese Dinge zu meiner Therapeutin gesagt hatte, dass ich sie wirklich hatte wissen lassen, was ich fühlte.

Ich blieb ziemlich lange still. Dann wurde mir bewusst, dass meine Therapeutin noch immer dasaß. Ich drehte mich zu ihr um und sagte: „Ich dachte plötzlich an meinen Vater, ich weiß nicht einmal warum.“ Eine Weile sagte sie nichts und dann fragte sie, was ich über ihn gedacht habe.

Ich geriet in eine innerliche Abwärtsspirale, mein Gehirn spulte zurück zu dem Moment, als er vor meinem geistigen Auge auftauchte. Ich konnte sein Gesicht klar sehen, es wirkte sehr kühl und uninteressiert. Mein Vater war ein sehr gut aussehender Mann, aber hier sah er nicht gut aus. Ich sagte meiner Therapeutin, dass ich ihn sehen könne und dass er so kalt und gleichgültig aussehe.

„Wie fühlst du dich, wenn du sein Gesicht so siehst?“ fragte sie mich. Als ich mich ihn wieder sehen ließ vor meinem geistigen Auge, bekam ich ein sich setzendes Schweregefühl mitten in meiner Brust. Bald erkannte ich, was das Gefühl war. Ich wurde traurig, sehr traurig. Ich teilte ihr das mit. Wir schwiegen lange Zeit. Als das Schweigen weiterging, konnte ich fühlen, dass ich trauriger und trauriger wurde, obwohl ich nicht wusste warum.

„Wann hast du diesen Blick im Gesicht deines Vaters gesehen?“ Die Stimme der Therapeutin blendete sich plötzlich in meinen Tagtraum ein. Mit dieser Frage. Ich fühlte, wie mein Herz einen Hechtsprung machte in noch tiefere, schwärzere Traurigkeit. Ich war plötzlich verwirrt und überwältigt von den Bildern aus meiner Kindheit, die in meinem geistigen Auge aufblitzten. Szenen flitzten vorbei – eine Autofahrt, in der Küche stehen, oder draußen im Garten – dann verlangsamte sich alles und der Brennpunkt engte sich auf das Gesicht meines Vaters ein.

Es war, als hätte sich eine Tür in die Vergangenheit geöffnet. Mein Vater stand auf der Veranda unseres Hauses, als ich gestützt von meinem jüngeren Bruder nach Hause hinkte. Er hatte einen Topf in seinen Händen und trocknete ihn ruhig mit einem Geschirrtuch. Ich schaute hoch, als ich unten an der Verandatreppe angekommen war, und sah diesen Blick in seinem Gesicht. Ich begann, meiner Therapeutin zu erzählen, woran ich mich erinnert hatte, und brach mit den Worten „Er wollte mich nicht holen“ in Tränen aus.

Mein ganzer Körper und meine Gefühle wurden zurückkatapultiert zu jenem Sommertag genau vor meinem zwölften Geburtstag. Er hatte mit Aufregung und Vorfreude begonnen. Es war der Tag des jährlichen Picknicks für die Ministranten und Chormädchen aus meiner Pfarrschule. Für unser Jahr treuen Dienstes wurden wir alle mit einem kostenlosen Ausflug in den Palisades Park in New Jersey belohnt! Mein Bruder Arthur und ich fuhren zusammen mit, weil er ein Ministrant war. Wir waren aufgestanden und angezogen, lange bevor wir es mussten, und stürmten durch die Haustüre hinaus mit dem Widerhall des „Viel Spaß und seid vorsichtig“ unserer Mutter in unseren Ohren. Wir sprangen und rannten auf unserem Weg zur Schule, wo wir Charter-Busse zum Vergnügungspark nahmen.

Das war der einzige Tag des Jahres, an dem die Schwestern uns nicht zu anständigem Benehmen ermahnten. Wir lachten und spielten in den Bussen, und die Nonnen selbst hatten viel Spaß mit uns, waren neckisch und scherzten. Als wir schließlich im Palisades Park angekommen waren, war unsere Stimmung auf einem fiebrigen Höhepunkt der Aufregung. Wir blieben ein paar Minuten im Bus, als wir unsere Zuweisungen bekamen: Jede Nonne hatte zehn von uns in ihrer Verantwortung, und wir wurden strikt angewiesen, bei der uns zugeteilten Schwester zu bleiben und nicht verloren zu gehen. Mit einer letzten Anweisung, uns zum Mittagessen wieder nahe bei den Picknick-Tischen zu treffen, wurden wir aus dem Bus entlassen. Nach ein paar Minuten waren die Busse abgefahren. Um vier Uhr nachmittags würden sie zurückkommen, um uns nach Hause zu bringen.

Wilde Aufregung, wir begannen auf dem Picknick-Areal herumzuspielen, noch ehe wir zu einem der Fahrgeschäfte kamen. Lachend und kichernd liefen wir im Kreis herum, als die Schwestern die Kühlboxen mit unserem Essen auf den Tischen aufbauten. Ich spielte mit einigen meiner Freundinnen vom Chor ein schnelles Fangspiel, als mich ein entsetzlicher Schmerz wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Mein Fuß steckte an einem Holzbrett fest. Ein Nagel hatte sich durch meinen Schuh gebohrt und war tief in meinen rechten Fuß eingedrungen. Ich schrie vor Schmerz und war bald von Nonnen und Kindern umringt. Als ich mir meinen Fuß anschaute, wurde mir übel und schwindelig – das Brett steckte noch immer dran.

Mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung bekam ich meinen Fuß frei. Dann verließ mich alle Kraft, und eine Schwester half mir auf eine Sitzbank. Ich fühlte mich schwach und ängstlich. Mehr als alles andere wollte ich nach Hause. Das stellte ein Dilemma dar, weil die Busse bereits abgefahren waren und es für mich keine Möglichkeit gab, nach Hause zu kommen. Schwester Michael Andrew reinigte die Wunde und trieb irgendwo einen Verband auf. Aber dennoch gab es kein Loskommen von dem Schmerz; ich litt unerträgliche Qualen. Es war erst zehn Uhr, und es waren noch sechs Stunden durchzustehen, bis wir abfahren konnten. Obwohl mein Fuß höllisch weh tat, wünschte ich mir doch so sehr, mit den anderen Kindern zu den Fahrgeschäften zu gehen, und die Schwestern einigten sich darauf, mich versuchen zu lassen, mit ihnen herumzulaufen. Anfangs ging es gar nicht so schlecht, aber im Lauf des Tages schmerzte mein Fuß immer mehr.

Ich weinte ein paar Mal, meist versuchte ich aber tapfer zu sein. Alle waren unglaublich nett zu mir, und eines der Chormädchen, das viel größer als ich war, trug mich eine Zeit lang. Gegen zwei Uhr schließlich musste ich mich hinsetzen; ich war auf einem Bein herumgehüpft, und ich war erschöpft und hatte Schmerzen. Ich setzte mich mit einer der Schwestern an die Picknick-Tische. Ich konnte dort aber nicht ruhig sitzen bleiben, denn mein Fuß pochte und brannte, egal welche Position ich versuchte. Ich tröstete mich mit Gedanken an daheim und an meine Eltern, die das alles in Ordnung bringen würden.

Endlich trafen die Busse ein, und wir fuhren in Richtung Schule los. Die Nonnen versuchten zu arrangieren, dass der Busfahrer mich direkt zuhause absetzte, aber das funktionierte nicht; irgendwie musste er einer festgelegten Route folgen, und es war ihm nicht möglich, von dieser Strecke abzuweichen. Schließlich wurde vereinbart, dass er mich an meiner Straße aussteigen ließ, aber einige Blocks von meinem Haus entfernt.

Zu dem Zeitpunkt konnte ich meinen kleinen rosa Schuh nicht mehr anziehen. Wenn ich es versuchte, tat es so weh, dass sich mir der Magen umdrehte. Arthur, kleiner als ich und genau so erschrocken wie ich, half mir aus dem Bus. Ich bog meinen Fuß nach hinten wie ein Flamingo und fing an, einbeinig die Straße hinabzuhüpfen.

Es war immer noch ein wunderschöner Tag, und der Blumenduft aus all den Gärten wehte in der kühlenden Abendluft zu uns rüber. Mein Bruder und ich versuchten zu scherzen, wie komisch wir doch aussahen, als wir die Straße entlanghoppelten, aber wir konnten nicht wirklich lachen. Ich hatte zu große Schmerzen. Mein Fuß fühlte sich geschwollen und heiß an. Er pulsierte und vibrierte vor Schmerz. Jeder Hüpfer erschütterte ihn wieder und wieder. Ich konnte das Pulsieren meines Blutes überall in meinem ganzen Fuß spüren, und was es pulsieren ließ, war Schmerz. Ich konnte ihn nicht mehr aushalten. Ich begann zu weinen. „Bitte geh‘ nach Hause und hol‘ Papa. Es tut jetzt zu sehr weh,“ sagte ich. Mein Bruder machte sich auf und rannte nach Hause.

Ich setzte mich auf die steinerne Stützmauer eines Nachbar-Gartens und wartete. Zuerst konnte ich nicht aufhören zu weinen, aber langsam ließ der Schmerz nach, als ich ruhig dasaß. Immer wieder blickte ich die Straße hinab, wartete darauf, die große Gestalt meines Vaters zu sehen, der kommen und mich retten würde. Zweimal sah ich aus der Entfernung Männer auf mich zukommen und entspannte mich bei dem Gedanken an die straken Arme meines Vaters, die mich auf dem restlichen Weg nach Hause tragen würden. Beide Male schlug mein Herz schneller, doch es setzte beinahe aus, als der Mann näher kam und ich sah, dass es ein Fremder war. Schließlich sah ich meinen Bruder Hubert – der ein bisschen größer und stärker war als Arthur – die Straße zu mir heraufzustapfen. Er kam und stellte sich ganz nah zu mir, sah mir in die Augen und sagte traurig: „Papa hat gesagt ‚komm nach Hause.‘ „

Ich war fassungslos. Wie sollte ich ohne seine Hilfe heimkommen? Aber ich war im militärischen Tonfall meine Vaters nach Hause befohlen worden, den er immer benutzte, wenn er es ernst meinte, und ich wusste, dass ich gehen musste. Mit der Hilfe meines Bruders und nach mehreren Halten unterwegs gelangte ich schließlich zu den Stufen, die auf unsere Veranda führten. Dort schaute ich nach oben und sah Papas Gesicht.

Ich weinte die ganze Zeit, als ich diese Geschichte meiner Therapeutin ‚ausschüttete.‘ Die Erzählung kam auch nicht in einem klaren Abschnitt heraus. Es gab viele, viele Unterbrechungen, als ich weinte und weinte und die Geschichte von meinen Vater zusammenstückelte, der sich weigerte mir zu helfen. Am heftigsten weinte ich an zwei Stellen. Ich wusste, dass es wichtig war, ihr diese mitzuteilen, weil sie in einer früheren Sitzung ausdrücklich die Bedeutung dieser „Hot Spots“ betont hatte, Stellen, die bei mir den intensivsten Schmerz und die tiefste Traurig verursachten.

Der erste Brennpunkt war, als ich auf der Mauer saß, darauf wartete, dass Papa kam, und meinen jüngeren Bruder auf mich zukommen sah. „Er kommt mich nicht holen. Es kümmert ihn nicht, dass ich verletzt bin,“ schluchzte ich. Und dann begann ich, unterstützt durch die starke Ermutigung meiner Therapeutin - „lass‘ es heraus, lass‘ dich alles sagen“ - , in meinem Gefühlserlebnis zu bitten und zu flehen. „Papa, bitte komm, bitte, bitte, bitte, ich brauche dich jetzt wirklich. Ich habe versucht, tapfer zu sein, aber es tut zu sehr weh.“

Ich schluchzte und weinte vor Schmerz und Fassungslosigkeit die ganze Zeit, als ich diese Worte sagte.

Wie konnte er nicht kommen, wenn ich ihn doch so verzweifelt brauchte?

Der Schmerz im Inneren war wie ein schwarzes Loch, das alles andere in sich hineinsaugte und nichts außer Schmerz zurückließ. Ich ertappte mich selbst, wie ich mir bei dem Versuch, den Schmerz aufhören zu lassen, auf die Lippen biss und meinen Atem anhielt.

Plötzlich war meine Therapeutin direkt neben mir in Hockstellung auf dem Boden, ohne Körperkontakt aber sehr nahe. Ihre Stimme war sanft aber sehr eindringlich: „Du musst es nicht mehr drin behalten. Lass‘ das Gefühl jetzt heraus.“ Der Damm brach. Ich fing zu kreischen an: „Hilf mir! Hilf mir, Hilfe, Hilfe, Hilfe, Hilfe, bitte hilf mir. Ich bin dein kleines Mädchen. Bin ich dir egal? Ich bin deine kleine Tochter. Ich warte und ich brauche dich. Hilfe, Hilfe, Hilfe, Hilfe. Es tut mir weh. Es tut weh. Es tut weh. Ich habe Schmerzen. Ich habe Schmerzen. Es tut weh. Ich brauche dich. Es tut weh.“

Schließlich hatte ich nichts mehr zu sagen und weinte ohne Worte weiter und weiter, als es in mein Bewusstsein drang, dass mein Vater mich nicht gern genug gehabt hatte, um zu kommen und zu sehen, wie schlimm verletzt ich war. Nach etwa zwanzig Minuten, die mir wie eine Ewigkeit schienen, ließen das Schluchzen und die Traurigkeit nach. Ich erinnere mich, dass ich, als ich mich von dem Gefühlserlebnis erholte, erstaunt war über die Details meiner Erinnerungen. Das Gefühl der Steinmauer, die hinten gegen meine Beine drückte, der Schatten meines eigenen Körpers auf dem Gehsteig, der Duft der Blumen im Garten, alles kam zu mir zurück, als ich tief in mein Feeling ging. Als mein Bewusstsein zurück in die Gegenwart wechselte, wurde ich mir meiner Therapeutin wieder bewusst.

Eine geraume Weile schwiegen wir beide, und dann sagte ich zu ihr: „Er wollte nicht einmal sehen, wie schlimm ich verletzt war.“

„Dein eigener Vater weigerte sich, dir zu Hilfe zu kommen. Unglaublich,“ war ihre Antwort. Ihre Stimme klang traurig und mitfühlend und schien die Traurigkeit wiederzugeben, die ich gefühlt hatte.

Dann fragte sie: „Was geschah, als du nach Hause kamst?“ Als ich nochmals von der langsamen, hüpfenden Fortbewegung die Straße hinab zu unserem Haus erzählte, konnte ich fühlen, dass ich wieder traurig wurde. Immer tiefer wurde mir bewusst, dass mein Vater, mein einziger und alleiniger Vater sich nicht die Mühe machen konnte, mir zu helfen, mir nicht einmal helfen wollte.

Der Anblick meines Vaters blieb bei mir, als ich meine Erinnerungen durch die Jahre zurückrollen ließ. Nachdem ich heimgekommen war, drehte sich Papa um und ging ins Haus, ehe ich die Stufen heraufkam. Meine Mutter war in der Küche gewesen und hatte, wie ich später herausfand, keine Ahnung, dass ich mich verletzt hatte oder dass ich Hilfe herbeigerufen hatte. Sie eilte aus der Küche und entfernte sofort den Verband von meinem Fuß und fragte mich, was passiert war. „Das ist ein tiefer Einstich,“ sagte sie. „Wir müssen dich in die Notaufnahme ins Krankenhaus bringen. Du brauchst eine Tetanus-Spritze.“

Mein Vater sagte sofort: „Krankenhaus? Ich ging nie ins Krankenhaus, wenn ich auf einen Nagel getreten bin.“ Dann griff er nach meinem Fuß, sah sich das Loch darin an und ließ meinen Fuß mit einem empörten Prusten wieder fallen. „Das sieht mir nicht sehr ernst aus.“

„Ob es für dich ernst aussieht oder nicht – es ist ernst,“ beharrte meine Mutter. „Wir nehmen das Auto und bringen sie gleich weg.“ 
„Ich fahre sie nicht ins Krankenhaus, und das ist endgültig.“
Mutter versuchte es wieder. „Gib mir die Schlüssel, und ich fahre,“ sagte sie.
„Ich habe nein gesagt und nein gemeint!“ Damit stürmte Papa aus dem Zimmer. Meine Mutter lieh sich schließlich von einem Nachbarn Krücken aus und brachte mich in stundenlanger Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ins Krankenhaus.

Als ich meiner Therapeutin das alles erzählte, war ich traurig und zornig, aber einfach zu müde von meinen früheren Gefühlsausbrüchen, um da tiefer reinzugehen. Es war einfach mehr von derselben Art. Er wollte mir nicht helfen und wollte auch nicht, dass mir sonst jemand hilft. Ich weinte ein bisschen mehr, und dann breitete sich Schweigen zwischen uns aus. Ich dachte über die Sitzung nach, dass es so schwierig war, ihr zu sagen, dass ich Angst hatte und Hilfe brauchte. Jetzt sagte ich ihr, dass ich am Anfang gelogen hatte, dass ich zu viel Angst gehabt hatte, ihr die ganze Wahrheit zu erzählen. Jetzt war es so ungemein klar: Wenn mein eigener Vater sich weigerte, mir zu helfen, wie sollte ich da glauben können, dass ein Fremder – sogar meine Therapeutin – es tun würde? Er hatte es geschafft, dass ich mich für mich selbst schämte, dass ich mir sicher war, keiner Hilfe wert zu sein.

„Hat das es für dich so schwer gemacht, mir zu sagen, dass du wolltest, dass ich dir helfe?“ fragte sie.

„Definitiv,“ antwortete ich. „Ich konnte es nicht riskieren, diesen Blick im Gesicht von jemand je wiederzusehen. Und ich war mir völlig sicher, dass auch du mir nicht helfen wolltest.“

„Wie ist jetzt dein Gefühl? Will ich dir helfen?“

„Es scheint fast möglich.“

„Es wird möglicher werden,“ sagte sie mit einem Lächeln. An welche anderen Situationen erinnerst du dich, in denen du Hilfe brauchtest?“ fragte sie.

Ich erinnerte mich sofort an die Situation, als ich mich im Bus- und U-Bahn-System meiner Stadt verirrte. Stundenlang war ich suchend herumgelaufen und hatte gehofft, selbst den richtigen Weg zu finden. Ich dachte daran, um Hilfe zu bitten; aber ich konnte es einfach nicht. Ich hatte zuviel Angst. Jetzt wusste ich, dass ich davor Angst hatte, zurückgewiesen zu werden. Als nächstes erzählte ich ihr von meinen Gefühlen als Schülerin. Wenn ich etwas im Klassenzimmer nicht verstanden habe, habe ich nie nach weiteren Erklärungen gefragt, sondern tat einfach so, als sei alles gut. Dann dachte ich an meine Beziehung mit meinem Freund und begann ihr von meinem Gefühl zu erzählen, völlig unabhängig sein zu müssen. Ich wollte nie, dass ich etwas von ihm brauche, und versuchte immer mit aller Macht, wirklich alles selbst zu tun. Es gab auch Situationen, wo ich dachte, er sollte, ohne dass ich ihn darum bitten musste, wissen, dass ich Hilfe brauche, und ich wurde wütend, wenn er es nicht wusste.

„Hat dich dieses Gefühlserlebnis sonst noch beeinflusst?“ ware ihre nächste Frage. Meine jüngeren Brüder und Schwestern kamen mir sofort in den Sinn. Wenn einer oder eine von ihnen mich um etwas bat, habe ich Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um es für sie zu bekommen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie etwas brauchten und es nicht bekamen. Ich wollte nicht, dass sie sich so fühlten, wie ich mich an diesem langen Sommertag gefühlt hatte, und ich wollte es selbst nicht fühlen, indem ich sie leiden sah. Ich erkannte plötzlich, dass ich nicht einmal wusste, ob ich ihnen helfen wollte; ich konnte einfach die Vorstellung nicht ertragen, ihnen nicht zu helfen.

Meine Therapeutin erklärte mir, dass dieses Problem jetzt nicht auf magische Weise behoben sei, weil ich dieses eine Feeling erlebt habe, dass es mir gelegentlich noch immer schwerfallen werde, um Hilfe zu bitten, dass es für mich aber mit der Zeit immer möglicher wird. Wir redeten noch eine Zeit lang, einigten uns auf einen Zeitpunkt für unsere Sitzung am nächsten Tag, und dann ging ich.

Als ich nachher draußen zu Fuß ging und auf meine Uhr sah, konnte ich kaum glauben, dass mehr als zwei Stunden vergangen waren. Ich fühlte mich leicht und sorgenfrei. Die Sonne schien heller zu scheinen; Gerüche waren intensiver, und mein Körper glühte vor Energie. Ich wollte laufen, auf den Putz hauen. Ich war glücklich! War es wirklich möglich, sich glücklich zu fühlen, nachdem man all den Schmerz und all die Traurigkeit erlebt hatte? Offenichtlich war es so.





Ende des Kapitels




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