Einführung
„Vor dem Wolf kannst du nicht davonlaufen, weil der Wolf mir dir mitläuft.“ Dieses dänische Sprichwort sagt es, wie es wirklich ist. Im Lauf der Jahre wurde mir langsam klar, dass der Wolf meiner Kindheit – meine Angst, mein Schmerz und meine Wut – immer bei mir war, immer lauerte, jeden Augenblick sprungbereit war. Manchmal war der Wolf wild und raubgierig, tobend und schlitzend wegen einer kleinen Verfehlung seitens eines anderen. Das passierte oft mit einem meiner jüngeren Brüder oder Schwestern oder mit einer Person, bei der ich mir sicher war, dass sie mir körperliches Leid antun würde. Ein anderes Mal duckte sich derselbe Wolf und war unterwürfig just in dem Augenblick, der meine Stärke und meinen Mut erforderte. Diese Seite meiner verletzten Persönlichkeit kam zum Vorschein, wenn ich in Konflikt mit einer starken Autoritätsfigur geriet oder wenn ich unter Leuten war, von denen ich so sehr wollte, dass sie mich mochten.
Oft konnte ich in diesen Situationen nicht kontrollieren, was ich tat. Ich schrie andere, vor denen ich keine Angst hatte, heftig
an, wenn sie einen kleinen Fehler machten, ertappte mich aber dabei kleinlaut zuzustimmmen, den viel größeren Fehler zu bereinigen, den ein furchterregender Mensch gemacht hatte. Wenn ich später auf meine Handlungen zurückblickte, verzehrte ich mich vor Scham oder Traurigkeit. Aber das nächste Mal tat ich wieder dasselbe. Ich versuchte, über die Situation oder die Gefühle hinauszuwachsen und fand doch nur, dass mein unangemessenes Verhalten auf andere Bereiche meines Lebens aussickerte. Allmählich spürte ich, dass ich mit diesem Wolf gefangen war, dass er mich für immer über über die Landschaft meines Lebens jagen würde, ein Leben, das sich leer, dumm und sinnlos anfühlte.
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich jahrelang gekämpft habe, um die Auswirkungen meiner Kindheit zu kontrollieren, zu verändern und zu verleugnen. Ich dachte, alleine durch mein Erwachsenwerden und durch das Verlassen des Elternhauses könnte ich der Realität der Qual und Traurigkeit entkommen, die ich dort erlitten hatte. Was für eine schreckliche Entdeckung es war herauszufinden, dass dies nicht möglich war.
Eine weitere Konsequenz der Jahre, in denen ich ein verschrecktes, ungeliebtes Kind war, war die unüberbrückbare Kluft zwischen meinen Gefühlen, meinem Verstand und meinem Körper. Diese Spalte in mir machten mich sehr anfällig für Gefühle der Verwirrtheit, Selbstverachtung und Furcht. Oft war ich voller Traurigkeit über etwas, das mir widerfuhr, während ich mich gleichzeitig mit einem kritischen, gefühllosen Auge selbst beobachtete. Einmal wurde ich von einem Busfahrer sehr grob behandelt, als ich im Süden zu Besuch war. Ich zitterte vor Wut auf den Busfahrer, während die Tränen meinen Hals verengten. Aber ich beobachtete auch kalt meine Reaktionen und schimpfte mit mir selbst, dass ich überhaupt in den Bus gestiegen war, dass ich den Fahrer um Auskunft gebeten hatte und dass ich keine schlaue Antwort auf seine Grobheit hatte. Noch Monate danach fing mein Magen zu schmerzen an, sobald ich an diesen Vorfall dachte, während ich mit dem falschen Anschein innerer Ruhe in den gewöhnlichsten Alltagsumständen steckte. Ich traute niemandem, nicht einmal mir selbst, weil ich wusste, dass ich mich im nächsten Augenblick gegen mich selbst wenden konnte. Ich hatte kein Mitgefühl mit mir selbst, außer in extrem kurzen Momenten, die ich verächtlich als „ mich selbst bemitleiden“ bezeichnete.
Viele meiner Lehrer hatten mir gesagt, ich sei ein sehr gescheites Mädchen mit ziemlich viel Potenzial. Ich war eine
Finalistin des National-Achievement-Scholarship und hatte als solche Stipendium-Angebote von mehreren Hochschulen und Universitäten erhalten. Im Herbst 1967 fing ich in einer Hochschule in meiner Heimatstadt an. Ich schaffte es nur zwei Wochen, in der Schule durchzuhalten, ehe mich die Angst und die Furcht über meine Fähigkeit überwältigte, die Arbeit machen zu können. Ich ging ohne ein Wort zu irgendjemanden. Zeitweise besuchte ich die Schule wieder und belegte einen Kurs. Ich konnte meine intellektuellen Fähigkeiten nicht auf volle und bedeutungsvolle Weise nutzen. Ich bestritt meinen Lebensunterhalt mit perspektivlosen Hilfsarbeiten. Dennoch besuchte ich regelmäßig meine lokale Bibliothek, las alles, was ich konnte, über Psychologie und versuchte zu verstehen, was mit mir nicht stimmte.
Dann im Mai 1970 hatte ich im Alter von zwanzig das Glück, auf den Urschrei zu stoßen, ein Buch von Arthur Janov, Ph.D.
Zwar war ich ziemlich verdutzt über die grandiosen Behauptungen, besonders darüber, dass die Therapie nur ein dreiwöchiger Prozess sei, nichtsdestotrotz aber trieb mich die Hoffnung, dass einiges von dem, das er schrieb, wahr sein könnte. Elf Tage, nachdem ich das Buch gelesen hatte, war ich durch die Großzügigkeit von Arthur und Vivian Janov eine Patientin in der Primärtherapie. Während dieser Therapie konnte ich durch die tiefgreifenden Wirkungen der Konfrontation mit dem Trauma und dem Schmerz, die ich in meiner Kindheit erlitt, in einem Ausmaß gesunden und wachsen, das ich nicht für möglich gehalten hatte. Natürlich dauerte der Prozess dieser Therapie weitaus länger als drei Wochen.
Nach einigen Jahren in der Therapie war ich mit einem stärkeren Selbstgefühl gerüstet, fühlte mich zuversichtlicher und glücklicher, konnte deshalb meine Ausbildung fortsetzen und erhielt meine akademischen B.A. und M.A. Grade. Ich nahm auch an dem Ausbildungsprogramm am Primal Institute in Los Angeles teil und erwarb fünf Jahre später mein Zertifikat als Primärtherapeutin. Danach arbeitete ich einige Jahre für das Primal Institut. Als ich ich mehr Erfahrung hatte, begann ich, Therapie-Praktikanten im Ausbildungsprogramm des Instituts auszubilden und zu betreuen. Schließlich wurde ich Direktorin der Instituts-Niederlassung in New York City. 1981 verließ ich das Institut und entwickelte eine Privatpraxis in New York. Jetzt lebe und arbeite ich in Nordkalifornien.
Dies ist die Geschichte meiner ursprünglichen Begegnung mit meinen eigenen tiefsten Gefühlen. Obgleich die Details einzig auf mich zutreffen, glaube ich, dass viele der Einsichten und Erkenntnisse ebenso für andere relevant sind.
Der erste Teil des Buches umfasst die Sitzungen, die so klar wiedergegeben werden, wie meine Erinnerungen und ausführlichen Tagebücher es zulassen. Sie werden aus wechselnder Perspektive dargestellt: die der Patientin, die ich zuerst war, und dann die der Therapeutin, die ich später wurde.
Der zweite Teil des Buches präsentiert die eher technischen Aspekte der Tiefengefühlsarbeit. In meinen Tagebüchern und Erinnerungen sind meine eigenen Gedanken und Gefühle sehr klar und werden nahezu wortgetreu wiedergegeben. Da meine erste Therapeutin während der „Intensivphase“ meiner Therapie, Ellen Janov, vor vielen Jahren bei einem Hausbrand sehr tragisch ums Leben gekommen war, konnte ich mich nicht mit ihr beraten, als ich dieses Buch schrieb. Folglich sind die Stimme, die Gedanken und Wahrnehmungen des Therapeuten die meinigen, und sie beruhen darauf, wie ich Tiefengefühlstherapie jetzt ausführe.
Ich habe mich aus zwei Gründen dafür entschieden, tatsächliche Sitzungen und Ereignisse aus meiner eigenen Therapie zu benutzen und die Reaktionen und Eingriffe des Therapeuten aus meiner eigenen Erfahrung als Therapeutin zusammenzustellen. Erstens wollte ich sicher sein, dass es kein Bedauern über die enthüllten Geheimnisse geben würde, obwohl ich es in Betracht zog, Sitzungen mit einigen meiner eigenen Patienten zu benutzen, um diese Therapieform aus Sicht des Therapeuten zu schildern. Nach tiefem Gedankenaustausch und Diskussionen mit einem geachteten älteren Kollegen kam ich zu dem Schluss, dass ich nur durch die Nutzung meiner eigenen Geschichte sicherstellen konnte, dass ich nicht die Grenzen meiner Patienten verletzen würde. So entschied ich mich, meine eigenen Geheimnisse zu enthüllen anstatt die von anderen. Zweitens wurde ich absolut daran gehindert, meine Therapeutin als Quelle bei der Rekonstruktion ihres Teils unserer gemeinsamen Reise zu nutzen, weil sie tot ist. Weil der Dialog das Format ist, das am besten lehrt, wie diese Arbeit gemacht wird, fühlte ich mich gezwungen, das Wissen der einzigen anderen Person in diesem Raum, als meine Therapie stattfand, zu nutzen, nämlich mein eigenes.
Meine weitere Absicht bei der Darstellung der Therapiesitzungen in Dialogform ist, den Prozess zu entmystifizieren, mit dem man in tiefe Gefühle geht. Obwohl in den letzten Jahren einige Therapeuten und Psychotherapie-Praktiker angefangen haben, über den Nutzen der Konfrontation mit und des Zugangs zu den eigenen tiefen Gefühlen zu schreiben, hat meines Wissens niemand den Prozess so dargestellt, wie er von Moment zu Moment geschieht. Indem ich das Buch auf diese Weise schreibe, ist es meine Absicht, den inneren Prozess von Momenten tiefen Fühlens zu zeigen.
Indem sie meine Schilderung dieses Heilungsprozesses lesen und erleben, erkennen andere vielleicht den Nutzen daraus, dass man den Mut hat, sich mit der eigenen schmerzvollen und traumatischen Vergangenheit zu konfrontieren.
Eine Kindheit mit Misshandlung/Missbrauch wird nicht ausgelöscht, wenn man das Erwachsenenalter erreicht. Man kann sie auch nicht vergessen oder ignorieren. Einige Auswirkungen lassen sich mildern und ein Teil des Schmerzes lässt sich lindern durch die verbalen Diskussionen, das intellektuelle Verständnis, durch die Bewusstheit der tiefen Gefühle und durch die verknüpfte Beziehung, die von konventionellen Psychotherapien benutzt wird. Aber ich glaube tief und fest, dass für einige von uns, besonders für diejenigen, die am schwersten verletzt worden sind, echtes Wachstum und echte Heilung nur stattfinden kann durch die Konfrontation und das Fühlen dieser äußerst schrecklichen Erinnerungen, die noch immer in den tiefen Rissen der Psyche und des Herzens lauern. Verleugnung kann den Schmerz nicht wegnehmen, aber Trauer und Einsicht können Heilung bringen. Meine eigene frühe Therapieerfahrung im Alter von zwanzig hatte eine tiefgreifende und anhaltende Wirkung. Natürlich wurde ich in diesen kurzen Wochen meiner Anfangs-Intensivphase nicht „geheilt,“ wie ich es so naiv erhofft hatte, aber ich war auf dem Pfad zur Genesung. Ich hatte angefangen, mich umzudrehen und meinem Wolf ins Auge zu blicken, anstatt zu versuchen wegzulaufen.
Mit der Zeit kam es zu einer Veränderung in der Art und Weise, wie ich mich selbst fühlte, und ebenso änderte sich die Art der Lebensführung, die ich wählte. Der Schlüsselbegriff hier ist „Wahl.“ Bis ich anfing, mich mit meinem Schmerz und seinem sich ergebenden und sich fortsetzenden Schaden zu konfrontieren, hatte ich selten das Gefühl, eine Wahl zu haben.
Von Bedürfnissen und und Ängsten getrieben verhielt ich mich kontinuierlich auf bestimmte Weise, weil ich mich gezwungen fühlte, es zu tun, und tatsächlich mich selbst sabotierte. Dieses Verhalten und viele anderen Aspekte meiner Persönlichkeit, die Interaktion mit mir selbst, mit anderen Leuten und mit der Welt änderten sich als Ergebnis der Konfrontation mit meinen tiefsten Gefühlen und Ängsten. Jetzt weiß ich, dass ich nicht allein war im Durchleiden dieser Gefühle, aber damals dachte ich, dass niemand anders mit diesen Problemen kämpfte. Ich glaube, dass andere davon profitieren können, dem Wolf entgegenzutreten – dass sie auch Leute mit Wahlmöglichkeiten werden können.
In mehr als zwanzig Jahren Praxis habe ich mit Leuten aus vielen Ländern und Kulturen gearbeitet und gelernt, dass meine Kindheitsgeschichte nicht einzigartig ist. Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern ist nicht begrenzt auf Bürger eines Landes oder einer ökonomischen Schicht und auch nicht auf Menschen, die eine bestimmte Religion praktizieren. Ich hoffe, mein Buch wird letztlich dazu beitragen, den Schmerz zu mindern, den Kinder in unserer Gesellschaft erleiden, weil es meine Überzeugung ist, dass, wenn Erwachsene die Konfrontation zulassen mit den Vergangenheitserinnerungen ihrer eigenen schmerzvollen Kindheit, sie in der Gegenwart nicht mehr empfindungslos sind für die Bedürfnisse und Gefühle von Kindern.
Ich biete dieses Werk als Fanal der Hoffnung für diejenigen an, die noch immer unter den Langzeit-Auswirkungen von Kindheitsschmerz leiden.
Ihr könnt gesund werden.
-Theresa Sheppard Alexander im Mai 1995
Ende des Kapitels
Artikel
und Buchauzüge