DR. ARTHUR JANOV: DIE BIOLOGIE DER LIEBE
Die amerikanische Originalausgabe mit dem Titel "THE BIOLOGY OF LOVE" erschien anno 2000 bei Prometheus Books, New York.
© Copyright 2000 Dr. Arthur Janov
aus dem Amerikanischen von Ferdinand Wagner
Es gibt zurzeit keine deutsche Übersetzung auf dem Buchmarkt
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Über dieses Buch
Aber über die Analyse psychischer und physischer Leiden hinaus ist die Biologie der Liebe auch ein Buch über Heilung. Janovs einzigartige therapeutische Techniken befähigen seine Patienten, jene kritischen Perioden der Liebes-Deprivation wiederzuerleben, welche die Wurzel ihrer Probleme sind. Janov nutzt die Schilderungen von Patienten, die bemerkenswerte Veränderungen erfahren haben, um zu zeigen, wie er ihnen half, durch die Freisetzung der zu Grunde liegenden psychischen Spannungen, die ihr Leben jahrzehntelang verkrüppelt hatten,"die Geschichte umzukehren." Dieses provokative Originalwerk, das jüngste neurologische Forschung und psychologische Theorie mit Dr. Janovs langer Erfahrung in der erfolgreichen Behandlung von Patienten synthetisiert, ist zum einen verständlich für den gebildeten Laien und zum anderen von großem Interesse für Fachleute in Medizin und Psychologie.
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TEIL I
DIE STRUKTUR DES GEHIRNS
INHALTSVERZEICHNIS
DANKSAGUNG | Seite 13 |
EINLEITUNG | Seite 15 |
TEIL I | DIE STRUKTUR DES GEHIRNS 21 |
KAPITEL 1 |
Die Struktur des Gehirns
Der frontale Kortex und Gefühle
(28) |
KAPITEL 2 |
Der frontale Kortex - Das Gehirn des denkenden Menschen (34)
Wie ein
zorniger Blick zu
einer chemischen Substanz in unserem Gehirn wird (38)
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KAPITEL 3 |
Die Alarmstation -Das retikuläre
Aktivierungssystem (81) -
Der
Locus caeruleus: im Zentrum des Terrors (83)
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KAPITEL 4 | Der Hypothalamus - Kurier der Gefühle (87) - Der cinguläre Kortex (91) |
KAPITEL 5 | Der
Sympath und der Parasympath: Wie die Persönlichkeit im Mutterleib geformt
wird (93) - Eine Therapie für den emotionalen Notfall (100) |
KAPITEL 6 | Die
drei Ebenen des Bewusstseins (106)
- Instinktives
Bewusstsein der ersten Ebene (106) |
KAPITEL 7 | Der Begriff der kritischen Perioden (144) - Synaptogenesis (145) |
TEIL II |
LEBEN
IM MUTTERLEIB, ERINNERUNG UND EINPRÄGUNG 153 |
KAPITEL 8 | Die
Einprägung der Erinnerung (155)
- Die
lange Geschichte der Erinnerung (157)
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KAPITEL 9 | Wie der
Kode der Erinnerung entschlüsselt wird (165)
-
Wie
die biologischen Sollwerte wieder in Ordnung gebracht werden (171)
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KAPITEL 10 | Der
Auslöse-Effekt (183)
- Komm einfach darüber
hinweg! (185)
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KAPITEL 11 | Leben im
Mutterleib - Vorspiel zum realen Leben (198) - Berührung
ist Liebe ( 201)
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KAPITEL 12 | Das
Geburtstrauma - Wie es unser Leben bestimmt (219) - Ist das Unbewusste gefährlich? (220) I |
KAPITEL 13 | Der Stress-Faktor: Ein anderes Gehirn wird aufgebaut (228) |
KAPITEL 14 | Die
Schleusentheorie (231) - Die
Angst vor dem Tod (235) Die Rolle des Serotonins im Schleusungsprozess (238)
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TEIL III | DIE MACHT DER LIEBE 261 |
KAPITEL 15 | Liebe hat viele Namen (263)
Wie man einen Fetus liebt (264)
Und die Kinder werden die Eltern sein (267) |
KAPITEL 16 | Fehlender Sauerstoff ist fehlende Liebe (287) |
KAPITEL 17 | Oxytozin und Vasopressin - Die
Hormone der Liebe (291)
Liebe und Überleben (298) |
KAPITEL 18 | Über Sexualität und
Homosexualität (313)
Kleiner
Junge - völlig verloren (315) |
KAPITEL 19 | Was hat Liebe damit zu tun (322) |
KAPITEL 20 | Psychotherapie und das Gehirn - Wie man das Gehirn gesund macht (330) |
ANHANG I | Begriffserklärungen (343) |
ANHANG II | Warnung (351) |
ANHANG III | Namen-und Sachregister (355) |
DANKSAGUNG
Die Arbeit an diesem Buch erstreckte sich über viele
Jahre. Entlang des gesamten Weges gab es Menschen, die dabei geholfen haben, es
zu dem zu machen, was es ist. Da ist mein Forschungsassistent, David Lassoff,
und mein wissenschaftlicher Berater, Dr. Jonathan Christie. Ich möchte
Professor Frank Wood vom Wake
Forest University Medical Center danken, der einen Großteil der Neurologie für
mich bearbeitet hat. Wenn ein paar Unstimmigkeiten geblieben sind, so trage ich
die Verantwortung. Meinen Dank an Dianne Woo, die das Buch hinsichtlich der
englischen Sprache und der Organisation bearbeitete, und schließlich an meine
Frau France, Doktorandin und Kodirektorin des Primal Institute in Venice,
Kalifornien, die sicher stellte, dass meine Auffassungen von der aktuellen
Praxis der Primärtherapie mit ihren klinischen Erfahrungen übereinstimmen. Sie
verbrachte Monate damit, mich bei
diesem Werk zu unterstützen. Ich bin Dr. Paul MacLean vom Nationalen Institut für
Psychische Gesundheit zu Dank verpflichtet für seine Arbeit und für sein
unermessliches Wissen über das Gehirn; wir alle sitzen zu seinen Füßen. Nicht
nur ich schulde Dr. MacLean Dank. Wir alle im Fachgebiet erkennen an, dass ohne
ihn die Gehirnforschung nicht bis zu dem Punkt vorangekommen wäre, wo wir heute
stehen. Ich bin ebenso Dr. Allan Schore zu Dank verpflichtet, der das
geschrieben hat, was für mich die Bibel der modernen Neuropsychologie ist. Dr.
Michael Odent, Autor von The Nature of Birth and Breastfeeding und Birth
Reborn, gab uns viele hilfreiche Anregungen zur Geburt. Dank an Carol
Donner, die das Gehirn bildlich so dargestellt hat, dass einige meiner Begriffe
leichter zu verstehen sind. Schließlich danke ich meinen Patienten, von denen
ich jeden Tag mehr lerne, und meinen Angestellten, die die jahrelange Ausbildung
zu einem äußerst schwierigen Beruf geduldig auf sich nehmen, weil sie um seine
Bedeutung für die Rettung von Leben wissen.
Dr. Arthur Janov,
Venice,
Kalifornien |
15, 16
EINLEITUNG
Lassen Sie mich zu Beginn erklären, worum
es in der Biologie der Liebe geht und worum es nicht geht. Es geht darum,
wie die Liebe der Eltern in den frühen Phasen des Lebens uns alle beeinflusst,
wie sie buchstäblich das Gehirn formt und sich ein Leben lang auf uns auswirkt.
Die Biologie der Liebe handelt nicht von akademischer Neurobiologie.
Angesichts der aufregenden neuen Entdeckungen, die in diesem Bereich der
Gehirnforschung gemacht worden sind, besteht die Notwendigkeit, unser Wissen über
Neurologie und unsere Beobachtungen in der klinischen Praxis zusammenzuführen
und in einer nicht-technischen Weise zu präsentieren.
Dieses
Buch ist für Laien geschrieben, die erfahren wollen, wie Gefühle und
Emotionen - die ‚Motionen’, die wir machen, wenn wir fühlen - unser Leben
lenken. Auf diesen Seiten nehme ich ausgewählte Fakten aus aktueller
Forschung und setze sie in einen
Bezugsrahmen, der weit auseinander liegende Ergebnisse in bindenden
Zusammenhang bringt.
Über das Gehirn sind viele neue Untersuchungen angestellt worden, die es uns ermöglichen, die Gebiete der Dynamischen Psychologie und der Neurologie zu verbinden. Wir können alle diese neuen Forschungsarbeiten nutzen, um zu verstehen, warum wir nicht schlafen können, warum wir Albträume haben, warum wir so getrieben sind, warum wir oft weder mit anderen auskommen können noch Beziehungen halten können, warum wir nicht lieben können, warum wir Alkohol und Drogen nehmen und wie die sich auf das Gehirn auswirken, wo der Schmerz hingeht, nachdem wir ihn erfahren, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn sie ins Unterbewusstsein gezwungen werden, wie unsere Gefühle verdrängt werden, was im Unbewussten liegt und viele weitere Aspekte derNatur des Menschen. Diese Entdeckungen sind nur dann von Bedeutung, wenn sie uns schließlich helfen, dass wir uns besser fühlen und ein annehmbares Leben führen können. Wir werden sehen, wie sich die Liebe der Mutter direkt in die Biochemie ihres Kindes übersetzt und wie diese Liebe das Gehirn zu neuer Gestalt formt. Das „geliebte“ Gehirn ist anders.
Wenn wir
eine gute Vorstellung davon haben, wie emotionaler Schmerz das Gehirn verändert,
können wir vielleicht die Behandlung für diesen Schmerz hinsichtlich
neurologischer Veränderungen messen. Wo zum Beispiel entstehen
Zwangsvorstellungen, und ganz zuerst, warum entstehen sie? Ich glaube, wir
wissen warum, nachdem wir Dutzende von Fällen zwanghafter Rituale behandelt
haben. Wie können wir emotionale Probleme wie Phobien, sexuelle Abweichungen
und impulsives Verhalten lösen? Was genau ist „verrückt“? Wo im Gehirn könnten
wir diese Verrücktheit finden, falls es tatsächlich einen Ort gäbe, wo sie
existiert? Ich werde auch die verschiedenen aktuellen Tranquilizer diskutieren und erörtern,
wie sie funktionieren, um uns zu beruhigen. Was beruhigen sie wirklich?
Obwohl
der übliche Standesdünkel – oder dessen Mangel – besagt, dass wir
irgendwie niemals genug wissen, um endgültige Aussagen über die Ursachen
psychischer und emotionaler Probleme zu machen, glaube ich, dass wir nun genug
wissen und zu einigen Antworten gelangen können, ohne dass wir auf
„Psycho-Chinesisch“ oder technischen Jargon zurückgreifen müssen. Wir
werden nie genug wissen, um ein absolutes und endgültiges Urteil über
irgendein Thema abgeben zu können, aber das sollte uns nicht von dem Versuch
abhalten, einem Fachgebiet Sinn abzugewinnen, in dem das diagnostische Handbuch
dicker ist als das Telefonbuch von Manhattan. In meiner primärtherapeutischen
Arbeit habe ich das tiefe Unbewusste Tausender von Patienten ergründet. In den
vergangenen dreißig Jahren habe ich unentwegt an der Überzeugung festgehalten,
dass es vorgeburtliche und geburtliche Trauma-Erfahrungen gibt, die sich auf das
spätere Leben auswirken. Jetzt zieht die Forschung nach. Es gibt Beweise, wo
wir auch hinsehen.
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16, 17
Wenn es für die Theorie und Psychotherapie keine
wissenschaftliche Basis gibt und wenn Beobachtungen durch vorgefasste Ansichten
entstellt werden, ist das Resultat ein Phänomen wie Rebirthing-Therapie, in der
man Patienten anleitet, zu schreien und auf die Wände einzuschlagen, um
„ihren Schmerz freizusetzen“. Das ist keinesfalls „Therapie“, und es ist
schädlich. Man muss den Menschen gestatten, sich nach und nach ihren eigenen
Weg durch die Gehirnebenen hinab zu erarbeiten, damit sie die tiefste Ebene des
Unbewussten erreichen und mit ihr in Verbindung treten können. Um das zustande
zu bringen, müssen wir wissen, was sich unten im Gehirn befindet, und innerhalb
seiner Strukturen arbeiten. Ohne dieses Wissen ist jeder auf sich allein
gestellt, verloren in einem Meer von Ansätzen, die keine Verankerung in der
Wissenschaft haben. Eine einzige Auffassung, nämlich die Konzeption der Einprägung, würde meiner Einschätzung
nach die Praxis der gegenwärtigen Psychotherapie verändern. Deshalb werde ich
einige Zeit darauf verwenden, sie zu erörtern. Wir haben zu viel Zeit darin
investiert, gegenwärtige Quellen von Stress zu erforschen, um Erscheinungen wie
Angst, Magenbeschwerden, hohen Blutdruck, Herzrasen, Depression usw. zu
verstehen, weil wir den zentralen Bestandteil vieler Störungen ausgelassen
haben – die Geschichte......den eingeprägten Schmerz.
Obwohl ich siebzehn Jahre lang in der Praxis
psychoanalytischer Therapie tätig gewesen war, war ich erst 1967 zum ersten Mal
Zeuge tiefer Gefühle und verbrachte Jahrzehnte mit dem Versuch,
herauszubekommen, was dahinter steckt. Es waren Gefühle, die ich nie zuvor
gesehen hatte. Ja, meine früheren Patienten weinten und schluchzten , aber so
gut wie nie wälzten sie sich unter Höllenqualen am Boden und schrien ihren
Schmerz hinaus. Für Menschen, die nicht jeden Tag ihres Lebens unter Schmerz
stehen, mag diese Vorstellung abwegig scheinen. Sie ist es nicht.
Als mir im Jahr 1971 Professoren in der Abteilung für
Neurologie der UCLA sagten, dass die Speicherung von Geburtserinnerungen unmöglich
sei, warf das meine Arbeit um Jahre zurück. Schließlich lernte ich, dass die
Speicherung nicht nur möglich ist, sondern auch in hohem Maße bestimmend für
unser späteres Leben. Unsere Arbeit am UCLA-Lungenlabor brachte die Forschung
voran, insbesondere in Bezug auf das Geburtstrauma. Wir diskutierten die
Schleusung, noch ehe die Schleusentheorie in der aktuellen Literatur
auftauchte. In meinem Buch von 1971, Die Anatomie der Neurose, erörterte
ich die Rolle des Serotonins für psychische Krankheiten, bevor die Forschung
nach einigen Jahre nachzog. Ich sage das nicht aus Rechthaberei, sondern um zu
zeigen, dass wir neuen Ansätzen gegenüber nicht zu engstirnig sein dürfen. Es
ist bequem, an unseren alten Vorstellungen festzuhalten, manchmal zu bequem; sie
werden zu einem Katechismus, den wir jeden Tag herunterbeten.
Die
Biologie der Liebe wirft
einen Blick darauf, wie die ersten Wochen und Monate unseres Lebens – nicht
des sozialen Lebens, sondern des vorsozialen Lebens im Mutterleib – unser
Gehirn verändern; wie Gefühle und Erinnerungen ins Gehirn eingestempelt werden
und wie und warum sie für den Rest unseres Lebens fortdauern. Sie befasst sich
damit, warum nichts im Erwachsenenleben grundlegend ändern kann, was mit uns
als Kleinkindern und sogar schon vor der Geburt geschah. Wenn uns in einer
kritischen Periode ein Trauma widerfuhr oder
Liebe fehlte, kann nichts im Erwachsenenleben das ändern, weil die Änderungen,
die zu jener Zeit stattfanden, dem neurobiologischen System bleibend eingeprägt
wurden. Aber verlieren Sie nicht den Mut; es gibt Lösungen, die ich in diesem
Buch ansprechen werde.
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18, 19
Wir werden uns das Leben im
Mutterleib anschauen und seine Auswirkungen auf uns als Erwachsene. Wir wissen
zum Beispiel, dass die Praxis, der Mutter während der Schwangerschaft schwere
Beruhigungsmittel zu verabreichen, das System
des Babys lahm legt. Das hat lebenslange Auswirkungen zur Folge, die von
niedriger Libido bis zu passiven, phlegmatischen Charaktermerkmalen reichen. Wir
wissen, dass eine Frau, die während der Schwangerschaft Beruhigungsmittel nimmt
und/oder erhebliche Mengen Alkohol konsumiert, bereits den
Neurotransmitter-Spiegel ihrer Leibesfrucht beeinträchtigt; das führt möglicherweise
zu Ängstlichkeit oder Depression im späteren Leben des Kindes. Wenn im Gehirn
der schwangeren Mutter ein Mangel an hemmenden Neurohormonen auftritt, so trifft
dies auch auf ihr Baby zu. Wenn eine Mutter ihr Kind liebt, verstärken sich die
Hormone der Liebe (Oxytozin, Vasopressin und Serotonin) im Baby ein Leben lang.
Es wird als Erwachsener eine bessere Mutter oder Vater für seine eigenen Kinder
sein. Es wird eine andere Physiologie haben als die eines Menschen, der in
seiner frühen Kindheit keine Liebe erfahren hatte.......und ein anderes Gehirn.
Vorgeburtliche
Traumen verursachen Veränderungen im Neurotransmitter-Ausstoß und in der
Anzahl der Rezeptoren. Neurotransmitter sind die chemischen Vehikel, die unsere
Gefühle durch das gesamte Nervensystem transportieren oder diese Gefühle
abrupt zum Stillstand bringen. Eine zu große Menge an Schmerz, ein zu lange
anhaltender früher Mangel an Liebe kann die Schleusen gegen das Fühlen
verschließen. Einer teuflischen Dialektik folgend kann früher Schmerz die
„Schleusen“ schwächen, die unser Gehirnsystem errichtet, um eben dieses
Trauma zu blockieren. Das Neugeborene einer heroinsüchtigen Mutter ist im
wahrsten Sinne des Wortes arm dran. Seine Endorphin-Rezeptoren sind verkleinert,
um sich an die Drogensucht der Mutter anzupassen. Eine glückliche, wohlgenährte
Schwangere hingegen verleiht ihrem Fetus das ausreichende Rüstzeug, um sich den
potentiellen Hürden der Geburt und späterer Widerstände im Leben zu stellen.
Das Baby wird reichlich mit Anti-Angst- und Anti-Schmerz-Hormonen ausgestattet,
so dass es sich über Hindernisse und Widrigkeiten hinwegsetzen kann.
Ich untersuche auch die Auswirkungen mütterlicher oder väterlicher
Liebe auf unsere Biologie, und wie fehlende Liebe von Beginn an unseren
„denkenden“ Kortex und unser „fühlendes“ Limbisches System verändert.
Wenn die emotionale Harmonie zwischen Mutter und Neugeborenem gering ist,
entwickeln sich zum Beispiel Nervenzellen in bestimmten Gehirnstrukturen nicht
richtig. Der präfrontale Kortex – die planende, denkende, logische,
integrierende äußere Schicht der Gehirnzellen – wird durch fehlende Liebe am
Lebensanfang geschwächt, und er wird deshalb im späteren Leben nicht im vollen
Umfang funktionieren. Die Deprivation führt zu verringerter Impulskontrolle und
reduziert das abstrakte Denkvermögen; ebenso beeinträchtigt sie die
Koordination und mindert die Fähigkeit, im Voraus zu planen.
Wenn eine
Mutter oder ein Vater während der ersten Monate des Lebens dem Baby nicht mit
Liebe und Wärme in die Augen schaut, es nicht liebkost, nicht mit ihm redet und
keine Liebe zu ihm empfindet, dann bestimmt dieser Gefühlsmangel die
Wachstumsrate der kortikalen Nervenzellen - oder Neuronen - im Gehirn des
Kindes. Das Kind zu lieben bedeutet, sein Gehirn zu lieben. Unter sonst gleichen
Umständen ist das geliebte Gehirn das normale.
Die
Beschreibung von Schlüsselstrukturen des Gehirns in diesem Werk ist nicht als
endgültiges Modell gedacht. In späteren Kapiteln werde ich die Rolle, die
spezifische Gehirnstrukturen bei Emotionen und Gefühlen spielen, detaillierter
untersuchen und ebenso, wie sie Liebe oder dessen Mangel in körperliche
Symptome übersetzen.
Was hat
Liebe damit zu tun? Mehr als wir uns vorstellen können. Liebe ist nicht einfach
ein Wort, das man einem Kind gegenüber äußert, sondern ein Akt des Fühlens,
der ironischerweise meistens keine Worte erfordert. Wenn wir unser Kind herzen
und küssen und es innig lieben, empfängt es die Botschaft, und sein Leben wird
völlig anders sein. Wenn wir es nicht tun, werden Worte nicht helfen.
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TEIL I DIE STRUKTUR DES GEHIRNS |
KAPITEL 1 DIE STRUKTUR DES GEHIRNS Das Gehirn spiegelt unsere evolutionäre
Geschichte wider. Vom Reptiliengehirn, das den Instinkt steuert, bis zum Limbischen System, das Gefühle verarbeitet, und zum frontalen Kortex, der den
Verstand und das Denken regelt, ist das Gehirn eine Karte zu unseren Ursprüngen.
Dieses bemerkenswerte selbstkonstruierte Organ befindet sich seit vielen
Hundertmillionen Jahren in der Entwicklung. Gedanken liegen im
intellektuellen Bereich, Gefühle im emotionalen Bereich. Wenn eine Person
sagt „Ich fühle mich minderwertig“, so spricht sie von zwei Ebenen aus.
Der Gedanke der Minderwertigkeit ist eine Begebenheit der obersten kortikalen
Gehirnebene. Das Gefühl der Minderwertigkeit ist ein Ereignis der unteren
Gehirnebene. Es ist das Limbische System, das uns das Fühlen des Gefühls
anbietet. Hierin liegt der erste bedeutende Kernpunkt: Es reicht nicht, über
Gefühle nachzudenken. Es ist wesentlich, sie zu empfinden, so dass wir die Fähigkeit
zu fühlen erlangen. Gefühle sind unsere Menschlichkeit.
Wenn wir in unserer Kindheit
nicht geliebt und bewundert werden, sondern stattdessen mit Gleichgültigkeit
und Missachtung behandelt werden, können wir uns durchaus als „nicht gut
genug......nicht gut genug, um geliebt zu werden“ fühlen. Das wird zu einer
Einprägung.* Sie ist von Dauer. Wenn diese Art von
Behandlung durch die Eltern die ganze Kindheit weitergeht, dann wird die Einprägung
weggeschlossen. Das bedeutet, dass alle Ermutigung der Welt im Alter von
zwanzig Jahren dieses Gefühl nicht auslöschen wird. Ermutigung – „Du
bist wunderbar, weißt du“ – ist ein Gedanke; Gedanken können an Gefühlen
nichts ändern. Nur Gefühle können das. Diese scheinbar simple Auffassung
hat tiefgreifende Implikationen. Denn wenn wir unsere Menschlichkeit
wiedergewinnen wollen, müssen wir unsere Gefühle wiedergewinnen; und das
schaffen wir nicht allein auf dem Gedankenweg. Seite24 |
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ändert sich durch frühe
Traumen und schafft dadurch eine andere Art von Gehirn. Wenn wir nicht von früh
an geliebt werden (und was ich diskutiere, das findet immer ganz früh im Leben
statt, vor der Geburt und in den ersten achtzehn Monaten nach der Geburt), haben
wir in gewissem Sinne „nicht alle unsere Tassen im Schrank“, um den
Lebenskampf antreten zu können. Diese „Tassen“ sind unter anderem die
synaptischen Anschlussstellen. Dort werden die chemischen Boten abgeladen, die
Information entweder zurückhalten oder ihre Kommunikationsfähigkeit
verbessern, besonders in Richtung höhere Ebenen, die aus all dem einen Sinn
machen könnten.Beruhigungsmittel wirken in diesen Spalten meistens dahingehend,
dass sie die Nachricht verhindern - eine sehr alte....“niemand kümmert sich
um mich.“ Das Gehirn, das Limbische System und der Hirnstamm sind mit
Nachrichten wie dieser beladen. Die spinnenartigen Zweige, die
von einer Nervenzelle zu anderen Neuronen führen, werden Dendriten genannt; sie
liefern Informationen zu anderen Nervenzellen. Wenn Liebe fehlt, leiden die
Dendriten. Es gibt weniger Verzweigungen, und das Resultat ist ein anderes –
und permanent anderes – Gehirn. Die Anzahl der Stresshormon (Kortikosteroid-)
– Rezeptoren hat sich auch verringert, so dass es wahrscheinlich mehr frei
fließende Stresshormone im Gehirn gibt.6 Was besonders in den
limbischen Gefühlszentren übrig bleibt, ist ein toxisches Gehirnmilieu mit
weniger Synapsen, die Information von einer Region zur anderen befördern könnten.
Das mag erklären, warum ein Mensch anderen nicht sympathisch und für deren
Schmerz nicht empfindsam ist; weil er nämlich sich selbst gegenüber
unempfindsam ist. Seine Gefühlszentren sind geschwächt. Viele verschiedene Substanzen
erfüllen die Funktion dieser Boten. Sie helfen dabei, Informationen einer
tieferen Ebene zu höheren Arealen zu befördern. Serotonin, zum Beispiel, unterstützt die Hemmung von Schmerz und
hat auch mit Sattheit zu tun - ein ganz positiver Aspekt. Ich werde mich jedoch
auf seine repressiven Komponenten konzentrieren, weil es im Grunde ein hemmender
Neurotransmitter ist. Acetylcholin befördert Informationen zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark. Norepinephrin kontrolliert Herzfrequenz und Stressreaktion. Es steht mit Belohnung in Zusammenhang. Dopamin hilft bei der Koordination von Körperbewegungen und dabei, uns und unseren Kortex zu stimulieren, damit wir wachsam werden, und es wird mit Zielstrebigkeit in Verbindung gebracht. Zu viel Dopamin kann jedoch den Kortex überstimulieren und uns buchstäblich „verrückt machen“. Die Endorphine spielen eine Hauptrolle in der Kontrolle unserer Empfindlichkeit für Schmerz. Diese Neurotransmitter werden in späteren Kapiteln ausführlicher diskutiert, aber für den Augenblick müssen wir uns bewusst sein - und die meisten von uns sind es bereits -, dass das Gehirn seine eigenen Schmerztöter produziert. Gelegentlich werde ich mich auf bestimmte Transmitter konzentrieren, insofern sie sich auf emotionale Verstimmungen beziehen; ich denke aber immer daran, dass diese chemischen Substanzen einen weitgefächerten Funktionsbereich haben. Seite 33 |
Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter all den „Gefühlszuständen“, die in der psychiatrischen Literatur erörtert werden, ein Gehirn steckt, eines, aus dem Angst und Depression aussickern. Wir wollen herausfinden, wo dieses Phänomen stattfindet und warum. Was ist verantwortlich dafür, dass es geschieht? Sollen wir schmerzvolle Information auf ihrem Weg zu vollständigem Bewusstsein automatisch unterdrücken? Wenn sich der Mensch mit Beruhigungsmitteln besser fühlt,- können wir das als Heilung betrachten? Reicht das? Oder muss man für die Verdrängung einen Preis zahlen?
*
Anm.
d. Übers.: „Imprint“: Prägung/Einprägung. In der
Psychologie/Verhaltensforschung existierte der deutsche Begriff „Prägung“
vor dem englischen „Imprint.“ Da aber der Begriff „Prägung“ meiner
Ansicht nach zu schwach ist, um ein früh eingraviertes Trauma angemessen zu
beschreiben, übersetze ich „imprint“ überwiegend mit „Einprägung.“
N. 1
Der locus caeruleus erzeugt Norepinephrin – Aktivierung. NE moduliert
den Kortex als Reaktion auf Stress oder Lust, aber ich werde mich auf Stress
konzentrieren.
Siehe: N.
Singewald und A. Philippu, „Neuroanatomy of the Pain System and of
the Pathways that Modulate Pain,“ Progress in Neurobiology 56, no. 2
(Oktober 1998): 237-67.
N. 2 Siehe
K. H. Pribram und D. Mcguinness, „ Arousal, Activation, and Effort: Separate
Neural Systems,“ Psychological Review 82, no. 2 (März 1975): 116-49.
N. 3 Joseph
LeDoux, The Emotional Brain (New York: Simon & Schuster, 1996), s. 163.
N. 4
C. H. Foyer und Graham Noctor, “Leaves in the Dark Sea the Light,”
Science 284, no. 5414 (23. April 1999): 599
N. 5
Ibid. N.6 A. Barzanges et al., « Maternal Glucocorticoid Secretion Mediates Long-Term Effects of Prenatal Stress,” Journal of Neuroscience 16 (15. Juni 1996): 3943-49 |
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zwischen
Gefühlszentren und ihren kortikalen Gegenstücken gibt. Wir sind dann gezwungen,
uns allein von kortikalen Zentren leiten zu lassen. Wir versuchen, den Grund für
unsere Wut zu erklären: „Wenn du das nicht gesagt hättest, würde ich nicht
wütend werden“; „Wenn du aufhören würdest, mich unter Druck zu setzen, wäre
ich nicht so aufgebracht.“ Solche Vorstellungen sind niemals irrational; sie
sind zuallererst Antworten auf die vergangene Geschichte. Deshalb gibt es so
viele Einsichten nach einer Wiedererlebens-Erfahrung: Unter blockierten Gefühlen
liegt die wahre Ursache für die Wut. Anstatt zu sagen „Ich bin verrückt
geworden, weil du mich nicht respektiert hast“, lernen wir: „Ich bin verrückt
geworden, weil mein Vater mich die ganze Zeit heruntergesetzt hat und
dann, als ich protestierte, gedroht hat, mich zu verhauen.“ Es ist nun
therapeutisch, aus Protest gegen sein Verhalten auf die gepolsterten Wände
einzuschlagen und die Wut rauszulassen. Es ist niemals genug, über den Zorn zu
diskutieren. Jemand kann den Drang verspüren,
die Energie des frühen Liebesmangels in bestimmte Kanäle zu lenken, und
niemals wissen warum. Schlimmer noch, vielleicht ist der Person nicht einmal
klar, dass es diesen Mangel gab. Sie fühlt sich einfach unbehaglich, nicht wohl
in ihrer Haut. Eines ist sicher: Wenn sich die Person nicht in Bewegung hält, fühlt
sie sich nicht wohl. Eine Patientin war ständig auf Achse, reiste hierhin und
dorthin, nur um herauszufinden, dass es keinen Ort gab, wo sie hätte hingehen können.
Genauer gesagt: Um sich davor zu bewahren es herauszufinden, hatte sie nie einen
Ort, wo sie hingehen – hinfliehen konnte. Sie war auf der Flucht vor dem
Innersten ihrer qualvollen Kindheitsschmerzen, die in einem kalten, harten, gefühllosen
Elternhaus geschaffen worden waren, aus dem sie entkommen musste. Ohne volles Bewusstsein wird
die Person einfach ängstlich sein.
Der Thalamus: Schalt- und Relaisstation des
Gehirns Der Thalamus ist eine Schlüsselstruktur
im Limbischen System und ein Hauptakteur bei frühen Traumen. Nach der
vierzehnten Schwangerschaftswoche ist er voll funktionsfähig.8 Zum
Teil besteht die Funktion dieser Struktur darin, Gefühle zu integrieren und
dabei zu helfen, sie an den frontalen Kortex weiterzuleiten, wo sie konkreten
Zusammenhang und Bedeutung annehmen. Nach der vierzehnten Woche können wir
sehen, wie entscheidende Verbindungen
zwischen thalamischen und kortikalen Zentren hergestellt werden. Es gibt einige
Beweise, dass der Tastsinn, der teilweise durch den Thalamus organisiert wird,
bereits im Mutterleib nach dem dritten oder vierten Monat registrierfähig ist. W. J. Nauta, ein Pionier auf dem Gebiet der Neurologie, und Mitverfasser Michael Feirtag
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niedrigeren Lymphozyten-Produktion des Immunsystems. Kurz gesagt,
„psychosomatisch“ bedeutet nicht, dass sich etwas Psychisches auf das Soma
oder den Körper auswirkt. Vielmehr bedeutet es, dass ein Bestandteil der
Erinnerung darin besteht, dass Ereignisse in das körperliche System eingepresst
werden. Es ist nicht entweder das eine oder das andere. Es ist beides zugleich.
Es gibt auf Immunzellen Rezeptoren für schmerztötende Substanzen, welche die
gleichen sind, wie das Gehirn sie herstellt. Schmerz geht direkt zu diesen
Zellen und verändert ihre Immunfunktion. Nach einem Gefühlserlebnis fällt
die Körpertemperatur erheblich, und ebenso der Blutdruck. Der Körper schaltet
in den Energiebewahrungs-Modus. Warum? Weil genau das ursprünglich (während
der Sauerstoffnot infolge der Anästhesie bei der Geburt) erforderlich war. Oft
verlassen diese Patienten die Sitzung mit höheren Vitalfunktions-Messwerten.
Wiedererleben normalisiert, weil die Einprägung des Traumas destabilisiert. Mir
ist keine Möglichkeit bekannt, wie eine Therapie die Körpertemperatur so
radikal ändern könnte, wie wir das schaffen. Es ist ein Beweis dafür, dass
der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist; Gefühle spiegeln sich in der
Temperatur und anderen Vitalfunktionen wider, und alle zusammen bewegen sich in
Richtung einer Normalisierung. Die Temperatur bewegt sich auf normale Messwerte
zu, während die Patientin berichtet, sie fühle sich viel besser. Wenn jedoch
die Patientin berichtet, dass sie sich viel besser fühle, aber die
physiologischen Messwerte dies nicht widerspiegeln, müssen wir uns die Sache
noch einmal genauer ansehen. Das passiert oft bei der Abreaktion, bei der der
Patient Spannungs-Energie entlädt aber keine Verknüpfung hergestellt hat, was
zu einem Zustand von Selbsttäuschung führt. Die Vitalfunktionen fallen dabei
sporadisch und nicht alle zusammen. Dies ist ein Hinweis, dass sich das
System nicht in Harmonie mit sich selbst befindet.
Organisation der Erinnerung Nachdem der Thalamus geholfen
hat, die Information der Erinnerung zu verschlüsseln, verfestigen die Amygdala
(rechte und linke Seite) und der Hippocampus diese Information. Die Amygdalae
liegen nahe am Hippocampus auf der inneren Oberfläche der Temporallappen und
bilden eine Art Kreuzung im Gehirn. Das Bedürfnis-Gefühl „Ich brauche meinen
Papi“ wird vielleicht vom Thalamus verschlüsselt und gespeichert und von den
Amygdalae und dem Hippocampus konkretisiert. Wenn das Bedürfnis nicht erfüllt
wird, signalisiert es „Gefahr“ und wird über den Hypothalamus an die Körpersysteme
geschickt, wo es unsere physischen Funktionen verändert und uns schließlich
krank macht.
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Die Verbindung der Amygdala zum
frontalen Kortex und Hippocampus ermöglicht uns, ein Gefühl zu empfinden, es
zu benennen und ihm einen Titel zu verpassen. Sie kann eine dumpfe Empfindung in
der Magengrube in ein Gefühl von Leere, Einsamkeit und Verlassenheit
transformieren. Man hat kürzlich herausgefunden, dass die Amygdala
„Stop-versus-Go“-Mechanismen im frontalen Kortex reguliert, so dass die zwei
zusammenarbeiten, um Schmerzimpulse zu hemmen. Wenn die Amygdalae ruhig sind,
brandet weniger Energie hoch, die jemanden schlecht fühlen lassen würde. In
diesem Fall kann der frontale Kortex aufwallende Gefühle blockieren. Er tut
dies, indem er Gedanken erzeugt, die der Gegenpol der inneren Realität sind:
„Ich fühle mich großartig. Ich habe Gott gefunden, und er beschützt
mich.“ Die Realität gleicht Folgendem: „Ich fühle mich verloren, schutzlos
und unsicher“. Oder die Person kann zu grübeln anfangen, so dass bestimmte
Gedanken zwanghaft werden: z.B. „Der Untergang naht.“ Die Gedanken drücken wirklich
ein tief verborgenes Empfindungs-Gefühl aus.
Irgendwo spürt das System, dass das Verhängnis (das wirkliche Feeling, das im
Aufsteigen begriffen ist) naht. Nun projiziert es dieses Gefühl in die Welt. Die Person sieht überall Verderben. Es
ist nicht so, dass nicht die Möglichkeit ernsthafter Probleme bestünde. Man
kann niemals die Zukunft voraussehen. Aber in diesen Leuten ist es übertrieben.
Es wird zum Ende der Welt. Und in der Tat, das Ende der Welt und des Lebens können
für diese Personen jene ganz früh eingeprägten Erfahrungen auf Leben und Tod
gewesen sein. Tod und Verderben liegen ständig auf der Lauer, weil der Tod
wirklich drohte und in der Tat nur einen Sprung entfernt war. Die Person wird
dieses oder jenes finden, das ihr als Brennpunkt dient, aber der Inhalt ist
immer der gleiche – das Ende von allem – die Apokalypse.
Die Dopamin-Connection Jüngste Forschung hat eine
Korrelation zwischen abgesenkten Dopamin-Werten und Depression gefunden.10 Oft weisen die Forscher darauf
hin, es seien genetische Faktoren im Spiel. Es ist meine Überzeugung, dass die
meisten von uns nicht mit genetischen Defiziten an Dopamin geboren werden. Es
geschieht so viel in utero, bei der Geburt und gleich danach, das für Veränderungen
der Dopamin-Sollwerte verantwortlich sein könnte. Neue Forschungsarbeiten
zeigen, dass Stress vor der Geburt in einer Veränderung des Dopamin-Spiegels in
der rechten Gehirnhemisphäre resultiert. Das führt schließlich zu
gesteigerter Emotionalität und zur Unfähigkeit, Emotionen angemessen zu
regulieren. 11 Es ist kein Zufall, dass eine Umarmung oder ein Kuss den Dopamin-Spiegel erhöht. Es muss ein intrauterines Äquivalent zu einer Umarmung geben, das ein Gefühl des
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Wohlbehagens erzeugt. Ich glaube,
dieses Äquivalent ist eine Mutter, die sich wohl in ihrer Haut fühlt, die glücklich
mit dem Baby ist, die sich richtig ernährt und ein ausgeglichenes inneres
System hat. Ich denke nicht, dass Depression durch genetisch verringertes
Dopamin „verursacht“ wird. Wahrscheinlicher ist, dass ein schlechtes
uterines Milieu und dann eine erstickende, repressive häusliche Umgebung die
Dopamin-Werte verändert und die Voraussetzung für Depression schafft. Niedrige Dopamin-Pegel stehen
mit der Aufmerksamkeitsmangel-Störung in Zusammenhang. Viele der Medikamente,
mit denen sie behandelt wird, tendieren dazu, die Dopamin-Vorräte zu erhöhen.
Ich bin überzeugt, dass viel Liebe am Anfang und ein angenehmes Leben im
Mutterleib solche Defizite vermeiden würden, besonders da niedrige
Dopamin-Werte eher im linken Gehirn in Erscheinung treten, wo Gedanken und
Gedankenbildung die Unterdrückung von aufwallenden Impulsen unterstützen. Es
ist diese Hirnhälfte, die Ankurbelung durch Dopamin benötigt, um
Hirnstamm-Impulse zu unterdrücken. Und es ist vielleicht diese Hemisphäre, die
ihre Ressourcen aufgrund fehlender Liebe am Lebensanfang aufgebraucht hat. Es gibt jüngste Beweise, die
auf die Rolle von Dopamin auch bei Drogen- und Alkoholsucht hindeuten. Es
scheint, je mehr das Dopamin-System durch Drogen gestärkt wird, umso
wahrscheinlicher ist die Abhängigkeit. Im chemischen Sinne nimmt es den Platz
von Liebe ein; je besser ich mich drinnen fühle, je weniger tot und taub ich
mich fühle, umso mehr will ich die Droge, die mich so gut fühlen lässt.
Kokain hält das Dopamin-Niveau hoch und macht süchtig. Dopamin hat Einfluss
darauf, wie gut wir schlafen.12 In einer Studie in Paris,
durchgeführt von Merle Ruberg vom Salpetriere Hospital, stellte sich heraus,
dass die Patienten oft weinen und depressiv werden, wenn Elektroden in einer
Gehirnregion platziert wurden, die als Substantia nigra bekannt ist, wo die
Parkinsonsche Krankheit mit der Zerstörung von Gehirnzellen beginnt.13
Sie sagten Dinge wie „Ich will nicht mehr leben.“ Die Depression lichtete
sich, sobald die Elektrode entfernt wurde. Hier beginnen wir die Beziehung
zwischen Depression, Hoffnungslosigkeit und Hirnzellentod zu verstehen. Die
Substantia nigra ist die Region der Dopamin-Produktion, die bei der
Parkinsonschen Krankheit ins Stocken gerät. Deshalb benötigt man L-Dopa, um
das Dopaminniveau in diesen Individuen anzuheben. Es kann sein, dass eingeprägter
Schmerz wegen der Notwendigkeit, ständig vor der Einprägung auf der Hut zu
sein, die Dopamin-Vorräte erschöpft, Nach sechzig Jahren Wachsamkeit kann das
System den Bedarf nicht mehr befriedigen. Es braucht Hilfe von außen. Diese
Wachsamkeit kann im Mutterleib angefangen haben und gegen ein Trauma wie zum
Beispiel Rauchen oder Trinken der Mutter gerichtet gewesen sein. Es beginnt so
früh, dass wir leicht zu dem Glauben kommen, es sei genetischen Ursprungs.
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Wenn jemand während der
Schwangerschaft hochreguliert worden war (eine unruhige Mutter, die viele Tassen
Kaffee getrunken hatte), dann kann die Einnahme eines „Downers“ für den
Erwachsenen ein wichtiger Moment sein, weil die Person bei sich denkt: „Also
das ist es, was ich schon immer gebraucht habe.“ Natürlich will sie noch mehr
davon haben. Jemand, der zu hoch oder zu niedrig eingestellt ist, wird sich
immer unbehaglich fühlen, und er wird sich durch normalisierende Hilfe von außen
besser fühlen.
Die Amygdalae: Mutter Natur bei der Arbeit Wird über die Nervenfasern,
die von den Amygdalae zum frontalen Kortex führen, eine Verbindung hergestellt,
beginnen die weiter unten brodelnden Gefühle einen Sinn zu ergeben. Aber wenn
die Schleusensysteme aktiv sind, werden die Gefühle maskiert. Sie kennen das
alte Sprichwort „Mutter Natur lässt sich nicht täuschen“? Die Amygdalae
und ihre kleinen Helferlein im Hirnstamm sind Mutter Natur so nahe, wie wir ihr
nur kommen können. Das frontale Areal jedoch ist ein Gimpel. Im unverknüpften
Modus kann man ihm alles weismachen. Wenn wir die Gedanken eines Menschen
manipulieren wollen, brauchen wir nur bei seinen Bedürfnissen einhaken. Dann
wird er absolut dumm, weil er nur die Erfüllung der Bedürfnisse vor Augen hat
und sonst nichts. Opiathaltige Fasern laufen von
den Amygdalae zu den sensorischen Systemen, wo sie die Funktion eines Torwächters
erfüllen. In Antwort auf emotionale Zustände, die im Hypothalamus und in
limbischen Strukturen erzeugt werden, setzen sie Schmerztöter frei. Wenn ein
kleines Mädchen Inzest erleidet, werden Schmerztöter freigesetzt und die
Botschaft wird auf dem Weg zum frontalen Kortex blockiert. Dennoch dringt das
schreckliche Leiden durch. Die Person fühlt sich elend und weiß nicht warum.
Auch wenn sie die Existenz des Inzests mit ihrem frontalen Kortex erkennt, wird
sich nichts ändern. Das Elend wird bleiben. Manchmal ist die Verdrängung oder
Hemmung so effektiv, dass sogar die Leidenskomponente blockiert wird und die
Person überhaupt nichts fühlt. Vielleicht ist da nur ein vages Empfinden, dass
dem Leben überhaupt nichts abzugewinnen ist. Die Amygdalae beinhalten unverarbeitetes Gefühl. Sie sorgen für den Schmerz, und der Hippocampus hängt den Namen „erniedrigt“ an und sendet ihn zum frontalen Kortex. Während eines Wiedererlebnisses feuern die Amygdalae auch Informationen in Richtung Thalamus, der sie dann für den frontalen Kortex übersetzt; zum Beispiel „Sie demütigen mich!“ Wenn die Botschaft beim Kortex ankommt, deaktiviert sie
|
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den
linken präfrontalen Bereich und überlässt das Regiment dem rechten Hirn, der
„fühlenden“ Seite. Jetzt haben wir eine verknüpfte Gefühlserfahrung. Die Amygdalae beinhalten den
Gefühlsanteil eines Ereignisses; den „Klang“ und die „Eingeweide“ des
Feelings; das Fühlen des Gefühls. Es ist das Fühlen des Gefühls, das
meiner Überzeugung nach bei so vielen Individuen fehlt und auch bei so vielen
Psychotherapien. Überdies beinhaltet der limbische Bereich, besonders der
Hippocampus, die Geschichte des Gefühls. Somit wird das Gefühl zuerst als
„Meine Freunde sind ziemlich beleidigend“ empfunden. Wenn man dann in das
Gefühlserlebnis eingeschlossen ist, übersetzt es sich in „Meine Eltern haben
mich immer schlecht gemacht.“ Das wird dann durch geeignete therapeutische
Techniken zu „Papi, sag‘ ich bin gut. Sag‘ ich bin gut, bitte!“ Es ist keine Überraschung,
dass die Amygdalae während des Traumschlafs sehr aktiv sind, während der
frontale Kortex weit weniger aktiv ist. Träume symbolisieren Gefühle. Wir
sagen „Letzte Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum.“ Tatsächlich war es
nicht der Traum, der furchtbar war, sondern die „furchtbare“ Einprägung,
die den Traum erzeugt hat. Diese Gefühle sind die ganze Zeit in uns, was dafür
verantwortlich ist, dass wir immer wieder die gleichen Träume haben. Nur dann
ziehe ich in der Therapie Träume in Betracht, wenn wir uns mit dem zugrunde
liegenden Gefühl befassen. Denn das ist real und historisch. Die
Traumgeschichte ist die Tarnung. Wie bei Watergate wollen wir nicht nur die
Kriminellen fassen, sondern wir wollen wissen, wer das ganze Ding organisiert.
Die Traumgeschichte ist das, was das Limbische System und Aspekte des rechten
Kortexes machen, um reale Gefühle zu tarnen. Wir wollen uns nicht mit den
Tarnungen befassen, weil sie ständig wechseln. Gefühle und Bedürfnisse tun
das nicht. Limbische Strukturen wie die Amygdalae unterliegen einer
kritischen Reifeperiode, die vor der Geburt beginnt und bis zum Alter von zwei
Jahren dauert. Lange bevor der Kortex myelinisiert und handlungsbereit ist,
dominiert die Amygdala in der Verarbeitung emotionaler Information. Das ist ein
Grund, warum das Unbewusste das Unbewusste ist – weil der denkende Kortex auf
der oberen Ebene noch nicht „bewusst“ ist. Beinahe jedes Wirbeltier hat eine
Amygdala und ein hemmendes Serotonin-System. Sie datieren einige
Hundertmillionen Jahre zurück. Hunde und Katzen können keine Gefühle
artikulieren, aber sie können fühlen und aufgrund ihrer handeln. Schmerzbahnen
und das Serotonin-System scheinen in allen Vertebraten ähnlich zu sein. Überdies
scheinen sie im Nervensystem dieselben Plätze einzunehmen. Auch limbische
Strukturen sind in den meisten Säugetieren ähnlich, so dass es keine
Vermessenheit ist, die Reaktivität von Tieren mit unserer eigenen zu
vergleichen. Wo die zwei auseinanderlaufen, das ist im Bereich der Gedanken über
diese Gefühle.
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Die Provokation von Gefühlen,
die durch vergangene Ereignisse eingeprägt worden waren, geschieht vielleicht
dann, wenn ein Auslöser von außen, sagen wir der drohende Ton in der Stimme
eines Elternteils (oder egal in wessen Stimme), die Amygdalae in Bewegung setzt,
die der Hypothalamus-Hypophyse-Achse signalisiert, Stresshormone zu produzieren,
die das gesamte Gehirn in Wachsamkeit versetzen. Der Ärger wird in limbischen
und kortikalen Arealen des Kindes verinnerlicht. Wenn die Menge an
Stresshormonen zu große Ausmaße annimmt, droht sie Gehirnzellen zu schädigen.
Gewöhnlich ist die Bedrohung weitaus subtiler. Wenn es in den ersten Wochen des
Lebens keine Worte gibt, keinen emotionalen Kontakt,
keine elterliche Wärme, wird das System des Säuglings in die Stressreaktion
getrieben; hier ist die eingeprägte Gefahr das Fehlen von Liebe. Es ist ein
Mangel, der das Baby unter Stress setzt. Das ist das wirklich Subtile. Wenn
jemand versucht, sich an schlechte Szenen aus seiner Kindheit zu erinnern, gibt
es vielleicht überhaupt keine schrecklichen Szenen; nur das Nichts, keine Wärme,
keine Liebe, keine Berührung, und keine Fürsorge.....nichts, worin man
einhaken könnte. Hier ist das Gefühl allein die Erinnerung, und es genügt,
sich von ihm überfluten zu lassen; es zu integrieren und zu verknüpfen. Unser
Gehirn kann „nichts“ (ein Fehlen von Augenkontakt) in physischen Schaden
umformen. Es ist kein „Nichts“ für das Gehirn. Es ist die Versagung des Bedürfnisses.
Kein Hormon funktioniert allein; aus diesem Grund wird es als endokrines
„System“ bezeichnet, eine Kaskade von Hormonen, die zusammenarbeiten, und
eine Kaskade von Abweichungen, wenn Schmerz eindringt. Wenn wir die Amygdalae eines
Patienten in der Therapie übersehen, indem wir tiefe Gefühle ignorieren (und
damit meine ich nicht, dass der Patient schluchzt oder über seine
Kindheit weint), erhalten wir als Endresultat einen klugen, leidenschaftslosen
Menschen. Schlimmer noch, sie oder er kann nicht einmal fühlen, dass sie oder
er nicht fühlt, und erlebt nie das Fühlen des Gefühls. Ein Mensch, der
wundervolle Einsichten in sein Verhalten hat, kann völlig von sich selbst
vereinnahmt sein und gedankenlos und unsensibel gegenüber den Leuten in seinem
Umfeld. Manchmal führen Eltern früh im Leben eine Amygdalektomie* an ihren Kindern durch, indem sie einfach nicht für sie da sind. Auf diese Weise werden die Gefühle des Kindes nicht direkt unterdrückt; sie werden einfach ignoriert, was auf dasselbe hinausläuft. Das Ergebnis ist, dass die Gefühle unverknüpft, unausgedrückt und ungelöst im Inneren bleiben. Therapie sollte Amygdaloide herstellen, Leute, die in Kontakt mit ihrem tiefen, fühlenden Selbst ste ___________________ * Anm.d.Ü.: Operatives Herausschneiden (eines Organs, hier der Amygdalae)
_____________________
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Sind wir zuerst bewusst und dann unbewusst?
Die Amygdala (zusammen mit
anderen limbischen und mit Hirnstamm-Strukturen) kann mit einem Delirium von
Wut, Furcht oder Sex reagieren, noch ehe der Kortex weiß, was los ist, weil
solche rohe, unbearbeitete Emotionen unabhängig von und früher
als Gedanken ausgelöst werden. Auf diese Weise überkommen
uns Gefühle. War etwas schmerzhaft in unserem Bewusstsein und wurde dann ins
Unbewusste verlegt? Nein, es hat es nie bis ins vollständige Bewusstsein
geschafft. Bevor schließlich der präfrontale Kortex wachsam wird und versucht,
diese aufsteigenden Gefühle aufzuhalten, ist die Amygdala bereits sehr geschäftig
gewesen; bevor er zum Beispiel unseren Fress-Orgien Einhalt gebieten kann.
Tiefsitzende Einprägungen üben die Kontrolle aus. Es ist klar, dass Bedürfnisse,
die Überleben involvieren, mächtiger sind als Gedanken über diese Bedürfnisse.
Wenn jemand außer Kontrolle ist, steht die Person gewöhnlich unter der
Kontrolle von Einprägungen der tieferen Ebenen und außer der Kontrolle des
frontalen Kortex. So viele Anleitungsbücher („Wie man...“) konzentrieren
sich auf die Kontrolle unserer selbst, unserer Impulse, unseres Zorns, etc., und
dennoch werden die Einprägungen niemals aufhören, unser Leben zu
dominieren.....bis sie sich mit den kortikalen Prozessen der obersten Ebene
verbinden. Gefühle sind keine Geschäfte, die man „verwaltet.“ Sie sind
dazu bestimmt, gefühlt zu werden. Ein Mensch, der keinen Kontakt mit seinem fühlenden
Selbst hat, kann wegen eines vermeintlich sexuellen Problems in die Therapie
kommen. Bei wenig Zugang zu tieferen Strukturen wie den Amygdalae kann ein Mann
asexuell und mit nur geringer Libido und gedämpfter Leidenschaft ausgestattet
sein. Die Amygdalae sorgen für eine Erektion. Ein Mann erkennt jedoch
vielleicht nicht, dass dies das Problem ist, weil es wie bei Hunger ist; wenn
Sie Ihren Appetit verloren haben, so begreifen Sie nicht, dass Ihr Problem darin
besteht, dass Sie nichts essen. Der Schlüssel in der Psychotherapie für
sexuelle Probleme besteht darin, Zugang zu den Amygdalae als auch zu anderen
limbischen Orten zu erlangen.14 Antonio Damasio erklärt in seinem jüngsten Buch The Feeling of What Happens,15 wie wir auf der Grundlage unbewusster Gefühle handeln. Er schildert den Fall David, der eine massive Beschädigung des Hippocampuses aufwies, was bei ihm zu der Unfähigkeit führte, neue Erinnerungen zu verankern. Es bestand auch ein Schaden an der Amygdala. Damasio führte an ihm ein Experiment durch, das als „Guter Junge, schlechter Junge“ – Versuchsanordnung bekannt ist. David hatte Begegnungen mit jemanden, der sehr nett und freundlich zu ihm war, und andere Begegnungen mit jemandem, der brüsk und unangenehm war. David konnte diese Leute nicht wiedererkennen, waren sie einmal aus seinen Augen verschwunden.
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Er hatte keinerlei Fähigkeit, die
Geschichte als Führer für sein Verhalten zu benutzen, weil er diese Fähigkeit
verloren hatte. Er konnte nicht zu sich selbst sagen: „Dieser Mensch ist böse,
und ich sollte ihn meiden.“ Er konnte seine Erfahrungen nicht integrieren oder
sie artikulieren; dennoch tendierte er immer zu den netten Leuten hin und weg
von den unerfreulichen. Er wurde von einer unsichtbaren und unerkannten Kraft
geführt – von seiner Geschichte, von Gefühlen, die auf vergessenen
Erfahrungen beruhten. David war buchstäblich und physisch von seiner Geschichte
abgeschnitten und dennoch von ihr motiviert, und das ist genau der Punkt, auf
den ich bei denjenigen hinaus will, die nicht unbedingt einen Schaden aufweisen,
sondern wegen der Verdrängung von tieferen Zentren abgeschnitten sind. Seine
Reaktion war eher organismisch als bewusst. Hier haben wir ein neurologisches
Paradigma für das Verständnis der Depression; zum Beispiel ohne
offensichtlichen Grund in Stimmungen hineingetrieben zu werden. Stellen Sie sich
vor, David hätte seine Verknüpfungen zu tieferen Zentren wiedergewonnen. Er würde
nicht mehr von seinem Unbewussten gelenkt werden. Genau darauf will ich hinaus,
wenn die funktionellen Verknüpfungen zu tieferen Zentren durch Aufheben der
Verdrängung wiedergewonnen werden. Bei vollständigem präfrontal-limbischen
Bewusstsein (das unbewusste Gefühle ins Bewusstsein integriert) gäbe es keine
Depression mehr. Das Unbewusste würde bewusst gemacht, so dass wir nicht länger
von unbewussten Gefühlen herumgestoßen würden, worum es bei der Depression
geht. Wir verwenden darauf den anspruchsvollen Begriff
„Stimmungsschwankungen“, aber unser gesamter Organismus dreht sich um
tiefsitzende Gefühle, von deren Existenz wir keine Ahnung haben. Diese
Erfahrungen geschehen oft viele Jahre, bevor wir einen voll funktionierenden
frontalen Kortex haben, der ihnen einen Sinn geben könnte. Volles Bewusstsein
ist, wie ich bei meinen Patienten beobachtet habe, DAS Gegenmittel bei
Depression. Ich erhielt heute mit der Post einen Brief von einer meiner Patientinnen, Regina, der mein Argument exemplifiziert: „Ich möchte Dir meine Erfahrungen mitteilen, als ich am ersten Tag dieses neuen Jahres (das Millenium) aufwachte und in Tränen aufgelöst war. Warum? Nachdem ich letzte Nacht all die Feierlichkeiten überall auf der Welt beobachtet hatte, ohne einen einzigen Ausrutscher, keine Terroristen, keine Stromausfälle oder Flugzeugabstürze, erkannte ich, dass all die schlechten Dinge, die mir, wie ich im vergangenen Jahr glaubte, passieren würden, dass all die Katastrophen, über die ich mir den Kopf zerbrochen habe, gar nicht meine Intuition waren, sondern vielmehr aus der Vergangenheits-Realität kamen, die in mir lebendig ist. Es war, als sei ein großer Spiegel vor mir, der mir zeigte, dass es meine Vergangenheit war, die das Problem war. Ich fühlte, dass ich mich selbst schützen müsse und kaufte eine Vierteltonne Getreide. Ich musste auf das vorbereitet sein, was mir begegnen würde. Es war mir bereits begegnet, und ich hatte mich selbst belogen:
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dass ich verletzt werden würde, wenn ich mich
nicht genügend vorbereitete. Also war ich besessen vom Gedanken an Y2K. Quälte
mich mit „Was-Wenns“. Jetzt weine ich wegen all dieser Gefühle, nicht
sicher zu sein, und ich weiß, wohin sie gehören. Dass ich diese Gefühle nach
Y2K verlagerte, ließ mich
erkennen, wie ich den inneren Dingen einen neuen äußeren Brennpunkt gab.“ 16 Einige meiner männlichen
Patienten, die ständig sexuell erregt sind, finden heraus, dass auch ihr
sexueller Drang nachlässt, wenn sich ihr emotionaler Schmerz aus einem frühen
Trauma vermindert. Ereignisse im Mutterleib haben so tiefgreifende Auswirkungen
auf das spätere Leben. Zum Beispiel fand man heraus, dass die Verabreichung von
Morphium an trächtige Ratten deren männlichen Nachwuchs femininisiert.17
Das gesamte sexuelle Gleichgewicht kann durch Ereignisse im Mutterleib
umgeworfen werden. Morphin ist ein Unterdrücker bzw. Hemmer. Wir produzieren
die gleiche chemische Substanz selbst, möglicherweise mit den gleichen Effekten
für die spätere Sexualität. Wenn wir in ausreichendem Maße verdrängen,
verdrängen wir unsere Sexualität. Hypersexualität kann ihren
Ursprung im Hirnstamm haben und von einer Einprägung herrühren, die tatsächlich
nichts mit Sex zu tun hat. Satyriasis sodann als Sexproblem zu behandeln, trifft
nicht den wesentlichen Punkt. Sex ist nur eine Möglichkeit, wie Primärenergie
freigesetzt wird. Und die beteiligte Energie kann von Anoxie bei der Geburt
kommen, auch wenn sie Sex als Ventil bevorzugt. So behandeln wir Sex, wenn wir
Anoxie behandeln sollten. Es ist niemals nachteilig, das Symptom zu behandeln,
solange wir verstehen, dass es ein Symptom ist – von etwas anderem. Ein altes
Bedürfnis kann in einem Mann oder einer Frau sexuelles Interesse wachrufen; zum
Beispiel könnte eine Kindheit ohne Vater den Sexualimpuls auf andere Männer
umleiten. Schmerz wird in den Sexualtrieb umgewandelt. Die Raserei des sexuellen
Verlangens entspricht der frühen Entbehrung von Liebe; dieses Verlangen erfährt
seinen Antrieb durch das retikuläre Aktivierungssystem des Körpers, welches
das System in Wachsamkeit versetzt. Dann kanalisieren Kindheitsereignisse - ein
tyrannischer oder abwesender Vater - den Trieb. Homosexualität kann das
Ergebnis sein. (Später mehr darüber). Bei Frauen, die Inzest erlitten
und deshalb Angst vor Männern haben, kann der Sexualtrieb, sobald er in
Erscheinung tritt, in Richtung Frauen umgelenkt werden. Geschlechtsverkehr mit Männern
würde den Schmerz des Inzest reaktivieren und die Frau überwältigen. Deswegen
wendet sie sich an Frauen, um ihr Bedürfnis nach Liebe zu erfüllen und,
wichtiger noch, um den Schmerz in Schach zu halten. Viele meiner lesbischen
Patientinnen erlitten Inzest in der Kindheit. Wir werden die Amygdala niemals täuschen, aber wir können ihre kortikalen Abkömmlinge zum Narren halten. Beispiel: Ein Mädchen wurde von ihrem Vater sehr früh im Leben sexuell missbraucht, aber irgendwie lernt sie in der Therapie ihm zu vergeben.
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Der Vater
und die Tochter sind nun versöhnt, aber das Problem besteht darin, dass sie
einer Einprägung nicht vergeben kann. Und die Amygdala kann nicht verzeihen;
das ist nicht ihre Aufgabe. Es ist, als müsste sie der Physiologie der Frau
verzeihen. Die alten Gefühle sind noch immer an Ort und Stelle, nur dass sie
jetzt von kortikaler „Vergebung“ überlagert sind. Wenn genügend viele
Schichten darüber liegen,
verlieren wir den Zugang zu den realen Gefühlen. Es ist seltsam, aber diese Überlagerung
kann dazu führen, dass wir uns wunderbar fühlen. Also, was ist das Problem, könnte
man fragen? Was ist falsch daran, sich gut zu fühlen? Wenn wir uns gut fühlen
könnten, wäre es wunderbar. Wenn Sie denken, dass Sie sich gut fühlen, so ist
es eine andere Sache. Es bedeutet, irreal zu sein; in einem Zustand der Irrealität
zu leben, nur um später vorzeitig von einer verborgenen Realität
niedergestreckt zu werden. Eine junge Frau, die ich
behandelte, erlebte wieder, wie sie von ihrem Stiefvater sexuell attackiert
worden war. Ihre Hände überkreuzten sich automatisch hinter ihrem Rücken (ihr
Stiefvater fesselte ihr die Hände auf den Rücken), sie krümmte sich nach
hinten und ihre Herzfrequenz stieg auf 180 Schläge pro Minute. Diese Frau fürchtete
sich vor Männern und Sex in der Gegenwart, aber die Einprägung selbst war
Jahrzehnte alt; dennoch dominierte sie die meisten ihrer Beziehungen. Eine Patientin fand heraus,
dass sie immer dann Migräne bekam, wenn sie auch nur unter dem leichtesten
Druck stand, wie zum Beispiel eine Arbeit für die Klasse vorzubereiten. In
ihren Sitzungen erlebte sie ihre Geburt wieder, während der sie nicht genug
Sauerstoff bekam (ihre Mutter erhielt schwere Betäubungsmittel). Der Druck, der
ihre Blutgefäße zusammenzog und sie dann erweiterte, war ihre Einprägung.
Jeder Druck, den sie später im Leben spürte, führte bei ihr zu einer Migräne,
brachte sie durcheinander und ließ sie nicht mehr funktionieren. Die Amygdala entsteht, lange bevor der Neokortex (neuer
Kortex) sich entwickelt, sowohl in der Entwicklung des Individuums
(ontogenetisch) als auch in unserer langen Historie vom Tier zum Menschen
(phylogenetisch). An einem bestimmten Zeitpunkt in der individuellen und
phylogenetischen Geschichte musste die Amygdala die ganze Arbeit alleine machen.
Sie hatte keinen Hippocampus und keinen Neokortex, um die Dinge genauer zu
bestimmen und um Gefühle zu lenken. Sie leitete einfach Instinkte. Sie fügte
der Gleichung ihren Anteil an Furcht hinzu. Wenn sich die Schmerzimpulse anhäufen, tendieren sie dazu, das Rezeptorsystem zu überwältigen. Das Resultat kann frei fließende Angst sein. Sie fließt frei, weil die Einprägung geschah, lange bevor Worte in Erscheinung traten, die sie hätten umschreiben und eingrenzen können. Wenn die Amygdala Ruhe gibt, ist weniger Energie auf dem Vormarsch, die uns schlecht fühlen lässt. In diesem Fall kann der frontale Kortex Angstattacken und/oder Besessenheit und Zwänge blockieren. Man könnte versucht sein zu sagen, dass die neuen Medikamente obsessiv-zwanghafte Symptome „heilen“,
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aber in
Wirklichkeit heilen sie gar nichts. Sie schieben das Problem nur hinaus!
Dieselben Einprägungen sind immer noch da, sie werden nur besser von
Medikamenten in Schach gehalten, die sie unterdrücken und die verhindern, dass
die Botschaft den frontalen Kortex überwältigt. Eine Glaubensüberzeugung ist wie
eine selbst verabreichte Droge. Der Kortex weiß, was er tut, wenn er
Glaubensvorstellungen ausheckt. Diese Überzeugungen gehen dorthin, wo sie
benötigt werden, und helfen uns zu überleben. Es ist nicht immer eine gute Idee,
jemanden von irrationalem Glauben abzubringen. Er erfüllt eine wichtige Funktion
in der Ökonomie der Psyche. Und wenn wir die Glaubensüberzeugung mit der
Geschichte verknüpfen, ist sie nicht so irrational wie es scheinen mag. Der Tabernakel der Wahrheit
Die
Amygdalae sind der Tabernakel der Wahrheit. Ein junger Mann erlitt eine
Panikattacke, als er um eine Präsentation vor seinen Arbeitskollegen gebeten
wurde. Hier kann die wirkliche Reaktion diejenige auf den Sauerstoffverlust sein
und nicht Lampenfieber. Vor anderen Leuten zu sprechen, nahm die Bedeutung eines
Ereignisses auf Leben und Tod an. Dieser Mann litt bei der Geburt unter Anoxie.
Seine gegenwärtige Furcht resoniert mit dem Terror der Vergangenheit, und das
Ergebnis ist, dass er sich so fühlt, als müsse er wieder sterben. „Es gibt
nichts, wovor Sie Angst haben müssten. Es sind Ihre Freunde,“ sagt ihm
vielleicht ein Berater. Indessen haben die Amygdalae sehr viel gefunden, wovor
er Angst haben müsste; der Hirnstamm greift mit der alten Anoxie und Todesangst
in die Präsentation ein, und wiederum geht es um Leben und Tod. Die gegenwärtige
Furcht setzte die Schmerzkette in Bewegung und rief den ursprünglichen Terror
am Anfang des Lebens wach. Ja, es gab Ängste später in seiner Kindheit, die
ebenso zählten. Aber die viszerale Angst hatte ihre Wurzeln vor der Zeit, als
er den ersten Menschen sah. Würde der ursprüngliche Terror später nicht zusätzlich
verstärkt, hätte er bei der Präsentation weit weniger Angst. Wenn jemand in einem Zustand
ist, in dem er dringend Drogen oder Alkohol braucht, so ist es die Amygdala, die
sehr aktiv ist. Wenn sich ein Süchtiger
in Qualen windet und unbedingt einen Schuss braucht, dann ist laut Dr. Hans
Beiter vom Massachusetts General Hospital die Amygdala die treibende Kraft. Sie schickt ihre Botschaft hinaus, dass
sie unter Schmerz steht und etwas braucht, das diesen Schmerz lindert. Es überrascht
nicht, dass Antidepressiva auf die Amygdala wirken. Man beachte, dass
Depressionen trotz des phlegmatischen, energielosen Ausdrucks des Individuums Zustände hoher Aktivierung sind. Seite 67 |
Weil die
Amygdala und andere Strukturen, die Gefühle verarbeiten, auch unterdrückende,
hemmende Hormone abscheiden, kontrollieren sie letztlich den Zugang zu diesen
Emotionen und haben Einfluss darauf, was wir wahrnehmen und was wir nicht
wahrnehmen. Schaden an der Amygdala hindert jemanden daran, einen angstvollen
Gesichtsausdruck bei anderen (und vermutlich bei sich selbst) zu erkennen; ein
weiteres Indiz für die Rolle dieser Struktur bei der emotionalen Wahrnehmung.
Amygdalae, die aufgrund der Schmerzlast geschwächt sind, können uns weniger
einfühlsam für die Empfindungen anderer machen. Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle
bei emotionaler Sprache und beim Weinen, so dass wir sicher sein können, dass
die Amygdala beteiligt ist, wenn meine Patienten mit der Stimme eines Fünfjährigen
jammern: „Mama, bitte halte mich!“ Es ist meine Vermutung, dass die
vermittelnde Gehirnstruktur umso älter ist, je entfernter die Erinnerung ist.
Sehr alte Gehirnstrukturen scheinen mehr in die eher geheimnisvollen und weit
abgelegenen Erinnerungen unserer frühen Kindheit und der Zeit davor verwickelt
zu sein. Ein weiterer Grund, warum
Einsichtstherapie, die den sich spät entwickelnden präfrontalen Kortex
erfordert, nicht so wirksam ist, wie sie sein könnte, besteht darin, dass die
Frontalzone versucht, die Arbeit eines sehr alten Gehirns zu erledigen, das sich
mit Gefühlen befasst. Es ist der Versuch, Zugang zum Fühlen und zu tief
gelegenen Empfindungen zu gewinnen. Das alte Gehirn, die Amygdala und der
Hippocampus werden diesen Versuch der Einmischung nicht tolerieren und den
Zugang verweigern. Es ist ein Dialog unter Tauben. Das alte Gehirn kann nicht hören
und verstehen, worüber sich der frontale Kortex auslässt. Michaela Gallagher,
eine Neurowissenschaftlerin an der Johns Hopkins Universität, hat
herausgefunden, dass ein voll funktionierender Kortex die Amygdala und ihr Gefühle
in Schach halten kann. Anders ausgedrückt wäre eine Person hyperreaktiv und würde
zu sehr auf Stimuli reagieren, wenn der frontale Kortex nicht intakt wäre. Aber
ein übermäßig aktiver Kortex ist genau das, was wir nicht brauchen, wenn wir
fühlen wollen. Seine Hyperaktivität wird zu einer Abwehr gegen die Regression
zur fühlenden Ebene. Deshalb befinden sich unsere Patienten in einem
abgedunkelten, ruhigen Raum. Der Hippocampus: Zugriff auf Kindheitserinnerungen
Der
Hippocampus liegt hinter den Amygdalae und bildet die Spitze der Widderhorn-Form
des limbischen Systems (siehe Kapitel 1). Der Hippocampus befasst sich mit dem
Kontext und den Umständen eines Ereignisses; die Amydalae sind mit dem
emotionalen Inhalt beschäftigt. Wenn Sie fünf Jahre alt sind und Ihre Mutter
zu Ihnen zum hundertsten Mal sagt: „Du bist nutzlos und dumm. Geh’ mir aus
den Augen!“, werden die Umstände und das Gefühl des Ereignisses durch den
Hippocampus bzw. durch die Amygdalae eingeprägt.
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Eine präzisere Bedeutung fügt
der denkende Kortex hinzu, so dass die volle Verknüpfung lauten kann: „Mutter
hasst mich!“ Die unterbewusste Logik des kleinen Kindes ist wahrscheinlich
folgende: „Sie ist wütend, weil ich schlecht bin.“ Weil diese Erkenntnis für
ein Kind so vernichtend ist, werden Endorphine abgesondert, um die volle Verknüpfung
zu verhindern. Die Gefühle werden jetzt geschleust und im Unbewussten gehalten.
Dann beginnt der Kampf, weil das Kind und später der/die Erwachsene sich bemüht,
andere dazu zu bringen, dass sie ihn/sie lieben. Das Gefühl ist unbewusst und
wird unbewusst ausagiert. Der Hippocampus verankert neue
Erinnerung, indem er mit der Frontalzone zusammenarbeitet, um Gefühle zu
festigen. Sobald die Erinnerungslast zum Kortex verlagert worden ist, kann sie
zu Bewusstheit gebracht werden. Der Hippocampus hat nun Raum, um mit dem
Benennen von neuen Gefühlen und Bedürfnissen fortzufahren und kann neue
Erinnerungen ablegen, die auf aktuellen Stimuli gründen. Bei der Konsolidierung
von Gefühlen tastet der Hippocampus mit Hilfe der Amygdalae die persönliche
Erfahrung ab und sucht in der Geschichte nach Schlüsseln. Wenn diese Geschichte
mit Schmerz beladen ist, ist es schwer, an diese Schlüssel zu gelangen.
Entweder reagiert die Person übermäßig oder sie reagiert zu schwach – redet
zu viel, isst zu viel, hat keinen Sex oder nicht genug Sex, und so weiter. Der Hippocampus ist eine der
wenigen Gehirnstrukturen, die sich mit dem Alter weiter entwickeln. Forscher am
Salk Institute in La Jolla, Kalifornien haben herausgefunden, dass die Anzahl
der Hippocampus-Zellen als Ergebnis geistiger oder körperlicher Betätigung
zunimmt.18 Ich glaube, dass früh im Leben erfahrene Liebe dem Gehirn
ebenso hilft, sich weiter zu entwickeln. Betrachten Sie den Hippocampus
als Handlanger der Amygdalae. Beide haben direkte Verbindung zum Thalamus.
Furcht kann sich vom Thalamus zu den Amygdalae bewegen, oder zum Thalamus via
Kortex, dann zu den Amygdalae, um auf vielfältige Weise eingraviert zu werden.
Bei einigen kann es schon zu einem plötzlichen Angstanfall kommen, wenn sie
morgens aufstehen, weil sie in dieser Phase relativ abwehrlos sind. Furcht kann
vom Thalamus unter Auslassung des frontalen Kortexes zu den Amygdalae wandern
und dort eine unmittelbare Krisenreaktion auslösen. Das nennt man emotionales
Lernen. Eine Region der Amygdalae hat Verknüpfungen zum Hirnstamm, der den
Herzschlag und andere automatische Funktionen erhöht. Eine traumatische Geburt
bringt das Gehirn in Schieflage, so dass thalamische Bahnen den Vorrang vor den
kortikalen Bahnen gewinnen. Die Frontalregion wird dann nach einem Feeling
lediglich für „Aufräumarbeiten“ eingesetzt. Der Hippocampus schwächt auch emotionale Reaktionen ab. Wenn sich schwerer Schmerz einprägt, so bürdet das dieser Struktur eine große Last auf.
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Schließlich
beginnt der Hippocampus zusammenzubrechen oder er schwindet, und die Erinnerung
wird fehlerhaft und flacht ab. Wenn die Degeneration anhält, kann es zu
permanentem Gedächtnisverlust kommen. Es hat sich mittels Autopsie
herausgestellt, dass Hippokampus-Zellen bei Psychotikern total ungeordnet sind.
19 Eine Reihe von Studien über schwere psychische Krankheiten hat
aufgedeckt, dass die Hippocampus-Region überaktiv wird, wenn die Funktion des
frontalen Kortexes nachlässt. Emotionen brodeln, während die
Integrationszentren verfallen. Eine massive Gefühlsentladung
der Amygdalae legt den Hippocampus still. Das ist eine weitere Art, wie die
Schmerzbotschaft daran gehindert wird, den frontalen Kortex zu erreichen. Der
Hippocampus sagt: „Mir reicht’s. Die Nachricht überbringe ich nicht. Das
ist zuviel Leid.“ Er lässt den frontalen Kortex im Dunkeln. Niemand kann dem
Individuum sagen, welche Gefühle
tief drinnen verborgen sind, weil sie niemand außer diesem Individuum fühlen
kann.
Abb. 2. Hippocampus: Verankert neue
Erinnerung; bewahrt die Erinnerung als Fakt. Amygdala: Das Fühlen des Gefühls;
Erinnerung als Emotion. Seite 70 |
||||
Jeder Auslöser, sagen wir ein angewiderter Blick eines
Elternteils oder ein verächtlicher Tonfall des Chefs kann den Hippocampus dazu
bringen, dass er die Erinnerung wieder hervorholt. Das bewerkstelligt er durch
seinen Abtastmechanismus: Der Auslöser resoniert mit einem verschlüsselten Gefühl
aus der Vergangenheit, holt es aus dem limbischen Lagerhaus heraus und
katapultiert es in Richtung vollständiges Bewusstsein. Die Information
aktiviert physische Systeme, die Angst erzeugen und die Gefahr signalisieren,
dass sich das ursprüngliche Ereignis dem Bewusstsein nähert. Es ist das frühe
Trauma im Mutterleib plus das Geburtstrauma, welche die viszerale Reaktion
erzeugen, die wir Angst nennen. Sie geschieht, weil ein bestimmtes gegenwärtiges
Ereignis (ein ärgerlicher Tonfall eines anderen) den Prototyp in Gang setzt.
Die Gefahr im Tonfall löst die primär eingeprägten Ängste aus. Es kommt zu
einer übermäßigen Sekretion des Stresshormons Kortisol, weil das die ursprüngliche
lebensrettende physiologische Reaktion war. Das Problem ist, dass diese Reaktion
ohne Verknüpfung geschieht, weil es praktisch unmöglich ist, Zugang zu der
Erinnerung ohne systematische Annäherung zu gewinnen, die darin besteht, dass
man zuerst durch geringere Schmerzen geht. Somit haben wir jetzt frei fließende
Angst. Wir brauchen Zugang zu unseren Gefühlen, um ein
intelligentes Leben zu führen. Jemand kann fähig sein, mathematische Probleme
logisch auszuarbeiten, während er gleichzeitig ein chaotisches Leben führt,
das von Drogen und gefährlichem Ausagieren geprägt ist. Ein brillianter Geschäftsmann,
zum Beispiel, versteht die Kunst des Geschäftsabschlusses, ist erfolgreich,
sozial, und dennoch ist sein Leben leer. Sein Leben sieht gut aus, aber er kann
es nicht genießen. Wie einer meiner Patienten sagte: „Ich habe einen
faszinierenden Job. Zu dumm, dass er mich nicht interessiert.“ Ein Mann kann
sein ganzes Leben mit dem Versuch verbringen, sich wichtig zu fühlen, weil er
niemals für die Leute wichtig war, die zählten, nämlich seine Eltern. Wir können
unsere Beziehungen verpfuschen, weil uns diese „Liebes-Einprägung“ früh im
Leben fehlt. Wenn meine Patienten ein Gefühl voll wiedererleben, kommen sie daraus mit einer großen Anzahl von Assoziationen und Einsichten hervor, die ganz unterschiedliche Verhaltensmuster abdecken. „Jetzt verstehe ich, warum ich mein ganzes Leben zu spät kam, und warum ich es in der Schule nie in einem Klassenzimmer ausgehalten habe,“ sagen sie. „Ich konnte es nicht aushalten, eingeengt oder eingeschlossen zu sein, zuerst im Geburtskanal, dann im Kinderbettchen und dann zu Hause, wo meine Eltern so streng waren.“ Fühlen hat ihrem Verhalten Bedeutung verliehen. Eine Patientin musste vor Gericht erscheinen. Dort stand sie einem Psychopathen gegenüber, der lügte. Sie fühlte sich völlig hilflos. Sie kam hinterher in die Sitzung und fühlte sich zuerst allgemein hilflos, dann im Umgang mit ihren Eltern, die jeden ihrer Schritte kontrollierten, und schließlich fühlte sie die Hilflosigkeit bei der Geburt, als ihre Mutter eine massive Dosis Betäubungsmittel erhalten hatte.
|
Diese Hilflosigkeit war der Prototyp, auf
dessen Grundlage sich alle späteren Erfahrungen entwickelten. Hilflosigkeit
wurde zu einem Gefühl, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetzte und
sich immer wieder verstärkte. Der Prototyp der Hilflosigkeit steuert viele
Charakteristika des späteren Lebens wie Angst vor Veränderung, Rigidität und
Mangel an Spontanität. Das
Abb. 3. Frontaler Kortex:
Bedeutung und Verstehen; Integration des Feelings; Hippocampus: durchsucht die
Geschichte und ruft ähnliche Ereignisse ab; reichert den Strom des Bewusstseins
an; Amygdala: hilft, das System zu elektrisieren, wenn sie Gefahr entdeckt.
Seite 72 |
||||
Unbewusste warnt: „Du kannst an deiner Situation nichts ändern.“
Wenn Sie ursprünglich nichts tun konnten, um Ihr Leben zu retten, sind Sie in
der Tat hilflos. Der Schmerz, der zu Magersucht führt
Ein magersüchtiges
junges Mädchen, das ich behandelte, wurde im Alter von sechs bis neun Jahren
zum Oralsex am Freund ihrer Mutter gezwungen. Als sie später Anorexie und
Bulimie entwickelte und sich immer wieder vollstopfte und anschließend übergab,
erbrach sie unbewusst das, was der Freund ihrer Mutter in sie ejakuliert hatte.
Das Abstoßen der Sperma-Flüssigkeit war ein Überlebensmechanismus; ihr Körper
wies eine fremde und bedrohliche Kraft von sich. All dies geschah nach dem Alter
von fünf Jahren. Ich hätte niemals die Verknüpfung zustande bringen können,
die sie in Ihren Gefühlserlebnissen herstellte, weil es dann mein Kortex wäre,
der versuchen würde, die Einprägung einer tieferen Ebene im Gehirn eines
anderen Menschen herauszufinden. Anorexie hat ihren Ursprung oft
im Hirnstamm, während die bewusste Entscheidung, sie zu bekämpfen, weit vom
Hirnstamm entfernt lokalisiert ist. Sich auf einen solchen Dialog zwischen dem
Kortex und dem Hirnstamm einzulassen, kommt einer Konversation gleich, die viele
Millionen Jahre der Entwicklung überspringt, weil der frontale Kortex gebeten
wird, die Arbeit des Hirnstamms zu erledigen. Es ist nichts anderes als der
Versuch, allein Willenskraft im Kampf gegen Anorexie einzusetzen. Es ist bekannt, dass
„Speed“ den Appetit reduzieren kann. Die Person, die durch interne Überstimulierung
auf Speed ist, kann allein durch diese Tatsache ihren Appetit verlieren.
Anorexie kann in einem beruhigenden und ermutigenden häuslichen Gruppenmilieu
behandelt werden, zum Beispiel in einem Reha-Zentrum, und manchmal können die
Symptome ausgemerzt werden, aber die dahintersteckende Dynamik wird niemals
ausgelöscht. Dennoch ist es wichtig, das Symptom zu behandeln, weil es fatal
sein kann. Das untere Gehirn weiß mehr über
seine eigene interne Realität als irgendein außenstehender Experte. Die
Anorexie meiner Patientin hielt an, weil ihr Überlebensmechanismus stärker war
als jede therapeutische Methode. In diesen Fällen kann die konventionelle
Psychotherapie keine Hilfe bieten, es sei denn auf einer oberflächlichen Ebene.
Oft glauben sowohl Patient als auch Arzt, es sei ein Fortschritt erzielt worden,
obgleich der Arzt sich in Wirklichkeit mit der einen Realität befasst, während
Gehirn und Körper der Patientin sich mit einer anderen beschäftigen. Seite 73 |
Eine
Patientin von mir, Sandra, erzählte von ihrem Kampf mit Anorexie und von ihrem
Weg zur Genesung. Die folgende Fallgeschichte von Sandra stellt wieder einige
Ursachen heraus, nicht nur von Anorexie, sondern auch von suizidalen Tendenzen.
In ihrem Fall wäre sie beinahe bei der Geburt gestorben. Sie war zu Beginn
ihres Lebens von Todesgefühlen überflutet, die zu einer Einprägung wurden, so
dass sie davon besessen war. Es ist nicht oft der Fall, dass jemand sterben
will. Es ist vielmehr so, dass die Einprägung besagt, dass der Tod die Agonie
beenden kann. Es ist diese Gleichung aus der Geburt, die einen Menschen sowohl zum Tod hin als auch von ihm weg
treibt. Fügt man der Mixtur Hoffnungslosigkeit hinzu, ergibt das ein Gefühl
drohenden Todes zusammen mit dem Gefühl, dass es keinen Zweck habe, irgendetwas
ändern zu wollen. Die meisten meiner Patienten, die vom Tode besessen sind,
sagen mir, ihr Gefühl sei, dass der Tod unmittelbar bevorstehe und kein weit
entferntes Ereignis sei. Was unmittelbar bevorsteht, ist, dass die
Todesempfindung aus der Geburt in Richtung Bewusstheit aufsteigt und
Zwangsvorstellungen erzeugt. Sandras Geschichte
Meine
Mutter wollte mich nicht; sie versuchte mich abzutreiben. Als das nicht
funktionierte, hungerte sie, damit man ihr die Schwangerschaft nicht ansehen würde.
Schließlich fing sie während ihres (meines) siebenten Monats zu essen an, weil
sie begonnen hatte, sich zu zeigen. Als ich geboren wurde, war ich anorektisch
und konnte nichts unten halten. Ich spüre jetzt, dass ich mich am Rande des
Verhungerns halte, weil ich dieses Gefühl ganz von Anfang an gehabt habe.
Bevor ich
geboren wurde, verlor meine Mutter während des fünften Monats ein Baby.
Dasselbe geschah mit mir, nur dass ich irgendwie stark genug war, um zu überleben.
Heute fühle
ich dieselbe Toxizität und mit ihr die Todesgefühle, die mich mein ganzes
Leben lang gequält haben. Ich hatte immer eine leichte Empfindung von Übelkeit,
vor allem gleich nach dem Essen. Mein Impuls war, alles auszuspeien, das in
meinen Körper kam. Ich verstehe jetzt, dass ich jene Vergiftungs-Erfahrung im
Mutterleib immer wieder inszeniert habe. Ich muss diesen Impuls zum Ausspeien
gehabt haben, um im Mutterleib zu überleben – und vielleicht war es sogar
dieser Impuls oder eine primitivere Variante, der mich am Leben hielt. Dennoch hätte
mich dieser Impuls später dann beinahe getötet, als ich begann, soviel Gewicht
zu verlieren. Wann immer ich mich in einer Situation von Stress oder Verletzlichkeit befinde, kommen dieselben Todesgefühle herauf, und mein Körper ist gezwungen, sie zu unterdrücken. Seite 74 |
||||
Im Schlaf sinke ich auf etwas hinab, das sich wie die Bewusstseinsebene eines
Babys anfühlt; das Ergebnis ist, dass ich schreckliche Angst bekomme und
Probleme habe, überhaupt in Schlaf zu fallen. Beim Sex bin ich verletzlich, so
dass ich einfach abschalte, wenn ich zu erregt bin. Ich bin seit Jahren
suizidal, und nun sehe ich warum. Schon bevor ich geboren wurde, war ich vom Tod
umzingelt und musste ihn abwehren!
Demselben
Muster, meine Gefühle zu blockieren, folgte ich in der Therapie. Sobald Gefühle
aufkamen, war ich überlastet und verdrängte das Gefühl, das mich in der
Gegenwart beschäftigte, und reagierte die ganze Energie, die in mir gefangen
war, einfach ab oder setzte sie Hals über Kopf frei. Ich wurde immer als
„Hysterikerin“ betrachtet. Ich konnte mich nicht auf irgendein Gefühl
konzentrieren, weil ich einen Vulkan in mir hatte, mit dem ich mich befassen
musste. Keiner meiner Körperprozesse funktionierte richtig, weil mein Körper
immer das Todesgefühl gefangen hielt. Um dieses Gefühl mussten sie sich in der
Primärtherapie kümmern, bevor mein Körper wieder funktionierte. Der Hirnstamm: Instinkt und Überleben
Der
unterste Teil des Gehirns, der in die Wirbelsäule überleitet, wird als
Hirnstamm bezeichnet. Er besteht aus vielen Strukturen und beinhaltet das
retikuläre Aktivierungssystem, die Medulla und den Locus caeruleus. Er ist das
erste organisierte Zentralsystem, das sich mit Ereignissen befasst und sie
registriert, besonders mit solchen vor der Geburt und mehrere Monate danach.
Wenn Gefahr
im Verzuge ist, schlägt der Hirnstamm Alarm und energetisiert den Körper. Er
ist an der Regulierung vitaler Funktionen wie Atmung, Blutdruck und Herzschlag
beteiligt. Das alles sind instinktgesteuerte, automatische Funktionen. Der
Hirnstamm trommelt die Truppen zusammen, indem er das übrige Gehirn und den Körper
über Nervenfasern aktiviert, die direkt zum frontalen Kortex und auch zum
Limbischen System verlaufen.
In Hirnstamm-Strukturen
wie dem Locus caeruleus eingravierte Furchtsignale werden zum Kortex auf die
obere Ebene gesendet, der sie dann zu einer Phobie, einer Zwangsvorstellung oder
zu einem Angstgefühl zusammensetzt, deren Ursachen für den Menschen tief im
Dunkeln liegen. „Warum Angst?“ könnte man fragen. Weil Angst kortikale
Verarbeitung erfordert; andernfalls ist es Terror der unteren Ebene. Sie müssen
sich des viszeralen Grollens bewusst sein. Angst ist nur amorpher Terror. Angst
ist ein „teilbewusster“ Zustand. Wir fühlen uns schrecklich, wissen, dass
etwas nicht stimmt, aber wir wissen nicht, was es ist und warum es geschieht.
Als ich ein MRI* für meinen Rücken machen ließ und eineinhalb Stunden in
einer engen Metallröhre eingeschlossen war, wies ich den Techniker an, in
unregelmäßigen Intervallen hart auf meine Füße zu klopfen (sie ragten
heraus), um Angst zu vermeiden. Es funktionierte. Keine Angst; keine Fähigkeit,
die Furcht kortikal zu erzeugen und aufzubauen.
_______________________________
*
Magnetic
Resonance Imaging (Magnet-Resonanz-Tomographie), Anm d.Ü.; ____________________________________ Seite 75 |
Stellen Sie
sich den Hirnstamm als das Reptilien-Gehirn vor.20 Er ist das, was
wir mit unseren animalischen Vorfahren gemeinsam haben. Traumen, die in der
Schwangerschaft geschehen, stehen in direkter Verbindung mit diesem System.
Das ist der
Grund, warum sich ein Patient während eines Feelings in der Sprache tierischer
Physiologie und Anatomie „erinnert“, mit überkreuzten Beinen,
Kurzatmigkeit, Grunzen, Würgen und Husten. Indem wir geeignete Techniken
benutzen, können wir auf diese primitive Ebene zugreifen.* Wenn der Patient während
einer Sitzung schreit, ist es das Wimmern eines Neugeborenen, nicht der Schrei
eines dreijährigen Kindes. Wenn eine Patientin etwas wiedererlebt, das im Alter
von sechs Jahren geschah, ist das Schreien charakteristischerweise das einer
Sechsjährigen. Steigt sie jedoch die Schmerzkette hinab, wird das Schreien
automatisch infantiler. Wenn sie beim Hirnstamm ankommt, ist es kein Schreien
mehr; es ist ein Grunzen oder ein Ächzen. Selbst ein Babyschrei, wenn er während
eines Geburts-Primals geschieht, sagt uns, dass es kein reales Ereignis ist.
Anoxie kann
niemals erklärt werden. Sie ist ein physiologischer Zustand und kein Gedanke.
Deswegen ist Angst so amorph. Sie ist rein physisch, viszerale Empfindung –
ein Würgen, eine Enge in der Brust, ein aufgewühlter Magen und ein einengendes
Band um den Kopf, Benommenheit, Schwindel, Kurzatmigkeit, Herzaussetzer, und so
fort. Diese Anoxie ereignete sich lange vor der Entwicklung des logischen
Kortex, der ihr einen Sinn hätte geben können. Je eingeschränkter die gegenwärtige
viszerale Reaktion ist (zum Beispiel ein umgedrehter Magen, Kolitis, Diarrhoe),
umso wahrscheinlicher liegt die Ursache in der präverbalen Vergangenheit. Die
prototypische Reaktion, die ihren Anfang bei der Geburt nahm, ist jetzt die
erste Antwort auf jede neue Bedrohung. Im Angesicht einer aktuellen Gefahr
tastet der Hippocampus die Geschichte ab, um den Prototyp zu finden, der die
Reaktion bestimmt. Sie gründet auf dem Überlebensinstinkt.
Der
Hirnstamm hat sein eigenes Gedächtnissystem. Die Art, wie wir atmen, zum
Beispiel, und die Kraft und der Tonfall unserer Stimme oder unser generelles
Energieniveau haben ihren Ursprung in dieser Gehirnregion der ersten Ebene.
Diejenigen, deren Sprechweise etwas Durchdringendes an sich hat, werden oft von
der Macht eingeprägter Empfindungen gelenkt, welche die Domäne der ersten
Ebene sind. Obwohl die Sprache an sich eine höhere Gehirnfunktion ist, kann die
Energie einer eindringlichen Sprechweise vom Reptilienhirn aus gesteuert werden.
Wenn wir jedoch krank sind, verlieren wir oft unsere kraftvolle Sprache. Warum
sehen kranke Leute krank aus? Weil uns eine Virusattacke genau wie eine Gefühlsattacke
unter Stress setzt, der Energie verbraucht. Die Stimme zum Beispiel ist nicht
mehr dröhnend und gewaltig.
______________________
*Die Veröffentlichung
unserer Techniken würde ein weiteres Buch erfordern. Es dauert sechs Jahre, sie
zu erlernen. Sie zu veröffentlichen birgt die Gefahr des Missbrauchs. Seite 76 |
||||
Die Arbeit des frontalen Kortex: Wie sich sonderbare Gedanken entwickeln
Der
Hirnstamm hält den Tonus und die Spannkraft des frontalen Kortexes aufrecht. Er
benötigt eine gewisse Menge an Eingaben, um sich selbst in einem guten,
arbeitsfähigen Zustand zu halten. Der frontale Kortex hat direkten Zugang zur
Medulla und beeinflusst somit die Herz- und Atmungsfunktion. In umgekehrter
Manier reguliert der frontale Kortex den Ausstoß des Hirnstamms. Zuviel
Input vom Hirnstamm bewirkt, dass wir leicht ablenkbar und konzentrationsunfähig
sind. Stellen Sie sich bildlich eine Faust vor, die nach oben in ein Puzzle
hineinstößt und die Teile kreuz und quer verstreut. Grob gesagt geschieht das,
wenn Eingaben von unten mit unverminderter Wucht zum frontalen Kortex
aufsteigen, der verzweifelt versucht, all die Teile wieder zusammenzusetzen. Der
frontale Kortex fällt auseinander und verliert den Zusammenhalt. Paranoia zum
Beispiel ist ein letzter Versuch, die Fragmentierung abzuwehren. Es ist der
Versuch des Kortex, alle Ängste zu sammeln und ihnen eine vernunftmäßige Erklärung
beizufügen. Wenn Paranoia versagt, haben wir eine geisteskranke Person. Hier
also haben wir ein Beispiel, wie jemand psychotisch wird (Paranoia), um völlige
Verrücktheit abzuwenden. Zumindest funktioniert der Paranoide: Er kann einen
Job beibehalten, für sich selbst sorgen, eine Familie unterhalten, etc. Ein Patient, der unter Paranoia litt, glaubte, der Zeitungsverkäufer unten an der Straße wolle ihn töten. In unseren Sitzungen gelangte er schließlich zu der Hirnstamm-Einprägung der Anoxie (Sauerstoffentzug) bei der Geburt. Die Einprägung stieg nach oben zum frontalen Kortex, wo das Gefühl vier Jahrzehnte später von „Ich werde sterben“ zu „Sie wollen mich töten“ umgewandelt wurde. Die Einprägung wusste, dass der Tod lauerte, aber weil sie keine Verbindung zustande brachte, kannte der Kortex nicht den Grund für dieses Gefühl. Seine Paranoia nahm so weit zu, dass er Wahnvorstellungen entwickelte und alle seine Befürchtungen auf die Gegenwart konzentrierte. Das bizarre Zeitungsverkäufer-Szenario entwickelte sich aufgrund der großen Kraft seines Geburtsschmerzes, bei dem es um Leben oder Tod ging, und weil sein Abwehrsystem durch so viele Verletzungen in seiner Kindheit geschwächt worden war. Seite 77 |
Auch seine Eltern verletzten ihn
beinahe jeden Tag seines Lebens. Sie wollten keine Kinder. Er war ein Unfall,
und sie wollten sicher stellen, dass er dafür bezahlte, dass er sie ihrer
Freiheit und ihres Lebens beraubte. Hätte die Einprägung ihren Ursprung nicht
bei der Geburt gehabt sondern viel später im Leben, würden wir kaum so eine
Wahnvorstellung sehen, wie sie dieser Patient hatte.
Albträume
sind ein Anzeichen, wie der Kortex und Teile des Limbischen Systems bis zum Äußersten
getrieben werden. Das Gefühl im Albtraum ist die
exakte Replik des ursprünglichen Traumas; das Gefühl, nicht die Bilder. Die
Bilder sind eine Verkleidung der Empfindung. Wir verwenden keine Zeit darauf,
die Bilder und den Inhalt zu analysieren; wir gehen der Sache geradewegs auf den
Grund. Wir benutzen die Symbole und Bilder in dem Traum. Der Patient lässt sich
von dem Gefühl überfluten und gleitet dann auf dem Gefährt des Fühlens den
Weg zu dessen Wurzeln hinab. Wenn das Gefühl jedoch zu stark ist, werden wir
den Patienten nicht dorthin gehen lassen, besonders wenn er neu ist. Grundsätzlich
wird sein Gehirn es nicht zulassen und die Schleusen dicht machen. Aber wenn die
Schleusen durch vielschichtigen Schmerz aus dem ganzen Leben geschwächt sind,
dann helfen wir aus. Es könnte sein, dass man an diesem Punkt Beruhigungsmittel
benötigt. Sie leisten genau das, was der Kuss einer Mutter geleistet hätte.
Albträume bedeuten defekte Abwehr, den Durchbruch von schwerem Schmerz. Gewöhnlich
schaffen es die Träume ganz alleine, das Gefühl in Bilder einzuhüllen. Nur
wenn das versagt, haben wir Alpträume. Träume sind die Maskierung für Primärgefühle;
andernfalls würden wir aufwachen und wären in der Realität. Sie lassen uns
weiterschlafen. Einige von uns erinnern sich ihrer Träume, weil sie partiellen
Zugang zu dieser Ebene haben.
Unser
Versuch, den oben genannten Patienten mit Vernunftargumenten zu überzeugen,
dass ihn niemand töten wolle, war zwecklos, weil sein Körper und Gehirn
wussten, dass der Tod um die Ecke lauerte. Das war keine „Gedankenstörung“,
wie sie in der psychiatrischen Literatur berichtet wird. Tatsächlich ist es überhaupt
keine Störung. Es ist eine Anstrengung der letzten zerebralen
Verteidigungslinie des Körpers, einem verborgenen Gefühl einen Sinn zu geben.
Es ist ein Kompensationsmechanismus, der uns hilft, gesund zu bleiben,
wenigstens einigermaßen gesund. Seine Funktion besteht darin, das
Zustandekommen der Verknüpfung zu verhindern, weil das bedeuten würde, dass
sich die Messwerte vitaler Funktionen in einem gefährlichen Bereich bewegen. Medikamente, welche die hochwallende Botschaft des Hirnstamms besänftigen oder unterdrücken, lindern nur das Syndrom. Es ist keine Überraschung, dass diese Medikamente auch obsessiv-zwanghafte Symptome dämpfen, wie ständiges Händewaschen oder dutzende Male zu überprüfen, ob die Türen verschlossen sind. Sie verringern die Arbeit, Seite 78 |
||||
ie der Kortex zu leisten hat, indem sie im
Neokortex endende Impulse des Hirnstamms und Limbischen Systems verlangsamen. Es
ist egal, ob es sich um Zwangsvorstellungen, Aufmerksamkeitsmangel oder Paranoia
handelt; alles das bezieht den denkenden frontalen Kortex und seine limbischen
Verknüpfungen mit ein. Es ist offensichtlich, warum dieselbe Pille alle diese
Störungen bis zu einem gewissen Grad unterdrückt.
Zwangsvorstellungen,
nächtliche Grübeleien, während man versucht einzuschlafen, und mystische
Ideen sind die Art und Weise, wie der Kortex mit Gefühlen verfährt und sie zurückhält.
Es ist gewiss ein angenehmeres Gefühl, wenn Sie glauben, von einer mächtigen
Instanz beschützt zu werden, als wenn Sie sich völlig nackt und schutzlos fühlten.
Wenn unsere Gefühle mit unserer Gedankenwelt übereinstimmen, kann das System
schließlich zur Ruhe kommen. Fühlen - Kern unseres Menschseins
Wann immer
Hirnstamm-Einprägungen im Spiel sind, kann ich es aus dem Muster des Weinens während
eines Gefühlserlebnisses heraushören; das sporadische, abgeflachte Schluchzen;
und der Ausfall der Atmung. Wenn ich eine Normalisierung der Körperfunktion
sehe - eine niedrigere Körpertemperatur zum Beispiel - bin ich mir sicher, dass
Abspaltung der Missetäter war und Wiederverknüpfung mit dem ursprünglichen
Ereignis der Retter. Ich bin in der Lage, mit Gewissheit zu behaupten, dass
Wiederverknüpfung das System neu stabilisiert, weil ich es bei meinen Patienten
immer wieder gesehen habe. Nichts ist so wohltuend, als nagende Spannung und
Angst loszuwerden und dieses Gefühl abzuschütteln, ungeliebt zu sein.
Fühlen macht uns menschlich. In
der Primärtherapie helfen wir den Patienten, sich unwohl zu fühlen, aber nur für
kurze Zeit. Wollten wir nicht instinktive Gewalten des Hirnstamms mit höheren
Ebenen des Gehirns verbinden, hätten wir keine so direkte Verknüpfung von
Nervennetzwerken.
Es gibt ein biologisches
Bedürfnis nach Ganzheit und Wiedervereinigung; eine Erinnerung an Gesundheit,
daran, wie wir einst waren, liegt in jedem von uns. Wenn sich der Körper durch
die Wiedererfahrung früher Gefühle
normalisiert, dann können wir annehmen, dass er durch die ursprüngliche
Erfahrung jenes Schmerzes aus der Bahn gebracht worden war. Wenn der Patient ein
Trauma wiedererlebt, das seinen Blutdruck auf das Zweifache erhöhte, und er ihn
später auf normale Werte zurückbringt, gibt es nichts, was wir rauskriegen müssten.
Die Geschichte bindet das Symptom an die Vergangenheit. Seite 79 |
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 Allan
Schore beschreibt den reverbierenden Prozess: “Diese posterior kortikal-präfrontal-subkortikal
limbisch-präfrontal-posterior kortikale Schleife aktiviert einen reverbierenden
(sich selbst wiederauslösenden) Kreisprozess, der eine Langzeitgedächtnis-Funktion
vermittelt.“ Allan Schore, Affect
Regulation and the Origin of the Self: The Neurobiology of Emotional Development
(Hillsdale, N. J.: Lawrence Erlbaum and
Associates, 1994), s. 297.
N. 2
J. W. Smyth et al., « The Interaction between Prenatal Stress and
Neonatal Handling on Nociceptive Response Latencies in Male and Female Rats,” Physiology and Behavior 55, no. 5 (Mai 1994): 973
N. 3
J. W. Smyth, W. B. Rowe und M. J. Meaney, “Neonatal Handling Alters
Serotonin (5HT) Turnover and 5HT Receptor Binding in Selected Brain Regions,”
Developmental Brain Research 80 (15. Februar 1994): 183-89.
N. 4
D. Peters et al., « Effects of Maternal Stress During During
Different Gestational Periods on the Serotonergic System in the Adult Rat
Offspring, » Pharmacology, Biochemistry and Behavior 31 (1989): 839-43.
N. 5
Ibid.
N. 6
M. J. Meaney et al., “Early Enviromental Regulation of Forebrain
Gluto-corticoid Receptor Gene Expression: Implications for Adreno-cortical Responses to Stress,” Developmental Neuroscience (Montreal, Kanada) 18 (1996):
49-72.
N. 7
Daniel Goleman, Emotional Intelligence (New York: Bantam, 1995).
N. 8
B. Dalens, “La Douleur Aigue de l’enfant et son Traitement,” Annals
Franciases D’Anesthesie et De Reanimation (Paris) 10 (1981) : 40-41.
N. 9
W. J. H. Nauta und Michael Feirtag, « The Organization of the
Brain, » Scientific American 241, no. 3 (September 1979): 88-98. N. 10 Siehe Time,
5. Mai 1997, s. 78 für eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse.
N. 11
M. Weinstock, „Prenatal Stress Increases Anxiety-Related Behavior and
Alters Cerebral Lateralization of Dopamin Activity,” Life Sciences 42
(1988):
1059-65. N. 12 Es sollte
jedoch hinzugefügt werden, dass unterschiedliche Neurotransmitter in
unterschiedlichen Teilen des Gehirns unterschiedlich wirken. So kann Dopamin in
einigen tieferen Arealen inhibitorisch sein und und inhibitorisch im Kortex,
indem es die frontale Region zu erhöhter Effektivität stimuliert.
N. 13 „A
Shocking Case of Depression,“ Science News 154, no. 22 (28. November 1998): 344. Seite 80 |
||||
N. 14 Siehe unsere eigene Forschung, The New Primal Scream (Der Neue Urschrei), erhältlich im Primal Center, Venice, Kalifornien
N. 15
Antonio Damasio, The Feeling of What Happens (New York: Harcourt Brace,
1999), s. 46.
N. 16 Persönliche Korrespondenz, 1. Januar
2000.
N. 17
R. Gagin, E. Cohen und Y. Shavit, „Prenatal Exposure to Morphine
Feminizes Male Sexual Behavior in the Adult Rat,“ Pharmacology, Biochemistry
and Behavior 38 (1997): 345.
N. 18
H. Van Praag er al., „Running Enhances Neurogenesis, Learning, and
Long-Term Potentation in Mice,“ Proceedings of the Natinal Academy of Science
USA 96, no. 23 (9. November 1999): 13427-31; G. Kempermann, H. G. Kuh und F. H.
Cage, „More Hippocampal Neurons in Adult Mice
Living in an Enriched
Environment,“ Nature 386, no. 6624 (3. April 1997): 493-95.
N. 19
Stephen Plotkin, University of California at Irvine, in “Study Links
Schizophrenia, Cells,” Outlook, 16. Mai 1996. N. 20 Paul Mac Lean, The Triune Brain in Evolution: Role in Paleocerebral Functions (New York: Plenum Press, 1990).
_______________________________________________________________________________ --------------------------------------------
|
KAPITEL 3
____________________
DIE ALARMSTATION
Das retikuläre Aktivierungssystem
___________________
Es
ist nicht in erster Linie Aufgabe des retikulären
Aktivierungssystems, globale Information an höhere Zentren weiter zu leiten.
Vielmehr „misst“ es den Betrag der durchlaufenden Information und
aktiviert das Gehirn in ausreichendem Maße, so dass es sich mit der gegebenen
Menge befassen kann. Das System reift früh, noch vor der Geburt, und
aktiviert die auf einer gegebenen Entwicklungsstufe jeweils höchste verfügbare
Ebene neurologischer Funktionen. Schmerz mobilisiert das System, hält es wachsam, signalisiert Gefahr und möglichen Schaden. Diese Information zu organisieren, ist Aufgabe des retikulären Aktivierungssystems. Diese netzähnliche Struktur ist eines der Schlüsselareale für Norepinephrin-Konzentration, die dazu beiträgt, dass wir wachsam bleiben. Ein Spezialist erklärt: „Sowohl Norepinephrin als auch Dopamin (die aktivierenden neurochemischen Substanzen) schicken ihre Axone (die langen Verbindungsarme) in den zerebralen Kortex......hochkomplexe und komplizierte Muster intellektueller Aktivität im Kortex werden von evolutionär primitiven Katecholaminsystemen beeinflusst.“ 1 Das bedeutet, dass Hirnstamm-Orte lange Verbindungsarme – Nervengeflechte - zu den frontokortikalen Arealen senden, die der Information Bedeutung geben. Das ist die Art und Weise, wie Hirnstamm-Einprägungen den Gedanken bildenden Geist aktivieren und ihn in große zwanghafte Unruhe versetzen. Das hindert uns dann daran, uns zu entspannen und einzuschlafen. Wir sind überaktiviert, nicht durch Gedanken, sondern durch nonverbale Einprägungen, die uns zum Denken und Grübeln antreiben. Warum können wir nicht schlafen? Weil wir von unserem zerebralen Abwehrsystem loslassen, wenn wir uns Strukturen einer tieferen Ebene annähern, nämlich genau denen, die Schmerz signalisieren.
Wenn sich
Schmerz eingeprägt hat, kann es sein, dass das System den frontalen Kortex überstimuliert.
Dann sehen wir obsessiv-zwanghaftes Verhalten oder Phobien, da der
Frontalbereich sich anschickt, die eingeprägte Überlast zu entladen. Oder abhängig
von der Natur des frühen Traumas, wie zum Beispiel massiver Anästhesie bei der
Geburt, schaltet das retikuläre Aktivierungssystem ab und kann vielleicht keine
ausreichende Stimulierung liefern, um den frontalen Kortex in aktivem und
effektivem Zustand zu halten. Das Resultat ist eine phlegmatische Persönlichkeit
mit Passivität und unkonzentrierten, wirren Gedankenmustern. Das ist auch das
Muster eines „Verlierers“, der anscheinend nichts in die Wege bringt.
Manchmal schalten Gedanken, die sich auf absteigenden retikulären Bahnen
bewegen, Empfindungen und Gefühle ab und verhindern, dass Impulse den frontalen
Bereich überfluten.
Der
Frontallappen hat direkte Verbindungen zu diesem System und kann physiologische
Zustände kontrollieren. Tierstudien weisen darauf hin, dass Streicheln oder
Tragen dieser Tiere das retikuläre Aktivierungssystem abschwächen oder
modulieren kann, was sie weniger nervös sein lässt. Man kann das retikuläre
Aktivierungssystem durch Berührung als auch durch Medikamente beruhigen. Berührung
ist weitaus effektiver. Ich habe Patienten beobachtet, die sich in Qualen
wanden, als sie ihre Eltern um Berührung anflehten. Während kritischer
Perioden ist Zärtlichkeit und Berührung wesentlich für die Entwicklung des
menschlichen Gehirns. Nach dieser Periode wird alle Berührung der Welt den
Schaden nicht völlig beseitigen können; eine bestimmte Menge an Körperkontakt-Deprivation
wird bleiben. Und genau das ist oft der Antrieb hinter zwanghafter sexueller
Aktivität bei Frauen – und ebenso bei Männern. Wenn das System aktiviert
wird, wie bei sexueller Erregung, droht auch die gesamte Aufmachung vergrabener
Gefühle wieder an die Oberfläche zu kommen. Wenn die Einprägung hochgradiger
Erregung ursprünglich zum „Abschalten“ führte, dann wird hochgradige
sexuelle Erregung zum Abschalten des sexuellen Erlebens führen. Wenn etwas wie
bei Sex sehr erregend ist, tastet das Gehirn seine Geschichte nach Erregung
gleichen Niveaus ab und sucht nach der richtigen Antwort. Wenn die ursprüngliche
Reaktion auf massive Stimulierung Verschließen oder Abschalten war (wie im
Geburtstrauma), dann wird es wieder zum Verschließen kommen. Hier liegt eine mögliche
Ursache von Frigidität. Ich möchte hier ganz deutlich werden. Wenn im Erwachsenenalter ein Ereignis hoher Valenz (Kraft) stattfindet, wie zum Beispiel sexuelle Erregung, zwingt dieses Ereignis die limbischen Strukturen, nach anderen Ereignissen von gleich hoher Valenz zu suchen, wie zum Beispiel nach dem Geburtstrauma, und löst es dann aus. Es holt auch andere Kindheitstraumen hervor, so dass jetzt hochgradiger Schmerz im Aufsteigen begriffen ist mitsamt den Abweichungen, die sich ereigneten – zum Beispiel, Mutters Slips anzuziehen. Seite 83 |
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Der Sextrieb wird nun durch die persönliche
Lebensgeschichte beeinträchtigt. Vielleicht ergeben sich unablässige
homosexuelle Fantasien, wenn sexuelle Erregung aufkommt – das Bedürfnis nach
Vaters Liebe in einem Mann. Dieses normalerweise gut verdrängte Bedürfnis ist
aus den Angeln gehoben worden und dringt in den sexuellen Akt ein. Wenn das
aktuelle Ereignis, ein vergnügliches Basketballspiel, von nicht so hoher Valenz
ist, würde es vielleicht die sexuellen Fantasien oder Abweichungen nicht auslösen.
Der Locus
caeruleus: Im Zentrum des Terrors
Der Locus
caeruleus ist ein wichtiges Zentrum der Furcht- und Schmerzreaktion im
Hirnstamm. Hoch oben im Hirnstamm liegend (siehe Kapitel 1), sekretiert er
Noradrenalin, eine chemische Wecksubstanz, als Reaktion auf präverbale Traumen,
Vorfälle bei der Geburt oder auf frühen Mangel an Körperkontakt und Wärme.
Wenn sich Noradrenalin mit seinen Rezeptoren verbindet, erleben wir Schmerz. Der
Locus caeruleus ist eine primitive Struktur, die nur Empfindungen kennt und
wenig mit Gefühlen zu tun hat. In evolutionärer Hinsicht geht er der
Entstehung von Gefühlen um Millionen Jahre voraus.
Der Locus
caeruleus besteht nur aus wenigen Hunderten bis wenigen Tausenden von Neuronen;
dennoch erstrecken sich seine Äste, oder Axone, durch das gesamte Gehirn. Das
setzt den Locus caeruleus in die Lage, das Nervensystem auf globale Weise zu
aktivieren. Aber obleich der Locus caeruleus auf Schmerz reagiert, weist er auch
eine dichte Konzentration von Opiatrezeptoren auf, die Schmerz abwürgen. Mit
anderen Worten ist das Haus der Schmerzen auch das Haus der Schmerzverdrängung.
Frühe Einprägungen elektrisieren das System, so dass es sich auf die Aufnahme
von Schmerz einstellen kann, und bringen das System dann dazu, diesen Schmerz zu
unterdrücken, wenn er ein übermäßiges Niveau erreicht. In einer Anzahl von
Tierversuchen, die sich mit Schmerz befassten (ausgelöst durch elektrische
Stimulation oder durch Schwanzkneifen), stellte sich heraus, dass er den Locus
caeruleus sowohl in Hinsicht auf Stimulierung als auch auf Hemmung beeinflusste.
2
Da der
Locus caeruleus ein Schlüsselzentrum des Schreckens ist, wird diese Empfindung
letztlich die Arbeit des denkenden Kortex stören, wenn der Schrecken vom
retikulären Aktivierungssystem zur kortikalen Verknüpfung nach oben gesendet
wird.
Das
Medikament Clonidin ist ein Hirnstammblocker, der das Feuern von
Noradrenalin-Neuronen im Locus caeruleus verhindert. Bruce Perry vom Baylor
University Medical Center fand heraus, dass „Ratten, die perinatalem (die Zeit
um die Geburt) Stress ausgesetzt waren, bedeutende Veränderungen ihrer
Stressreaktionen im späteren Leben aufwiesen.“ 3 Bei
misshandelten Kindern stellte sich heraus, dass sie im späteren Leben
„Frustration, Wut, Schmerz, Hilflosigkeit, Schreckreaktionen, Schlafabnormitäten,
Impulsivität und veränderte kardiovaskuläre Regulierung erleben.“
4 Seite 84 |
Perry fand auch heraus, dass
gestresste und misshandelte Kinder gut auf Clonidin ansprachen, weil es
die Aktivität des Locus caeruleus regulierte. Es half den Schlaf zu
verbessern, stabilisierte die Herzfunktion, verlangsamte Rastlosigkeit und
verminderte Hyperaktivität. Ebenso besserten sich viele impulsgesteuerte
Charakterzüge wie Aggression, Stehlen und unkontrollierte
Gefühlsausbrüche.
Ich behandelte eine Frau, die als
Neugeborene tagelang ohne ihre Mutter gelassen wurde, die mit Tuberkulose
in die Klinik eingewiesen worden war. Diese Erfahrung, ohne Unterstützung
oder Wärme in einer neuen Welt zu sein, wurde sowohl als Schrecken als
auch als Alleinsein eingeprägt. Die meisten ihrer Hirnstamm-Strukturen
trugen auf ihre eigene Weise zur Valenz des Schmerzes bei, sonderten
Dopamin und/oder Norepinephrin ab, um Gehirn und Körper zu mobilisieren,
und machten sie hyperaktiv.
Ihr Schmerz des Alleinseins wurde von
Neurotransmittern blockiert und dann zu anderen Zentren umgeleitet. Seine
Energie reichte jedoch, um ihre Konzentration zu erschüttern und bei ihr
Hyperaktivität hervorzurufen. Auf der Highschool erhielt sie Sechser und
Fünfer. Viele ihrer Lehrer dachten, sie sei „blöd“, und ihre Eltern
bekräftigten diese Ansicht. Schließlich fühlte sie ihren Schrecken, ihre
Lebensangst und ihre Angst, etwas Neues zu versuchen. Ihr ganzes Leben war
von Furcht dominiert. Diese Frau ist jetzt eine erfolgreiche Ärztin.
Nichtsdestotrotz hat sie gelitten.
Wenn die Stimulierung mit der Zeit ein
übermäßiges Niveau erreicht, lässt die Aktivierung seitens des Locus
caeruleus nach, was sicher stellt, dass die Schmerzbotschaft nicht das
vollständige Bewusstsein erreicht. Der Locus caeruleus antwortet auf
eintreffende Reize gewöhnlich mit heftigen Ausbrüchen neuraler Aktivität,
denen eine Ruhephase folgt. Diese Ausbrüche können für Panikattacken
verantwortlich sein. Diese Panikattacken sind Reaktionen auf Einprägungen.
Der Locus caeruleus feuert nicht ohne Grund von selber los.
Der Locus caeruleus ist nicht der
Logik unterworfen; in Gegenwart früher schmerzvoller Einprägungen reagiert
er einfach und mobilisiert uns. Man kann sagen: „Es gibt nichts, worüber man sich beunruhigen
müsste,“ aber der Alarm ist nach innen gerichtet. Eine Person fühlt sich
in einem geschlossenen Raum, als müsse sie ersticken. Eine andere gerät in
Panik, wenn sie mit einem Aufzug fährt. Der Locus caeruleus und andere
tiefer gelegene Strukturen beinhalten die nonverbale postnatale Botschaft
„Ich ersticke im Inkubator“,
die zu Panik führt; es ist dieselbe physiologische Reaktion, wie sie im
Inkubator erlebt worden war. Clonidin wird seit dreißig Jahren gegen hohen
Blutdruck eingesetzt. Es kann ein Seite 85 |
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Gespeicherter Terror kann das ganze Leben
hindurch in Myriaden von Kanälen entströmen: durch Phobien, schnelles Reden,
Hyperaktivität, Angst und Panikattacken. Schlechte Träume und nächtliches
Albdrücken sind gute Beispiele für undichte Stellen.
Wie zu
erwarten ist, kommt es bei Morphiumentzug zu vermehrtem Feuern im Locus
caeruleus. Wiederum ist das System in Gefahr, und der Locus caeruleus lässt uns
das wahrnehmen, indem er den oberen kortikalen Kortex stimuliert. Wir können
die Feuergeschwindigkeit der Neuronen des Locus caeruleus und auch der Neuronen
in der Medulla durch Medikation verlangsamen. Das plötzliche Absetzen von
Medikamenten, die auf den Hirnstamm wirken, steigert den Ausstoß von
Noradrenalin (beschleunigt Herzschlag, erweitert Blutgefäße), was mehr
Erregung bewirkt. Dies bedeutet mehr Schmerz und deshalb mehr Notwendigkeit, ihn
zu unterdrücken; das ist das Entzugssyndrom. Wie bereits früher erörtert,
kann der plötzliche Entzug effektiver Hirnstamm-Medikamente gefährlich sein
und in einigen Fällen zu Anfällen führen – massiven Entladungen von
Gehirnneuronen. Es ist das übermäßige Feuern des Locus caeruleus, das
bewirkt, dass sich die unter Entzug stehende Person so unwohl fühlt. Sie/er ist
aufs Äußerste erregt, ohne zu wissen warum, was die Sache umso teuflischer
macht. Die Einnahme von Medikamenten, die das Feuern verlangsamen, stellt das
Wohlbefinden wieder her. Alles, was das retikuläre Aktivierungssystem und der Locus caeruleus wissen, ist, dass sie einsatzbereit sein müssen. Sie mobilisieren unsere Abwehrmechanismen: Schlechter Schlaf in der Nacht gestattet tiefsitzenden Einprägungen, aus ihrem Speicherort an die Oberfläche zu kommen. Je näher dieses eingeprägte Ereignis dem vollen Bewusstsein kommt, umso mehr nötigt es den Kortex zur Produktion zwanghafter Vorstellungen. Sie können dem Menschen diese Ideation nicht ausreden, weil sie in einer unbewussten Gefühlserfahrung ankert. Beruhigungsmittel können den Schmerz dauerhaft blockieren, aber werden sie einmal abgesetzt, erhöht der sich ergebende Ausstoß von Noradrenalin den Herzschlag, erweitert Blutgefäße und bereitet erneut eine Angstattacke vor. Wir zahlen immer einen Preis für künstliche Manipulation. Seite 86 |
Quellenverweise und Anmerkungen N.
1 M.
Huttunen und P. Niskanen, „Prenatal Loss of Father and Psychiatric
Disorders,“ Archives of General Psychiatry 35 (1978): 429-31.
N. 2 Siehe:
S. L. Foote et al., Nucleus Locus caeruleus: New Evidence of Anatomical and
Physiological Specifity,“ Physiological Reviews 63 (Juli 1983): 868.
N. 3 Bruce
Perry, „Clonidin Decreases Symptoms of Physiological Hyperarousal in Traumatized Children,” vorgelegt
der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (17.
Februar 1996): 313. N. 4 Ibid., s. 314
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4
__________ DER HYPOTHALAMUS Kurier der
Gefühle ___________
Außer dem Thalamus, den
Amygdalae und dem Hippocampus sind auch die limbischen Strukturen mit dem
Hypothalamus und seinem Zusatz, der Hirnanhangdrüse verbunden. Der
Hypothalamus reguliert die Hormonproduktion und dirigiert das Immunsystem über
die Hirnanhangdrüse, die direkt darunter liegt. Der Hypothalamus unterstützt
auch die Regulation des Herzschlags und der Körpertemperatur. Wenn der
Hypothalamus mit Schmerz überlastet ist,
scheidet der Körper entweder zu viel oder zu wenig Hormon ab, was zu
Veränderungen des Herzschlags und der Körpertemperatur führt. Zusammen mit dem Hirnstamm ist der Hypothalamus an der
„homöostatischen Regulation“ des Körpers beteiligt, indem er Atmung,
Herzfunktion, Blutdruck, Verdauung, elektrolytisches Gleichgewicht, viszeralen
Tonus und andere vitale Funktionen kontrolliert. Der Hypothalamus ist eine
gemeinsame Endbahn, auf der das Limbische System Gefühle in das Körpersystem
sendet. Er bewirkt, dass das Gefühl der Kritik den Magen aufwühlt und die
natürlichen Killerzellen und die Lymphozyten des Immunsystems verringert. Im
Gegensatz dazu kann Stimulierung des Hypothalamus die Antikörper vermehren,
um fremde Substanzen und/oder Infektionen zu bekämpfen.
Auch der Hypothalamus braucht Liebe. Seine Verbindung
zum frontalen Kortex beeinflusst das Wachstum der Hirnstamm-Neuronen. Seine
Art, das Bedürfnis zu zeigen, besteht darin, dass er uns ständig wachsam
sein lässt und uns dann krank macht, wenn er nicht bekommt, was er will. Ich
entsinne mich einer Patientin, die Dermatitis
hatte. Wir fanden heraus, dass ständiges Streicheln während der Sitzungen
ihren Zustand beträchtlich verbesserte. Was schließlich das Symptom
ausmerzte, war, dass sie das Gefühl wiedererlebte, wie ihr Körper um die Berührung
einer Mutter flehte, die unfähig war, körperliche Zuneigung zu zeigen. Sie
hob ihre Arme und schrie und flehte wochenlang darum. Seite 88 |
Gefühle bewegen sich zum Hypothalamus und
manifestieren sich in solchen Symptomen wie Magenkrämpfen, Beklemmung in der
Brust, schnellem Herzschlag und hohem Blutdruck. Die Symptome zeigen an, dass
sich das System in Disharmonie befindet. Die Person mag sich des Unbehagens
bewusst sein, aber sie kann es nicht abstellen, weil sie das frühe Gefühl
nicht abstellen kann. Das Geburtstrauma bringt den Hypothalamus aus der
Symmetrie, so dass er sympathischen Ausstoß begünstigt und uns damit ‚überdreht’.
Wenn ein Baby mit Allergien „geboren“ wird, können der Hypothalamus und
andere Strukturen, die bei der Bewältigung von Allergien helfen, im Mutterleib
beeinträchtigt worden sein. Wenn ein Kleinkind in den ersten ein oder zwei
Jahren seines Lebens nicht geliebt wird, kann das den Hypothalamus schwächen,
was wiederum in einem chronisch kranken Kind resultiert, das ständig von
Allergien, Infektionen und Fieber geplagt wird.
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Stimulierung des Hypothalamus kann die Menge der Antikörper
ansteigen lassen, die fremde Elemente (wie Pollen oder Katzenhaar), Antigene,
Viren und so fort bekämpfen. Autoimmun-Krankheiten wie z.B. Arthritis sind eine
weitere mögliche Folge. Ein Spezialist für Immunfunktion, Hugo Besedovsky aus
Davos in der Schweiz, hat über die Mechanismen geschrieben, die an der Übertragung
elektrochemischer Informationen vom Kortex zum Hypothalamus beteiligt sind, der
dann die Immunzellen anweist, ihre Aktivität zu steigern oder zu senken.1 Vom Hypothalamus ausgehende Informationen sagen auch
den sympathischen Neuronen, dass sie sich in Bewegung setzen sollen. Einer
meiner Patienten war ständig auf Achse, als wollte er versuchen, der Gefahr aus
dem Weg zu gehen – was er wirklich tat. Als er ein Kind war, stritten seine
Eltern ständig untereinander. Er fühlte sich hilflos, glaubte, es gebe keinen
Ausweg. Als er aufhörte herumzuhetzen, stellte sich äußerste Hilflosigkeit
und Hoffnungslosigkeit ein. Konstante Aktivität war seine Abwehr gegen das Gefühl,
dass er nichts tun konnte, um sein Familienleben zu ändern. In unseren
Sitzungen entdeckten wir, dass er bei der Geburt im Kanal eingequetscht wurde
und stecken blieb, da ein Tumor den Weg blockierte. Seine Eltern bestätigten
das später. Durch Raten wären wir nie auf dieses letztere Erlebnis gekommen,
dass er eingequetscht wurde. Die Empfindung und die mit dem Schmerz einhergehenden Körperkontraktionen übermittelten
uns, dass es die Wahrheit war. Sein Ausagieren war von der Gefühlserfahrung gesteuert und sollte ihn davon abhalten,
sie zu erleben. Lassen Sie mich gleich hinzufügen, dass wir keine Ausschau nach
dem Geburtstrauma halten und es nicht erwarten. Der Körper der Patienten bietet
es an, wenn er dazu bereit ist, und nicht früher. Es kommt vor, dass dieses
Trauma nicht existiert. Das ist häufig bei Hausgeburten der Fall, in denen
keine Anästhesie angewendet wird. Der Hypothalamus ist zum Teil für Herzklopfen,
Tachykardie und andere Herzrhythmus-Störungen verantwortlich, die durch
Erregung aufgrund von Norepinephrin-Absonderung zustandekommen. Wenn der
Hypothalamus das sympathische Nervensystem aktiviert, schaltet das
parasympathische System weitgehend ab. Das sich ergebende Ungleichgewicht ist
der Grund, warum es oft so schwer ist einzuschlafen, oder warum wir uns nicht
konzentrieren können. Von frühem Schmerz stammende Aktivierung hört nicht
einfach auf, weil wir schlafen wollen. Im Gegenteil, wenn wir im Einschlafen
begriffen sind und von einigen kortikalen Abwehrmechanismen loslassen, werden
wir sogar noch mehr aktiviert. Durch lebenslange Übersekretion von
Stresshormonen, welche die Bekämpfung der Einprägung zum Ziel hat, gehen die
Vorräte schließlich zur Neige. Schlaf bedeutet die aufeinander folgende
Unterdrückung der höheren Ebenen des Bewusstseins beginnend mit dem Kortex,
dann weiter schreitend zum limbischen System, das im Traumschlaf aktiv ist, und
dann absteigend zum Hirnstamm und zu tiefem Schlaf. Er bedeutet auch, dass Einprägungen
tieferer Ebenen freigesetzt werden. Seite 90 |
Auf der Rückseite des Hypothalamus liegt ein
bedeutendes Zentrum für Agonie. Ungeachtet dessen, ob der Schmerz von einem
Treppensturz stammt oder von der Erinnerung, dass „Mami mich nicht liebt“,
bleibt die Agonie dieselbe. Das Herz wird schneller, mehr Stresshormone werden
angesondert, der Blutdruck steigt, und eventuell erhöht sich die Amplitude der
Gehirnwellen. Das System hat in den Kampfmodus geschaltet, weil ein Bedürfnis
um seine Erfüllung kämpft. Das Bedürfnis kann sein: „Hab’ mich ein wenig
lieb! Bitte hass’ mich nicht!“ Wenn eine Patientin, die bewegungslos in
einem ruhigen Raum liegt, plötzlich einen radikalen Anstieg der Herzfrequenz
erfährt, wissen wir, dass sie mit dem Wiedererleben des Gefühls beginnt. Das
Gefühl beinhaltet viele Jahre, in denen sie nicht imstande war, „Hab’ mich
ein wenig lieb!“ „Sei freundlich zu mir“ zu artikulieren. Das scheint
jetzt vielleicht nicht viel Gewicht zu haben, aber in der Kindheit kann es kein
Kind ertragen, nicht geliebt zu werden. Die Eltern sind alles für das Kind, und
wie wir gesehen haben, bedeutet Liebe die richtige Entwicklung des Gehirns. Die Botschaft „Liebe mich!“ ist niemals
kompliziert, weil sie in Strukturen organisiert wird, die keine komplizierte
Syntax bilden können. Tatsächlich wissen wir, wenn jemand ein frühes
Kindheitstrauma wiedererlebt und sein Schreien sich in komplizierten Sätzen äußert,
dass es nicht real ist. Auch wenn die Person Worte eines Erwachsenen benutzt wie
„erkennen“, wissen wir wiederum, dass es keine echte Erfahrung ist. Wenn das Gefühl nach oben steigt, kommt es in der
Phase der Annäherung an das volle Bewusstsein zuerst zu Agonie, und dann
entspannt sich das (sympathische) Alarmsystem, das den ganzen Organismus
mobilisiert hat, um gegen die Verknüpfung anzukämpfen, während das
parasympathische System die Regie übernimmt. Das ist die Zeit der Ruhe und
Erholung. Nach einer solchen Verknüpfung habe ich den systolischen Blutdruck
innerhalb von Minuten um hundert Skalenpunkte fallen sehen. Hier erkennen wir
wieder die Dialektik: Die Strukturen, die Fühlen organisieren, sind auch
diejenigen, die es durch die Sekretion von Neurohemmern unterdrücken. Ist die
Botschaft aus den limbischen Gefühlszentren schon relativ simpel, so ist die
Nachricht, wenn sie dem Hirnstamm entspringt, die Einfachheit selbst – „Ich
ersticke. Es ist hoffnungslos. Ich krieg keine Luft! Ich sterbe! Ich komme um.
Dräng’ mich nicht!“ Meistens gibt es überhaupt keine Worte, nur
Empfindungen – das Gefühl, zermalmt zu werden. Wie ich schon früher betont habe, sind manische und
depressive Zustände keine verschiedenen Krankheiten, sondern unterschiedliche
Wirkungsgrade in der Blockade von Gefühlen. Wenn eine manische Person schließlich
depressiv wird, ist ein großer Teil der Gefühlsenergie durch das manische
Verhalten aufgebraucht worden, so dass sich die Verdrängung jetzt durchsetzen
kann. Diese nämlichen Gefühle der Hoffnungslosigkeit sind nicht einfach
verschwunden, sondern sie werden wirksamer
verdrängt, weil die Kräfte, die sich ihren Weg zum Kortex und den limbischen
Arealen bahnen, schwächer geworden sind. Seite 91
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Ich habe ausführlich über die Liebe diskutiert.
Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun der Frage zu, woraus Liebe gemacht ist. Sie
ist kein vergeistigtes Konzept, das im Himmel existiert; sie ist etwas Konkretes
und lässt sich anhand der Spiegel bestimmter Hormone im Körper und anhand
spezifischer Gehirnstrukturen erklären. Wie sich der Leser vielleicht denken
kann, hat Schmerz seine Hand im Spiel, wenn sich der Spiegel der Liebeshormone
verändert. Wir können versuchen, unseren Lebensgefährten gegenüber liebevoll
und warmherzig zu sein, aber dabei sind biologische Grenzen zu überwinden.
Der cinguläre Kortex Die letzte Gehirnstruktur, die
der Erörterung bedarf, ist bei weitem nicht die unbedeutendste – der cinguläre
Kortex. Er ähnelt in etwa einem Bogen, der sich über das Limbische System wölbt
und limbische Strukturen umrahmt. Denken Sie nochmals daran, dass das Limbische
System mit Gefühlen und deren Ausdruck zu tun hat. Der NIMH-Wissenschaftler
Paul MacLean glaubt, dass der cinguläre Kortex als Empfangsorgan für das
Erleben von Emotionen agiert. Es hat drei Grundfunktionen: (1) Der
Trennungsschrei, (2) Spielen, und (3) Säugen/Stillen und anderes
familienorientiertes Verhalten. Es unterscheidet uns von niedrigeren Tierformen
und repräsentiert den evolutionären Übergang von den Reptilien zu den Säugetieren.
Es hat ungemein viel mit Liebe zu tun – mütterlicher Fürsorge und schließlich
auch mit Altruismus. Nehmen wir den Trennungsschrei. Dieser Schrei ist
charakteristisch für die meisten Säugetiere und entscheidend für das Überleben.
Das Neugeborene/Kleinkind/ Junge braucht Liebe, um zu überleben. Der Schrei ist
ein Ruf, der eilends Liebe herbeiholen soll. Er ist verantwortlich für den
Urschrei; durch den Schrei des Kleinkinds/Jungen soll die Agonie der Isolation
beendet werden. Es gibt für das Kleinkind/Junge keinen größeren Schmerz, als
von der Mutter getrennt zu werden. Wir brauchen Kontakt, um zu überleben.
MacLean glaubt, dass die frühesten Säugetiere winzige nachtaktive Geschöpfe
waren, die im Halbdunkeln lebten. Der Schrei war der heilbringende Fühler, der
die Trennung beendete. Wenn wir den cingulären Kortex beschädigen oder
entfernen, bereiten wir mütterlichem Verhalten wirksam ein Ende. Es gibt
Aspekte dieser Struktur, die in Bezug zur Schmerzwahrnehmung stehen. Also sehen
wir hier wieder die Beziehung zwischen Bedürfnis und Schmerz; ein versagtes Bedürfnis
wird zu Schmerz. Das Schlüsselgefühl ist ein Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt. Es ist keine Überraschung,
dass dieses Areal üppig mit innerlich hergestellten Seite 92 |
Gibt man ihnen Opiat-Antagonisten, dann
schreien sie erneut. Hier erkennen wir wieder, dass Schmerztöter die Qualen der
Trennung erleichtern; und
umgekehrt, dass Trennung für ein
Kleinkind Höllenqual bedeutet. Es ist Schmerz, der andauert, weshalb Erwachsene
Schmerztöter brauchen – um die Schreie zu ersticken, die dem frühen Gefühl
entstammen, nicht geliebt zu werden. Der cinguläre Kortex steht auch mit
Empathie in Zusammenhang, mit der Fähigkeit zu fühlen, was ein anderer gerade
in seinem Inneren erlebt. Wenn der Präsident sagt: „Ich spüre Ihren
Schmerz“, meint er: „Mein cingulärer Kortex versteht Ihre Gefühle.“ Wenn
wir uns auf eine fühlende Ebene beziehen, dann ist diese Struktur beteiligt.
Oft entzieht sie sich dem Verständnis jener, die zur Erklärung psychischen
Verhaltens auf Zahlen, Worte und Formen bauen. Sie ist ein anderes Universum mit
einer anderen Art des Gesprächs, und sie war die zentrale, höchste Form von
„Gedanke und Kommunikation“ in niedrigeren Tieren. Wenn wir weiterhin überleben und uns um unsere
Mitgeschöpfe kümmern wollen, müssen wir sicher stellen, dass der cinguläre
Kortex nicht übersehen wird.
Quellenverweise und Anmerkungen N. 1 H. O. Besedovsky, „Immune-Neuro-Endocrine Interactions : Facts and Hypotheses, “ Endocrinology Review 17, no. 1 (Februar 1996): 64-102. |
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__________
DER SYMPATH
UND DER PARASYMPATH
Wie die Persönlichkeit
im Mutterleib gestaltet wird
_____________
Ich habe schon zu Beginn erwähnt,
dass der Hypothalamus die zwei Abschnitte des autonomen Nervensystems
kontrolliert, das parasympathische (der Parasympath) und das sympathische (der
Sympath). Das sympathische System steuert Energie verbrauchende Prozesse wie
die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Es mobilisiert uns, erhöht die Körpertemperatur
und reduziert die periphere Zirkulation, um Blut für die Muskulatur zu
konservieren – eine mögliche Erklärung für ein bleiches Gesicht oder
kalte Hände und Füße. Häufiges Urinieren, vermehrte Schweißabsonderung,
trockener Mund und eine höhere Stimme sind weitere Effekte. Im Gegensatz dazu kontrolliert der parasympathische
Zweig Energie bewahrende Prozesse, nämlich Ruhe, Schlaf und Genesung. Er
erweitert Blutgefäße, so dass die Haut warm wird, und fördert den
Heilungsprozess. Wenn wir uns im parasympathischen Modus befinden, entspannt
sich unsere Muskulatur, um Energie einzusparen, unsere Stimme wird tiefer und
nimmt eine langsame, honigsüße Klangfarbe an.
Eine gesunde Person hält das Gleichgewicht zwischen
den zwei Systemen. Im Idealfall arbeiten die zwei harmonisch zusammen, so dass
wir tagsüber mehr „sympathisch“ sind und im Schlaf mehr
„parasympathisch“. Aber ein Geburtstrauma oder eine harte Kindheit können
uns in die eine oder die andere Richtung verschieben. Zum Beispiel kann das
Neugeborene während einer schwierigen Geburt, bei der die Mutter schwere Anästhesie
erhalten hat, sich nicht selbst helfen, um geboren zu werden, weil sein System
lahm gelegt worden ist. Dieses Ereignis prägt Verzweiflung und Resignation
ein – ein parasympathischer Modus, der zukünftige Reaktionen steuert: Ein
Mensch könnte leicht aufgeben Seite 94 |
Ich habe ganz bestimmte Persönlichkeitstypen gefunden, die auf den zwei Arten der Erfahrung beruhen, die wir ganz am Anfang machen. Der Prototyp, der eingeprägt wird, ist im Großen und Ganzen lebensrettend. Danach tastet das Gehirn die Geschichte ab, um zu sehen, wie es in der Gegenwart reagieren soll, und es wird immer auf den Prototyp treffen. Beim Parasympathiker treffen wir auf eine regelrechte Konfiguration: niedrigere Körpertemperatur, langsamerer Puls und niedrigerer Blutdruck. Ein Schlüsselzeichen ist der etwas geringere Ausstoß an Schilddrüsenhormon. In einigen Fällen kann die Körpertemperatur während eines Geburts-Wiedererlebnisses um zwei bis drei Grad fallen. Da der Patient keine Ahnung hat, was sich abspielt, ist es eine weitgehend ungefälschte Reaktion. Der Grund für das Absinken kann in der massiven Anästhesie zu finden sein, die der Mutter verabreicht worden war; sie hat das System des Neugeborenen wirksam stillgelegt. Des Weiteren gibt es bestimmte Gedanken, die dieses Absinken begleiten, gewöhnlich Vorläufer des heraufkommenden Gefühls. Gedanken gehen Gefühlen voraus, wenn sich die Kräfte einer tieferen Ebene zu frontaler Bewusstheit bewegen. Gedanken ebnen den Weg, sozusagen; sie erzählen davon, was unterhalb liegt. Das ist der Grund, warum wir uns mit den richtigen Techniken auf Gedanken konzentrieren und dann zu den Ursprüngen regredieren können. Patienten kommen herein und sind allen Optimismuses beraubt; Resignation regiert, weil das gesamte System in den (ursprünglichen) Versagensmodus übergeht. Die Person -nehmen wir als Beispiel eine Frau- fühlt sich hoffnungslos, da der Tod naht, und sie findet, dass sie nichts daran ändern kann. Sie kann eine Therapiesitzung deprimiert, hilflos und zynisch beginnen: „Das wird nichts bringen.“ Was hat es für einen Zweck, es zu versuchen? Diese Therapie funktioniert nicht bei mir.“ Der Grund für diese Einstellung besteht darin, dass sie den Todesgefühlen bei der Geburt nahe ist. Während der Geburtssequenz konnte sie nicht versuchen, gegen den Widerstand massiver Anästhesie anzukommen. Die Werte der Vitalfunktionen stellen sich auf diese Tatsache ein; somit ist alles aus einem Guss – niedrige Vitalwerte einhergehend mit Verzweiflung und Resignation. Kurz gesagt, „hoffnungslos“. Sie konnte auch nach der Geburt keinen Versuch machen, als sie Tag um Tag allein gelassen wurde, als ihr Schreien unbeachtet verhallte, weil die Eltern dachten, es sei korrekt, „sie ausschreien zu lassen.“ Parasympathische Männer haben eine tiefe, gemächliche Stimme. Mattigkeit prägt ihr Erscheinungsbild, der Metabolismus ist langsam. Andere Attribute beinhalten Introspektion, Verträumtheit und emotionale Distanz. Parasympathiker sind oft Nachtmenschen, sie begegnen der Morgendämmerung jeden Tages wie sie der Geburt begegneten – träge (anästhetisiert). Jeder Morgen ist eine Art Rückblende auf die Geburtserfahrung. Seite 95 |
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Der Sympathiker
jedoch hat bei der Geburt heftig und erfolgreich gekämpft. Auch diese
Konfiguration hat eine ausgeprägte Gestalt an sich: höherer Puls, erhöhte Körpertemperatur,
eine fröhlichere und optimistischere Haltung. Männliche Sympathiker haben
eine höhere, quieksende Stimme. Der sympathische Prototyp verändert die
Sollwerte vieler biologischer Systeme. Der Sympathiker tut sich schwer,
angesichts der Realität auf die Bremse zu treten. Sich voran zu kämpfen, war
der frühe lebensrettende Modus. Er manövriert sein Außenleben dergestalt,
dass es mit seinen inneren Gefühlen übereinstimmt. Er ist der Verkäufer,
der kein „Nein“ als Antwort hinnimmt. Das parasympathische System spielt eine Hauptrolle bei
Depression. Frühe asymmetrische Verschiebungen zwischen dem parasympathischen
und dem sympathischen System ändern die Persönlichkeit auf genau bestimmte
Weise: von passiv zu aktiv, von reflektiv zu impulsiv, von nach innen
gerichtet zu nach außen gerichtet, von artistisch zu praktisch, von verträumt
zu pragmatisch, oder in umgekehrter Richtung. Das Geburtstrauma kann die Persönlichkeit
ein Leben lang verzerren. Natürlich ist es nicht einfach das Geburtstrauma,
sondern es sind auch die neun vorhergehenden Monate, die in gewisser Hinsicht
bestimmen, welche Reaktionen das Geburtstrauma nach sich zieht. Eine chronisch
rauchende Mutter hat bereits dafür gesorgt, dass schon bei leichter Anoxie während
der Geburt der parasympathische Modus dominieren wird. Auch nachdem man frühe Erlebnisse wiedererlebt hat, lässt
sich die elementare Persönlichkeit nicht völlig verändern, weil sie durch
sich wiederholendes Verhalten verstärkt worden ist. Man kann aber die
Parameter abändern, so dass das Individuum weder außergewöhnlich energielos
noch außergewöhnlich überaktiv ist. In Fällen, bei denen die Eltern das
Verhalten oder die Aktionen des Kindes nicht belohnt haben, herrscht
wahrscheinlich das parasympathische System vor, weil die Erinnerung an die
Verzweiflung fortbesteht. Ich behandelte eine Frau, deren Mutter bei der
Geburt starb. Der Vater machte das Kind für ihren Tod verantwortlich, und
nichts, was sie je tat, war gut genug für ihn. Es gab keine Liebe, um die sie
hätte kämpfen können, es ging nur um die Vermeidung seines Zorns. Sie wurde
lethargisch und introvertiert. Mit drei Jahren gab sie auf. Es ist bekannt als
‚Mürrisches-Kind-Syndrom’. Solange ein überladener Hypothalamus nicht zur sympathischen Seite verschoben worden ist, kann die parasympathische Seite dazu beitragen, Angst und Panikattacken ein Ende zu setzen. Dennoch kann sich das System nicht in bestem Zustand befinden, Seite 96 |
wenn es zu vorgeburtlicher
Vernachlässigung, schlechter Ernährung oder Alkohol- und Drogeneinnahme
seitens der austragenden Mutter gekommen war. Ein Bericht der Nationalen
Organisation über das Fetale Alkohol Syndrom im Oktober 1998 kam zu dem
Ergebnis, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft exzessiv Alkohol
konsumierten, geistig-psychische Defekte und geistig-psychische Verzögerung,
Wachstumsdefizite, mangelnde Verhaltens- anpassung und Funktionsstörungen des
zentralen Nervensystems aufwiesen.1 Zweifelsohne lässt sich
all das nicht einfach auf Asymmetrie im autonomen Nervensystem zurückführen.
Es gibt viele andere mitwirkende Faktoren. Ich biete ‚Asymmetrie’ an, weil
ich sie so oft bei meinen Patienten sehe. Mindestens zwei Drittel meiner
Patienten sind zur parasympathischen Seite hin verschoben. Wenn sie es nicht
sind, kommen sie im allgemeinen nicht zu uns, um sich helfen zu lassen. Zweifelsohne geht dem Leser eine Frage durch den Kopf,
welche die gelegentliche Zigarette oder den gelegentlichen Drink einer
schwangeren Frau betrifft. Ich bezweifle, dass eine Zigarette viel Schaden
anrichten wird, aber wenn Trinken und Rauchen kontinuierlich wird, dann
sprengt es die integrative Kapazität des Fetuses und es kommt zu
Abweichungen. In einem Erwachsenen wird ein Glas nicht viel Schaden anrichten.
Fünf Gläser können zur Betrunkenheit führen. Im Fetus können fünf Gläser
mehr hervorrufen als Betrunkenheit; sie können vitale biologische Funktionen
verändern, weil das kleine System sich verzweifelt abmüht, mit dem Input
fertig zu werden. Viel besser ist es, sich zu enthalten. Ein Leben steht auf
dem Spiel. Wenn ein Patient eine primärtherapeutische Sitzung
mit niedriger Körpertemperatur beginnt, steht er wahrscheinlich unter
extremer parasympathischer Dominanz. Das passiert bei unseren depressiven
Patienten, weil sie oft kurz davor stehen, ein Trauma mitsamt den ursprünglichen
parasympathischen Reaktionen – den Prototyp zu fühlen. Sie befinden sich in
einer sonderbaren Stimmung, wissen aber nicht warum. Nochmals:
Depressive/suizidale Reaktionen in der Gegenwart sind die exakten Reaktionen
aus dem ursprünglich eingeprägten Trauma. Der Hippocampus hat die Geschichte
durchforscht und etwas hervorgebracht, das ursprünglich lebensrettend war. Er
wird es immer wieder tun. Aufzugeben war ursprünglich lebensrettend; Kampf
war eine Bedrohung. Wir versetzen den Patienten in den historischen Kontext
zurück, so dass die Stimmungen und die Gefühle mit den Szenen übereinstimmen, denen sie entsprungen waren. Die Szene
mag kein wirkliches Bild sein, vielleicht einfach eine
anatomisch-physiologische Konfiguration. Reaktionen werden durch die Natur des
Traumas diktiert. Wenn ein Baby gleich nach der Geburt nicht zu seiner Mutter
gegeben wird, sondern stattdessen in ein Bettchen gelegt wird, kann
Resignation zum Prototyp werden. Das Baby wird als teilnahmslos und apathisch
geprägt. Heimkinder, die sehr wenig Liebe bekommen, entwickeln dieses
Verhaltensmuster der Lethargie und Passivität. Wenn sich alle drei
Gehirnebenen zu demselben Gefühl zusammenschließen, besteht die Möglichkeit
des Suizids. Wenn sich jemand im Hirnstamm, im Limbischen System und im gegenwärtigen
Leben hoffnungslos fühlt, besteht eine konkrete Gefahr. Ein klein bisschen
Hoffnung in der Gegenwart kann Depression so weit mildern, dass sich suizidale
Impulse vermeiden lassen. Seite 97 |
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Ein Opfer elterlicher Grausamkeit zu sein, kann
durchaus auf diesem Prototyp des Aufgebens beruhen. Im Erwachsenenalter kann
jemand als unbewusste Demonstration dieser Grausamkeit die Rolle des Opfers
annehmen. Durch ihr Verhalten anderen gegenüber sagt die Person: „Ich werde
misshandelt. Helft mir!“ Das ist auch bekannt als Verlierer-Syndrom: „Mir
wird nichts gelingen, bis ihr seht, dass ich leide.“ Ich behandelte einen Patienten, der sich in keiner
Konfrontation ausdrücken konnte. Nach zwei Stunden in unserer Sitzung erlebte
er eine Kindheit wieder, in der seine Mutter ihn ständig rügte. Er fühlte
sich unfähig, sich zur Wehr zu setzen, vor allem wegen ihrer enormen Wut. Das
reaktivierte eine verwandte tiefer liegende Erinnerung, in der er von der
Nabelschnur stranguliert wurde. Eine halbe Stunde lang war sein Gesicht
krebsrot angelaufen. Er kam aus der Sitzung mit der Einsicht heraus, dass
seine Unfähigkeit, sich zur Wehr zu setzen, aus der Primär- Einprägung
stammte, dass er bei der Geburt beinahe erwürgt worden war; diese Einprägung
wurde durch die Art, wie seine Mutter ihn behandelte, noch verstärkt. Der
Patient bemerkte, dass er immer dann verstummte, wenn ihn jemand grob zurecht
wies oder ihn kritisierte, genau wie es im Umgang mit seiner Mutter der Fall
war. Er brauchte eine Stunde, um sich zu überlegen, was er hätte sagen
sollen. Für einige Babys ist der Geburtsprozess eine
Erfahrung, die sie dem Tod nahe bringt; diese Erfahrung wird einem naiven
Gehirn eingeprägt. Es ist kein Wunder, dass dem System bestimmte Züge und
Reaktionsweisen aufgedrückt werden; diese Züge waren nichts weniger als Überlebenstaktiken.
Die richtige Steuerung des Gefühlsprozesses erfordert den harmonischen
Einsatz des sympathischen und auch des parasympathischen Systems. Unter extremer sympathischer Dominanz fühlt man sich
„gerädert“. Sympathische Neuronen halten Einprägungen im Hirnstamm und
im Limbischen System zurück und verarbeiten sie. Aber eine bestimmte Menge an
Angstenergie schafft es, nach oben durchzudringen und bewirkt, dass sich die
Sympathikerin im Bett herumwälzt, über dieses oder jenes Projekt nachdenkt,
was sie morgen tun wird, was sie heute tun hätte sollen. Das nennt man zwanghaftes
Grübeln. Nachdem genug Angstenergie durch ihre Besorgtheit absorbiert
worden ist, fällt sie schließlich in Schlaf. Aber der Terror holt sie ein,
und sie hat einen Albtraum. Sie wacht auf; ihr frontaler Kortex ist
„hellwach“ geworden, um den Terror des Limbischen Systems und des
Hirnstamms im Unbewussten zu halten. Das eine Gehirn wird dazu benutzt, dem
anderen zu entkommen. Sie nimmt eine Schlaftablette, um die Furcht zu besänftigen.
Die Tablette versetzt den Hirnstamm in Schlaf. Am nächsten Morgen wacht sie auf und fühlt sich noch
immer gerädert, sie springt aus dem Bett und beginnt einen neuen geschäftigen
Tag. Es ist ein endloser Zyklus. Seite 98 |
Einige Individuen sind so vollständig abgeriegelt,
dass sie die sympathische Energie nicht einmal spüren. Diese Individuen sind
weit von ihren Gefühlen entfernt und kommen gewöhnlich nicht zur Therapie.
Wenn der Schmerz so tief im Unbewussten versenkt ist, kann er von irrealen
Glaubenssystemen absorbiert werden. In diesem Fall leidet der Mensch nicht.
Stattdessen kann er „verrückte“ Ideen übernehmen, wie den Glauben an das
Okkulte. Man kann das in der Vorleben-Therapie beobachten. Vorleben-Therapie
ist jetzt der ‚Hammer’ im New- Age-Feld; alles Mögliche, nur keine Realität.
Es ist nie genug, sich mit dem Leben und seinen Problemen in dieser Welt zu
beschäftigen, nein, sie müssen der Spur zurück ins alte Ägypten folgen, um
ihr früheres Leben zu finden. Nur allzu oft findet die Person heraus, dass
sie eine Prinzessin in einem vergangenen Königreich war. All das gründet auf
der Vorstellung, dass unsere Vorgeschichte in unser Nervensystem eingeprägt
sei und wir sie nur anzapfen müssten. In dieser Hinsicht gibt es keine Realität,
mit der wir uns befassen müssten. In den Tausenden von Urerlebnissen, die ich
gesehen habe, habe ich niemals ein solches Phänomen beobachtet. Meine
Patienten berichten aber, dass solche Dinge geschahen, als sie vor der
Therapie LSD nahmen, wobei sie ihr ganzes Leben übersprangen und schließlich
in mystische Vorstellungen eintauchten. Vorleben sind ein Schlüsselzeichen für
Überlastung und Symbolisierung, und man sollte sie lediglich als
pathologisches Merkmal auffassen. Der Sympathiker hat gelernt, dass Anstrengung und
Kampf lebensrettend sind; der Parasympathiker hat gelernt, dass zu viel
Anstrengung lebensgefährdend sein kann (es braucht zuviel Sauerstoff auf).
Der Parasympathiker ist nachdenklicher, grübelt mehr und verfällt leichter
in Depression. Der Sympathiker ist die Verkörperung des Optimismuses, weniger
nachdenklich und selten deprimiert. Überlegen Sie sich die Sache in evolutionärer
Hinsicht: Empfindungen kamen zuerst; Gefühle kamen als zweites; Gedanken
kamen zuletzt. Gefühle existierten lange vor der Fähigkeit, paranoid zu
sein. Eine Gedankenstörung lässt sich nicht ohne Bezug auf
ihren limbisch-hirnstammlichen Unterbau betrachten. Es sind ungeschleuste Gefühle
und Empfindungen, die uns verrückt machen, und nicht zwanghafte Gedanken. Die
Gedanken entstehen auf Grund des Druckes, den Gefühle ausüben, die keine
Verbindung mit dem frontalen Kortex finden. Es gibt keine „Gedankenstörungen“, wie sie die
psychiatrische Literatur und wirklich jedes Pharma-Unternehmen vorschlägt,
das Beruhigungsmittel für solche Störungen unter die Leute bringt. Paranoia
wird für eine Gedankenstörung gehalten. Aber tatsächlich ist es eine Störung
der Gefühle, der zugrunde liegenden Gehirnprozesse, die durch Veränderungen
im System der austragenden Mutter verursacht worden war. Schizophrene Mütter
haben eine fünffach höhere Wahrscheinlichkeit, ein schizophrenes Kind zu
bekommen, nicht unbedingt wegen der Vererbung, sondern weil eine tief gestörte
Mutter eine tief gestörte Physiologie schafft, die den Fetus umgibt und
schließlich die limbischen Zentren desorganisiert.2 Seite 99 |
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Der Körper steuert den
Sexualtrieb eines Menschen automatisch auf der Grundlage des Bedürfnisses. Wenn ein Mann Slips
und Kleider anzieht, kann sein Verhalten auf die Erfüllung eines alten Bedürfnisses
ausgerichtet sein – nach Mutters Gegenwart früh im Leben. Wurde das Bedürfnis
zu Beginn des Lebens nicht erfüllt, geht es in den Untergrund. In meiner
klinischen Praxis entwickelten so viele Männer ihren Hang zum
„Auftakeln“, weil eine berufstätige Mutter nur ihre Kleider als
Erinnerung daließ. Das Bedürfnis ist, eine Mutter um sich zu haben; bleibt
es versagt, nimmt der Mann das nächstbeste Ding, symbolische Andenken –
Slips. Bei einer Frau, der eine Mutter versagt blieb, kann das verdrängte Bedürfnis
in der Adoleszenz an die Oberfläche kommen und seinen Brennpunkt auf Frauen
ausrichten. Das Resultat kann lesbische Liebe sein. Es mag schwer fallen, sich
dessen zu erinnern, dass unsere Eltern für uns Kinder das Ein und Alles
waren.3 Ein Mädchen, dem Körperkontakt mit ihrer Mutter
versagt blieb, erfährt vielleicht im Alter von fünfzehn Jahren die Berührung
einer Freundin. Es fühlt sich so gut an, dass es allmählich die sexuelle
Ausrichtung bestimmen kann. Sie will mehr von dem, was sie braucht. Sie ist über
das Alter hinaus, dass sie Wärme von ihrer Mutter bekommen könnte, und so
tut sie das Nächstbeste. Sie findet es bei Freundinnen. Diese Frau kann vielleicht zu mir kommen, aber nicht
wegen ihrer lesbischen Neigung, sondern weil sie unter Angstattacken leidet
oder unter anderen Problemen, die von frühem Liebesmangel herrühren. Der
Lesbismus kann sich so richtig anfühlen, dass die Person überzeugt ist, er
sei normal und vielleicht sogar genetisch bedingt. Sie hat eine Geliebte und würde
es nicht anders haben wollen, weil ihr Bedürfnis nach einer liebevollen Frau
nichts anderem entspräche. Ein Patient fühlte sich, als käme er aus einem
lebenslangen Trancezustand heraus. Er sollte als zweiter von Zwillingen
geboren werden, aber er lag in Steißposition im Mutterleib (Füße voran). Er
musste im Mutterleib umgedreht werden, was extrem schmerzhaft war, und wurde
schließlich nach mehreren Stunden geboren. Er glaubte, dass er an jenem Punkt
aufgrund des Schmerzes und des Erstickens das Bewusstsein verlor. Seine Lungen
füllten sich mit Flüssigkeit und ließen in ihm das Gefühl des Ertrinkens
zurück. Nachdem er geboren worden war, wurde seine Mutter in Folge des
Geburtsverlaufes krank und stand nicht zur Verfügung, um ihn zu trösten und
zu beruhigen. Der Schrecken türmte sich auf und hielt sein ganzes Leben an. Er hatte einen Vater, der nie da war. Seine Mutter musste arbeiten, um sie beide durchzubringen. Sein ganzes Leben lang war er in Schmerz aufgelöst. Man konnte es auf Fotos aus seiner Kindheit sehen. Er wurde in der Slowakei geboren und während des Krieges ohne seine Mutter fortgeschickt. Er klammerte sich an seine Schwester, die später bei einer Explosion ums Leben kam und ihn völlig allein zurückließ. Er war präpsychotisch, mit gelegentlichen Wahnvorstellungen und Halluzinationen; er war sich sicher, dass der Mann in dem Parkplatzhäuschen böse auf ihn sei, weil er ihn lächeln sah. Trotz der Wahnvorstellung funktionierte er sehr gut. Seite 100 |
Die Verdrängung des grauenvollen Schmerzes machte ihn
zu jeder Zeit beinahe bewusstlos; in der Tat befand er sich in einer Trance.
Als er anfing, seine Bedürfnisse und Schmerzen zu integrieren, kam er allmählich
aus dem Trancezustand heraus, da er nicht mehr so tief in Gefühlen der
unteren Ebenen versunken war. Das ist eine Trance wirklich: Man ist in tiefere
Bewusstseinsebenen eingeschlossen, ohne dass der frontale Kortex die Dinge klären
könnte.
Eine Therapie für den
emotionalen Notfall Wenn Patienten in der Primärtherapie
mit alten Gefühlen in Kontakt kommen, schalten weite Teilbereiche des
frontalen Kortexes ab, während tiefere Zentren die Regie übernehmen. Genau
das geschieht in Notsituationen, wenn der Instinkt in den Vordergrund tritt,
um unser Leben zu retten. An diesem Punkt haben wir keine Zeit, über unsere
Optionen nachzudenken; wir müssen reagieren. In der Therapie signalisieren
die im Aufsteigen begriffenen verfremdeten und gefährlichen Gefühle eine
Notsituation und zwingen die tieferen Zentren, die Herrschaft zu übernehmen.
Es findet ein Angriff der Gefühle statt. Teile des Immunsystems treten in
Aktion, als würde gerade ein Virus angreifen. Das Gehirn verfährt mit Gefühlen, als seien sie
Aliens, die um jeden Preis zurückgeschlagen werden müssen. Das untere fühlende
Gehirn behandelt sie wie eine gegenwärtige Bedrohung. Ein Grund dafür ist,
dass die unteren Zentren keinen Zeitschlüssel haben; es ist der Kortex, der
die Zeit misst. Deshalb brauchen wir den Kortex, um ein Gefühl richtig der
Vergangenheit zuzuordnen, so dass es nicht länger in das gegenwärtige Leben
eindringt. Wie wir an anderer Stelle feststellen, sind die
limbisch-hirstammlichen Prozesse schon lange voll ausgereift, ehe der frontale
Kortex in Aktion tritt. Aus diesem Grund bezeichnete Freud sein Unbewusstes,
das Es, als „zeitlos“. Gefühlstherapie ist beinahe immer auf einen Notfall
ausgerichtet, denn wären die Gefühle keine Bedrohung, so wären sie bereits
gefühlt worden. Wir müssen es zulassen, dass der Patient sich dieser Krise
hingibt und die Kette der Evolution hinabsteigt. Wir achten sehr darauf, dem
Patienten, der seinen Gefühlen nahe ist, keine Fragen zu stellen. Wir wollen
keine Erklärungen, und wir wollen nicht, dass der Patient Worte für ein
wortloses frühes Trauma benutzt. Kurz gesagt wünschen wir keine Einmischung
des frontalen Kortexes, bis wir zur Einsichtsphase des Gefühlserlebnisses
gelangen. Zu oft sind Gedanken der Gefühle Feind. Bei einer Sitzung in dem abgedunkelten Raum sitzt der Therapeut hinter der Patientin. Die Patientin beginnt gewöhnlich damit, dass sie über etwas in der Gegenwart redet, zum Beispiel über einen Streit mit einem Freund. Seite 101 |
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Sie kann deshalb wütend sein oder weinen. Sie wird immer mit
der gegenwärtigen Situation weitermachen. Etwa dreißig Minuten später kann
sie in etwas Ähnliches aus ihrer Kindheit fallen. Ihre Mutter musste immer
Recht haben und duldete keinen Widerspruch. „Lass mir meine Gefühle,
Mama!“, könnte sie schreien. Automatisch macht sie mit anderen ähnlichen
Szenen ihrer Kindheit weiter, da das Limbische System anscheinend dem
Bewusstsein alle relevanten Szenen anbietet, als wären sie alle unter einem
übergeordneten Gefühl verschlüsselt. Und in der Tat sind die Szenen durch
das Fühlen chiffriert. Ist die Patientin einmal in dem Feeling
eingeschlossen, kann sie eine Zeit lang ganz ruhig sein, ein wenig husten und
würgen, und dann lautlos und langsam tieferen Zugang erlangen. Für neue
Patienten ist das gefährlich: zu schwerer Schmerz, zu früh für die
Integration ins Bewusstsein. Nach eineinhalb oder zwei Stunden öffnet sie die
Augen, blinzelt und kommt, wie es scheint, in die Gegenwart zurück. Dann
beginnen die Einsichten, und erst dann übernimmt der Therapeut eine viel
aktivere Rolle, erörtert ihr gegenwärtiges Leben und bespricht, wie diese
Gefühle in ihr früheres Verhalten hineingespielt haben. Alle anderen
Menschen wurden zu ihrer Mutter und lösten somit ihren Zorn aus. Nach der Gefühlserfahrung
setzt sie sich auf, sie ist erfrischt und keinesfalls am Boden zerstört, wie
man es sich vielleicht vorstellen würde, und sie grüßt uns zum Abschied.
Sie entscheidet, wann sie wiederkommen will. Die Macht liegt in ihren Händen. Sobald ein Gefühl oder frühes Ereignis das volle
Bewusstsein im Frontalhirn erreicht, koppelt es an. Es entsteht eine feste
Verbindung, und das Körpersystem kehrt zur Normalität zurück. Das ist die
Verbindung, die ursprünglich hätte stattfinden sollen, hätte das
Schleusensystem nicht eingegriffen, um den frontalen Kortex und das Körpersystem
vor Überlastung zu bewahren. Es sind jetzt genügend frühe Gefühle verknüpft
worden, so dass das System bereit ist, tiefere Schmerzen in Angriff zu nehmen. Das wird geschehen, solange kein Außenstehender, das
heißt Therapeut, bestimmt, was der Patient fühlen soll und wann er es fühlen
soll. Das Gehirnsystem und der Körper des Patienten kümmern sich schon
darum. Wir müssen lernen, der Biologie und dem Individuum zu vertrauen und
dem Verlangen nach Macht abschwören. Wenn ein Mensch seine Klaustrophobie
besiegt, nachdem er die schreckliche Angst und Qual fühlte, als er als Kind
bestraft und in einem kleinen Raum allein gelassen wurde, kommen die Verknüpfungen
und Einsichten automatisch zustande. Es kommt sogar zu noch weiter reichenden
Einsichten, wenn die Patientin in eine Geburtssequenz hinabgleitet und
wiedererlebt, wie sie für vielleicht Stunden oder Tage in einem Inkubator
allein gelassen worden war. Seite 102 |
Nach der Wiedererfahrung und Verknüpfung der Gefühle
kehren die Vitalfunktionen meiner Patienten zu Werten zurück, die unterhalb
der Anfangswerte liegen. Die Verdrängung von Gefühlen erzeugt im Körper Wärme,
aber wenn man ermöglicht, dass diese Gefühle an die Oberfläche kommen,
sehen wir ein Absinken der Körpertemperatur, oft eine permanenten Senkung um
ein halbes bis zu einem Grad. (Wir messen die Vitalfunktionen eines jeden
Patienten vor und nach jeder Sitzung.) Wenn ein Patient abreagiert – wenn
die Energie eines Gefühls sporadisch freigesetzt wird und nicht fest mit der
Vergangenheit verhakt ist – fallen die Vitalfunktionen sporadisch oder überhaupt
nicht. Das ist für uns ein Schlüsselkriterium, anhand dessen wir überprüfen,
ob eine Verknüpfung zustande gekommen ist So viele Selbsthilfe-Bücher konzentrieren sich
darauf, wie wir uns selbst kontrollieren können, unsere Impulse, unsere Wut,
aber sie ignorieren die Einprägungen, die nie aufhören werden, unser Leben
zu dominieren. Nun verstehen wir, warum die meisten gewalttätigen
Gefangenen noch immer eine Gefahr für die Gesellschaft sind, nachdem sie
entlassen worden sind. Kein noch so großes Quantum an Wut-Kontroll-Therapie
hilft, weil die Ursache der Wut nicht berührt worden ist. Beratung liefert
uns lediglich Vernunftargumente, warum wir nicht ausagieren sollen. Am
Ende aber sind es die Gefühle, die gewinnen, besonders wenn die Energie des
Hirnstamms diese Gefühle steuert. In den 1950er Jahren erfand Kaiser Permanente Hospital
eine „bequeme“ Methode, wie Mütter mit ihren Neugeborenen umgehen
sollten. Sie stellten ein Schubfach zur Verfügung, das auf und zu glitt. Wenn
die Mutter mit dem Füttern des Säuglings fertig war, wurde das Baby in einem
Schubfach weggeschlossen. Der Terror dieses Traumas ist eine wirkungsvolle
Methode, um den Kortex und andere Gehirnzellen fehlzusteuern. Würde man an
diesen Kindern, die jetzt erwachsen sind, eine Studie durchführen, kämen die
Auswirkungen dieses ziemlich monströsen Konzepts allen guten Absichten zum
Trotz zum Vorschein. Wenn Sie wie ich gesehen haben, wie jemand seine
Geburt wiedererlebt, werden Sie zu der Überzeugung gelangen, dass die
Energie, die eingesetzt wird, um diese Empfindungen und Emotionen all die
Jahre im Zustand der Verdrängung zu halten, schließlich die zelluläre
Struktur des Körpers beeinträchtigen muss. In unseren therapeutischen
Sitzungen sehen wir, welchen massiven, furchtbaren Schmerz die meisten von uns
im Inneren verbergen. Es erfordert eine gleichermaßen massive Hemmkraft, um
diese schrecklichen Schmerzen unten zu halten. Die plötzliche Freisetzung
dieses frühen Schmerzes kann explosiv sein. Fügen Sie nun ein gewisses Maß
an elterlicher Gleichgültigkeit und Mangel an Wärme gleich nach der Geburt
und während der ganzen frühen Kindheit hinzu, und Sie erhalten massiv verstärkten
Schmerz mit Schaden im frontalen Kortex und in limbischen Strukturen. Das
bedeutet chronisches Leiden. Es ist nicht nur so, dass ein hoher Angstpegel
bei der austragenden Mutter von Kortisolsekretion begleitet wird, sondern die
schleichende Sekretion wird schließlich auch limbische Zellen des Babys schädigen.
Das ist eine direkte Demonstration, wie fehlende Liebe ganz am Anfang des
Lebens das Gehirn schädigen kann. Seite 103 |
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Bruce Bower in Science News stellt fest, dass
„zwanzig Jahre währende Studien an Ratten und anderen nichtmenschlichen
Lebewesen nahelegen, dass Zellverlust im Hippocampus die Folge ist, wenn diese
Lebewesen permanent hohen Konzentrationen von Stresshormonen ausgesetzt
sind.“4 Er impliziert, dass chronisch hohe
Kortisol-Spiegel zu Schaden am Hippocampus führen können und zu den
kognitiven Krankheiten, die wir oft mit fortgeschrittenem Alter in Verbindung
gebracht haben. Das kann bedeuten, dass Gedächtnisverlust nach dem
sechzigsten Lebensjahr vielleicht das Resultat einer Geburtseinprägung ist,
die das ganze Leben hindurch chronisch hohe Kortisol-Spiegel hervorrief. Und
genau deshalb ist es so teuflisch, wenn wir versuchen, exakte Ursachen für
Gedächtnisverlust zu finden und uns dabei nur auf physiologische und
neurologische Ereignisse im hohen Alter konzentrieren. An diesem Punkt könnte uns eine Analogie das Verständnis
erleichtern. Wenn ein Arzt einem Patienten über Wochen oder Monate
schmerzstillende Mittel verschreibt, warnt
er ihn, sie nicht abrupt abzusetzen. Der Grund........Anfälle. Tiefe innere
Kräfte entweder mit unseren eigenen innerlich gefertigten Dämpfern oder mit
Medikamenten zu unterdrücken, bewirkt, dass sich das verdrängte Material
aufbaut. Wenn man es mit einem Male frei werden lässt, bedeutet das eine
ausgedehnte explosive Eruption von Gefühlen überall im Gehirn – ein Anfall
-, sobald die Abwehr gegen die anströmende Gewalt schwächer wird. Eine
Sache, die dem sehr nahe kommt, sehen wir in unserer Therapie – eine zufällige,
massive, ungezielte Eruption, wenn sich Gefühle aufbauen und dem Bewusstsein
nähern. Es ist der Brennpunkt, eine Szene oder Erinnerung, der das Gefühl in
die richtigen Kanäle schleust und einen Anfall vermeidet. Aber wenn zu viel
zu früh hochkommt, geht der Brennpunkt verloren und das Gehirn wird überlastet. Im Schlaf werden wir stufenweise unbewusst, angefangen
von gegenwärtiger Bewusstheit bis zu tiefem Schlaf. Schlaf erfordert die
Unterdrückung höherer
Bewusstseins-Schichten. An einem gewissen Punkt, wenn sie dem Tiefschlaf nahe
kommt, befindet die Person sich buchstäblich in demselben Gehirn und
physiologischen Zustand wie ein sechs Monate altes Kind: keine
begrifflich-intellektuellen Abwehrmechanismen gegen den Schrecken. Genau das
ist für diejenigen, die ein präverbales Trauma wiedererleben, so
entsetzlich. Es gibt nichts in ihren Köpfen, das in Begriffe oder Bilder
fassen könnte, was sich gerade abspielt. Es ist pures Entsetzen, das oft von
Einprägungen der ersten Ebene im Locus caeruleus organisiert wird. Da wir gerade über physiologische Erinnerung reden,
in den letzten Monaten hatten wir zwei Patienten, die Meningitis und
Scharlachfieber aus ihrer Kindheit wiedererlebten. In beiden Fällen hatten
die Patienten während des Wiedererlebens Fieber. Nehmen wir als Beispiel ein kleines Kind, dem in den
ersten Monaten des Lebens wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im
Erwachsenenalter aktiviert das Limbische System die furchtbare Verlassenheit
und spornt den Kortex zur Hoffnung an („Vielleicht kommt jemand und leistet
mir Gesellschaft. Ich rufe meine Freunde an. Vielleicht kommen sie und
vertreiben mir die Einsamkeit“). Diese Handlung findet vor jeder Überlegung
statt und ist eine Art, wie wir uns gegen das Gefühl verteidigen. Und wenn
unsere Eltern oft genug sagten: „Mach’ nicht so ein finsteres Gesicht“,
kann sogar Glücklichkeit eine Abwehr sein; der Schein gibt vor, alles sei
gut, obwohl dem nicht so ist. Seite 104 |
Könnte die Person die Traurigkeit und ihre Ursachen
erleben, wäre sie vielleicht nicht deprimiert. Im Grunde sind es diese
Traurigkeit und so viele andere Gefühle, die bei Depression eine Rolle
spielen. Traurigkeit überflutet so viele verschiedene Erlebnisse, in denen
das Kind sein Unglück nicht seinen Eltern mitteilen konnte. So viele meiner
Patienten kommen mit hohem Blutdruck und Migräne herein und erzählen mir,
dass sie eine sehr gute Kindheit hatten. Monate später winden sie sich auf
der gepolsterten Matte und beklagen ihr frühes Elend, während gleichzeitig
ihre Migräne verschwindet. Niemand redet dem Patienten diesen Schmerz ein. Er
entsteht, wenn jemand seine Kindheit wieder besucht. Wenn wir lernen, in
unseren persönlichen Gehirnarchiven zu stöbern, gibt es keinen Hinweis, was
wir finden könnten. Keinem Patienten wird jemals gesagt, was er zu fühlen
habe oder dass er weinen oder schreien solle. Eine unserer gegenwärtigen Patientinnen wurde von
ihrem Freund, mit dem sie seit zwei Jahren ging, einfach sitzen gelassen. Sie
war am Boden zerstört und bettelte und rief ihn immer wieder an. Er ermahnte
sie, sie solle nicht mehr anrufen. Sie konnte nicht an sich halten; ständig
lauerte sie ihm auf. Dann verfiel sie schließlich wochenlang in einen
depressiven Angstzustand, konnte ihr Appartement nicht verlassen, rief ihre
Freunde nicht mehr an und gab ihr Leben auf. Das Gefühl, zu dem sie schließlich
gelangte, war eine schwer anästhesierte Geburt, die sie überlastete, und so
entwickelte sie das „Kämpfen-und-Scheitern“-Syndrom, das heißt, sie gab
bei Widerständen schnell auf. Dann bewegte sie sich die Gehirnebenen aufwärts
zu der Beziehung mit ihren verschlossenen Eltern, die emotional distanziert
waren, so distanziert, dass sie es aufgab, sich um Liebe zu bemühen, sich nur
noch mit sich selbst beschäftigte und als Einzelgängerin galt. Als sie als
Erwachsene die Chance sah, Liebe zu bekommen, wurde sie hartnäckig und
obsessiv. Sie klammerte sich an Hoffnung. Und genau das machte ihre Situation
hoffnungslos – sie litt so sehr unter Liebesentzug und war so bedürftig,
dass sie Männer abstieß. Je mehr sie brauchte, umso weniger bekam sie. Es ist das Ziel der Primärtherapie, die frontokortikale Erinnerung mit der unbewussten Leidenskomponente (Limbisches System-Hirnstamm) zu verhaken, um vollständiges Bewusstsein zu erreichen – ein frontaler Kortex, der mit den Strukturen des Limbischen Systems und des Hirnstamms voll verknüpft ist. Das ist Zugang. Bewusstsein ist das Endziel der Therapie: das Unbewusste bewusst zu machen. Wir trachten danach, den Druck aus dem System zu nehmen, während gleichzeitig lindernde Maßnahmen Anwendung finden. Wir bestehen darauf, dass die Symptome ungeachtet ihrer Ursachen behandelt werden. Wir müssen eine Migräne oder hohen Blutdruck durch Medikation im Zaume halten, so dass wir funktionieren können.
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Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 Siehe
die New York Times, 19. Januar 1994. Der Untertitel des Artikels lautet:
“Wenn die Mutter trinkt, trinkt ihr Baby mit.“
N. 2 E.
Cantor-Grace, „Links between Pregnancy Complications and Minor Physical
Anomalies in Monozygotic Twins Discordant for Schizophrenia,“ American
Journal of Psychiatry
151, no. 8 (August 1994): 1188-93.
N. 3 R.
Gagin, E. Cohen und Y. Shavit, „Prenatal Exposure to Morphine Feminizes
Male Sexual Behavior in the Adult Rat,” Pharmacology, Biochemistry and
Behavior 38, (1997): 345.
N. 4 Bruce
Bower, Science News 153 (25. April 1998): 263.
|
|||||
KAPITEL 6
________________
DIE DREI
EBENEN DES BEWUSSTSEINS ________________
Die drei Ebenen des Bewusstseins gründen auf den drei
schon eingangs besprochenen Schlüssel-Gehirnsystemen: der Hirnstamm, das
limbische (oder „fühlende“) Gehirn und der Neokortex. In meiner
Nomenklatur bezeichne ich sie als Linien. Die erste Linie umfasst das
primitive Nervensystem, im Wesentlichen den Hirnstamm. Obgleich die Strukturen
des Nervensystems erst bei der Geburt ausreichend leistungsfähig sind,
beginnen sie tatsächlich schon während der Schwangerschaft zu funktionieren,
um die physiologische Entwicklung zu koordinieren.
Erste Linie:
Instinktives Bewusstsein Die erste Linie ist die viszerale Psyche, die
Verwalterin von Empfindungen. Die vitalen Funktionen sind weitgehend unter
ihrer Kontrolle: unter anderem Atmung, kardiovaskuläre Aktivität,
Hormonausstoß, Verdauung und Harnprozesse. Traumen, die sich vor der Geburt
und bis zu einigen Monaten danach ereignen, wirken sich wahrscheinlich auf
diese Funktionen aus. Wenn also ein erwachsener Patient chronische Kolitis
oder Herzklopfen aufweist, können wir voraussehen, dass ein Trauma der ersten
Linie darin verwickelt ist – etwas, das geschah, bevor das Kind sechs Monate
alt war, möglicherweise bei der Geburt oder vorher. Das kann zur Erklärung
beitragen, warum einige Leute einen weit niedrigeren Puls, Blutdruck und
Körpertemperatur haben als andere. Ereignisse im Mutterleib haben
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Vielleicht sind sie partiell
auch durch Vererbung vorgegeben worden. Da sich diese Sollwerte in der
Therapie ändern können, scheint es, dass genetische Faktoren nicht der
vorherrschende Grund sind. Unser Vertrauensarzt hat in den vergangenen zwanzig
Jahren festgestellt, dass fortgeschrittene Primärpatienten, die ihn
aufsuchen, ausnahmslos niedrigere Vitalwerte aufweisen.
Zwanghafter Sex ist ein Beispiel für
Hirnstamm-Antrieb. Die Art, wie jemand seine Sexualität ausdrückt, hängt
von den Lebensumständen ab, aber die Energie dieses Triebes setzt sich schon
ganz früh fest. Bei diesem Symptom haben wir ein Auge auf den Hirnstamm. Ich
habe nie jemanden Tränen vergießen sehen, während sie/er die Geburt
wiedererlebte. Und Sprechen ist unmöglich, weil Sprache eine Funktion
höherer Ebene ist, die erst später kommt. Während des
Geburts-Wiedererlebnisses stellt sich eine charakteristische Fuß- und
Armposition ein. (Ich übergehe sie, um zukünftige Probleme mit Patienten zu
vermeiden, die versuchen könnten, diese Erfahrung zu simulieren). Dieses
Merkmal kann man nicht vortäuschen, weil der Patient keine Ahnung hat, was er
während des Primals macht. In dem Augenblick, da der Patient aus der Sequenz
herauskommt und zu sprechen beginnt, ändert sich die Fußposition – ein
klarer Beweis für die Vollständigkeit und Einheit einer jeden
Bewusstseinsebene.
Der Gebrauch von Worten versetzt das Individuum
automatisch auf eine höhere Bewusstseinsebene, weil es jetzt auf andere
Gehirnstrukturen zugreift. In den Wiedererlebnissen können wir beobachten,
dass die drei unterschiedlichen Linien den drei Schlüssel-Gehirnfunktionen
entsprechen. Die erste Linie kann jedoch die katastrophale Empfindung der
Todesnähe speichern, das hektische Atmen und die gewundenen
Körperbewegungen, wie sie auftreten, wenn traumatische Geburtserinnerungen
durch die Barrieren der Verdrängung brechen. Diese nämlichen Erinnerungen
belasten den Körper für Jahre und Jahrzehnte und können bei der Entwicklung
kardiovaskulärer Krankheiten, Schlaganfall und auch Krebs eine Rolle spielen.
Es gibt eine steigende Anzahl von Forschungsergebnissen, die belegen, dass
Traumen in den allerersten Monaten des Lebens die Neurobiologie1
verändern. Diese Traumen können den Reifeprozess des Limbischen Systems
ändern.
Wie Martin Teicher vom McClean Hospital,
Massachusetts, betont, „können (diese Traumen) das biologische Substrat
für eine ganze Aufmachung späterer psychiatrischer Folgen sein, die
affektive Instabilität, Unfähigkeit, Wut zu modulieren, schlechte
Impulskontrolle, eingeschränkte Stresstoleranz, aggressive Episoden,
Beeinträchtigung des Gedächtnisses und halluzinatorische Phänomene
umfassen.“ 2 Diese Autoren fanden heraus, dass von
zweiundzwanzig Patienten, die als Kinder inzestuösen Beziehungen anheim
gefallen waren, 77 Prozent Anomalien der Hirnwellen aufwiesen.3
Die Schlussfolgerung ist unausweichlich: Frühe schwere Traumen führen zu
Abweichungen der Gehirnwellen, und diese Abweichungen deuten auf mögliche
psychiatrische Probleme hin, weil Gehirnabweichungen das Substrat für
spätere Denkstörungen bilden.
Seite 108 |
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Steve Ich kam per Kaiserschnitt zur
Welt, wurde entfernt, weil die Ärzte befürchteten, ich würde wegen der
Medikamente bei der Geburt sterben. Schon mein ganzes Leben lang habe ich ein
Muster ausgeprägter Aktivität, gefolgt von ausgeprägter Inaktivität. Ich
habe Angelegenheiten immer so erledigt, als bliebe mir sehr wenig Zeit und als
müsste ich sie zu Ende bringen, solange ich noch die Energie dazu hatte. Das
konnte ich aber nur eine Zeit lang beibehalten, und dann kam immer der Punkt, wo
ich sehr müde wurde und „zusammenbrechen“ oder für eine Weile untätig
sein musste. Das manifestierte sich auf vielerlei Art, hauptsächlich durch
Trinken und Drogen, gefolgt von Katerstimmung, in der ich nichts anderes tun
konnte als auszuruhen und nicht zu funktionieren. Dann wiederholte sich der
Kreislauf. Das Traurige daran ist, dass ich mein ganzes Leben verbracht habe,
ohne das, was ich gemacht habe, zu erleben. Ich war immer ‚entfernt’, wenn
ich mit Freunden beisammen war, solche Dinge machte wie Sport, Musik, und wenn
ich mit Mädchen zusammen war. Ich möchte immer zu diesen Erinnerungen
zurückkehren und eine zweite Chance bekommen, oder ich erlebe sie ein zweites
Mal und bin traurig darüber, wie vollkommen doch jede Erfahrung wirklich war,
wie großartig meine Freunde wirklich sind, wie gut mein Leben doch in vielerlei
Hinsicht war. Ich war einfach nicht wirklich „präsent“, um es zu erleben.
Und ich war ganz einfach zu sehr damit beschäftigt, Schmerz abzuschalten –
den körperlichen Schmerz. Das zu erleben, was ich in meinem Leben gemacht habe,
hätte bedeutet, auch diese Verletzungen in meinem Körper zu fühlen. Und das
sind reale körperliche Schmerzen. Sie tun weh. Sie sind unangenehm. Aber ich
glaube, ich fange an, sie in ihren richtigen Zusammenhang zu stellen. Ich bin
„kontraphobisch“, das bedeutet, dass ich mich zum Beispiel zum
Weiterarbeiten zwinge, wenn ich anfange, müde zu werden. Gewöhnlich suche ich
gezielt nach Herausforderungen und manchmal nach Gefahr. Das ist die einzige
Art, wie ich mich lebendig fühlen kann. Wie schon erwähnt, brauche ich
gewöhnlich Vernunftgründe für gewisse Dinge, wie den Kauf eines Autos, den
Abschluss eines Geschäftes, etc., weil ich kein Gefühl daür habe, was sich
abspielt. Meine Schmerzanzeiger sind überlastet, deshalb versagen sie den
Dienst. Ich muss mich auf andere Möglichkeiten verlassen, mein erfolgreiches
Überleben zu gewährleisten. Ich kann nicht behaupten, dass sich das bereits
geändert hat, aber ich weiß bestimmt, dass es mir irgendwie hilft, meinem
Leben einen Sinn zu geben und dass es eine Erleichterung ist, wenn ich den
Schmerz in meinem Körper fühle. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass sich,
wenn ich weiterhin diesen Schmerz fühle, die Überlastung verringert und ich
Zugang zu den Gefühlen bekomme, die ich so sehr will und brauche. Für mich ist
es nicht anders als irgendein anderes
Handikap, wie z.B. ein fehlendes Glied, Taubheit, Blindheit.
Vielleicht ist es weniger extrem, aber die Wirkung ist beinahe genau so
einschränkend. ____ Seite 109 |
Die Situation mit Steve ist
selbsterklärend, während Myras Fall anders ist; ein äußerst atypisches
Ereignis, das wir selten sehen. Hier ist ein dramatisches Beispiel dafür, wie
Ereignisse im letzten Drittel der Schwangerschaft lebenslange Auswirkungen haben
können. Sie war überlastet und wurde unbewusst – der Prototyp für spätere
Überlastung und späteren Blackout: nichts verstehen oder hören. Zeuge dieses
(gefilmten) Ereignisses zu sein, bedeutet, die schreckliche Gewalt früher
Geschehnisse zu sehen und wie sie ein Leben lang in ihrer Ursprünglichkeit
erhalten bleiben, so dass Myra in ihren Vierzigern ein Ereignis wiedererlebte,
das sich vor vierzig Jahren abgespielt hatte, als sei dazwischen nichts
geschehen. Für die Einprägung ist das so. Sie bleibt von Erfahrung
unbeeinträchtigt, weil Erfahrung sie nicht berührt. Nur die eine
Erfahrung zählt: die Wiedererfahrung des ursprünglichen Ereignisses. Jetzt
verstehen wir Marylin Monroe. Alle Bewunderung
der Welt änderte nichts an der Tatsache, dass sie in einem Heim war und
ganz am Anfang sehr wenig Liebe bekam. Diese Bewunderung fand niemals Zutritt zu
ihrem System. Sie wurde durch Schmerz und Verdrängung blockiert. Nur wenn sie
im richtigen Zusammenhang in ganzer Tiefe gefühlt hätte, dass sie am Anfang
ungeliebt war, hätte sie sich schließlich geliebt fühlen können. Myra
Eines Tages sahen wir in einer
Therapiesitzung etwas Merkwürdiges, eine Patientin in Konvulsionen, in
anfallsähnlicher Aktivität, die nicht auf die Geburt hindeutete; keine
typische Arm- und Beinposition. Es ging tagelang so weiter, und auch die
Patientin war verwirrt. Wir gingen der Sache nach, indem wir ihre Mutter
befragten, und fanden heraus, dass sie in ihrem achten Schwangerschaftsmonat
einen Stecker in eine 220Volt–Dose eingeführt und einen massiven Schlag
erhalten hatte. Dieser Schlag traf auch das Baby. Das Kind wurde in komatösem
Zustand geboren, der drei Tage anhielt; kein Lebenszeichen und keine Bewegung
wie vorher. Dann kehrte sie ins Leben zurück. Aber alle Erinnerung an das
Vorausgegangene war zunichte gemacht, und später war ihre prototypische
Reaktion bei Überlastung der Blackout. Offensichtlich war der Schlag
überwältigend. Wenn die Stimulierung zu viel war- zum Beispiel wenn sie
Anweisungen von ihrem Chef erhielt, die leicht kompliziert waren-, konnte sie
nicht sehen oder verstehen, was direkt vor ihr war. Sie erlebte einen Blackout,
weil das alte unbewusste Ereignis und die ursprünglichen Reaktionen zum
Vorschein kamen, im zerebralen Kortex eintrafen und sie hilflos machten.
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Sie wurde tatsächlich unbewusst. Die meiste Zeit
ihres Lebens war sie, wie sie sagte, „benommen.“ Der Schlag, den ihre Mutter
in ihrem achten Monat erhalten hatte, war der gleiche wie bei
Elektroschocktherapie. Ihre Reaktion auf eine Überlastung im Alter von zwei und
drei Jahren war sofortiges Abschalten, es wurde zum Prototyp. Sie wuchs im
Zustand der Unbewusstheit auf. Sie konnte den einfachsten Kursen in der Schule
nicht folgen. Sobald in ihrem Leben eine Überlastung geschah, war sie „wie in
einem Koma oder wie benommen“, sie wusste nichts und sah nichts. Spätere
Überlastung – zu viele Aufgaben zugleich, sogar die Lektüre eines
langatmigen Buches -, war genug, um sie völlig abzuschalten. Sie kaufte sich
nur dünne Bücher. Alles war zu viel, weil ihr unbewusstes Stressniveau bereits
sehr hoch war.
Als sie begann, den elektrischen Schlag
wiederzuerleben und ihn mit den verarbeitenden kortikalen Integrationszentren
verknüpfte, ließ ihre Benommenheit immer mehr nach, und sie konnte die Dinge
besser verstehen. Die Hirnstamm-Einprägung, die ihr Leben kontrollierte und ihr
späteres Denken, reverbierte nicht mehr ausschließlich um ihre tieferen
Gehirnzentren, sondern hatte Zugang zu höheren frontalen Integrationszentren.
Das passiert vielen meiner Patienten, die bei der Geburt schweren
Betäubungsmitteln ausgesetzt waren. Die physiologische Gleichung lautet
ursprünglich und gegenwärtig: Stress führt zu Unbewusstheit. Oder eine
Variation: Stress führt zu Alkoholkonsum, der zu Unbewusstheit führt. Warum
ist das so? Weil der ursprüngliche Stress eine gegenwärtige
eingeprägte Erinnerung ist. Neue Ereignisse resonieren mit dieser Erinnerung
und erzeugen die gleiche prototypische Reaktion. Der Prototyp kontrolliert das
Verhalten, weil er die erste Erinnerung an Trauma und Überleben ist und sich in
einer frühen Situation auf Leben und Tod abspielte.
Betrachten wir Anästhesie bei der Geburt. Eine neue
Studie, die im Oktober 1999 von der Amerikanischen Gesellschaft für
Anästhesieforschung veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich die Anzahl der
Fälle, in denen Müttern während der Geburt schmerzstillende Medikamente
verabreicht worden waren, zwischen 1981 und 1997 verdreifacht hatte. Die neuen
Artikel, die diesen „Fortschritt“ verkündeten, sagten, dass Frauen sich
endlich dafür entschieden, sich besser zu fühlen, während Ärzte bemerkten,
dass Frauen während der Kindgeburt nicht unnötig leiden sollten. Ich bin
einverstanden, dass Frauen nicht unnötig leiden sollten, - aber nicht auf
Kosten des Babys, das den Rest seines Lebens leiden wird! Betäubungsmittel sind
kein Fortschritt; sie sind ein Notbehelf, und der kann gefährlich sein. Die
vollen Kontraktionen sind bei der Geburt aus vielen Gründen notwendig,
einschließlich dem der Stimulierung des Atmungs- und Harnsystems des Babys.
Kontraktionen sind kein Trauma, wenn sie den Geburtsprozess fördern.
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Wenn sich ein frühes Trauma ereignet, verbleibt das
System - abhängig von der Art der Reaktion auf das frühe Ereignis - entweder
lebenslang im erregten Modus oder im gedrückten, nach unten regulierten Modus.
Es hängt nicht nur von der Reaktion des Babys ab, sondern auch von den
Umständen, insbesondere von der Art der Medikamente, die der gebärenden Mutter
- falls überhaupt - verabreicht
werden. Schwere Anästhesie bereitet oft die Grundlagen für spätere
Depression, vorausgesetzt, das familiäre Milieu ist so repressiv, dass das Kind
sich nicht ausdrücken darf. Spätere depressive Reaktionen sind, wie ich
erklärt habe, genau die gleichen wie die ursprünglichen Reaktionen auf die
Geburt unter Anästhesie: „Ich kann nicht mehr. Es ist alles hoffnungslos. Was
hat es für einen Sinn? Das bringt nichts.“ Anders gesagt verstärkt sich das Grundgefühl mit den
Jahren. Es ist dasselbe Gefühl, das jetzt auf drei verschiedenen Ebenen
gründet.
Eine depressive Person, die die Sitzung mit einer
Körpertemperatur von 96,0 F ((35,6°C)), einem Blutdruck von 85/65 und
einer Herzfrequenz von 55 beginnt, wird sie meistens mit den normalisierten
Werten einer nicht-depressiven Person beenden, falls sie gefühlt und die
Verbindung zu dem zugrunde liegenden Gefühl hergestellt hat. Das heißt, mit
einem Blutdruck von 120/80 und einer Körpertemperatur von 97,5 F
((36,4°C))
(Durchschnittswert meiner fortgeschrittenen Patienten).4 Wenn dann die Person aussagt,
dass sie sich besser fühle, können wir ihr glauben. Die an Angst leidende
Person beginnt mit den genau entgegengesetzten Werten. Nach der Sitzung
normalisieren sich alle Vitalfunktionen.
Unter bedrohlichen Umständen, wenn zum Beispiel der
Fetus von der Nabelschnur stranguliert wird, scheint die Produktion von
Katecholaminen radikal anzusteigen. Diese Reaktion graviert die Einprägung –
als Überlebenserinnerung – tiefer in das System ein. Es wird zum Prototyp.
Der nach unten regulierte Prototyp steuert später im Leben viele
Charakteristika, wie Angst vor Veränderung, Rigidität und Mangel an
Spontanität. Rühr’ dich nicht! Die Gefahr lauert! Der Prototyp ist die erste
wesentliche Reaktion auf ein Ereignis, bei dem es um Leben oder Tod ging. Er
wird zu einer Schablone für alle zukünftigen Reaktionen auf Gefahr. Die zweite Linie: Emotionales Bewusstsein Die zweite Linie – die emotionale Ebene des Limbischen Systems – beginnt mit der Entwicklung vor der Geburt und erreicht ihre volle Entfaltung im Alter zwischen zwei und drei Lebensjahren. Mit der Zeit bezieht sich das Kind auf eine immer größere Welt, die über Brust und Wange der Mutter hinausreicht, und stellt eine emotionale Bindung
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zu Freunden, Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten her. Das ist
die Ebene von Gefühlszuständen, Tränen und Schluchzen. Es gibt viele
Individuen, die von der ersten Linie, dem Hirnstamm, gesteuert werden: impulsiv,
voller Zorn, pausenlos angetrieben, ungeduldig und unaufmerksam, unfähig, sich
zu konzentrieren. Sehr oft entwickeln diese Individuen keine angemessene
limbische/fühlende Bindung. Es fehlt eine gewisse Art emotionaler Empathie.
Ihre erste Linie dominiert und verhindert, dass sie die emotionale Ebene richtig
entwickeln. Große Athleten stehen manchmal nahezu ausschließlich mit ihrer
ersten Linie in Verbindung. Ein Interview mit einigen dieser Athleten ist keine
intellektuelle Glanzleistung. Aber auf dem Feld weiß der Fußballspieler
instinktiv, wo er hinlaufen muss. Müsste er darüber nachdenken, wäre er kein
guter Spieler.
Ein Patient beginnt eine Sitzung vielleicht auf der
zweiten Linie mit Weinen im Alter von zehn Jahren, als seine Eltern seinen
geliebten Hund fortgaben. Bald jedoch wird er das grundlegend andere Weinen
eines Kleinkinds annehmen, weil er in einen Modus wechselt, der die
Kleinkind-Erinnerungen birgt, wie ihm zur Strafe der Teddybär weggenommen
worden war, als er zwei Jahre alt war.
Kommt es zu Würgen und Husten inmitten einer
Kindheitsszene (zweite Linie), bezeichnen wir das als Intrusion der ersten
Linie. Wir sehen das ziemlich oft. Wir stehen dann vor der Entscheidung, die
Energie der ersten Linie entweder abzuleiten oder sie mit Beruhigungsmitteln zu
unterdrücken. Wenn sie weiterhin eindringt, dann kann der Patient kein
integriertes Gefühlserlebnis haben und fühlt sich schlechter, wenn er die
Sitzung verlässt. Wenn wir entsprechende Techniken benutzen, um dem Eindringen
größeren Zugang zu verschaffen, kann der Patient einen Teil der
Hirnstamm-Energie (erste Linie) ableiten und dann zu seinem Gefühlserlebnis
zurückkehren.
Ein traumatisches Ereignis wie die Scheidung der Eltern im Alter von fünf oder sechs Jahren, betrifft weitgehend die zweite Linie, obgleich es wegen seiner katastrophalen Bedeutung (es gibt keine Familie mehr) Komponenten der ersten Linie beinhaltet. Die Leidenskomponente des Schmerzes wird auf der limbischen Ebene gespeichert. Auf dieser Ebene kann das Kind den Zustand von Anspannung erleben. Angst ist eine viel primitivere Reaktion, welche die Viszera oder Eingeweide einbezieht. Diese viszeralen Reaktionen bildeten die höchste Ebene der Gehirntätigkeit, als das Trauma geschah. Ist es einmal eingeprägt, diktiert es die viszeralen Reaktionen auf spätere Widrigkeiten: In dem früher erwähnten Fall von Angst bei einer Präsentation kam es zum Beispiel zu Magenkrämpfen, Beklemmung in der Brust, Schmetterlingen im Bauch, Herzklopfen und häufigem Urinieren.
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Eine Möglichkeit, vom Ursprung eines Traumas Kenntnis
zu erlangen, ist die Art der sich zeigenden Reaktionen. Ein aufgewühlter Magen
kann eine Reaktion auf Mutters Zorn sein, wenn das Kind sechs Jahre alt ist,
aber die körperliche Reaktion an sich ist prototypisch und betrifft die erste
Linie. Sie ist präverbalen Ursprungs, und das kann ein eingeprägtes
intrauterines Trauma bedeuten.
Aus diesem Grund sind Gedanken
gegen Angst wirkungslos. Gedanken bedeuten den Versuch, den neuen Kortex zu
benutzen, um eine 300 Millionen Jahre alte Instinktreaktion zu unterdrücken.
Man kann niemals die eine Ebene des Gehirns dazu bringen, die Arbeit einer
anderen Ebene zu erledigen. Angst muss man als vollständig viszerale Reaktion
ohne Worte erfahren, um sie zur Auflösung zu bringen. Sie kann Worte haben,
wenn die Reaktion mit Kindheitsszenen verknüpft ist, aber es kommt die Zeit, da
man den Prototyp in seinem nackten Zustand erreicht, die Zeit, als der Kortex
noch nicht entsprechend entwickelt war. Wenn sich Individuen mit den
limbischen Strukturen erinnern, erinnern sie sich an Bilder aus der Kindheit, an
Szenen, Bilder und an die Küchengerüche. Insbesondere an Gerüche, weil es das
uralte Geruchshirn der Reptilien ist, das sich zum fühlenden Gehirn des
Menschen weiter entwickelte. Auf diese Weise bringen wir Patienten in ihre
Kindheit zurück. Und wenn sie sich an ein Zimmer erinnern, als sie drei Jahre
alt waren, können sie die Farbe des Linoleums und das Arrangement der Möbel
beschreiben; Später verifizieren die Eltern diese Beschreibungen, welche die
Patienten vor der Wiedererlebens-Episode nie zustande gebracht hätten. Sie
können Mutters Backwerk riechen, als wären sie wieder als Kinder in der
Küche. Das Ziel jeder tiefgreifenden
Therapie sollte die Wiedergewinnung von Gefühlen aus Strukturen des Limbischen
Systems und des Hirnstamms sein, wobei darauf zu achten ist, dass man nicht bei
limbischen Einprägungen stehen bleibt. Wenn die Wiedergewinnung vollständig
zustande kommt, normalisiert sich die Person. Das macht Ratschläge,
Kindererziehung, Eheberatung oder Hilfe bei Alltagsproblemen nicht
überflüssig. Zu oft jedoch stammen Eheprobleme von ziemlich tiefen
Einprägungen in einem oder beiden der Partner.
Wenn ein Patient sich in einem
Gefühlserlebnis aus der Vergangenheit befindet, kommt es zu einem Fluss an
Worten und Gedanken, der von Gedankenbildung
kortikalen Ursprungs nicht erreicht wird. Mühelos sprudeln die
Einsichten, und das geht lange Zeit so weiter,
anscheinend ohne dass der Patient bewusst und gezielt nach Gedanken
sucht. Ich habe immer wieder festgestellt, dass sich diese Art von
Gedankenmuster qualitativ von rein links-kortikalen Prozessen unterscheidet, die
rein intellektuell sind.
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Die dritte Linie: Intellektuelles Bewusstsein Die präfrontalen und
orbitofrontalen Kortices der dritten Linie beginnen ungefähr im Alter von zwei
Jahren eine aktive Rolle zu spielen und entwickeln sich bis zum Alter von
ungefähr zwanzig Jahren weiter. Unter Vermittlung des Frontallappens
organisiert das Gehirn alle intellektuellen Angelegenheiten. Das Bewusstsein der
dritten Ebene integriert die tieferen Ebenen, hilft Impulse zu hemmen, befasst
sich mit der Außenwelt und fügt den Gefühlen Bedeutung bei. Es ist der Sitz
ausgeklügelter Ideen. Es erledigt die Vorausplanung und kann Handlungsfolgen
absehen.
Das Problem besteht darin, dass Gedanken und Begriffe
allein auf der dritten Linie existieren können, ohne eine solide Verbindung zu
den unteren Linien zu haben. In diesem Fall sind wir schlau, aber nicht
intelligent. Unsere Gefühle können uns nicht führen. Leute, die nie Hunger
haben, die tagelang auskommen können, ohne ans Essen zu denken, sind ein
Beispiel. Einige Individuen können monatelang ohne Sex auskommen, fühlen
keinen Mangel und kein Verlangen danach. Für guten Sex brauchen Sie Zugang zur
ersten Linie. Zu viel Zugang aufgrund schlechter Schleusung erzeugt jedoch
Hyperreaktivität, die mit schlechter Impulskontrolle einhergeht. Diese
Individuen können ihre sexuellen Impulse und ihr Verlangen oft nicht
kontrollieren. Schlechte Schleusung kann zu vorzeitiger Ejakulation oder zu
Nymphomanie führen, ganz zu schweigen von Vergewaltigung.
Als unsere Vorfahren vor langer Zeit Widrigkeiten aus
dem Weg gehen mussten, brachte ihnen die Wanderung von Gehirnzellen nach oben
und außen einen evolutionären Vorteil. Dank dieser evolutionären Entwicklung
erwarben wir die Fähigkeit des Verstehens und Sprechens. Die dritte Linie, der
Neokortex, handelt in Logik, Rationalität, Begriffen, Kalkulation und
Wirklichkeitsprüfung. Er kann „vernünftig“ sein und komplexe Philosophien
entwickeln.
Das Bewusstsein der dritten Linie findet
„Vernunftgründe“, um das Verhalten anderer und unser eigenes zu erklären,
befähigt uns, Motive auf andere zu projizieren, falsch wahrzunehmen und Logik
so zu biegen, dass sie mit unseren inneren Wahrheiten übereinstimmt. Das ist
eine Methode, Kritik abgleiten zu lassen. Es ist die dritte Linie, die
Zwangsgedanken organisiert. Die Gefühlszentren müssen wegen der frühen
Entbehrung von Liebe Überstunden leisten, während der frontale Kortex
versucht, sich gegen die Flut zu stemmen. Er benutzt Obsessionen, um Gefühle zu
absorbieren und zu kontrollieren. Obsessionen entstehen aus dem Zusammenprall tiefsitzender Gefühle erster und
zweiter Linie mit dem frontalen Kortex. Das Ergebnis ist die Überlastung dieses
Kortexes und die Erzeugung von Zwangsvorstellun- gen.Beruhigungsmittel
funktionieren, weil sie die Menge an Eingaben dämpfen, die aus den zwei
tieferen Ebenen aufsteigen.
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Unverwurzelte Einsichten kommen auf der dritten Linie
vor. Wenn es keine Verankerung im Unterbewusstsein gibt, bleiben Einsichten auf
dieser Ebene, ohne die instinktive und fühlende Basis zu berühren. Wenn erste,
zweite und dritte Linie in Zusammenhang und Verbindung gebracht werden, kann der
Mensch schließlich sich selbst trauen und seine eigenen Motive und ebenso die
der anderen erkennen. Er ist bewusst.
Die linke Hemisphäre gräbt in unserer Vergangenheit
nach den Fakten des Fühlens, während das rechte Gehirn das Rohgefühl an sich
hervorholt. Es ist die
Zusammenarbeit der zwei Seiten, die gestaltloses Leiden in spezifisches Fühlen
umwandelt. Es bedeutet das Ende von Zwangsvorstellungen; endlich weiß die linke
Seite, was die rechte fühlt. Das ist Verknüpfung.
Also haben wir drei nach ihrem evolutionären
Zeitpunkt voneinander getrennte Ebenen des Bewusstseins, die verschiedene
Gehirnstrukturen beinhalten und spezifische Funktionen erfüllen. Schaden auf
einer Ebene muss nicht unbedingt Auswirkungen auf eine andere haben. Man kann
beeinträchtigte motorische Funktionen haben und dennoch eine kristallklare
Wahrnehmung behalten. Leute im Koma funktionieren auf der ersten Linie, wobei
die zwei höheren Ebenen inaktiv sind. Sie agieren auf einer elementaren Ebene,
aber sie „funktionieren.“ Wenn Sie sie mit einer Nadel stechen, zucken sie
zurück. Die Hand eines Menschen zu halten, der unter Narkose steht, kann den
Schmerz lindern helfen. Die Person fühlt den Kontakt, obgleich sie sich auf
einer anderen Ebene aufhält. Körperlicher Kontakt ist wichtig. In der
Primärtherapie halten wir die Hand von Patienten, um den Schmerz zu
besänftigen und um sie in die Gefühlszone zu bringen. Wir achten darauf, nicht
zu viel oder zu lange dauernden Körperkontakt anzuwenden, um die Patienten
nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. Zuviel Beruhigung
blockiert Gefühle. Es ist eine knifflige Angelegenheit.
Jede Ebene des Bewusstseins trägt zu vollständigem
Bewusstsein bei. Intellektuell bewusst zu sein, ist die dritte Linie. Voll
bewusst zu sein, umfasst die fließende Zusammenarbeit aller drei Linien – die
rechte und linke Hemisphäre und der Hirnstamm mit dem limbischen und frontalen
Kortex in harmonischer Kofunktion. In einer normalen, gesunden Person
entsprechen diese drei unterschiedlichen Psychen spezifischen Gehirnstrukturen
und funktionieren als integrierter, ausgeglichener psychischer Apparat. Sie
ermöglichen dem Menschen, ein fühlendes und denkendes Wesen zu sein. Gedanken
können tiefere Bewusstseinsebenen prompt erreichen. Bewusstsein hilft uns,
ungesunde Tätigkeiten wie Rauchen oder übermäßiges Essen zu vermeiden. Man
ist kein Opfer seiner Impulse mehr.
Gesundheit bedeutet optimale Kohärenz oder
Zusammenhang zwischen Ebenen,
harmonisches Funktionieren, das dem Überleben dient. Werden die Ebenen
gewissermaßen zerlegt, besteht die Neigung zu späterer Krankheit. Die
instinktive erste Linie ist damit betraut, unser Leben in einem Notfall zu
retten. Ein Trauma beeinträchtigt diese Harmonie, bringt jemanden dazu, etwas
zu tun, das er wissentlich nicht tun sollte, wie z.B. Alkohol- oder
Drogenkonsum. Ohne diese Hilfsmittel müssten wir uns mit zu viel Schmerz
befassen.
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Wenn meine Patienten in einem Gefühlserlebnis sind
und sich von der Gegenwart zur fernen Vergangenheit bewegen, dann zur Gegenwart
zurück, nennen wir das eine 3-2-1-2-3 Sequenz. Das ist ein vervollständigtes
Feeling: Zugriff auf die tiefsten Gehirnebenen und dann Rückkehr zum
integrierenden frontalen Kortex, wo die Erinnerung zur letzten Ruhe gebettet
wird. Die Ebenen formen eine Gefühlskette oder eine Schmerzkette. Deshalb kann
jemand, der eine Kindheitserinnerung wiedererlebt, im weiteren Verlauf der
Sitzung in etwas Tieferes eintauchen. Niemand muss den Patienten den Weg dorthin
zeigen; es geschieht automatisch, weil ein frühes Trauma Repräsentationen auf
jeder der aufeinander folgenden Ebenen hat. Wenn eine Mutter und ein Vater
liebevoll und freundlich, warmherzig und glücklich waren, wird ein Baby diesen
Zugang schließlich ohne Therapie erlangen.
Wenn sie es nicht waren, bedarf es tiefschürfender Therapie, um diesen
Zugang anzubieten.
Eine meiner Patientinnen war bestürzt, weil sie nicht
auf eine Dinner-Party eingeladen worden war. Sie kam in die Sitzung auf der
dritten Ebene, fühlte sich „vergessen“.
Im weiteren Verlauf der Sitzung brachte sie das Gefühl auf die zweite
Linie hinab, wo sie von ihren Eltern ausgeschlossen wurde, deren emotionale
Beziehung unter Ausschluss ihrer Kinder stattfand. (Den Kindern war nicht
erlaubt, mit den Eltern zu essen.) Schließlich fühlte sie ihre Geburt. Sie war
die zweite von Zwillingen. Die Ärzte hatten sie zuerst nicht wahrgenommen, und
sie blieb für, wie sie es jetzt betrachtet, übermäßig lange Zeit im
Mutterleib. Sie litt physiologisch, was später durch die limbisch-frontalen
Verknüpfungen zu einem Gefühl des Vergessenwordenseins oder
Ausgeschlossenseins ausgearbeitet wurde. (Tatsächlich ließ man sie drinnen,
aber sie fühlte sich draußen gelassen).
Die erste Erinnerung ist strikt physiologisch, aber mit der Entwicklung des Gehirns interpretieren die Nervennetzwerke auf höheren Ebenen die Erinnerung auf ihre eigene Weise; das fühlende Gehirn im Sinne von Bildern, Poesie, Gemälden und Träumen, während der denkende Kortex dafür das Etikett oder die Bedeutung zur Verfügung stellt. Zum Glück können wir diesen Repräsentationen folgen, bis uns das Gehirn des Patienten zum Ursprung zurückführt. Wir fangen nicht mit dem ursprünglichen Schmerz an. Wir versuchen immer, bei Schlüssel-Repäsentationen auf den höheren Ebenen anzufangen. Das Gehirn erledigt den Rest, falls wir uns nicht einmischen und die Patienten zu „behandeln“ versuchen. Jetzt verstehen wir, warum ein Patient, der sich in der Gegenwart hoffnungslos und deprimiert fühlt, sich die Ebenen des Bewusstseins hinab zu einem Geburtstrauma bewegen kann, bei dem schwere Anästhesie jegliche Art von Reaktion verhindert hatte.
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Dieser Prototyp führt
zu Resignation und zu Gefühlen des Scheiterns. Es standen keine Alternativen
zur Wahl. Als mein Patient mit dieser Art von Einprägung sich von seiner
Freundin verlassen fand, steckte er wieder im gleichen Gefühl, sah keinen
Ausweg, fühlte sich überwältigt und geschlagen. Er war total
handlungsunfähig, die ganze Strecke von Anfang an. Wenn wir ein gewisses
Verhalten sehen, zum Beispiel Handlungsunfähigkeit, und es als separate
Angelegenheit behandeln, lassen wir alle mit der Erinnerung einhergehenden
Aspekte aus. Wenn ein Trauma seinen
Ursprung auf der ersten Linie hat und der Therapeut nicht weiß, wie er den
Patienten sicher dort hinbringen kann, wird der Patient nicht gesund werden.
Kurz gesagt kann es Ihnen auf der dritten Linie „gut“ gehen; Sie können gut
angepasst sein, in der Schule gut zurecht kommen, eine gute Ehe führen, und
dennoch mit Schmerz belastet sein. Wenn jemand mit diesem Ergebnis zufrieden
ist, dann ist es gut. Aber er oder sie sollte wenigstens darüber informiert
sein, dass es Vieles gibt, das darunter verborgen liegt. Die oben genannte Patientin,
die bei der Dinner-Party übergangen wurde, begriff ihre Angst. Das Unbewusste
war bewusst gemacht worden. Keine Angst mehr. Sie wird nicht in einer einzigen
Sitzung aufgelöst, weil unser Verdrängungssystem jeweils nur eine begrenzte
Menge an Gefühl zulässt. Wenn zuviel Schmerz Zugang gewinnt, haben wir eine
Überlastung und in der Folge entweder völliges Abschalten oder mystische
Symbolisierung, weil der Kortex sich windet, um mit dem Schmerz fertig zu
werden. Das ursprüngliche Trauma auf Leben und Tod ist von solcher Größe,
dass es vieler, vieler Primals zur Auflösung bedarf. Wir würden gar nicht
wollen, dass wir in einer einzigen Sitzung die Auflösung erreichen. Der frontale Kortex ist
wesentlicher Bestandteil des Fühlens. Er schreit oder weint nicht einfach für
sich selbst. Er hat Zugang zum limbischen Gefühl, um es richtig verstehen zu
können; er befasst sich mit den limbisch-kortikalen Schaltkreisen, die das
Gefühl vollständig machen. Solange Sie den frontalen Kortex nicht einbeziehen,
können Sie brüllen und schreien, weinen und schluchzen und auf die Wände
einschlagen, ohne jemals einen Fortschritt zu erzielen. Aber wenn Sie nur den
frontalen Kortex benutzen, ohne Zugang zu tieferen Ebenen zu haben, werden Sie
auch kein vollständiges Gefühlserlebnis haben. Ein Trauma erstreckt sich
über alle Ebenen des Bewusstseins und wird letzten Endes im Neokortex
hinterlegt. Therapie involviert das Zurückholen der Erinnerungen auf allen drei
Ebenen. Endgültige Verknüpfung bedeutet, die Erinnerungen unter Einbeziehung
aller drei Ebenen zurückzugewinnen: der instinktiven/das Überleben sichernden,
der fühlenden, und der kognitiven Ebene.
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Die Hemisphären der Liebe: Die rechte und die linke Hemisphäre
Wenn ein Baby Emotion bei einem Elternteil miterlebt, feuern
Nervenzellen in der rechten Hemisphäre seines Gehirns,
und der Blutzufluss in diese Region nimmt zu. Diese Zellen
feuern auch, wenn das Baby die Emotion erwidert. Die rechte Seite
antwortet auf Liebesimpulse, die von den Eltern kommen.
Dementsprechend
leuchtet sie auf, wenn ein Patient ein emotionales Trauma aus der
frühen Kindheit wiedererlebt.5
Für uns ist das eine weitere Möglichkeit, uns zu vergewissern, dass
das Wiedererlebnis ein reales Ereignis ist. Wenn ein Patient ein
altes Trauma erzählt, dann ist weitgehend das linke Gehirn
beteiligt. Der zentrale Kern der Höllenqualen liegt indessen ein
paar Zentimeter westlich und südlich. So verläuft die Route, wie wir
sie in unseren Patienten sehen können, die eine Sitzung damit
beginnen, dass sie von fehlender Liebe im Alter von sechs Jahren
erzählen. Die kortikal-limbischen Netzwerke operieren mehr von der
rechten Seite des Gehirns aus. Kurz gesagt kommunizieren Gefühle
mehr mit dem rechten Gehirn als mit dem linken und enden im rechten
frontalen Kortex.
Verbale, analytische, Probleme lösende Prozesse werden von der
linken Seite des Gehirns ausgeführt, wogegen Gefühle, emotionale
Bindung und Kreativität die Domäne der rechten Seite sind. Folglich
würde ich die rechte Seite in der Tat als Hemisphäre der Liebe
betrachten. R. J. Davidson glaubt, dass die rechte Seite die
Hemisphäre ist, die das große Bild sieht, einschließlich der
Gesamtheit der Beziehung zu den Eltern.6
Die linke und rechte Hemisphäre haben ihre jeweils eigenen
spezifischen Funktionen. Die rechte Hemisphäre ist größer als die
linke und bearbeitet emotionale Einprägungen. Es ist die Seite des
Fühlens, des ganzheitlichen und globalen Denkens. Die linke Seite
steuert Denken, Planung und Begriffsbildung. Der frontale Kortex ist
gegen Ende des zweiten Lebensjahres halbwegs entwickelt. Zu diesem
Zeitpunkt ist das rechte Gehirn weitgehend reif, während das linke
Gehirn erst mit dem Reifeprozess beginnt.
Es ist interessant, dass die rechte Seite mehr mit dem Rückzug aus einer Konfrontation assoziiert ist. Es scheint, dass die Verschiebung zum parasympathischen Modus das rechtsseitige sozial-emotionale Rückzugssyndrom begünstigt. Was ich hier diskutiere, ist gezwungenermaßen zum Teil Spekulation. Es ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, weil dahinter viele Jahrzehnte klinischer Erfahrung stecken. Nichtsdestotrotz sollte der Horizont manchmal über die aktuellen Fakten hinausreichen; ein atavistischer Sprung in bloße Möglichkeiten. Aber wenn wir das Mögliche nicht sehen, werden wir keine großen Sprünge machen.
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Diese Möglichkeiten müssen
jedoch in gewisser Beziehung zur aktuellen Forschung stehen. Seit
dreißig Jahren schreibe ich über das Geburtstrauma und eingeprägten
Kindheitsschmerz. Jetzt zieht die Forschung
Vielleicht bin ich der Schuster, der nur Schuhe in der Welt sieht;
da ich Therapeut bin, sehe ich nur Schmerz in Menschen. Alle
Wissenschaftler müssen in dieser Hinsicht vorsichtig sein, denn wenn
wir einen Hammer haben, sieht alles auf der Welt wie ein Nagel aus.
Die Empathie des rechten Gehirns
Das rechte Gehirn ist empathisch, fähig zu spüren, was andere
fühlen, fähig wahrzunehmen, ob jemand aufrichtig ist. Es hält uns in
Kontakt mit uns selbst und unseren Gefühlen. Weil es sich früher
entwickelt, ist es empfindlicher für die Emotionen der schwangeren
Mutter, geht eine Bindung mit ihr ein und organisiert die limbischen
Strukturen, soweit sie zu kortikalem Wissen in Bezug stehen. Auch
auf diese Weise wissen wir, dass Gefühle Gedanken vorangehen,
besonders abstraktem Denken, und stärker als Gedanken sind. Das
rechte Gehirn ist von Gefühlen abhängig. Es braucht die „Liebe“ der
Mutter, um sich weiter zu entwickeln. Mit dem limbisch-fühlenden
Strukturen steht es durch starke interaktive Schaltkreise in
Verbindung und dominiert deshalb, wenn es um Gefühle geht.
Schore kommentiert, wie das Kleinkind das rechte Gehirn der Mutter
„als Schablone für die Einprägung und feste Verdrahtung
der Schaltkreise in seinem eigenen rechten Kortex (benutzt).“
7 Diese Hemisphäre ist weitgehend
dafür verantwortlich, wie sich Kind und Erwachsene
aufeinander beziehen. Defekte Beziehungen in den ersten zwei Jahren
des Lebens reduzieren die Anzahl kortikaler Synapsen und verändern
die Struktur der rechten Seite.
Wenn die Mutter zu aufgeregt ist und
zuviel Aufmerksamkeit von ihrem Baby verlangt, überlastet und
überwältigt sie das Baby. Wenn eine Mutter zu wenig Interesse hat
und auf ihr Baby nicht eingeht, werden die sich schnell
entwickelnden Nervenbahnen zwischen dem frontalen Kortex und dem
limbischen System beeinträchtigt, und zwar mehr in der rechten
Hemisphäre als in der linken. Das ist in der aktuellen Literatur als
fehlende Übereinstimmung
bekannt. Das Gehirn braucht optimale Stimulierung, um sich zu
entwickeln.
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Wenn es in der frühen Kindheit anhaltenden Stress und elterliche
Gleichgültigkeit gibt, wenn Liebe ständig fehlt und auf Bedürfnisse
nicht eingegangen wird, dann leidet das rechte Gehirn. Oft wird oder
kann es dem linken Gehirn nicht mitteilen, was nicht stimmt oder
nicht einmal, dass etwas nicht stimmt. Der Grund mag sein, dass das
linke Gehirn noch nicht voll entwickelt ist. Wenn wir älter werden,
geht das linke Gehirn lustig seinen Weg weiter, blind für das Leiden
des rechten Gehirns. Wollte man einen Psychopathen erzeugen,
jemanden ohne wirkliche emotionale Bindung, müsste man
Vernachlässigung, Mangel an Körperkontakt und Gleichgültigkeit am
Anfang des Lebens zudiktieren. Dann schnellen die Kortisolwerte im
Baby in die Höhe und „fühlende“ Zellen beginnen zu sterben. Die
rechte Hemisphäre ist dann unfähig, den Schmerz anderer mitzufühlen
oder ihn auch nur zu sehen.
Früher Stress beeinträchtigt die Verknüpfungen zwischen dem rechten
Gehirn und dem Limbischen System und verursacht einen
Dominanzwechsel von links nach rechts. In unserer Forschungsarbeit
mit Dr. Erik Hoffman und Dr. Leonid Goldstein von der Rutgers
Universität fanden wir eine Normalisierung und eine größere
Ausgeglichenheit zwischen den Hemisphären nach einem Jahr
Primärtherapie.8 Hoffman schreibt: „Im Verlauf der
Therapie werden die bilateralen Amplituden symmetrischer.“ 9
Das Gehirn befindet sich in größerer Harmonie. Bei eingeprägtem
Schmerz scheint es zu einer Asymmetrie zwischen den Hälften zu
kommen, die vielleicht auf unterschiedlich starken Druck aus
tieferen Ebenen zurückzuführen ist. Der Druck scheint auf der
rechten Seite größer zu sein. Therapie hilft, die Symmetrie wieder
herzustellen.
Leute, die ein beeinträchtigtes Rechtshirn haben, können ein
„hölzernes“ Gesicht, Ausdruckslosigkeit oder Teilnahmslosigkeit an
sich haben. Vielleicht fehlte ihnen in der Kindheit eine spontane,
warmherzige, empfängliche Beziehung mit ihren Eltern. Im weiteren
Verlauf kippt das Gehirn zur linken Seite hin, weil es die Gefühle
vergräbt. Die linke Seite denkt analytisch bis ins kleinste Detail
über äußere Angelegenheiten nach, im Gegensatz zur rechten, die
Selbst-Bewusstheit organisiert. Die linke Seite achtet nur auf den
Text, während das rechte Gehirn sich zu der Musik bewegt.
Die rechte Hemisphäre ist in jegliche Art von Psychopathologie
schuldhaft verwickelt, von Autismus bis Psychose und Depression. Bei
Angstzuständen ist es das rechte Gehirn, das hochaktiv ist.
Reaktivierung früher Erinnerungen stimuliert das rechte Gehirn und
seine limbischen Ergänzungen.10 Kleinkinder, die
schrien, wenn sie von ihren Müttern getrennt wurden, zeigten größere
rechtsfrontale Aktivierung als die Kinder, die nicht schrien.11
Aber um genau zu sein: Auch das linke Gehirn hat man mit
Schizophrenie in Zusammenhang gebracht. Ich denke, das hat eine
Menge damit zu tun, dass das linke Gehirn tut, was es kann, also
paranoide Ideen gebraucht, um mit den Gefühlen von der anderen Seite
fertig zu werden.
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Es ergibt einen Sinn, dass die rechte Hemisphäre so vielen
unterschiedlichen Störungen zugrunde liegt, da sie durch frühes
Trauma und fehlende Liebe Schaden erleidet. Beim Wiedererleben
dieser frühen Traumen ist hauptsächlich diese Hemisphäre beteiligt.
Eine stattliche Reihe von Krankheiten psychischer und physischer Art
wurzelt in fehlender Berührung und Zärtlichkeit am Anfang des
Lebens, in ungesunden Gewohnheiten der austragenden Mutter, in den
chaotischen ersten paar Jahren des Lebens und in schweren Geburten,
die den massiven Einsatz von Anästhesie erfordern.
Die Wirkung hält bis ins Erwachsenenalter an, wo dann vielleicht
anhaltende Lernprobleme wie Dyslexie auftreten. Ein Defizit im
rechten Gehirn kann sich darauf auswirken, wie gut jemand stabile
Freundschaften schmiedet und wie leicht sie oder er starke
emotionale Bande entwickelt. Es ist nicht so leicht, mit einem
Rechtshirndefekt eine beständige warmherzige Beziehung zu
unterhalten. Die linke Seite argumentiert vernünftig und
entschuldigt sich, und zwei Monate später gibt es vielleicht einen
weiteren gewaltigen Ausbruch der rechten Seite, die vergaß, was die
linke bei ihrer Entschuldigung gesagt hat. In einem
zusammenhanglosen Gehirn ist das linke Gehirn unfähig, das rechte zu
kontrollieren. 12
Die rechte Hemisphäre befasst sich im allgemeinen nicht mit Worten,
zumindest nicht im komplexen Sinn von Worten. Das ist logisch, zumal
sie genötigt ist, mit präverbalen Traumen fertig zu werden. Wenn
meine Patienten lebendige frühe Szenen ‚anzapfen’, folgt die Emotion
gewöhnlich nach. Neurochemikalien wie Serotonin haben den
Informationstransfer von der rechten Seite zur linken blockiert und
lassen den Erwachsenen in einem Zustand zurück, in dem er keinen
Zugang zu seinen Gefühlen hat. Er glaubt, was immer ihm gesagt wird,
weil er keine Gefühle mehr hat, die ihn leiten könnten. Es gibt
eindeutig ein Rechtshirn-Bewusstsein und ein Linkshirn-Bewusstsein,
aber vollständiges Bewusstsein erfordert beide.
Emotionales Gedächtnis (implizites Gedächtnis genannt) gehört
zum rechten Gehirn, während das Erinnern von Fakten und Figuren (explizites
oder deklaratives Gedächtnis
genannt) zum linken gehört. Wenn meine Patienten auf eine
tiefere Bewusstseinsebene zurückgehen, kann sich das überwiegend auf
Bahnen der rechten Hemisphäre abspielen, die sie zu limbischen
Trakten hinabführen und von dort zum Hirnstamm. Unterdessen ist sich
die linke Hemisphäre nur vage bewusst, was in der rechten los ist.
Wenn jemand auf die tiefste Gefühlsebene hinabsteigt, kann
das linke Gehirn ankoppeln und beginnen, das frühere Verhalten der
Person zu erklären.
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Das linke analytische Gehirn
Das linke Gehirn analysiert und folgert, kann Erinnerung aber nur
auf abstrakte Weise abrufen. Wenn wir versuchen, in der Therapie
allein durch die Einsichten des linken Gehirns gesund zu werden,
betreten wir ein Gedanken-Labyrinth ohne Ausgang. Es bedeutet, nur
halbwegs gesund zu werden. Das linke wird gut angepasst sein,
während das rechte dem Emotionalleben entsprechend ein Durcheinander
ist. Aber das linke Gehirn kann noch immer mit einem Rechner
umgehen, gute Noten bekommen und erfolgreich arbeiten. Es ist
nicht möglich, das linke Gehirn die Arbeit des rechten Gehirns
machen zu lassen. Wir müssen die verletzte Seite mit dem Gehirn
heilen, das verletzt wurde.
Wenn wir älter werden, entwickeln wir raffiniertere
linkshemisphärische Rationalisierungen für unsere Gefühle. Gedanken
können sich ändern, aber sie sind doch durch die Parameter der
Gefühle und Einprägungen eingegrenzt. „Du kannst keinem trauen“ ist
das, was ein Zyniker
jeden Tag ausagiert. Seine Vorstellungen folgen seiner
Vergagenheits-Geschichte. Wenn er niemals liebevolle Eltern hatte
und sich niemals sicher fühlte, wenn er Eltern hatte, die nie ihr
Wort hielten, dann traut er vielleicht anderen nicht. Viele
Patienten haben diese Erfahrung gemacht. Sie gehen vorsichtig zu
Werke und können sich einer Beziehung nicht voll hingeben. Auf diese
Weise führt das linke Gehirn das Diktat des rechten Gehirns aus; es
führt Befehle aus, die aus einer unsichtbaren, ungefühlten Quelle
stammen.
Das rechte Gehirn fügt einer Situation Gefühl – Bedeutung – hinzu.
Roboter haben kein Gefühl; sie reflektieren nicht über ihr
Verhalten. Auch überwiegend vom Linkshirn dominierte Leute tun es
nicht. Die rechte Seite ist sich innerer Zustände bewusst, sie
erkennt zum Beispiel, was unsere Stimmungen verursacht. Die linke
Seite ist sich der Außenwelt bewusst und benutzt diesen äußeren
Brennpunkt, um sich weit von Gefühlen entfernt zu halten. Sie
engagiert sich darin,
sich über den Punktestand beim Fußball, über die Entwicklung im
Basketball, über Kasseneinnahmen und ökonomische Trends auf dem
Laufenden zu halten. Sie kann auch fantastische Einsichten in der
Psychotherapie loslassen, ohne je das geringste zu fühlen. Wenn die
Erinnerung des rechten Gehirns wieder zum Vorschein kommt, kann sie
durchaus wortlos sein, und sie beinhaltet den innersten Kern des
Schmerzes, weil der limbische Hippocampus und die Amygdala geheime
Leidensbotschaften zum Kortex losschicken.
Die linke Hemisphäre bleibt auf Distanz. Sie kann uns sagen lassen:
„Oh, wie schrecklich.“ Aber um zu fühlen und sich einzufühlen und zu
„wissen,“ wie schrecklich etwas tatsächlich ist, brauchen wir die
Kooperation und Assistenz der rechten Hemisphäre.
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Die Wiedergewinnung emotionaler Erinnerung kommt durch den
Hippocampus der rechten Seite zustande. Er bringt Gefühle zum
frontalen Kortex, so dass es zu einer Verknüpfung kommt. Wir
brauchen diesen frontalen Kortex, um uns unseres inneren Zustands
bewusst zu sein. Der frontale Kortex kann mit Gefühlen alles
Mögliche machen; das schließt ein, dass er sie symbolisieren und in
mystische Ideen umleiten kann. „Gott wacht über mich und lässt nicht
zu, dass mir Böses widerfährt,“ sagt ein Mensch, über den zu Beginn
des Lebens nie jemand gewacht hat und den nie jemand beschützt hat.
Der Schmerz/das Bedürfnis hat sich ins Gegenteil gewandelt:
symbolische Erfüllung durch eine Gottheit. Es ist eine Erfüllung,
die der Kortex ausgeheckt hat, indem er uns den trügerischen Glauben
gibt, wir werden beschützt, obgleich dem nicht so ist. Die Person
fühlt sich sicher und beschützt, nicht von der Gottheit, sondern von
dem Wort „Gott“. Kortikale Ideen sind sehr gute Hemmer.
Das Frontalhirn bewirkt, dass wir uns durch die Freisetzung von
Opiaten, die im obigen Fall durch die Idee „Gott“ ausgelöst werden,
„besser fühlen“. Wenn die Menge an Opiaten, die im System aktiv
sind, gemessen wird, finden wir, dass wir uns umso besser fühlen
oder nicht fühlen, je höher der Grad der Hemmung oder Schleusung
ist. Es ist ein Oxymoron: Nichts zu fühlen bewirkt, dass wir uns
besser fühlen. Genau das verwirrt so viele von uns. Der frontale
Kortex ist sehr erfinderisch, wenn es darum geht, mit Gefühlen
fertig zu werden. Der linke Kortex kann beschließen: „Liebe ist ein
Mythos. Niemand braucht Erfüllung,“ während die rechte Seite danach
schreit. Dieser lautlose Schrei arbeitet sich durch das
Körpersystem, bis schließlich ein blutendes Geschwür, ein
Schlaganfall oder eine Herzattacke auftritt. Er erhöht den
Blutdruck, weil das System für den permanenten Kampf gegen einen
unsichtbaren Feind - gegen katastrophale Gefühle - hochschaltet.
Das Limbische System hat auf der rechten Seite des Kortex mehr
zweibahnige Nervenfasernetze als auf der linken. Liebe trägt zur
Entwicklung dieser Hemisphäre bei. Ein umsorgtes Kind ist
empathischer und sympathischer, bereitwilliger, die Gefühle anderer
anzuerkennen und zu verstehen, so dass es eines Tages eine bessere
Mutter oder ein besserer Vater sein wird, weil es schon seit seiner
frühen Kindheit die ausgeprägte Fähigkeit zu fühlen besitzt. Frühe
Liebe formt das Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes. Sie brauchen
nicht zu resignieren. Sie können eine Menge tun, um frühen Schmerz
und seine Folgen zu reduzieren, auch wenn er nicht völlig
ausgelöscht werden kann.
Der Krieg im Gehirn zwischen Gedanken und Gefühlen
Gedanken
können an eingeprägten Gefühlen nichts ändern. Es ist
kontra-evolutionär, verkehrte Logik. Das Gehirn hält sich an seine
Evolution: Die rechte fühlende Hemisphäre war und ist vor der
kritisierenden linken entwickelt.
Gefühle
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Frontalbereich aufsteigende als vom frontalen Kortex absteigende
Bahnen. Gefühle gehen der Entwicklung von Gedanken voraus und sind
stärker; wohingegen die dem Hirnstamm eingeprägten Empfindungen
weitaus stärker als Gefühle und Gedanken zusammen sind, weil sie
mehr mit dem Überleben in Verbindung stehen.
Was geschieht mit unseren Gefühlen? Der emotionale Schmerz im
limbischen Areal bewegt sich zum Kortex, damit wir uns seiner
bewusst werden. Aber er wird von einer Reihe von Strukturen
blockiert und abgelenkt, nicht zuletzt vom Thalamus. Er bewegt sich
dann in Richtung Assoziationskortex, wo die Gefühle zerhackt und neu
definiert werden. „Ich bin nicht wirklich eifersüchtig. Ich bin
nicht wütend.“ Sie werden entschärft. Unterdessen greift unsere Hand
sofort nach einer Zigarette, um das System ruhig und die Verdrängung
aufrecht zu halten.
In einer Studie der Kinderärzte R. J. Harmon und Paula D. Riggs
wurde fünf Kindern im Vorschulalter mit posttraumatischem
Stress-Syndrom Clonidin (ein Hirnstammblocker) verabreicht. Die
Kinder wurden weniger aggressiv und impulsiv, erlebten weniger
emotionale Ausbrüche und schliefen besser.13
Clonidin ist bei der Behandlung von Erwachsenen mit Angst- oder
Zwangsstörungen sehr effektiv, weil die Wurzeln der Angst in
primitiven Gehirnstrukturen liegen, die Einprägungen aus der fernen
Vergangenheit verarbeiten. All das bekräftigt tendenziell unsere
klinischen Forschungsresultate, dass sehr frühe Einprägungen
Regionen des Hirnstamms beeinträchtigen und die Grundlage so vieler
späterer Symptome bilden. Die Symptome können sich von Person zu
Person unterscheiden, aber die Startrampe ist die gleiche.
Bei zwanghafter Besorgtheit kann es sein, dass der Thalamus und die
Amygdala der rechten Seite zusammen mit dem retikulären
Aktivierungssystem zu viel Input zu höheren Zentren und insbesondere
zum linken Frontalbereich zulassen, was den Kortex zu Überstunden
veranlasst. Die Gedanken treiben die Person nicht zum Wahnsinn; die
Gefühle treiben die Gedanken, was die Gedanken dann verrückt
erscheinen lässt. Furcht aus einem frühen Trauma bahnt sich seinen
Weg zum frontalen Kortex. Ein Teil des Leidens gelangt durch die
Schleuse und erreicht den frontalen Kortex, wo es in ständige
Besorgtheit übersetzt wird: „Was , wenn ich einen Autounfall habe?“
„Wenn es ein Erdbeben gibt?“ „Und wenn ich meinen Job verliere?“ Die
schlechte Nachricht hat sich bereits ereignet. Wenn der Schmerz noch
stärker ist, können die Gedanken in den bizarren Bereich ausstrahlen
wie zum Beispiel: „Ich weiß, es wird jeden Augenblick ein Erdbeben
geben, und Kalifornien wird im Meer versinken“. Seite 125
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Das Gehirn ist in der Tat eine wundersame Struktur in dem Sinne,
dass es uns vor Schlimmem bewahrt, und in dem Sinne, dass die eine
Hälfte nicht weiß, was die andere Hälfte gerade vorhat; eine
Zweiteilung, die als weiterer
Überlebensmechanismus dient. Die Neuronen, die mit einer Art
Gallert gefüllt sind, wissen, wann Gefahr im Verzug ist, und
konstruieren die Kräfte, die sie zurückschlagen. Dieses Gallert kann
farbenprächtige Bilder hervorzaubern und einen Teil des Gehirns
„anweisen“, Schmerztöter zu produzieren. Letztlich ist es nur ein
Stück Materie. Aber was für außergewöhnliche Kräfte!
Solange wir nicht unter den Kortex gehen, werden wir weiterhin dem
Trinken, Stehlen, den Migränen, Geschwüren, Drogen und was immer Sie
haben zum Opfer fallen. Es steht zur Wahl: Entweder wir lassen die
Gefühle nach oben zur Verknüpfung kommen und verbinden die rechte
Seite des Gehirns mit der linken, oder wir unterdrücken sie, indem
wir sie ignorieren, sie umleiten, betäuben oder indem wir uns selbst
glauben machen, dass sie nicht existieren. Das ist das Dilemma, mit
dem sich jede Psychotherapie auseinandersetzen muss. Wann immer
tiefer Schmerz ignoriert wird, ist das gleichbedeutend damit, unsere
Physiologie zu verleugnen.
Meine Kollegen und ich führten 1984 in England in Verbindung mit
Open University und St.Bartholomews Hospital, London,
Imipramin-Messungen durch. Es war eine Doppelblindstudie, die von
Professor Steven Rose von der Open University geleitet wurde, unter
Mitarbeit von Professor Bernard Watson vom St. Bartholomews.
Wir maßen die Imipramin-Bindung an Blutplättchen. Imipramin ist ein
Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer und ebenso ein Norepinephrin-Hemmer*,
also nahmen wir an, die Vorgänge im Blutsystem würden mit
den Vorgängen im Gehirn übereinstimmen. Wenn wir von
Aufnahme-Hemmern reden, brauchen wir nur zu wissen, dass das
Endresultat mehr Serotonin und Epinephrin in der Synapse ist, und
das bedeutet bessere Verdrängung oder Hemmung. Bei Depressiven ist
die Imipramin-Bindung geringer.
Blutplättchen ähneln in biochemischer Hinsicht den Neuronen, was den
Besitz von Stellen zur Transmitteraufnahme und Transmitterbindung
einschließt. Die Werte stiegen im Verlauf unserer Therapie an, so
dass sich die Imipramin-Bindung an Blutplättchen, obwohl sie bei
Depressiven geringer ist, in unserer Therapie normalisiert. Mit der
Normalisierung stieg dann die Antischmerz- und Antiangstkapazität
der Patienten. Das Verdrängungssystem arbeitete besser.
Hier sind Professor Roses Schlussfolgerungen:
________________________________
*
Wenn ein
„Aufnahme-Hemmer“ in Aktion ist, bedeutet dies, dass die chemische
Substanz Serotonin nicht aufgenommen oder
nicht zurückgenommen wird. Das Resultat: mehr Serotonin in
der Synapse, um die Verdrängung zu fördern.
__________________________
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1.
Selbstbezogene Individuen zeigen zu Anfang der Psychotherapie
einen Bindungsgrad von 3H-Imipramin an Bluttplättchen, der ungefähr
die Hälfte des Wertes einer Kontrollgruppe von selbstdefinierten
normalen Versuchspersonen beträgt, die nicht in Therapie sind.
2.
Sechs Monate nach Beginn einer primärtherapeutischen
Behandlung hatte sich ihr durchschnittlicher Imipramin-Bindungsgrad
erhöht, bis er nicht mehr von den Kontrollwerten zu unterscheiden
war, und diese Erhöhung hielt weitere sechs Monate an.
3.
Elf von zwölf Versuchspersonen zeigten während dieser Periode
Verbesserungen der Punktezahl auf einer willkürlichen psychischen
Bewertungsskala, und es gab eine positive Korrelation zwischen
dieser verbesserten Bewertung und erhöhter Imipramin-Bindung.
Wenn wir Imipraminbindung diskutieren, müssen wir uns „Serotonin“
denken (oder noch leichter: „Prozac“). Wir messen etwas, das, wie
wir glauben, im Gehirn nachgemacht wird. Die Bedeutung dieser
Forschung liegt darin, dass neue Patienten, die oft äußerst
ängstlich sind, eine niedrige Bindung aufweisen. Wenn die Therapie
jedoch fortschreitet, kommen sie auf normale Werte. Durch die
Auflösung von Gefühlen wird ihr Verdrängungssystem effektiver.
Deshalb sind sie ruhiger und entspannter, was wir durch unseren
Fragebogen herausfanden.
Diese Studie repräsentiert nach unserem Wissen den ersten Versuch,
eine biochemische Messung, die in der biologischen Psychiatrie
allgemein gebräuchlich ist, auf eine psychotherapeutische Behandlung
zu beziehen. Sein positives Ergebnis sollte zu ausgedehnteren
experimentellen und theoretischen Studien biochemischer Kennzeichen
in der Psychotherapie ermutigen.
Wer soll sagen, dass ich mich nicht gut fühle, wenn ich mich
tatsächlich gut fühle? Der Körper soll es, weil er vielleicht
aufgrund dieser Selbsttäuschung einer Herzkrankheit, einem Geschwür
oder Schlaganfall erliegt. Es mag sein, dass wir rauchen wollen,
egal, was die Forschung sagt. Unser Kortex wird sich dafür einen
Grund suchen. Wir argumentieren, dass ein Raucher in Russland 110
Jahre alt geworden ist, bringen uns selbst zu der Überzeugung, es
sei möglich, ohne Schaden davonzukommen. Das Bedürfnis, den Schmerz
zu unterdrücken, ist übermächtig; niemand ist schlauer oder stärker
als dieses Bedürfnis, und niemand setzt sich je darüber hinweg. Es
ist Grundlage des Überlebens. Wir müssen daran denken, dass
Selbsttäuschung Teil des Abwehrapparats und somit zwingend notwendig
ist, genau wie es die Wahnvorstellungen des Paranoiden sind. Nichts
ist so grenzenlos wie Selbsttäuschung. Es ist Teil der menschlichen
Existenzbedingung. Wir sollten noch einmal nachdenken, ehe wir
unsere Patienten hinsichtlich ihrer sonderbaren oder irrationalen
Ideen eines Besseren belehren, weil hier der Kortex versucht,
unsichtbare und unbekannte Kräfte zu rationalisieren.
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Nolan
Ich kam wegen der Primärtherapie von Australien nach Venice,
Kalifornien, weil ich immer unglücklich, alleine und ängstlich war
und mich vor den Leuten versteckte. Ich war nicht in der Lage, mich
zu ändern. Achtzehn Jahre lang war ich schwerer Trinker, um
Erleichterung zu finden und um es bei Leuten auszuhalten. Aber
schließlich war alles zu viel - mein Verhalten, meine Schuldgefühle
und die gräßlichen Kater hinterher. Ich ging zu den Anonymen
Alkoholikern, aber nach neun Jahren Nüchternheit im
Zwölf-Schritte-Programm und nach vielen verschiedenen Therapeuten
war ich verzweifelt. Als ich Dr. Janovs Bücher las, kam in mir
Hoffnung auf. Ich war wütend auf meine Eltern.
Mit meiner Lohntüte aus elf Jahren Arbeit kam ich hierher –
was erstaunlich für mich war, weil ich so viel Angst hatte, alleine
wohin zu gehen. Die Hoffnung auf ein glückliches Leben bedeutete mir
alles. Ich bin nun seit zwei Jahren hier und zu einem großen Teil
bestand die Therapie darin, mehr über mich selbst zu erfahren.
Es ist unglaublich, aber mir war nie klar, wie ängstlich und
deprimiert ich immer gewesen war. Jahrelang habe ich versucht, alle
meine Probleme durch Trinken zu lösen. Das war eine große Abwehr, um
nicht fühlen zu müssen, wie sehr ich litt. Ich hatte immer Streit
mit Leuten und war unfähig, mit den Gefühlen umzugehen. Entweder
ging ich gekränkt weg oder ich attackierte sie rasend vor Wut. Wenn
ich nun den Schmerz eines gegenwärtigen Ereignisses fühle und ihn zu
ähnlichem Schmerz in der Vergangenheit zurückverfolge, kann ich
verstehen, warum ich so sehr leide. Es befähigt mich auch, näher bei
Menschen zu sein. Zum Beispiel sagte mir eine meiner
Zimmergenossinnen hier, dass ich ihr Freund sei und dass sie mich
möge – magische Worte für mich. Es bedeutet alles für mich, gemocht
und erwünscht zu sein.
Wir wurden Freunde, aber allmählich begriff ich, dass sich unsere Beziehung allein um ihre Bedürfnisse drehte. Dass sie das zu mir gesagt hatte, damit ich mich um sie kümmern würde. Ich erkannte, dass meine Gefühle nicht zählten. Schließlich explodierte ich in der Gruppensitzung und fühlte die ganze Frustration und den ganzen Ärger. Ich wollte, dass sie für mich da ist, so wie ich für sie da war. Durch diese Beziehung konnte ich zurückzugehen und fühlen, wie meine Mutter all die richtigen Worte sagte, sich aber nicht um mich kümmerte – all den Schmerz, nicht erwünscht zu sein – und wie ich darum kämpfte, dass sie mich liebte.
Seite 128
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||||
Das Schlimmste an dieser Therapie ist, fühlen zu müssen, wie sehr
ich meine Eltern lieben wollte und wie sehr ich es brauchte, dass
sie das wissen. Aber sie mochten mich nicht. Das hat alle meine
Beziehungen beeinträchtigt. Es fühlt sich für mich an wie der Tod –
ungewollt zu sein. Vor kurzem fühlte ich, wie sehr ich wollte, dass
meine Tante Maisie mich zu sich nahm. Ich liebte sie und wusste,
dass sie mich wirklich mochte. Ich war erst drei Jahre alt und
wusste schon damals, dass meine Eltern mich nicht wollten. Mein
ganzes Leben drehte sich um Unglück und Hoffnungslosigkeit. Indem
ich zurückgehe und den Horror meiner Kindheit fühle, gibt es mir
Hoffnung auf eine Zukunft. Mein Vater beging Selbstmord - und ich
fühlte, dass ich auch darauf zusteuerte. Da ich mehr von meinen
Gefühlen erlebe, komme ich meinen Kindern näher. Vor der Therapie
war es zu schmerzvoll, bei ihnen zu sein, weil es meine eigenen
Gefühle auslöste. Indem ich diese Gefühle mit meiner Beziehung zu
meinem Vater verknüpfe, kann ich sie nun mehr sie selber sein lassen
und ihnen zuhören.
Ich möchte ein liebevoller Vater sein – mein Vater schien mich zu
hassen. Es erreichte eine Phase, in der er mich mied, wo immer es
möglich war. Ich war am Boden zerstört. Ich war in der Gruppe und
redete über meine Kinder. Ständig und immer wieder sagte ich: „Es
tut mir Leid“. Ich hatte ein Bild in meinem Kopf, wie ich sie in
meinen Armen hielt, und dennoch hatten sie Schmerzen. Ich begriff,
dass ich derjenige war, der sie verletzte. Das ließ mich
losschluchzen. Später hatte ich eine Erinnerung, wie ich in einem
Laufstall war und sah, wie meine Eltern die Tür schlossen und mich
allein ließen. Ich weinte und flehte sie an, mich nicht zu
verlassen: „Ich tue alles – aber verlasst mich nicht.“ Der Schmerz
darüber, nicht erwünscht zu sein, war zu viel – alles lieber als
das.
Nachdem ich mich ausgeruht hatte, verspürte ich
Erleichterung darüber, den Schmerz gefühlt zu haben, und
hatte ein paar Einsichten: Wenn meine Kinder mich brauchen, bringt
es mein Bedürfnis nach meinen Eltern hoch, und ich laufe davon,
genau wie meine Eltern es taten. Indem ich fühle, wie sehr ich
leide, bin ich, wie mir scheint, viel mitleidsvoller mit meinen
Kindern.
Es fällt mir so schwer, mich in Bewegung zu setzen. Ich warte immer
ab. Dadurch, dass ich mehr in Kontakt mit meinem Körper bin, lerne
ich, mich in meinem eigenen Tempo zu bewegen. Vorher leugnete ich
immer die Gefühle, dass ich aufgeben wollte. Ich war getrieben. Ich
konnte nie entspannen. Ich konnte nie genug tun, um meinen Vater zu
erfreuen. Jetzt komme ich dem Gefühl näher, dass es alles zu viel
ist. Ich fange an, um Hilfe zu bitten – zu akzeptieren, dass ich sie
brauche. Es war mir schon ganz am Anfang eingeimpft worden, dass ich
um nichts bitten sollte – stark sein und keine Anzeichen von
Schwäche zeigen. Nun
ist es so eine Erleichterung, dass ich endlich menschlich sein kann.
Dass ich über meinen ganzen Schmerz weinen und schluchzen kann.
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Für mich geht es in der Primärtherapie darum, meine Erlebnisse in
der Vergangenheit mit meinem gegenwärtigen Verhalten zu verknüpfen –
die wunderbare Erleichterung von: „Oh, deshalb mache ich das!“ Ich
begreife allmählich, warum ich so viel Angst vor den Leuten habe,
indem ich die Gefühle wiedererlebe, wie schrecklich die Angst war,
die ich vor meinem Vater hatte – totaler Schrecken, der mich lähmte.
Ich dachte, ich sei ein Feigling, weil mich das Gefühl so total
durchdrang. Ich lerne, dass ich tatsächlich funktionieren kann, auch
wenn ich Angst habe. Vorher waren die Gefühle so überwältigend, dass
ich handlungsunfähig war. Jetzt weiß ich, es sind Gefühle und ich
weiß, woher sie kommen und wie sie mich beeinträchtigen. Es ist
nicht leicht, aber nach und nach schaffe ich es.
Ich kehre immer wieder zur Primärtherapie zurück, weil ich ein voll
fühlender Mensch sein will. Vorher habe ich überlebt, nicht gelebt.
Ich fühle mich, als wäre ich eingefroren und taute langsam auf. Nach
jahrelanger Suche glaube ich, dass dies der richtige Weg für mich
ist.
Roger
Warum Primärtherapie? Die Antwort schien so offensichtlich, dass ich
es niemals richtig durchdacht hatte. Warum durch all diesen Schmerz
gehen? War es nicht beim ersten Mal schon schlimm genug? Warum ihn
ausgraben? Welcher Vorteil lässt sich erzielen? Ich werde versuchen,
während des Schreibens an diese Fragen zu denken.
Ich fange damit an, dass ich Ihnen von meiner jüngsten Sitzung
erzähle. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich nun seit ungefähr
sechzehn Monaten in der Therapie bin. Es war eine unglaubliche
Reise.
20. April
Ich begann vorige Woche in der Gruppe davon zu erzählen, wie
unehrlich meine Chefin meinem Empfinden nach gewesen war. Sie hatte
jedem erzählt, wie gut sie ihre Angestellten behandle. Es hatte mich
damals nicht gestört, aber an diesem Morgen quälte mich die
Nachricht, dass sie mich aus meinem Job feuern wolle. Ich hatte
nichts falsch gemacht. Es schien so unfair. Sie traute mir nicht.
Ein paar Tage zuvor hatte sie meine Bezahlung kürzen wollen, wegen
einer Sache, die nicht mein Fehler war. Ich erhob mich gegen sie,
aber ich fühlte mich schuldig, als hätte ich etwas Falsches getan.
Ich wollte ihr wirklich sagen, dass sie mir Unrecht tat – mich
alleine zu lassen. Eine Therapeutin ermutigte mich, und ich geriet
sofort in Wut.
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Sie platzte aus meinem Bauch heraus, füllte meine Arme und Beine aus
– unglaubliche Wut. Ich wollte einfach, dass sie damit aufhört. Ich
beruhigte mich, und dann schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte mir
immer gewünscht, eine solche Wut zu bekommen – machtvoll in meinem
Umgang mit Leuten zu sein.
Mir wurde klar, dass ich mich immer schuldig gefühlt hatte, wenn
mich eine Autoritätsperson zur Rede gestellt hatte, auch wenn ich
nichts falsch gemacht hatte. Sie müssen mich als Kind dazu gebracht
haben, dass ich mich so schlecht fühle. Die Wut und die Frustration
war noch immer da. Ich wollte alles in Stücke reißen. Ich begann,
heftig und unkontrolliert zu atmen. Ich ging mit dem Gefühl mit. Die
Frustration brachte mich um. Mein Körper krümmte und streckte sich.
Mir war, als könnte ich nicht atmen. Dann reißender Husten, der bis
zu meinem Unterbauch hinabreichte.
Als ich da raus kam, hatte ich plötzlich eine gewisse Lücke. Es
fühlte sich so vertraut an – klein sein und gesagt bekommen, ich sei
schuldig und schlecht. Dann kam es mir wie ein Schatten in den Sinn:
„Es ist, wie wenn mein Vater mich schlägt.“ Ich war beschämt und
wollte nicht darüber reden. Ich rollte mich zusammen. Ich weinte
jetzt. „Bitte Papi, bitte. Es tut mir Leid, Papi.“
Ich fühlte mich so schuldig. Es machte mich betroffen, wie
viel mir mein Vater bedeutete. Ich würde alles für ihn tun. Er war
riesig. Er war alles. Ich liebte ihn so sehr. Ich hatte nichts
wirklich Schlimmes getan – vielleicht zuviel Lärm gemacht.
Gewöhnlich wachte er aus seinem Nachmittagsschlaf auf und kam über
uns wie ein wahnsinniges Tier, verdrosch zuerst den von uns, der ihm
gerade am nächsten war. Ich konnte mich beobachten sehen, wie mein
Bruder verprügelt wurde, und ich konnte den qualvollen Ausdruck in
seinem Gesicht sehen. Ich wusste, ich würde als nächster drankommen.
Ich bettelte: „Tut mir Leid, Papi“, und rollte mich zusammen, um
mich selbst zu schützen. Ich ließ so viel davon zu, wie ich konnte.
Ich wollte wirklich, dass jemand den ganzen Schmerz wegnimmt. Ich
dachte an meine Mutter. Sie beschützte mich nicht. Sie hatte ebenso
Angst vor meinem Vater. Ich war sprachlos. Wie konnte sie das
tatenlos zulassen? Sie ist meine Mutter. Ich konnte es nicht fassen.
Ich hörte für eine Weile zu weinen auf und lag einfach da. „Ich
fühle mich noch immer traurig“, sagte ich zu meiner Therapeutin. Ich
bat sie, mich zu halten und ließ mich einfach gehen. Ich versank in
furchtbarer Verlassenheit.
Nach dem Weinen redete ich ruhig darüber, was bei meiner Chefin
passiert war. Ich wusste, dass ich mich in Zukunft gegen sie
behaupten müsste. Es war noch immer schwer für mich, dass ich das
tun musste – dass ich sie nicht ändern konnte – aber es war in
Ordnung.
Wie also hilft es mir, wenn ich Gefühle wie diese wiedererlebe? Nun, ich hörte sofort auf, mir über die Situation am Arbeitsplatz den Kopf zu zerbrechen, und fühlte mich ganz wohl mit meiner Chefin, als ich sie nächstes Mal sah. Ich weiß, es wird wieder geschehen.
Seite 131 |
Ich werde mein ganzes
Lebensmuster nicht in einer einzigen Sitzung verändern. Aber
nächstes Mal wird es ein bisschen leichter sein. Der Punkt ist, dass
das Wissen über die Ursachen das Verhalten nicht ändert. Als ich
mich nervös gegen meine Chefin erhob, ging mir als letztes die Art
durch den Sinn, wie meine Eltern mich behandelten. Zu diesem
gegenwärtigen Zeitpunkt konnte ich die Verknüpfung nicht herstellen.
Diese Therapie macht es mir möglich, dem Gefühl von der Gegenwart zu
den wirklichen Ursachen in der Vergangenheit zu folgen. Ich kann
dann die Verknüpfung herstellen und den ganzen Schmerz
hinausschreien, der verhindert hatte, dass ich normal auf meine
Chefin reagieren konnte. Vor der Therapie wusste ich, dass mein
Vater mich schlug und dass meine Mutter schwach war und nie da, aber
das änderte nichts daran, wie machtlos ich mich fühlte, wenn eine
Autoritätsperson mich zur Rede stellte. Die Fakten waren nicht
unbewusst - aber die
Wahrheit war es. Nur die Verknüpfung zu Gefühlen wie diesen ändert
etwas.
Ich erkenne auch, wie wenig ich über mein eigenes Verhalten wusste.
Ich dachte, ich funktioniere gut. Die meisten Freunde, die wussten,
dass ich in die Primärtherapie gehe, konnten nicht verstehen warum.
Ich schien gut anpepasst und hatte eine enge und beständige
Beziehung zu meiner Frau. Es war ein Akt, und zwar einer, an den ich
beinahe selbst glaubte. Meine Freunde sahen nie die Wutausbrüche, zu
denen ich neigte. Oft unterrichtete ich eine Klasse von
Zwölfjährigen und geriet plötzlich in Wut. Gewöhnlich bestand der
Auslöser darin, dass meine Autorität von einem Kind in Frage
gestellt wurde. Wenn dann die Situation zunehmend frustrierend
wurde, drehte ich gewöhnlich durch. Ich hatte zu der Zeit keine
Ahnung, dass dies etwas mit meinen eigenen Erfahrungen als Kind zu
tun hatte. Gewiss assoziierte ich es nicht mit den Schwierigkeiten
bei meiner Geburt.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind von Superhero-Comics fasziniert
war und später von dem Gedanken besessen war, stark zu sein und
meinen Körper aufzubauen. Jedoch schien es, dass ich nie stark genug
war. Ich konnte noch immer verletzt werden. Als junger Erwachsener
las ich Bücher darüber, wie man Freunde gewinnen und Leute
beeinflussen konnte. Ich war auf dem Weg, meine
Erwachsenen-Persönlichkeit zu entwickeln. Nach und nach schob ich
die schmerzvollen Erinnerungen meiner Kindheit beiseite. Erst seit
den letzten paar Monaten bin ich wieder bereit, meine Eltern in mein
Leben zurückkehren zu lassen – einzugestehen, dass ich sie noch
immer brauche und liebe. Ich sehe sie in klarerem Licht. Ich weiß,
dass ich vielleicht anfangen sollte, ihnen Fragen zu stellen, zum
Beispiel, warum sie sich scheiden ließen. Ich habe es nie wirklich
erfahren. Nun könnte ich vielleicht wagen, wozu ich damals nie in
der Lage war.
Vor der Therapie klammerte ich mich an die Hoffnung, dass sich die Dinge für mich eines Tages wunderbarerweise ändern würden. Ich wollte, dass es jemand für mich machen würde. Ich agierte das in meinen Beziehungen aus. Auch die Therapie wurde zum Bestandteil dieser Hoffnung.
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Ich musste die Hoffnungslosigkeit fühlen - die bis zu meiner Geburt
zurückreicht - um alles zu ändern. Bei meiner Geburt brauchte ich
„jemanden, der es für mich machen würde,“ der mich ins Leben bringen
würde. Ich schaffte es nicht alleine. Das Fühlen des Erlebnisses,
dass ich von den Medikamenten im System meiner Mutter nach einem
gewaltigen Kampf, auf die Welt zu kommen, gelähmt worden war – das
hat mir in der Gegenwart eine gewisse Freiheit gegeben, Dinge in
Bewegung zu setzen. Ich habe das Bedürfnis nach Hilfe
hinausgeschrien, und dadurch konnte ich anfangen, mir selbst zu
helfen. Ich weiß, niemand wird es für mich machen. Es ist der Anfang
des Erwachsenwerdens. Der Anfang der Freiheit.
Gegenwärtig verspüre ich einen neuen Kreativitätsschub. Ich war ein
Maler und jahrelang haderte ich mit meiner Kunst. Ich hatte Tage, an
denen ich mich wie Picasso fühlte, gefolgt von Tagen, an denen ich
mich wertlos fühlte. Das Wiedererleben der Höhen und Tiefen meiner
Geburt hat diesen Kampf vermindert. Ich weiß, ich benutzte meine
Talente, um für meine Eltern etwas Besonderes zu sein. Ich habe über
dieses Bedürfnis geweint. Ich wollte etwas wert sein – geliebt
werden, ohne mich darum bemühen zu müssen. Zum ersten Mal in meinem
Leben habe ich das Gefühl, etwas machen zu können, ohne mir selbst
einzureden, dass es nicht gut genug ist. Dass ich nicht gut genug
bin. Ich kann sogar diesen Artikel hier schreiben, ohne von dem
Gedanken gelähmt zu sein, dass es nicht der richtige Stil sei. Es
ist ein großartiges Gefühl. Die Dialektik ist überall in dieser
Therapie sichtbar – je mehr ich die Vergangenheit fühle, desto mehr
kann ich in der Gegenwart machen.
Warum also Primärtherapie? Warum diese alten Gefühle ausgraben? Ich
denke, die einfache Antwort lautet: weil ich jetzt fühlen kann. Ich
hatte vor der Therapie keine Ahnung, was das bedeutet. Ich lebe
nicht mehr in meinem Kopf oder in den furchtbaren Empfindungen
meines Körpers. Ich kann jetzt zu den Leuten so sein, wie ich es
zuvor nie konnte.
______ Die Schmerzkette
Lange Nervenbahnen erstrecken sich vom Hirnstamm und limbischen
System zum frontalen Kortex. Wenn ein aktuelles Ereignis eine
traumatische Erinnerung der Vergangenheit auslöst, weiß das Gehirn
nur eines zu tun: entweder die Nachricht zu übergeben oder
abzuschalten. Wenn jemand kritisiert wird und große Angst fühlt,
kann das zugrunde liegende Gefühl sein: „Ich bin schlecht, und ich
werde nicht geliebt werden (von meinen Eltern).“
Wenn in Ihrem Hirnstamm eine rohe, unverarbeitete Empfindung eingeprägt ist, muss sie, wenn sie aufgelöst werden soll, erkannt, benannt und integriert werden – das heißt, man muss sie erleben. Nicht wiedererleben, sondern zum ersten Mal erleben. Die Erinnerung kann im Kortex mit absoluter Klarheit enthalten sein, aber die
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Leidenskomponente, die subkortikal gespeichert wird, ist nur zum
Teil erlebt worden. Wenn ein Bluterguss aus einer Tracht Prügel im
Alter von sechs Jahren auf dem Körper einer erwachsenen Patientin an
derselben Stelle wieder erscheint, sehen Sie, dass Erinnerung von
den Jahren der Erfahrung unangetastet bleibt und dass Aspekte der
Erinnerung ein Leben lang verborgen bleiben können. (Fotos davon
erschienen in früheren Werken des Autors.) Letztlich wird Ihnen
klar, dass Erinnerung weit mehr ist als intellektuelles Abrufen.
Kommt eine Erinnerung einmal zum Vorschein, scheint sie alle
verwandten Traumen aus den Tiefen des Gehirns mitzubringen und
überwältigt dadurch den Menschen. Der Kortex kann einfach die
verschiedenen Arten des Traumas nicht auseinander halten und nicht
speziell auf jedes einzelne in der richtigen Zeitfolge reagieren.
Wir können bei unserer Arbeit Beruhigungsmittel verabreichen, um die
tieferen Aspekte der Schmerzkette zu unterdrücken, so dass man
spätere weniger traumatische Verletzungen fühlen und integrieren
kann. Wir wenden Medikamente lediglich als Zwischenstation auf dem
Weg zur Auflösung an. Sie sind nicht die Therapie und nicht das
Endziel, aber wir wollen jede Chance nutzen, dass die Therapie
gelingt. Die Medikamente dienen als Ersatz für die Entbehrung früher
liebevoller Pflege und Berührung. Sie sind wahrlich das, was mit der
Gehirnchemie geschehen wäre, wenn es frühe Liebe gegeben hätte.
Eine Patientin von mir fing in einer primärtherapeutischen Sitzung
nach ungefähr einem Jahr Therapie an, sich schwach zu fühlen. Es war
eine Frau, die in ihrem Leben ständig in Bewegung war, aber jetzt
konnte sie sich kaum bewegen, kaum atmen. Zuerst ging sie durch ein
Gefühl, in dem sie alles versuchte, die Liebe ihrer Mutter zu
bekommen, aber nichts half. Zwei Stunden später glitt sie voll in
den Zustand von Schwäche und Hilflosigkeit, den sie bei der Geburt
erlebte, nachdem sie anästhetisiert worden war (durch die ihrer
Mutter verabreichten Medikamente) und nichts hatte tun können, um
sich selbst zu helfen. Wir ermutigten sie, sich von dem Gefühl der
Erschöpfung völlig überwältigen zu lassen.
Ihre ständige Aktivität in ihrem gegenwärtigen Leben hatte den Zweck
zu verhindern, dass sie diese Hilflosigkeit fühlte. Sie musste sich
immer auf Trab halten mit diesem oder jenem Projekt, um sich das
Gefühl der Hilflosigkeit vom Leib zu halten. („Ich kann an meiner
Situation nichts ändern“).
Die Empfindung von Schwäche, die meine Klientin verspürte,
verstärkte sich durch ihr Verhältnis mit ihrer Mutter. Ihr Vater
hatte die Familie nach ihrer Geburt verlassen, und die Mutter musste
arbeiten gehen, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Sie ließ
ihren Zorn an ihren Kindern aus, gab ihnen an allem, was schief
ging, die Schuld. Von Anfang an hatte meine Patientin das Gefühl,
dass sie im Weg stand. Dieses Gefühl war von Dauer. Als Erwachsene
hielt sie sich in der Gruppe zurück und entschuldigte sich ständig
für alles, was sie tat oder sagte.
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Diese Frau kämpfte so sehr darum, geliebt zu werden, dass sie
die Tiefen des Ungeliebtseins nie wirklich fühlte. Ihr
Verhalten glich einem verzweifelten Spurt, der sie von ihren
Gefühlen fern hielt. In unseren Sitzungen unterbanden wir ihre
Versuche, die „perfekte“ Patientin zu sein, und das brachte ihre
Ängste, unerwünscht zu sein, an die Oberfläche.
Weil die ursprünglichen traumatischen Empfindungen in den limbischen
Gefühlszentren ausgearbeitet und später im frontalen Kortex
repräsentiert werden, müssen wir erst mit der Wahrnehmung von
Schwäche (die Empfindung) in der Gegenwart beginnen, dann der
Patientin gestatten, voll in die Empfindung der Müdigkeit zu fallen
und von da in die Hilflosigkeit (das ursprüngliche Trauma) und die
Erschöpfung. Wenn die Patientin mit einer Empfindung - extremer
Müdigkeit - beginnt, können wir sicher sein, dass dem Gefühl tiefe
Hirnstammaspekte zueigen sind. Dann helfen wir der Patientin, sich
ihren Rückweg durch alle Ebenen zu bahnen. (Dieser Prozess kann
Stunden dauern und sich über viele Sitzungen erstrecken; es ist
nicht so einfach, wie es sich vielleicht anhört.)
Das System kann jeweils nur auf eine bestimmte Menge Schmerz
reagieren. Dann verschließt es sich wieder. Also bestimmen wir den
Schmerzgehalt, lassen je Sitzung diese Menge zu und warten dann bis
zur nächsten Sitzung, um mit demselben Schmerz weiter zu machen. Das
Maß an Schmerz in diesen Traumen ist unbeschreiblich; buchstäblich
Furcht einflößend, etwas, das ich als konventioneller Therapeut nie
gesehen hatte.
Nachdem sie die Ebene der Empfindungen erreicht hatte, begab sich
meine Patientin direkt in die Erschöpfung/Hilflosigkeit bei der
Geburt. Als sie zur Geburt hinabstieg, gab sie kein Wort von sich.
Über vierzig Minuten lang krümmte sie ihren Rücken und stieß mit dem
Kopf gegen die gepolsterte Wand. Sie schien zu ersticken. Als sie
sich schließlich ihren Weg zurück auf die fühlende Ebene und dann
zum Kortex bahnte, konnte sie schreien: „Ich gebe auf! Du liebst
mich sowieso nicht!“ Die Müdigkeit sagte: „Ich kann nicht mehr.
Lasst mich.“ Sie kehrte danach in vielen Sitzungen Dutzende Male zu
diesem Gefühl zurück, so stark und anstrengend war die Kraft des
Gefühls.
Wenn Patienten aus
einer Sitzung herauskommen, liegen sie einige Augenblicke still da,
blinzeln und öffnen dann ihre Augen. Alle Patienten berichten, dass
sie weit weg waren. Sie sehen aus, als seien sie gerade aufgewacht,
und in gewissem Sinne sind sie das auch. Sie kommen vom Traum-Gehirn
in den präfrontalen Wachzustand, genau so, als kämen sie gerade ins
Leben. Es dauert einige Minuten, bevor die Integration und die
Einsichten beginnen. Sie sind in der Sitzung geblieben, solange es
nötig war. Es ist das Ende der Fünfzig-Minuten- Stunde. Ich könnte
mir nicht vorstellen, eine Sitzung zu beenden, wenn ein Patient sich
noch schlecht fühlt oder weint.
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Dieses Eindringen in tiefe und ferne Ereignisse der Vergangenheit
geschieht nicht in den ersten Wochen der Therapie und sollte es auch
nicht. Hat ein Patient von Anfang an solchen Zugang, so ist es
gewöhnlich ein Anzeichen tiefer Störung, fehlerhafter Schleusung.
Das bedeutet, dass der Schmerzpegel sehr hoch ist und das
Verdrängungssystem defekt. Es kann bedeuten, dass
Hirnstamm-Einprägungen von hoher Valenz vorhanden sind. In jedem
Fall ist es oft ein Zeichen für die Dominanz der
Hirnstamm-Erinnerung. Wenn es in der Therapie vorzeitig passiert, so
ist das genau der Fall, für den wir Tranquilizer verwenden. Diese
Medikamente arbeiten genau wie Schleusen; eine Funktion, die das
Gehirn selbst erfüllen sollte.
Der präfrontale Kortex konzentriert sich auf die Gegenwart, gibt
dieser oder jener Person die Schuld. Diejenigen, die von ihrer
Geschichte getrennt sind, handeln, als würde sich das alte Trauma
jetzt gerade entfalten. Sie haben keine andere Wahl. Es
wiederzuerleben ist im Wesentlichen eine kortikale Anerkennung, es
ist die Integration früher Empfindungen und Gefühle und deren
Platzierung in den historischen Zusammenhang.
Empfindungen (sich
zerquetscht, begraben, erstickt fühlen) bahnen sich ihren Weg aus
den Tiefen des Gehirns zum rechten frontalen Kortex, wo sie in
„reinen“, einfachen Worten oder kurzen Sätzen Ausdruck finden. Der
Patient schreit vielleicht: „Ich gebe auf! Ich ertrinke! Ich komme
nicht vorwärts!“ In diesem Schrei liegt eine ganze Geschichte von
Versuch, Scheitern und schließlich völliger Aufgabe.......das
Kämpfen-und-Scheitern-Syndrom. Die Verknüpfung zwischen Hirnstamm
und Kortex findet weitgehend im rechten Gehirn statt, wo die Sätze
kurz, genau und unkompliziert sind und direkt tiefen Einprägungen
entspringen. Es ist das linke Gehirn, das die Dinge verkompliziert,
die Realität verdreht und gewundene Gedanken und komplexen Satzbau
produziert.
Lassen Sie uns bis hier zusammenfassen: Wenn ein Neugeborenes
unmittelbar nach der Geburt und später liebevoll gepflegt und
berührt wird, bringt das in jeder Hinsicht ein neues Gehirn in Gang.
Diese Behandlung baut das innere Serotonin-/Verdrängungssystem auf,
das dafür sorgt, dass das Individuum sich dauerhaft wohl fühlt und
entspannt bleibt. Sie vergrößert und verstärkt den frontalen Kortex,
der in oberster Instanz für das Aussperren unwesentlichen Inputs im
Leben, für die Organisation der Gefühle, für Denken und Reflektieren
und vor allem für die Hemmung von Empfindungen und Gefühlen aus
tieferen Gehirnschichten verantwortlich ist.
Wenn wir unwesentliche Eingaben nicht aussperren können,
haben wir eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, können uns nicht
sammeln oder konzentrieren und sind leicht ablenkbar.
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Wenn es frühe Liebe gibt, werden die mobilisierenden Kräfte im
Hirnstamm durch den frontalen Kortex moduliert. Wenn Liebe fehlt und
die Frontalzone schwach ist, kommt es zu Aktivierung, die die
Gedanken abschweifen lässt, und zu mangelhafter Kontrolle. Die
Neuronen werden nicht richtig reif. Ein starker frontaler Kortex
dämpft Gefühle im Limbischen System. Ein schwacher führt zu
Hyperaktivität. Dasselbe frühe Trauma, das die beeinträchtigte
Kontrollfähigkeit des frontalen Kortexes bewirkt, erzeugt auch die
Hyperaktivität. Die aufsteigenden Impulse zwingen das Kind und dann
den Erwachsenen zu ständiger geschäftiger Tätigkeit.
Die Übersetzung von Gefühlen in Symptome
Es gibt direkte Verbindungen vom frontalen Kortex zum Hypothalamus,
die dafür verantwortlich sind, dass Stress in körperliche Symptome
übersetzt wird. Durch sie wird der Hypothalamus „instruiert“, die
Hypophyse anzuweisen, bestimmte Hormone abzusondern, einschließlich
der Stresshormone. Das Frontalhirn kann die Katecholamine nicht
herstellen, aber er kann anderen Gehirnstrukturen dazu den Befehl
erteilen. Es ist der frontale Kortex, der Aktivierung von unten
durch den Gebrauch von Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen
absorbiert. Es gibt direkte Fasergeflechte vom Hirnstamm zur
frontalen Region, die als Zweiwegesystem funktionieren, indem sie
Impulse zurückhalten und den Kortex, falls nötig, stimulieren. Sie
stimulieren die Frontalregion auch dann, wenn es nicht nötig ist –
zum Beispiel ein ruheloser Geist, wenn man einschlafen will.
Der frontale Kortex sendet aktivierende chemische Substanzen zur
Amygdala, so dass wir fühlen können, was wir denken, und umgekehrt.
Jede limbische/fühlende Struktur hat sowohl aufsteigende als auch
absteigende Fasernetze. Wenn sie blockiert werden, baut sich in
unseren Systemen der Druck auf. Alles, was Fühlen und emotionales
Wohlergehen ganz zu Anfang positiv beeinflusst, unterstützt den
Aufbau des integrierenden frontalen Kortexes. Die meisten
konventionellen Therapien zielen darauf ab, die Abwehr des frontalen
Kortexes gegen tief verborgene Impulse zu stärken. Das ist die eine
Methode, die Sache anzugehen, wenn man lediglich Kontrolle haben
will. Wünschen wir Integration, sieht die Sache anders aus. Wir
müssen diese Impulse dämpfen, so dass der frontale Kortex nicht so
viel zu tun hat. Auch wenn es im frontalen Kortex Entsprechungen zu
Gefühlen gibt, entwickeln sich die tieferen Gefühlsstrukturen doch
früher. Aus diesem Grund müssen wir in das Babygehirn hinabgelangen,
um Erfahrungen wiederzuerleben, die sich, lange bevor wir die
Fähigkeit zu denken besaßen, stark auf uns auswirkten. Nach einem
Wiedererlebnis sind Gedanken wichtig. Sie helfen uns zu verstehen,
was wir durchmachten und wie es uns ursprünglich verändert hat.
Das Fehlen von Liebe bringt das System in Gefahr. Das Gehirn sendet Stresshormone aus, um den Alarm zu bekräftigen, und diese anhaltende Sekretion schädigt das Wachstum der Gefühlszentren und des frontalen Kortexes. Dies wiederum reduziert die Funktion des Immunsystems, indem es die Anzahl der Lymphozyten mindert,
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die eindringende Bakterien überwachen und töten. Es gibt einen
Grund, dass die Mehrheit der Gefängnisinsassen auf Drogen ist, bevor
sie ins Gefängnis kommen: emotionale Deprivation unmittelbar nach
der Geburt und in den ersten zwei Jahren. Die meisten dieser Leute
wurden von Schmerz beherrscht und brauchten Drogen, um ihn zu
kontrollieren. Sie waren auch Opfer von so
frühem und durch Deprivation in der Kindheit verschlimmerten
Schmerz, dass die kortikalen Kontrollzentren beeinträchtigt wurden.
Impulse lassen ihre Wutausbrüche außer Kontrolle geraten und setzen
viele von ihnen außer Stande, einzuhalten oder die Konsequenzen
ihrer Handlungen zu durchdenken und abzusehen. Man braucht einen
starken frontalen Kortex, um sich selbst gegen übergreifende Impulse
abzuschirmen.
Eine weibliche Patientin von mir provozierte ständig den Zorn ihres
Gefährten, obwohl sie wusste, dass er sie schlagen würde. Den
einzigen körperlichen Kontakt mit ihrem Vater hatte sie, wenn er sie
übers Knie legte und sie mit bloßen Händen verprügelte. Sie brauchte
es noch immer, wusste, es war „verrückt“, und tat es dennoch. Sie
brauchte körperlichen und emotionalen Kontakt.
Suzanne
Das Folgende ist die partielle Niederschrift zweier Sitzungen. Suzanne beschreibt ihr Wiedererlebnis eines Abtreibungsversuchs, den ihre Mutter mit ätzenden Substanzen durchgeführt hatte. Er wurde später bestätigt. Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft versuchte ihre Mutter erfolglos, sie abzutreiben. In ihrer Primärsitzung kugelte sie sich so klein wie möglich zusammen und zwängte sich in eine Ecke. Weil sie nicht die charakteristische Arm- und Fußposition zeigte, wurde der Therapeut, der zuerst dachte, es sei ein Geburtsprimal, argwöhnisch und forschte genauer nach, was geschehen war. Hier nach dem Primal diskutiert und weint sie über all das, was es für sie bedeutete. Die meisten Techniken des Therapeuten sind ausgelassen worden. Suzannes Ausagieren hatte darin bestanden, dass sie versuchte, eine unverschmutzte Atmosphäre zu schaffen und in ihr zu leben: einmal, weil ihre Familiensituation „toxisch“ war, und auch wegen der versuchten Abtreibung durch Chemikalien, die ihre Mutter einnahm. Sie war auf der Suche nach einer schützenden Umwelt. Schließlich entdeckte sie die Quelle dieser Toxizität, und erkannte, dass sie dieses toxische Gefühl auf ihre Umwelt projizierte. Der Prototyp wurde hier lange vor der Geburt etabliert, nämlich der Rückzug vor der
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Gefahr. Wir alle ziehen uns vor Gefahr zurück, aber in ihrem Fall
wurde es zu einer übertriebenen und oft unangemessenen Reaktion. Es
ist nichts anderes als das auf kürzlich gemachten Aufnahmen
ersichtliche Phänomen, dass Feten sich angesichts einer Nadelpunktur
zurückziehen und schmerzhaft ihr Gesicht verziehen.
Sitzung I
Ich sage dir, ich musste wieder mit dem Rauchen anfangen, weil ich
merkte, dass wegen der Woche, die ich aufhörte, das Zeug so schnell
hochschoss, dass ich nicht damit klar kam. Ich hatte mein Zyban
verdoppelt [ein Medikament gegen das Rauchen]. Aber was ich merkte,
war, dass es nach dem fünften Tag ohne Zigarette am sechsten Tag und
am siebenten Tag so stark hochkam, dass ich den ganzen Tag ein
emotionaler Krüppel war. Also bin ich wieder zum Nikotin
übergegangen.
Was in den vergangenen zwei Wochen, seit ich hier bin und mit dem
Rauchen aufhörte, passierte, ist, ich wache jeden Morgen auf und mir
ist schlecht im Magen. Ganz speiübel. Gefühle wie „Ich will nicht
leben.“ Jeden Morgen. Allmählich macht mich das wirklich fertig,
weil, was ich will, ist einfach mal die Erfahrung machen, dass ich
morgens aufwache und mich freue, wach zu sein... zu leben...so wie
„Was für ein schöner Tag.“ Hinzu kommt noch das Gefühl von Angst.
Was ich wirklich sterben lassen will, ist dieses Gefühl, dass ich
sterben will. Aber es wird mich nicht in Frieden lassen; es hat mich
so im Griff. Es bestimmt meinen Willen. [ihre Mutter versuchte, sie
mit einer sehr starken Salzlösung und noch einer anderen ätzenden
Substanz abzutreiben].
Überall in meinem Körper war diese Chemikalie, von der mir übel
wurde. Viele meiner Probleme scheinen da herzurühren. Angst haben.
Sich vergiftet fühlen. Sich nicht bewegen wollen. Ein übles Gefühl.
Um 5 Uhr morgens liege ich im Bett, und ich möchte mich
zusammenkugeln und dass dieses Gefühl aufhört. Ich hasse es einfach,
meinen Tag so zu beginnen. Ständig bringt es mich zum Weinen. Ich
hielt es einfach nicht mehr aus, also greife ich zu den Zigaretten,
weil sie mir helfen und mich beruhigen. Ich musste funktionieren,
und trotzdem bin ich überschwemmt von dem Gefühl, dass ich sterben
will. Ich will nicht leben, wenn ich mich so fühlen muss. Das holt
auch Janis (Tochter) ein, weil sie in meiner Welt lebt und weil die
extrem vergiftet ist. Wieviel kann sie verkraften? Ich bin nicht da
für sie, und sie muss mit einer Mam’ auskommen, die die ganze Zeit
weint.
Es verzerrt alles in meiner ganzen Welt. Jeden Morgen, wenn ich
aufwache, sind meine Hände heiß, meine Füße sind heiß, mein ganzer
Körper ist heiß. Es lässt mich nicht los. Aber ich kann noch nicht
zulassen, dass ich es fühle, weil ich nicht genau weiß, wohin es
mich bringt
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Therapeut: Was ist es
genau?
Das Gefühl, dass mir schlecht ist im Magen. Ich kann nichts Schönes
sehen im Leben. Es ist etwas in mir, das ständig hochkommt. [Weint
und schluchzt]
Ich hasse es...
Ich hasse es...
Ich will Schluß machen. Ich will mich nicht so fühlen. Es lässt mich
nicht los. Es schüttelt meine Eingeweide. Es fühlt sich so
schrecklich an. Genau das tut es. Ich will mich übergeben, ich fühl’
mich widerlich. Es ist so stark (Ein Häufchen Elend, rollt sich zu
einem Knäuel zusammen).
Ich schätze, ich war einundzwanzig, und ich verließ New York, um
nach Kalifornien zu kommen. Es ist so interessant, weil da diese
Lebensangst war, diese Angst vor mir selbst. Als dieses Gefühl in
meinem Leben immer wieder hochkam, verstand ich nie, was es war.
Warum hatte ich Angst? Es war die Sch......-Erinnerung!
Ich weine einfach, weil ich es hasse. Mir wird so schlecht dvon. Und
es klebt an mir wie Leim. Es saugt mich einfach auf. Es ist eine
Ganzkörperempfindung. Und es zieht mich aus der Gegenwart raus. Ich
will nicht dahinvegetieren. Dieses Gefühl ist mit so vielen anderen
Gefühlen verknüpft, es ist mit meinem Gehirn verknüpft.
Es gibt so viel, worüber ich weinen muss. Janis sagte mir heute,
dass sie mein Rauchen überwacht. Sie hat sich einen kleinen Kalender
gemacht. Sie fragt mich, wie viele Zigaretten ich heute geraucht
habe, und sie schreibt es auf; sie sagt: „Mama, du hast wieder zu
rauchen angefangen.“ Und ich sagte, es ist, weil zu viel Schmerz zu
schnell hochkam und weil die Zigaretten mir helfen und mich
beruhigen. Sie sagt: „Ich will wirklich, dass du mit dem Rauchen
aufhörst, Mama,“ und ich sagte: „Du willst mir also sagen, du
hättest es lieber, dass ich eine Menge mehr weine, als dass ich
Zigaretten rauche?“ Sie sagte: „Ja.“ Ich sagte: „Bist du sicher,
dass du damit klar kommst?“ Darauf sie: „Mir wäre es lieber, wenn du
weinst, anstatt Zigaretten zu rauchen.“ Ich glaube, ich glaube
total, dass ich eine schädliche Wirkung auf sie habe. Sie hat eine
Mama, die so was durchmacht, und wir sind nicht 100 Prozent
zusammen. Ich fühle mich so schuldig, weil ich diese Woche daran
dachte, dass meine Mutter Asthma hatte, als ich aufwuchs, und ich es
hasste, wenn sie krank wurde. Und ich schätze, Janis muss es genau
so empfinden. Und dann denke ich, dass es nicht fair ist.
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So fühle ich mich, wenn das Gefühl hochkommt, dass ich diese kranke
Person bin. Ich schaff’ es nicht, es verschlingt mich. Und es bleibt
mir treu, tagein, tagaus. Und ich fühl’ mich so verpfuscht. Ich will
mich nicht bewegen, ich will nicht hinaus. Ich will nicht reden. Die
Einprägung ist so groß! Es ist wie eine Folter.
Da ist ein ganz großes Gefühl im Inneren meines Körpers. Es ist
wild. Ich will nicht den Atem verlieren. Es macht was aus zu wissen,
wo das Gefühl herkommt [sie hatte das Mutterleib-Primal am Tag
zuvor]. Ein paar Mal in diesen zwei Wochen, als das Gefühl hochkam,
hat es mir geholfen zu wissen, wo es herkam.
Ich habe immer gewusst, dass ich eine sehr naive und unschuldige
Seite an mir habe. Und ich kann sehen, dass sie ganz gelegen kam,
denn wenn ich wirklich alles begriffen hätte, was ich durchgemacht
hatte, so hätte ich es nie geschafft. Ich denke, naiv zu sein,
nichts zu begreifen, half mir, dass ich es nicht durchdenken musste.
Janis sieht, was ich durchmache, sie sieht meine Höhen und Tiefen.
Ich hasse es, ich fühle mich so schuldig. Ich lasse sie wissen, dass
sie so etwas nie erleben muss, weil sie erwünscht war, weil sie von
Anfang an geliebt wurde, und sie wird das nie erleben. [Weint noch
immer] Jede Nacht kommt dieses Fieber, das so um 4 oder 5 am Morgen
losgeht, und meine Füße sind so heiß und meine Hände sind so heiß.
Es ist, als versuchte mein Hirn, das geradewegs aus meiner Seele
rauszubrennen.
Sitzung II
Ich fand es sehr interessant gestern, als ich hier wegging. Ich
freute mich, weil ich in die Abtreibungserinnerung eingetaucht war.
Ich fühlte mich einfach glücklich, lebendiger. Ich spürte einfach,
dass ich irgendwie glücklich darüber war, durch den ganzen Prozess
zu gehen, und über die Intensität der Wirkung, die es hatte. Mag
sein, es hat damit zu tun, dass ich weiß, es ist eine ganz bestimmte
Erinnerung, und mit der Erleichterung, dass ich nicht verrückt bin.
Weißt du, wenn du nicht weißt, woher katastrophale Gefühle kommen,
musst du denken, du seist verrückt. Dass meine Körperreaktion
irgenwie erfreut war, als sie den Prozess durchlief, dass sie
endlich Gelegenheit hatte es auszudrücken.
Ich schlief gut, aber so gegen 4 Uhr 30, 5 Uhr war ich auf, nur das üble Gefühl war nicht so intensiv, es kam noch immer hoch, und je länger ich im Bett blieb, ohne mich zu bewegen, umso stärker kam es. Um 6 Uhr dachte ich, oh, jetzt kommt das vertraute Gefühl von Übelkeit hoch. Aber ich spüre dieses üble Gefühl noch immer. Um 6:30 ist es stärker; ich möchte mich zusammenkauern, dieses kleine Knäuel bilden.
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Es ist jetzt noch immer da. Ziemlich stark sogar. Und ich komme
wieder dahin, dass ich mich nicht bewegen will. Also stand ich auf
und setzte mich auf die Couch im Hotelzimmer. Und ich will mich
nicht bewegen. Ich könnte den ganzen Tag so verbringen, wenn ich
mich so fühle. Und die einzige Sache, die mich in Gang bringt, ist
Bewegung, Aktion. Das Gefühl hat eine lähmende Wirkung auf mich. Ich
habe keinen freien Willen. Es ist, als würde jemand ständig auf mir
herumhacken, mich nicht zufrieden lassen.
[Schreit ständig: „Lass mich
zufrieden !!!!“]
Und ich wollte, dass mein
Stiefvater mich zufrieden ließ, als er mich belästigte. Manchmal
fühle ich mich so traumatisiert, so als wollte ich mich einfach in
eine Ecke verkriechen. Es ist, als bräuchte ich sowas wie Berührung.
Einfach eine freundliche Hand auf meiner Schulter. Ich verlange
nicht viel. Ich wäre in der Lage gewesen, etwas zu fühlen. Und mein
Körper fühlt sich wie glühende Kohlen an. Es ist, als suche ich nach
sowas wie Berührung. Halt mich, Mama, bitte halte mich.....
[Weint lange Zeit tief. Streckt flehend die Hände aus.]
[Zurück in der Gegenwart]
In diesen Augenblicken ist es, wie wenn ich tanze. Es ist, als sei
alles in Ordnung. Manchmal hört es auf, weh zu tun, und es ist wie
ein Hauch frischer Luft und ich fühl’ mich okay. Ich fühle, dass ich
keine Schmerzen habe. Ich hab so das Gefühl, dass mein Optimismus
und meine Freude daher kommen. Diese kleinen Fenster, wenn einfach
nichts mehr weh tut und das Gefühl so phantastisch ist.
Ich denke ständig daran, als ich vierzehn war und hatte, was ich als
„Haupt-LSD-Trip“ bezeichne. Und jetzt sehe ich die Parallelen so
klar; was hochkam, war die Geburtserfahrung, nicht die
Geburtserfahrung, aber was mir passierte, war, dass ich über zehn
Stunden an einem Platz saß und Angst hatte, mich zu bewegen. Und
mein ganzer Körper, er war einfach so sensibel. Es war, als könnte
ich durch die Wände hören, alles fühlen und mich einfach nicht
bewegen. Ich musste dort bleiben. Jetzt sehe ich, ich habe diese
ganze Sache wiedererlebt. „Bewege dich nicht. Es ist okay, wenn du
dich nicht bewegst.“ Mein Körper war so sensibel, wie ein einziger
großer Nerv. Und dann, nach diesem ganzen Erlebnis habe ich dann mit
Barbituraten und Beruhigungsmitteln angefangen, weil das das einzige
war, das meinem Körpergefühl wie ein einziger riesiger Nerv die
Schärfe nehmen konnte, und es war das einzige, das meinen Körper
beruhigen konnte. Ich fing mit den Barbituraten an, mit Tuanols und
Quaaludes. Ich fühlte einfach zu viel. Der einzige Grund, warum ich
sie absetzte, ist, weil süchtig nach ihnen wurde und zu viele nahm.
Ich ging zu einem Arzt, und sagte ihm, was ich tat, rechnete damit,
dass er es verstehen würde und mir helfen könnte, es zu verstehen.
Er konnte es nicht.
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Es ergibt einen perfekten Sinn für meine Reaktionen im Leben, wenn
ich zu sehr fühle oder wenn der Input zu groß ist. Ich ziehe mich
zurück. Das ist die Einprägung, sich zurückziehen von dem, was mich
umbringen will. Was auf mich bis zum heutigen Tag zutrifft, ist,
dass ich nie verbergen konnte, wie ich mich fühlte. Ich gehörte zu
den Leuten, denen ihre Gefühle ins Gesicht geschrieben sind. Ich
hatte kein Geheimnis. Wie ich mich fühlte, lag da wie ein offenes
Buch. Du konntest es einfach lesen. Und die Art, wie ich durchs
Leben navigierte, war mit meinen Gefühlen. Es ist so, wenn ich mich
sicher fühlte, bewegte ich mich vorwärts. Wenn ich mich nicht sicher
fühlte, kam ich vom Weg ab.
Mir scheint, dass ein Teil dieser Erfahrung, die Wirkung, die sie
hatte, war, dass sie sich auf mein Nervensystem auswirkte; dass ich
sensibler bin. Ich habe ein sehr gutes Gespür dafür, wie sich andere
um mich herum fühlen. Mein Nervensystem war einfach überlastet und
als Ergebnis hat es alles aufgebauscht, so dass ich fühlte und
dachte, es ist alles zu viel. Also war meine Reaktion im Mutterleib,
es abzustellen, indem ich mich zurückzog und so klein wie möglich
wurde, mich zusammenzog. Und ich mache es noch immer. Ich nehme an,
das ist es, was Dr. Janov als Prototyp bezeichnet. Es scheint so,
dass ich vorprogrammiert bin. Ich muss stark sein, gleich, wie
schlecht die Dinge stehen. Ich meine, offensichtlich habe ich die
ganze Zeit überlebt, weil ich in den schlimmsten Situationen in der
Lage war, etwas Gutes zu finden, etwas, das ich lerne, etwas, das
mich weise und stärker gemacht hat.
Therapeut: Zum einen hat es dir das Leben gerettet.
Ich hatte immer diesen Optimismus. Der Optimismus ist die
Möglichkeit im Leben. Weißt du, ich denke nicht, dass ich sonst
überlebt hätte. Daran klammere ich mich. An diese kleinen Fenster.
Und ich trachte immer danach, darauf zurückzukommen. Aber es ergibt
einen Sinn, weil der Schmerz dann aufhört. So intensiv der Schmerz
auch ist, wenn ich zum anderen Ende des Spektrums schwingen wollte,
dann bedeutet es, wie großartig es ist, den Schmerz nicht zu fühlen,
es ist wie Tanzen auf den Dächern, die Freude, das ist magisch.
Nichts ist so, wie nichts zu wollen; außer die Schönheit des Tages
zu genießen, der Zauber, wenn du eine Blume betrachtest, wenn du die
Sonne scheinen siehst. Es ist alles ganz einfach. Es gibt kein
Streben, es gibt nichts als atmen wollen. Ich muss dir sagen, es ist
alles ganz faszinierend für mich. Was für eine Erleichterung darin
liegt, wenn du weißt, woher der Schmerz kommt und wo der Optimismus
ist!
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Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1
Y. Ito et al., „Increased Prevalence of Electrophysiological
Abnormalities in Children with Psychological, Physical and Sexual
Abuse,” Journal of Neuropsychiatry 5, no. 4 (Fall
1993): 401-407. N. 2
Viele synaptische Endungen haben Autorezeptoren, die auf
Transmitter-Freisetzung durch präsynaptische Neuronen reagieren.
N. 3
Ito, „Increased Prevalence of Electrophysical Abnormalities
in Children with Psychological, Physical and Sexual Abuse,“ s. 401. N. 4
Die Vitalwerte aller Patienten werden vor und nach jeder
Sitzung gemessen. Die Physiologie sagt
uns eine Menge darüber, in welchen Gefühlen der Patient
steckt.
N. 5
Arthur Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West
Hollywood, Kalif.: Dove Books, 1996).
N. 6
R. J. Davidson und N. A. Fox, „Frontal Brain Asymmetry
Predicts Infants’ Response to Maternal Separation,“ Journal of
Abnormal Psychology 98, no. 2 (Mai 1989): 127-31.
N. 7
Allan Schore, in Brain and Values, ed. Karl Pribham (New
Jersey: Lawrence Erlbaum, 1998), s. 342.
N. 8
Siehe: Eric Hoffmann, “Mapping the Brain in Repression,”
vorgelegt der California Psychological Association, Annual Meeting,
Februar 23-26, 1995. Siehe auch E. Hoffmann,
“Hemispheric Quantitative EEG Changes Following Emotional Reactions
in Neurotic Patients,” Acta Psychiatrica Scandinavica 63 (1981):
153-64.
N. 9
Ibid., s. 153
N. 10
S. L. Rauch et al., „A Symptom Provocation Study of
Posttraumatic Stress Disorder
Using Positron Emission Tomography and Script
Driven Imagery,” Archives of General Psychiatry 53 (1996):
380-87.
N. 11
Davidson and Fox, “Frontal Brain Asymmetry Predicts Infants’
Response to Maternal Separation.”
N. 12
Siehe D. Derryberry und D. M. Tucker, „Neural Mechanisms of
Emotion,“ Journal of Consulting and Clinical Psychology 60, no. 3
(Juni 1992): 329-38. N. 13 R. J. Harmon und P. D. Riggs, „Clonidine for Posttraumatic Stress Disorder in Preschool Children,“ Journal of American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35 (September 1996): 1247-49.
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DER BEGRIFF DER
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Ereignisse
werden in einer Phase, die als kritische Periode bekannt ist, in
das Nervensystem eingeprägt. Ereignisse, die außerhalb dieser
Periode stattfinden, haben nicht die gleichen unheilvollen
Folgen wie diejenigen, die in ihr geschehen. Mit acht Jahren die
Eltern durch einen Autounfall zu verlieren, kann mit einer Kraft
eingeprägt werden, die einem traumatischen Erlebnis in den
ersten sechs Monaten des Lebens gleichkommt, aber die
Auswirkungen auf die neurologische Entwicklung sind
wahrscheinlich nicht so schwerwiegend.
Für den Vorgang der Einprägung ist ein Zustand hochgradiger
Erregung notwendig; mit anderen Worten, eine Notsituation, die
das System in Alarm versetzt. Das Gehirn beginnt sich zu
verändern. Es kann sowohl „Liebe“ als auch „Nichtliebe“
einprägen. Wenn es Liebe gibt, expandieren die Neuronen und
wappnen das Gehirn gegen spätere Widrigkeiten. Schlüsselsynapsen
vermehren sich, das Gehirn ist stärker und hat mehr hemmende
Nervenzellen, um Angst unter Kontrolle zu halten.
Wenn emotionale Deprivation etwas unabdingbar einbezieht, dann
ist es fehlende Berührung und Zärtlichkeit ganz zu Beginn. Wenn
das Baby wegen fehlenden Körperkontakts unter Stress steht, wird
Kortisol freigesetzt, und wenn dieses Stresshormon übermäßig
lange abgeschieden wird, erzeugt es ein toxisches Gehirnmilieu,
das bestimmte Gehirnstrukturen im Limbischen/fühlenden System
schädigen kann und dies auch tatsächlich tut. Da wir gerade von vergifteter Umwelt sprechen, einer unserer fortgeschrittenen Patientinnen war oft übel, und sie litt in ihren Wiedererlebens-Episoden (Primal) unter einem brennenden Gefühl. Schließlich spürte sie während der Wiedererlebnis-Sequenz eines im Hirnstamm verwurzelten Traumas in ihrem ganzen Körper ein Seite 145 |
schreckliches Brennen. Wir fanden heraus, dass ihre Mutter
versuchte, sie mit einer hochätzenden Substanz abzutreiben, die
offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Aber sie war
auf die wiederkehrende Zwangsvorstellung fixiert, dass sie in einer
vergifteten Umwelt lebte. Sie führte den gerechten Kampf gegen die
Verschmutzung und zog schließlich in eine saubere Kleinstadt. Ihr
Kampf gegen die Verschmutzung war richtig, aber die tiefgründige
Motivation kam daher, dass sie sich im dritten Monat in einer schwer
toxischen Situation im Mutterleib befand. Diese Motivation setzte
ihre Vorstellungen über die Umwelt nicht unbedingt außer Kraft; sie
erklärte lediglich deren Ursprung.
Es gibt Perioden, in denen wir Liebe bekommen müssen, um uns
angemessen zu entwickeln, und andere, in denen es für die
Gehirnentwicklung nicht so wichtig ist. Forscher finden heraus, dass
es während der Schwangerschaft „kritische Perioden“ gibt, in denen
sich permanente Veränderungen in der Entwicklung ereignen könnten.
Es sind viele Versuche an Tieren durchgeführt worden, aber es gibt
auch Forschungsergebnisse, die Implikationen für Menschen haben. Es
stellte sich heraus, dass kein durch frühe Deprivation
hervorgerufenes Versäumnis jemals nachgeholt werden konnte.1
Das mag in der Tat das Hauptmerkmal der kritischen Periode
sein: Sie kann nicht nachgeholt werden. Am Lebensanfang
zugefügter Schaden, zum Beispiel Tiere, die nach der Geburt nicht
berührt wurden, konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Aber warten
Sie! Vielleicht sind die Aussichten gar nicht so düster. Synaptogenesis In den ersten achtzehn Monaten oder zwei Jahren des Lebens bilden sich die Synapsen zwischen kortikalen Neuronen und stärken oder schwächen sie, je nach Ausmaß des Traumas. Bei ausreichender Stimulierung, einfacher Berührung, ergibt sich eine größere Synapsendichte im Kortex, da sich Bahnen verstärken und Integrationskapazität aufbauen. Trauma wird definiert als etwas, das nicht reibungslos in das System integriert werden kann. Es tritt ein, wenn Bedürfnisse über längere Zeit nicht erfüllt werden. Der Zeitplan diktiert die Notwendigkeit optimalen Körperkontakts direkt nach der Geburt und in den folgenden Monaten. Das Maß an Körperkontakt wird von sensiblen Eltern bestimmt, die spüren, was das Baby braucht; nicht zu viel, damit es nicht überstimuliert wird, sondern gerade ausreichend, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Der Körper drückt einen Mangel in Allergien, Hautkrankheiten, Infektionen und Hyperaktivität aus. Wir können zu dem Gehirn eines Zweijährigen zurückkehren und uns mit diesem Gehirn an bestimmte Dinge erinnern, was wir mit dem Erwachsenengehirn niemals könnten. Seite 146 |
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Wenn dieses Gehirn weint, sind es die Laute eines Kleinkinds. Es
leidet Höllenqualen, weil
Körperkontakt und Zärtlichkeit fehlten, und dennoch hat der
Mensch sein Leben vergnügt und
ahnungslos verbracht.
Wir brauchen Liebe, um die Synapsen zu bilden, die für die Schaffung
eines Gehirns nötig sind, das stark genug ist, um Schmerz zu
dämpfen. Wir brauchen Eltern, die dem Baby in die Augen schauen, die
auf seine Stimmungen reagieren, sein Unbehagen spüren und sich in
seinen Schmerz und seine Beschwerden einfühlen können. Das ist
Liebe. Der mitfühlende Blick einer Mutter kann tatsächlich den
Blutfluss zum Kortex des Babys regulieren und seine Entwicklung
wesentlich beeinflussen. Er tut dies durch die Sekretion von
Dopamin, welches das Wachstum kortikaler Neuronen anregt.2
Diese Projektionen veränderter Dopaminzellen zum frontalen
Kortex errichten einen neuen Kortex. Je besser der Fluss ist, umso
mehr Nährstoffe und Sauerstoff werden dorthin transportiert. Die
Zellen sind gesünder. Ein Maß für die Effektivität und Aktivität
eines Gehirnortes kann der Blutfluss sein. So ist zum Beispiel bei
der Aufmerksamkeitsmangel-Störung der Fluss zu präfrontalen Orten
geschwächt. Das Gehirn kann neue Information nicht leicht
verarbeiten, noch kann es unwesentliche Stimuli herausfiltern. Auf
diese Weise formt fehlende Liebe einen neuen Kortex, indem sie die
Dopaminspiegel senkt. Und nicht nur der Kortex wird verändert. Der
Hippocampus ist durch Stress am Lebensanfang besonders verwundbar,
und seine Zellen können schwinden durch ein Trauma, das ein gewisses
Zeitmaß überschreitet.3 Nicht nur ein Schlag auf
den Kopf kann einen Gehirnschaden verursachen: einfache
Vernachlässigung kann das auch bewirken. Affen, die von
Käfiggenossen misshandelt wurden, wiesen Gehirnschäden im
Hippocampus auf, nicht wegen der Schläge, sondern wegen ihres
Leidens. Wenn wir an der Unfähigkeit leiden,
uns räumliche Verhältnisse vorzustellen, die Architektur
eines Hauses oder Raumes, wenn wir unter Gedächtnisverlust
hinsichtlich Zeiträumen, Zeitpunkten und Plätzen leiden, müssen wir
auf den Hippocampus schauen und darauf, was ihm der Mangel an Liebe
angetan hat, der uns am Lebensanfang widerfahren war. 4
Je dichter die Synapsen in dieser Synaptogenesis genannten
Schlüsselperiode der Gehirnentwicklung sind, umso mehr Information
kann das Gehirn verarbeiten. Der Rückgang an Synapsen ist zum
Beispiel eine physiologische Möglichkeit, wie ein Trauma eingeprägt
werden kann; er lässt uns weniger Gehirnzellen, die wir brauchen, um
mit Widrigkeiten fertig zu werden. Die Einprägung kann eine einzige
Lernerfahrung sein, die monatelange Interaktion mit den Eltern
umfasst und in einem Gefühl gipfelt wie: „Sie wollen mich nicht“ Es
ist ein epiphanischer Augenblick, wenn das Kind erkennt, dass es
niemanden gibt, an den es sich mit seinen Gefühlen wenden könnte.
Oft geschieht diese Erkenntnis zu einer Zeit, da das Baby am
bedürftigsten ist, zu einer Zeit, wenn das Gehirn nach Erfüllung
schreit, wenn Synapsen sprießen und neue Verknüpfungen, neue
Netzwerke aus Nervenzellen herstellen; zu einer Zeit, wenn sich
fehlende Erfüllung in Schmerz verwandelt. Besonders schmerzvoll ist
sie in der kritischen Periode, weil sie ein biologisches Bedürfnis
repräsentiert; das System braucht Erfüllung für seine richtige
Entwicklung. Seite 147 |
Schnelle Synaptogenesis kann als Schlüsselmerkmal einer kritischen
Periode betrachtet werden. Schwere Deprivation beeinträchtigt den
Prozess der Synaptogenesis. Tiere, die traumatisiert wurden und an
denen dann eine Autopsie vorgenommen wurde, hatten weniger
Gehirnsynapsen. Es
geschieht in dieser Phase, dass widrige Erfahrungen, z. B. eine
Mutter, die trinkt und raucht, das Gehirn der Nachkommen verändern
können. Das Baby hat ein weniger reichhaltig ausgestattetes Gehirn,
um mit späteren Nöten fertig zu werden. Es geschieht in
dieser Phase, dass das System, wenn bestimmte genetische Tendenzen –
hoher Blutdruck, Migräne und Allergien - gegeben sind, geschwächt
wird und zulässt, dass sich diese Anfälligkeiten schon früh im Leben
manifestieren. Ein starkes Gehirn mit angemessenen synaptischen
Verbindungen kann in der Lage sein, diese Tendenzen zurückzuhalten.
Mit reduzierter Synapsenzahl sind die Vorbereitungen für spätere
Lernprobleme schon getroffen. All das kann sich ereignen, wenn der
Fetus noch ein Fetus ist und noch kein soziales Leben gehabt hat.
Es verstärkt das Problem, dass alles das stattfinden kann ohne
bewusste Wahrnehmung durch das Baby. Das Baby wird einfach „dumm“
geboren. Sich einer Sache nicht bewusst zu sein, beeinträchtigt in
keiner Weise die Wirkung der Einprägung. Diese Einprägung ist nicht
einfach eine zerebrale Erinnerung. Sie steckt in einem mangelhaften
Gehirn. Dieser Mangel ist die Erinnerung, genau wie ein
chronisch schneller Herzschlag auf Grund eines intrauterin
eingeprägten Traumas eine Erinnerung ist. Es ist die Art, wie sich
das Herz „erinnert“. Einige von uns haben einen Ruhepuls von sechzig
Schlägen pro Minute. Andere stellen fest, dass ihr Puls bei achtzig
Schlägen pro Minute liegt. Jetzt haben wir eine gewisse Vorstellung,
wie diese Unterschiede zustande kommen: es sind Unterschiede im
pränatalen Leben. Wirkliche Erinnerung hängt nicht von der Fähigkeit
ab, „sich zu erinnern“, frühe Ereignisse zu verbalisieren und in
Begriffe zu fassen. Erinnerung offenbart sich, lange bevor es Worte
gibt. Ein schneller Herzschlag ist die Erinnerung eines Ereignisses,
das das Herz zum Beschleunigen veranlasste, zum Beispiel zur Abwehr
von Schrecken. Nun ist das Ereignis lange vorbei, aber die Furcht
bleibt; sie ist mitsamt ihrem Gehilfen, schnellem Herzschlag, ins
System eingeprägt. Das Herz sagt nicht: „Ich erinnere mich, dass mir
mein Vater immer dann Angst einjagte, wenn ich geweint habe“,
sondern es sagt es eindrucksvoll durch seinen lebenslang erhöhten
Herzschlag. Wir können es verstehen, wenn jemand sagt: „Ich erinnere
mich an die unkontrollierten Wutausbrüche meines Vaters.“ Aber es
ist nicht einfach eine rein begriffliche Erinnerung. Es gibt einen
Körper, der sie begleitet, der der Erinnerung „Schubkraft“ verleiht.
Seite 148 |
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Die kritische Periode ist die Lebensphase, in der ein Baby
für bestimmte Arten von Input am anfälligsten ist. Würde ein Kind in
seinen ersten Jahren geliebt, aber im Alter von acht Jahren sich
selber überlassen, würde es nicht von demselben Gefühl der
Einsamkeit und Verlassenheit geprägt sein, wie jemand, der direkt
nach der Geburt nicht geliebt und vernachlässigt wurde. Ein
achtjähriges Kind kann sich selbst ernähren, bei Verwandten oder
Freunden Zuflucht suchen oder vielleicht in einer Lehrerin/einem
Lehrer einen Elternersatz finden. Ein Kleinkind ist hilflos und
braucht mit jeder Faser seines Seins Trost und Berührung. Ein
fünfzehnjähriges Kind, das von seinen Eltern nicht mehr berührt und
in den Arm genommen wird, mag sich dadurch verletzt fühlen, aber es
wird keine Gehirnschädigung erleiden wie jemand, der/die in der
frühen Kindheit nie gehalten wurde. Das ist der Unterschied zwischen
Verletztsein und dem Erleiden tiefen physiologischen Schadens.
Dasselbe depravierte Kind kann vom Alter von fünfzehn Jahren an
jeden Tag in den Arm genommen werden, und doch wird es die Prägung
aus der kritischen Periode nicht auslöschen.
Es ist nicht so, dass unser Sohn Joe begonnen hat, Heroin zu nehmen,
weil er mit den falschen Leuten herumhängt. Im Gegenteil, er hängt
mit denen herum, die in der gleichen Notlage sind wie er; und diese
Notlage ist oft der gleiche Mangel an inneren Schmerztötern mit dem
gleichen impulsgesteuerten System. Joe ist auf schweren Drogen, weil
er auf schwerem Schmerz ist, und diese Schmerzen geschahen sehr früh
im Leben, bevor er seinen ersten Kumpel hatte. Im Großen und Ganzen
gilt: Je tiefer und entfernter die Einprägung ist, umso mehr Kraft
hat sie. Der Brennpunkt der kritischen Periode: Die Dopamin-Connection
Die wichtigste kritische Periode findet statt, wenn sich das Gehirn
während der Schwangerschaft formt. Trinken und Rauchen der Mutter,
ihre Angst oder Depression werden ihren Weg ins fetale System finden
und Verwüstung anrichten. Wenn Sie die Verfügbarkeit eines
Neurotransmitter-Elements während der fetalen Entwicklung ändern, so
wird das wiederum die spätere Anzahl solcher Zellen ändern. Wenn Sie
zum Beispiel die Verfügbarkeit von Dopamin (das die
Informationsübermittlung auf den Nervenbahnen fördert) an der
Rezeptorstelle reduzieren, indem Sie den sich entwickelnden Rezeptor
blockieren, wird die Anzahl von Dopaminrezeptoren nach der Geburt
geringer sein.5 Dopamin ist im Großen und Ganzen
eine erregende chemische Substanz, die uns wachsam und auf der Hut
sein lässt. Es ist ein „Beeil-dich“-Transmitter, der die
Nachrichtenverbindung beschleunigt, im Gegensatz zu Serotonin und
den Endorphinen, die blockierende Wirkstoffe sind (und ebenso
Wirkstoffe, die Befriedigung und
Wohlbefinden erzeugen). Dopamin ist eine
„Halte-durch-Chemikalie“, ein Schlüsselelement für Hartnäckigkeit im
Menschen. Seite 149
|
Wenn wir den Dopaminspiegel während der Schwangerschaft ändern,
erzeugen wir lebenslange Auswirkungen auf das Gehirn, und das kann
eine Persönlichkeit bedeuten, die leicht aufgibt, ein begonnenes
Vorhaben nicht durchzieht und nicht bis zum Ende durchhält. Ich
möchte Eltern nicht unnötig beunruhigen. Ich möchte sie einfach auf
die lebenslangen Konsequenzen des frühen Lebens aufmerksam machen.
Ganz klar, ein Glas Wein wird einem Fetus keinen Schaden zufügen,
aber das ständige Trinken einer schwangeren Mutter wird dies tun.
Das sind keine unwesentlichen Fakten.
Wenn der Dopaminausstoß auf Grund eines frühen Traumas (und das
beinhaltet immer fehlende Liebe) beeinträchtigt worden ist, finden
wir später vielleicht einen niedrigeren Dopaminspiegel in der
rechten Hemisphäre, die sich mit Gefühlen befasst. Wegen des
eventuell niedrigeren Spiegels hat diese Art von Individuen (passiv,
phlegmatisch) nicht das neurochemische Rüstzeug, um anstrengende
Aufgaben oder schwierige Verhältnisse durchzustehen; sie geben
leicht auf, weil ihnen die nötigen „Durchhalte-Substanzen“ fehlen.
Hier sehen wir, wie sich die Persönlichkeit um Schlüsselereignisse
im Mutterleib herum zu formen beginnt, Ereignisse, die das
Gleichgewicht der Hormone verschieben. Das ist das Kritische an den
kritischen Perioden. Ihre Auswirkungen dauern an.
Ich werde eine Reihe von Forschungsstudien zitieren, um diesen Punkt
zu bekräftigen, da er nicht nur Dopamin betrifft. Es scheint ein
biologisches Gesetz zu sein: Traumatische Ereignisse im Mutterleib
können außergewöhnlich schädlich sein und sie können später nicht
ausgeglichen werden. Hier können zum Beispiel leichte Veränderungen
des Schilddrüsen-Ausstoßes ihren Anfang nehmen, so dass wir in der
späteren Kindheit vielleicht Hypothyreoidismus oder Insulinmangel
finden. Es ist der Mutterleib, wo so viele biologische Sollwerte
fixiert werden, die das System auf subtile, oft subklinische Weise,
die vielleicht Jahrzehnte lang nicht offensichtlich wird, abweichen
lässt.
Bei einem Trauma im Mutterleib werden die Dopaminwerte nach oben
(hyper) oder nach unten (hypo) reguliert, aber sie werden nicht
normal sein. Somit kann ungenügende Stimulierung durch Dopamin
ihrerseits das kortikale Integrationssystem beeinträchtigen, was
bedeutet, dass die Person später bereits durch den geringsten Input
überwältigt werden kann. Es gäbe
keine ausreichende kortikale Kapazität, um Widrigkeiten zu
trotzen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Parkinson und Alzheimer
das späte Resultat einer Traumatisierung im Mutterleib sein könnten.
Ein Übermaß an Dopamin kann das Schleusensystem durch Überreizung
und Überbeanspruchung seiner Kapazität schwächen. Janet Giler, eine
Psychologin, die im California Psychologist schreibt,
bemerkt, dass sich die Person konzentrieren kann, wenn das
allgemeine Niveau äußerer Stimulierung niedrig ist. Wenn ein Raum
voller Lärm und Stimuli ist, geht alle Konzentration verloren. Sie
sagt: „Neuere Forschung weist darauf hin, dass dieses Versagen,
sensorische Information zu schleusen oder einzuschränken (und das
ist eine der Bedeutungen des Schleusens) vielleicht auf erhöhte
Dopaminwerte zurückzuführen ist.“ 6 Natürlich sind
erhöhte Dopaminwerte nicht die Ursache des Problems, sondern
das Ergebnis sehr früher Erfahrungen. Seite 150 |
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Wenn zu viel Schmerz die Dopaminsekretion zu sehr anregt
(Hochregulierung), besteht im frontalen Kortex, der die
Dopaminaktivierung aufnimmt, die Gefahr der Fragmentierung: „Es
stellte sich heraus, dass sich durch pränatale Verabreichung
pharmakologischer Wirkstoffe, die die Transmitterzufuhr zu dem
entstehenden Dopaminrezeptor verändern, die Anzahl der Rezeptoren
ändern kann.“ 7 Wenn sich die Anzahl von
Dopaminrezeptoren verringert, gibt es möglicherweise nicht genügend
Stimulierung, um den frontalen Kortex wachsam und aktiv zu halten.
Der präfrontale „Geist“ kann Information nicht mehr angemessen
integrieren und ist schnell verwirrt und überwältigt. Im Gegensatz
dazu kann ein überaktives Dopaminsystem dazu führen, dass der
frontale Bereich zu „geschäftig“ ist, überreizt und unfähig,
sich zu sammeln und zu konzentrieren. Der entscheidende Punkt
ist, dass das Dopaminsystem das ganze Leben lang beeinträchtigt sein
kann, wenn eine schwangere Mutter Drogen oder Beruhigungsmittel
nimmt. Der Verlust der Anpassungsfähigkeit
Wenn die soeben zitierten Forscher die Transmitterzufuhr zu den
Dopaminrezeptoren während der Schwangerschaft änderten, war das
spätere Ergebnis eine lebenslange Veränderung in der Anzahl der
Rezeptoren. Wenn das nach der Geburt geschieht, wird es das
System durch Erhöhung der Anzahl und Dichte von Rezeptoren
kompensieren; aber wenn es in der Schwangerschaft geschieht, gibt es
keine Kompensation! Kurz gesagt fallen die Würfel im Mutterleib;
nach der Geburt gibt es dann hauptsächlich nur noch
„Säuberungsoperationen“. Es ist meine Vermutung, das dieses
Paradigma für viele andere biochemische und neurochemische Faktoren
gilt. Ereignisse im Mutterleib prägen Schlüsselveränderungen von
Hormonen, Immunfunktionen und Nervenbahnen für immer ein. Das ist
keine bloße Vermutung mehr, wie wir sehen werden; es gibt
Forschungsbeweise dafür. Das Wichtige daran ist, dass es keiner
chemischen Injektion bedarf, um diese Veränderungen zu produzieren.
Die Stimmung der Mutter, zum Beispiel Übererregbarkeit, kann
dieselben physiologischen Veränderungen erzeugen. Der Fetus kann
überreizt werden, und das kann auf subtile Weise den sich
entwickelnden Neokortex schädigen, der gerade am Anfang seines
Lebens steht.
A. J. Friedhoff und J. C. Miller, zwei wichtige Forscher für Rezeptorfunktionen, sagen: “Unter adaptiven Gesichtspunkten betrachtet ist es für das System
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erforderlich, wenn eine sich entwickelnde Zelle, die
Dopaminrezeptoren hervorbringt, registriert, dass es wenig Dopamin
in ihrer Umgebung gibt, außen weniger Rezeptoren anzubringen, damit
die Rezeptorzahl an die Transmitterzufuhr angeglichen wird.“
8 Die Zellen passen sich an ihre Umgebung an, so dass
auch der physiologische Bedarf geringer ist, wenn die Zufuhr
geringer ist.
Wenn bei den Menschen eine Mutter während der Schwangerschaft
hochdosierte Beruhigungsmittel wie Haldol erhält, so wird das
permanente Auswirkungen auf den Neurotransmitterspiegel im Fetus
haben, und das kann bedeuten, dass der Erwachsene niemals „ganz
richtig“ sein wird; vielleicht nie das Rüstzeug besitzt, um richtig
zu verdrängen; ein hypernervöser, überaktiver, unruhiger Typ, der
innerlich und äußerlich ständig in Aktion ist. Es kann sein, dass
diese Prägung es für den jetzt Erwachsenen erforderlich macht,
Beruhigungsmittel zu nehmen, und zwar aus genau
dem Grund, weil die Mutter sie eingenommen hatte, als sie
schwanger war. Die Überladung mit Beruhigungsmittel in der
Schwangerschaft veranlasst das fetale System, weniger davon
herzustellen, weil es bereits gesättigt ist. Als Erwachsener mit
verminderter Fähigkeit, Schmerz zu verdränegen, muss er zu
Medikamenten greifen, um der Schmerzverdrängung nachzuhelfen.
Es ist keine bloße Vermutung, die mich an die lebenslangen
Auswirkungen früher Erfahrungen glauben lässt. Ich sehe es seit
Jahrzehnten an meinen Patienten und habe ausführlich darüber
geschrieben. Aber jetzt betreten andere die Arena. Friedhoff und
Miller wiederholen, dass es zu beständigen, lebenslang andauernden
Veränderungen kommen kann, wenn das pränatale System des Fetuses
Medikamenten ausgesetzt wird.9 Es war bei Kindern
psychotischer Mütter der Fall, dass sie im fetalen Stadium
antipsychotischen Medikamenten ausgesetzt waren, was sich wiederum
auf die Empfindlichkeit ihrer Rezeptorsysteme auswirkte und sie
verletzlicher machte.10 Noch wichtiger ist, dass
Rosengarten, Friedhoff und Miller feststellen: „Es ist denkbar, dass
mütterliche Neuropeptide, mütterliche Hormone (als Resultat
psychischer Zustände) und durch die Mutter übertragene
Umweltchemikalien solche Veränderungen vermitteln könnten.“
11 Die chemischen Veränderungen bei der schwangeren Mutter
auf Grund ihrer Stimmungen, sagen wir Depression, werden zu
entsprechenden Veränderungen im fetalen System. Wenn die Mutter
deprimiert ist, so ist es vielleicht auch das Baby. Später dann kann
die ständige Depression der Mutter die Gefühle des Kindes dämpfen,
weil seine Ausgelassenheit auf keine angemessene Gegenreaktion
seitens der Mutter stößt. Durch ihre Niedergeschlagenheit
unterdrückt sie schließlich das Baby einfach auf Grund ihres
emotionalen Zustands. Ein Fetus kann die Angst einer schwangeren Mutter spüren. Er ist nicht im zerebralen Sinne des Begriffs bewusst; vielmehr ist er es in der Sprache von Unpässlichkeit, Unbehaglichkeit und vager Spannung, in der Sprache hormoneller Änderung und geänderten Blutflusses. Der Zustand der Mutter kann das Baby unruhig und ängstlich machen, und er kann diese Furcht zu einer permanenten Einprägung machen. In der Zeit vor der Geburt und in der Zeit nach der Geburt werden dieselben physiologischen Prozesse ersichtlich. Viele aktuelle Tranquilizer, die hochgradig gestörten Frauen verschrieben werden, ändern die Serotonin- und Dopaminspiegel des Fetuses und können ihn für spätere psychische Krankheit prädisponieren. Eine Frau, die andauernd raucht und trinkt, während sie schwanger ist, kann im Fetus den Ausstoß beider Transmittersysteme unterbrechen.
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Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1
A. J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter
Programming of Postnatal Receptor Function,“ in Progress in Brain
Research (Amsterdam, Niederlande) 73 (1988):
509-22.
N. 2
Ich frage mich, ob gering dosierte Dopamin-Tropfen, Deprenyl,
bei depressiven parasympath(et)ischen Patienten mit möglicherweise
niedrigem Dopaminspiegel gegen ihr
niedriges Energieniveau und ihre Depression helfen könnte. Wir
werden das in der Zukunft ausprobieren.
N. 3
H. Uno et al., “Neurotoxicity of Glucocorticoids in the
Primate Brain,” Hormones and Behavior 28, no. 4 (Dezember 1994):
336-48.
N. 4
B. S. McEwen, “Possible Mechanisms for Atrophy of the Human
Hippocampus,” Moleculary Psychiatry 2, no. 3 (Mai 1997): 255-62.
N. 5
H. Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive
Periods to the Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin
Receptors,” in Nervous System Regeneration,
ed. A. M. Guiffrid-Stella (New York: Alan Liss, 1983), s. 511-13.
N. 6
Janet Giler, “Attention Deficit Hyperactivity Disorder,”
California Psychologist (November/Dezember 1999): 52.
N. 7
H. Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive
Periods to the Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin
Receptors.”
N. 8
A. J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter
Programming of Postnatal Receptor Function.“
N. 9
Ibid.
N. 10
Ibid.
N. 11
H. Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive
Periods to the Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin
Receptors.” |
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