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 DR. ARTHUR JANOV:    

DIE BIOLOGIE DER LIEBE    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die amerikanische Originalausgabe  mit dem Titel   

"THE BIOLOGY OF LOVE" erschien anno 2000 bei  Prometheus Books, New York. 

 

© Copyright 2000 Dr. Arthur Janov

 

 

aus dem Amerikanischen von

Ferdinand Wagner

 

 

Es gibt zurzeit keine deutsche Übersetzung auf dem Buchmarkt

 

 

Über dieses Buch (Original-Klappentext)

In diesem revolutionären Werk präsentiert der weit bekannte Psychotherapeut Arthur Janov, Autor des Urschreis, die erste vereinigte Theorie der Psychologie und Gehirnchemie. Auf jahrelange Erfahrung mit Patienten und auf umfangreiches Beweismaterial aus Psychologie und Neurologie bauend erklärt Janov, wie Liebe nicht nur psychisches Wohlbefinden sondern auch körperliche Gesundheit und Persönlichkeitsmerkmale maßgeblich bestimmt. Tatsächlich beinflussen ihre biologischen Langzeit-Auswirkungen die Gehirnstruktur und Gehirnchemie im sich entwickelnden Fötus und im heranwachsenden Kind.

Janovs Hauptaugenmerk ist auf pränatale Erfahrung gerichtet. Er sagt: "Die Zeit im Mutterleib ist der Vorläufer für den Rest unseres Lebens." Gesundheitsbewusste Mütter, die während der Schwangerschaft auf sich achten, sich gesund ernähren, keine toxischen Substanzen wie Drogen, Alkohol und Tabakrauch konsumieren und den Fetus in einer emotional positiven, stressarmen Umwelt austragen, gewähren ihren Neugeborenen zahlreiche Vorteile.

Janov behauptet, dass pränatale Erlebnisse und Geburtstraumen in unsere Nervensysteme eingeprägt werden, und wenn diese entscheidende Lebensphase von seelischem oder körperlichem Kummer und Stress heimgesucht wird, können die tief sitzenden Auswirkungen in psychischen Problemen  oder psychosomatischen Krankheiten später im Leben resultieren. Aus dem gleichen Grund kann fehlende Liebe nach der Geburt, wenn das Baby liebevolle Berührung braucht, für die gesunde Entwicklung von Intelligenz und Persönlichkeit genau so schädlich sein wie Mangelernährung. Janov zitiert wissenschaftliche Beweise, um zu zeigen, wie die Entstehung des Nervensystems - besonders der komplexen neuralen Verknüpfungen des Gehirns und der Hormone, die sie stärken, sowohl vor und auch nach der Geburt  durch die Gegenwart oder Abwesenheit einer liebevollen, fürsorglichen Umgebung beeinflusst werden kann.

Aber über die Analyse psychischer und physischer Leiden hinaus ist die Biologie der Liebe auch ein Buch über Heilung. Janovs einzigartige therapeutische Techniken befähigen seine Patienten, jene kritischen Perioden der Liebes-Deprivation wiederzuerleben, welche die Wurzel ihrer Probleme sind. Janov nutzt die Schilderungen von Patienten, die bemerkenswerte Veränderungen erfahren haben, um zu zeigen, wie er ihnen half, durch die Freisetzung der zu Grunde liegenden psychischen Spannungen, die ihr Leben jahrzehntelang verkrüppelt hatten,"die Geschichte umzukehren."

Dieses provokative Originalwerk, das jüngste neurologische Forschung und psychologische Theorie mit Dr. Janovs langer Erfahrung in der erfolgreichen Behandlung von Patienten synthetisiert, ist zum einen verständlich für den gebildeten Laien und zum anderen von großem Interesse für Fachleute in Medizin und Psychologie.

 

 

 

                                                                                                                    TEIL I

 

DIE STRUKTUR DES GEHIRNS

 

 INHALTSVERZEICHNIS

 

 

DANKSAGUNG Seite 13
EINLEITUNG Seite 15
   
TEIL I DIE STRUKTUR DES GEHIRNS 21
KAPITEL 1 Die Struktur des Gehirns (23) -  

Der frontale Kortex und Gefühle (28)    Das Limbische System (28)    Überlastung und Verschließen: Wie wir verdrängen (30)    Der Hippocampus (30)    Boten des  Gehirns

KAPITEL 2

Der frontale Kortex - Das Gehirn des denkenden Menschen (34)

Wie ein zorniger Blick zu einer chemischen Substanz in unserem Gehirn wird (38)    Protokoll einer Sitzung (42)    An der Kreuzung: Das Limbische System: Thalamus, Amygdala und Hippocampus (51)    Der Thalamus: Schalt- und Relaisstation des Gehirns (52)    Organisation der Erinnerung: Die Amygdala (56)    Die Dopamin-Ver- knüpfung (57)    Die Amygdalae: Mutter Natur bei der Arbeit (59)    Sind wir zuerst bewusst und dann unbewusst? (62)    Der Tabernakel der Wahrheit (66)  Der Hippocampus: Zugriff auf Erinnerungen der Kindheit (67)  Der Schmerz, der zu Magersucht führt (72)    Sandras Geschichte (73)    Der Hirnstamm: Instinkt und Überleben (74)     Die Arbeit des frontalen Kortex: Wie sich sonderbare Gedanken entwickeln (76)    Fühlen – Kern unseres Menschseins (78)

 

KAPITEL 3 Die Alarmstation -Das retikuläre Aktivierungssystem (81) - Der Locus caeruleus: im Zentrum des Terrors (83)

 

KAPITEL 4 Der Hypothalamus - Kurier der Gefühle (87) - Der cinguläre Kortex (91)
KAPITEL 5 Der Sympath und der Parasympath: Wie die Persönlichkeit im Mutterleib geformt wird (93) - Eine Therapie für den emotionalen Notfall (100)  
KAPITEL 6 Die drei Ebenen des Bewusstseins (106) - Instinktives Bewusstsein der ersten Ebene (106)    Steve (106)   
KAPITEL 7 Der Begriff der kritischen Perioden (144) - Synaptogenesis (145)
   
TEIL II

 LEBEN IM MUTTERLEIB, ERINNERUNG UND EINPRÄGUNG    153

KAPITEL 8 Die Einprägung der Erinnerung (155) - Die lange Geschichte der Erinnerung  (157)

 

KAPITEL 9 Wie der Kode der Erinnerung entschlüsselt wird (165) - Wie die biologischen Sollwerte wieder in Ordnung gebracht werden (171)   

 

KAPITEL 10 Der Auslöse-Effekt (183) - Komm einfach darüber hinweg! (185)    Anoxie: Eine Prägung fürs Leben (189)    Sauerstoffmangel und lebenslanger Stress (192)

KAPITEL 11 Leben im Mutterleib - Vorspiel zum realen Leben (198) - Berührung ist Liebe ( 201)   Geisteskrankheit im Mutterleib (202)   

KAPITEL 12 Das Geburtstrauma - Wie es unser Leben bestimmt (219) - Ist das Unbewusste gefährlich? (220)   

I

KAPITEL 13 Der Stress-Faktor: Ein anderes Gehirn wird aufgebaut (228)
KAPITEL 14 Die Schleusentheorie (231) -  Die Angst vor dem Tod (235)    Die Rolle des Serotonins im Schleusungsprozess (238)

 

   
TEIL III DIE MACHT DER LIEBE  261
KAPITEL 15 Liebe hat viele Namen (263)  

Wie man einen Fetus liebt (264)    Und die Kinder werden die Eltern sein (267)   Das Gehirn lieben, aber wie? (267)    Die Chemie der Verdrängung (270)   

KAPITEL 16 Fehlender Sauerstoff ist fehlende Liebe (287)
KAPITEL 17 Oxytozin und Vasopressin - Die Hormone der Liebe  (291)

Liebe und Überleben (298)    Liebe und Ernährung: Die Übertragung der Liebe durch die Muttermilch (299)

KAPITEL 18 Über Sexualität und Homosexualität (313)

Kleiner Junge - völlig verloren (315)    Wut und die Impulsiven (317)    Sarahs Geschichte (319)

KAPITEL 19 Was hat Liebe damit zu tun (322)
KAPITEL 20 Psychotherapie und das Gehirn - Wie man das Gehirn gesund macht (330)
   
ANHANG I Begriffserklärungen (343)
ANHANG II Warnung  (351)
ANHANG III Namen-und Sachregister (355)

 

 

DANKSAGUNG

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Arbeit an diesem Buch erstreckte sich über viele Jahre. Entlang des gesamten Weges gab es Menschen, die dabei geholfen haben, es zu dem zu machen, was es ist. Da ist mein Forschungsassistent, David Lassoff, und mein wissenschaftlicher Berater, Dr. Jonathan Christie. Ich möchte Professor Frank Wood  vom Wake Forest University Medical Center danken, der einen Großteil der Neurologie für mich bearbeitet hat. Wenn ein paar Unstimmigkeiten geblieben sind, so trage ich die Verantwortung. Meinen Dank an Dianne Woo, die das Buch hinsichtlich der englischen Sprache und der Organisation bearbeitete, und schließlich an meine Frau France, Doktorandin und Kodirektorin des Primal Institute in Venice, Kalifornien, die sicher stellte, dass meine Auffassungen von der aktuellen Praxis der Primärtherapie mit ihren klinischen Erfahrungen übereinstimmen. Sie verbrachte Monate damit,  mich bei diesem Werk zu unterstützen. Ich bin Dr. Paul MacLean vom Nationalen Institut für Psychische Gesundheit zu Dank verpflichtet für seine Arbeit und für sein unermessliches Wissen über das Gehirn; wir alle sitzen zu seinen Füßen. Nicht nur ich schulde Dr. MacLean Dank. Wir alle im Fachgebiet erkennen an, dass ohne ihn die Gehirnforschung nicht bis zu dem Punkt vorangekommen wäre, wo wir heute stehen. Ich bin ebenso Dr. Allan Schore zu Dank verpflichtet, der das geschrieben hat, was für mich die Bibel der modernen Neuropsychologie ist. Dr. Michael Odent, Autor von The Nature of Birth and Breastfeeding und Birth Reborn, gab uns viele hilfreiche Anregungen zur Geburt. Dank an Carol Donner, die das Gehirn bildlich so dargestellt hat, dass einige meiner Begriffe leichter zu verstehen sind. Schließlich danke ich meinen Patienten, von denen ich jeden Tag mehr lerne, und meinen Angestellten, die die jahrelange Ausbildung zu einem äußerst schwierigen Beruf geduldig auf sich nehmen, weil sie um seine Bedeutung für die Rettung von Leben wissen.

 

 

 

Dr. Arthur Janov, Venice, Kalifornien

 

15, 16

 

EINLEITUNG

 

Lassen Sie mich zu Beginn erklären, worum es in der Biologie der Liebe geht und worum es nicht geht. Es geht darum, wie die Liebe der Eltern in den frühen Phasen des Lebens uns alle beeinflusst, wie sie buchstäblich das Gehirn formt und sich ein Leben lang auf uns auswirkt. Die Biologie der Liebe handelt nicht von akademischer Neurobiologie. Angesichts der aufregenden neuen Entdeckungen, die in diesem Bereich der Gehirnforschung gemacht worden sind, besteht die Notwendigkeit, unser Wissen über Neurologie und unsere Beobachtungen in der klinischen Praxis zusammenzuführen und in einer nicht-technischen Weise zu präsentieren.

 

Dieses Buch ist für Laien geschrieben, die erfahren wollen, wie Gefühle und Emotionen - die ‚Motionen’, die wir machen, wenn wir fühlen - unser Leben lenken. Auf diesen Seiten nehme ich ausgewählte Fakten aus aktueller Forschung und  setze sie in einen Bezugsrahmen, der weit auseinander liegende Ergebnisse in bindenden Zusammenhang bringt.   

 

Über das Gehirn sind viele neue Untersuchungen angestellt worden, die es uns ermöglichen, die Gebiete der Dynamischen Psychologie und der Neurologie zu verbinden. Wir können alle diese neuen Forschungsarbeiten nutzen, um zu verstehen, warum wir nicht schlafen können, warum wir Albträume haben, warum wir so getrieben sind, warum wir oft weder mit anderen auskommen können noch Beziehungen halten können, warum wir nicht lieben können, warum wir Alkohol und Drogen nehmen und wie die sich auf das Gehirn auswirken, wo der Schmerz hingeht, nachdem wir ihn erfahren, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn sie ins Unterbewusstsein gezwungen werden, wie unsere Gefühle verdrängt werden, was im Unbewussten liegt und viele weitere Aspekte derNatur des Menschen. Diese Entdeckungen sind nur dann von Bedeutung, wenn sie uns schließlich helfen, dass wir uns besser fühlen und ein annehmbares Leben führen können. Wir werden sehen, wie sich die Liebe der Mutter direkt in die Biochemie ihres Kindes übersetzt und wie diese Liebe das Gehirn zu neuer Gestalt formt. Das „geliebte“ Gehirn ist anders.

 

Wenn wir eine gute Vorstellung davon haben, wie emotionaler Schmerz das Gehirn verändert, können wir vielleicht die Behandlung für diesen Schmerz hinsichtlich neurologischer Veränderungen messen. Wo zum Beispiel entstehen Zwangsvorstellungen, und ganz zuerst, warum entstehen sie? Ich glaube, wir wissen warum, nachdem wir Dutzende von Fällen zwanghafter Rituale behandelt haben. Wie können wir emotionale Probleme wie Phobien, sexuelle Abweichungen und impulsives Verhalten lösen? Was genau ist „verrückt“? Wo im Gehirn könnten wir diese Verrücktheit finden, falls es tatsächlich einen Ort gäbe, wo sie existiert? Ich werde auch die verschiedenen aktuellen  Tranquilizer diskutieren und erörtern, wie sie funktionieren, um uns zu beruhigen. Was beruhigen sie wirklich?

Obwohl der übliche Standesdünkel – oder dessen Mangel – besagt, dass wir irgendwie niemals genug wissen, um endgültige Aussagen über die Ursachen psychischer und emotionaler Probleme zu machen, glaube ich, dass wir nun genug wissen und zu einigen Antworten gelangen können, ohne dass wir auf „Psycho-Chinesisch“ oder technischen Jargon zurückgreifen müssen. Wir werden nie genug wissen, um ein absolutes und endgültiges Urteil über irgendein Thema abgeben zu können, aber das sollte uns nicht von dem Versuch abhalten, einem Fachgebiet Sinn abzugewinnen, in dem das diagnostische Handbuch dicker ist als das Telefonbuch von Manhattan. In meiner primärtherapeutischen Arbeit habe ich das tiefe Unbewusste Tausender von Patienten ergründet. In den vergangenen dreißig Jahren habe ich unentwegt an der Überzeugung festgehalten, dass es vorgeburtliche und geburtliche Trauma-Erfahrungen gibt, die sich auf das spätere Leben auswirken. Jetzt zieht die Forschung nach. Es gibt Beweise, wo wir auch hinsehen.

 

 

16, 17

 

Wenn es für die Theorie und Psychotherapie keine wissenschaftliche Basis gibt und wenn Beobachtungen durch vorgefasste Ansichten entstellt werden, ist das Resultat ein Phänomen wie Rebirthing-Therapie, in der man Patienten anleitet, zu schreien und auf die Wände einzuschlagen, um „ihren Schmerz freizusetzen“. Das ist keinesfalls „Therapie“, und es ist schädlich. Man muss den Menschen gestatten, sich nach und nach ihren eigenen Weg durch die Gehirnebenen hinab zu erarbeiten, damit sie die tiefste Ebene des Unbewussten erreichen und mit ihr in Verbindung treten können. Um das zustande zu bringen, müssen wir wissen, was sich unten im Gehirn befindet, und innerhalb seiner Strukturen arbeiten. Ohne dieses Wissen ist jeder auf sich allein gestellt, verloren in einem Meer von Ansätzen, die keine Verankerung in der Wissenschaft haben. Eine einzige Auffassung, nämlich die Konzeption  der Einprägung, würde meiner Einschätzung nach die Praxis der gegenwärtigen Psychotherapie verändern. Deshalb werde ich einige Zeit darauf verwenden, sie zu erörtern. Wir haben zu viel Zeit darin investiert, gegenwärtige Quellen von Stress zu erforschen, um Erscheinungen wie Angst, Magenbeschwerden, hohen Blutdruck, Herzrasen, Depression usw. zu verstehen, weil wir den zentralen Bestandteil vieler Störungen ausgelassen haben – die Geschichte......den eingeprägten Schmerz.

 

 

 

Obwohl ich siebzehn Jahre lang in der Praxis psychoanalytischer Therapie tätig gewesen war, war ich erst 1967 zum ersten Mal Zeuge tiefer Gefühle und verbrachte Jahrzehnte mit dem Versuch, herauszubekommen, was dahinter steckt. Es waren Gefühle, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ja, meine früheren Patienten weinten und schluchzten , aber so gut wie nie wälzten sie sich unter Höllenqualen am Boden und schrien ihren Schmerz hinaus. Für Menschen, die nicht jeden Tag ihres Lebens unter Schmerz stehen, mag diese Vorstellung abwegig scheinen. Sie ist es nicht.

 

 

 

Als mir im Jahr 1971 Professoren in der Abteilung für Neurologie der UCLA sagten, dass die Speicherung von Geburtserinnerungen unmöglich sei, warf das meine Arbeit um Jahre zurück. Schließlich lernte ich, dass die Speicherung nicht nur möglich ist, sondern auch in hohem Maße bestimmend für unser späteres Leben. Unsere Arbeit am UCLA-Lungenlabor brachte die Forschung voran, insbesondere in Bezug auf das Geburtstrauma. Wir diskutierten die Schleusung, noch ehe die  Schleusentheorie in der aktuellen Literatur auftauchte. In meinem Buch von 1971, Die Anatomie der Neurose, erörterte ich die Rolle des Serotonins für psychische Krankheiten, bevor die Forschung nach einigen Jahre nachzog. Ich sage das nicht aus Rechthaberei, sondern um zu zeigen, dass wir neuen Ansätzen gegenüber nicht zu engstirnig sein dürfen. Es ist bequem, an unseren alten Vorstellungen festzuhalten, manchmal zu bequem; sie werden zu einem Katechismus, den wir jeden Tag herunterbeten.

 

 

 

Die Biologie der Liebe wirft einen Blick darauf, wie die ersten Wochen und Monate unseres Lebens – nicht des sozialen Lebens, sondern des vorsozialen Lebens im Mutterleib – unser Gehirn verändern; wie Gefühle und Erinnerungen ins Gehirn eingestempelt werden und wie und warum sie für den Rest unseres Lebens fortdauern. Sie befasst sich damit, warum nichts im Erwachsenenleben grundlegend ändern kann, was mit uns als Kleinkindern und sogar schon vor der Geburt geschah. Wenn uns in einer kritischen Periode ein Trauma widerfuhr  oder Liebe fehlte, kann nichts im Erwachsenenleben das ändern, weil die Änderungen, die zu jener Zeit stattfanden, dem neurobiologischen System bleibend eingeprägt wurden. Aber verlieren Sie nicht den Mut; es gibt Lösungen, die ich in diesem Buch ansprechen werde.

 

 

18, 19

 

Wir werden uns das Leben im Mutterleib anschauen und seine Auswirkungen auf uns als Erwachsene. Wir wissen zum Beispiel, dass die Praxis, der Mutter während der Schwangerschaft schwere Beruhigungsmittel zu verabreichen, das  System des Babys lahm legt. Das hat lebenslange Auswirkungen zur Folge, die von niedriger Libido bis zu passiven, phlegmatischen Charaktermerkmalen reichen. Wir wissen, dass eine Frau, die während der Schwangerschaft Beruhigungsmittel nimmt und/oder erhebliche Mengen Alkohol konsumiert, bereits den Neurotransmitter-Spiegel ihrer Leibesfrucht beeinträchtigt; das führt möglicherweise zu Ängstlichkeit oder Depression im späteren Leben des Kindes. Wenn im Gehirn der schwangeren Mutter ein Mangel an hemmenden Neurohormonen auftritt, so trifft dies auch auf ihr Baby zu. Wenn eine Mutter ihr Kind liebt, verstärken sich die Hormone der Liebe (Oxytozin, Vasopressin und Serotonin) im Baby ein Leben lang. Es wird als Erwachsener eine bessere Mutter oder Vater für seine eigenen Kinder sein. Es wird eine andere Physiologie haben als die eines Menschen, der in seiner frühen Kindheit keine Liebe erfahren hatte.......und ein anderes Gehirn.

 

Vorgeburtliche Traumen verursachen Veränderungen im Neurotransmitter-Ausstoß und in der Anzahl der Rezeptoren. Neurotransmitter sind die chemischen Vehikel, die unsere Gefühle durch das gesamte Nervensystem transportieren oder diese Gefühle abrupt zum Stillstand bringen. Eine zu große Menge an Schmerz, ein zu lange anhaltender früher Mangel an Liebe kann die Schleusen gegen das Fühlen verschließen. Einer teuflischen Dialektik folgend kann früher Schmerz die „Schleusen“ schwächen, die unser Gehirnsystem errichtet, um eben dieses Trauma zu blockieren. Das Neugeborene einer heroinsüchtigen Mutter ist im wahrsten Sinne des Wortes arm dran. Seine Endorphin-Rezeptoren sind verkleinert, um sich an die Drogensucht der Mutter anzupassen. Eine glückliche, wohlgenährte Schwangere hingegen verleiht ihrem Fetus das ausreichende Rüstzeug, um sich den potentiellen Hürden der Geburt und späterer Widerstände im Leben zu stellen. Das Baby wird reichlich mit Anti-Angst- und Anti-Schmerz-Hormonen ausgestattet, so dass es sich über Hindernisse und Widrigkeiten hinwegsetzen kann.

 

Ich untersuche auch die Auswirkungen mütterlicher oder väterlicher Liebe auf unsere Biologie, und wie fehlende Liebe von Beginn an unseren „denkenden“ Kortex und unser „fühlendes“ Limbisches System verändert. Wenn die emotionale Harmonie zwischen Mutter und Neugeborenem gering ist, entwickeln sich zum Beispiel Nervenzellen in bestimmten Gehirnstrukturen nicht richtig. Der präfrontale Kortex – die planende, denkende, logische, integrierende äußere Schicht der Gehirnzellen – wird durch fehlende Liebe am Lebensanfang geschwächt, und er wird deshalb im späteren Leben nicht im vollen Umfang funktionieren. Die Deprivation führt zu verringerter Impulskontrolle und reduziert das abstrakte Denkvermögen; ebenso beeinträchtigt sie die Koordination und mindert die Fähigkeit, im Voraus zu planen.               

 

Wenn eine Mutter oder ein Vater während der ersten Monate des Lebens dem Baby nicht mit Liebe und Wärme in die Augen schaut, es nicht liebkost, nicht mit ihm redet und keine Liebe zu ihm empfindet, dann bestimmt dieser Gefühlsmangel die Wachstumsrate der kortikalen Nervenzellen - oder Neuronen - im Gehirn des Kindes. Das Kind zu lieben bedeutet, sein Gehirn zu lieben. Unter sonst gleichen Umständen ist das geliebte Gehirn das normale.

 

Die Beschreibung von Schlüsselstrukturen des Gehirns in diesem Werk ist nicht als endgültiges Modell gedacht. In späteren Kapiteln werde ich die Rolle, die spezifische Gehirnstrukturen bei Emotionen und Gefühlen spielen, detaillierter untersuchen und ebenso, wie sie Liebe oder dessen Mangel in körperliche Symptome übersetzen.

 

Was hat Liebe damit zu tun? Mehr als wir uns vorstellen können. Liebe ist nicht einfach ein Wort, das man einem Kind gegenüber äußert, sondern ein Akt des Fühlens, der ironischerweise meistens keine Worte erfordert. Wenn wir unser Kind herzen und küssen und es innig lieben, empfängt es die Botschaft, und sein Leben wird völlig anders sein. Wenn wir es nicht tun, werden Worte nicht helfen.

 

 

 

19, 20

 

 In der Biologie der Liebe werde ich dem Leser eine neue Auffassung der Liebe anbieten, die in größerem Einklang mit Informationen über das Gehirn und mit der Psychologie steht. Wir werden sehen, wie konkret Liebe tatsächlich ist; es ist nicht einfach nur die Auffassung verschiedener Personen über ihr Wesen. Wir werden entdecken, wie Liebe letztlich bestimmt, wie wir denken, fühlen, wahrnehmen und als Erwachsene handeln. Sie entscheidet, wie lange wir leben und welchen Krankheiten wir später im Leben zum Opfer fallen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass fehlende Liebe ganz früh im Leben bereits die Grenzen unserer Lebenserwartung und unserer Glücklichkeit festsetzt. Die sekundären Abwehrmechanismen wie Rauchen, Trinken, übermäßiges Essen und Drogenkonsum, die wir gebrauchen, um  unsere frühen Entbehrungen zu verdrängen, werden schließlich zu unserem vorzeitigen Ende beitragen. In der Regel sterben wir nicht an Übergewicht. Wir sterben an dem Liebesmangel, der uns dazu bringt, zu viel zu essen. Dasselbe gilt für Rauchen und Trinken. Vor allem entscheidet frühe Liebe – als Kind geschätzt und geliebt zu werden – darüber, wie sehr wir später das Leben lieben. Fehlende Liebe lässt uns mit dem ständigen Gefühl zurück, dem Leben nicht viel abgewinnen zu können, uns nicht viel daraus zu machen, ob wir leben oder sterben, weil wir unser Leben nicht fühlen können. So viele Individuen scheinen ihrem eigenen Tod gegenüber gleichgültig, weil das Leben so wenig für sie bereit hält. Ich glaube wir wissen genug, um zu erklären, warum das so ist.

 

Ich untersuche, wie unsere Intoleranz und Unmenschlichkeit anderen und sogar unseren Kindern gegenüber mit der Gehirnfunktion verknüpft ist und wie eine Veränderung der Gehirnfunktion uns „menschlicher“ machen kann. Warum sind Drogen und Alkohol für manche Leute so wichtig? Was machen sie mit dem Gehirn, und warum tun sich manche Leute so schwer, von ihren Gewohnheiten zu lassen? Sind die Zwölf-Schritt-Programme wichtig? Nur wenn man sich nicht mit dem Ursprung des Schmerzes befasst.

 

Bereiten wir uns darauf vor, in unerforschte Gewässer hinauszusegeln und eine außergewöhnliche Reise in die Tiefen des Unterbewusstseins zu unternehmen. Sind wir dort erst einmal angelangt, werden wir herausfinden, dass es ein Ort voller Licht, Einsicht und Frieden ist. All die verborgenen Dämonen - jene schmerzvollen dem Gehirn innewohnenden Erinnerungen, die dafür verantwortlich sind, dass sich das Baby verschließen musste und dass sich der Erwachsene noch immer verschließt - werden befreit werden. Wir nennen sie Dämonen, aber es sind keine. Es sind präzise Bedürfnisse und Erinnerungen, die in das System eingeprägt worden sind und vorwärts drängen in dem beständigen Versuch, ihren Weg aus dem Unbewussten zu finden. Der kortikale Apparat, der nötig ist, damit wir mit dem Verstehen und Kontrollieren unseres Schmerzes auch nur beginnen können, entwickelt sich erst im Alter von zwei Jahren, und erst viele Jahre später werden wir die vollständige Kapazität besitzen,  um das integrieren zu können, was im Unbewussten liegt. In der Zwischenzeit werden fehlende Liebe am Lebensanfang und andere Traumen diesen kortikalen hemmenden Apparat vielleicht schädigen und das Kind hyperaktiv, manisch, ängstlich und angespannt zurücklassen. Es ist kein Zustand, aus dem wir herauswachsen. Es ist eine Verirrung.

 

Einfach gesagt können nicht geäußerte Gefühle uns „verrückt“ machen oder uns zumindest gehetzt und unwohl fühlen lassen. Diese Gefühle auszudrücken, kann uns helfen, unsere Gesundheit und Stabilität wiederzugewinnen.

 

Damit wir diese Reise unternehmen können, benötigen wir ein elementares Verständnis des Gehirns und seiner Funktionsweise.

     
TEIL I

DIE STRUKTUR DES GEHIRNS
 
KAPITEL 1


DIE STRUKTUR DES GEHIRNS

Das Gehirn spiegelt unsere evolutionäre Geschichte wider. Vom Reptiliengehirn, das den Instinkt steuert, bis zum Limbischen System, das Gefühle verarbeitet, und zum frontalen Kortex, der den Verstand und das Denken regelt, ist das Gehirn eine Karte zu unseren Ursprüngen. Dieses bemerkenswerte selbstkonstruierte Organ befindet sich seit vielen Hundertmillionen Jahren in der Entwicklung.

Gedanken liegen im intellektuellen Bereich, Gefühle im emotionalen Bereich. Wenn eine Person sagt „Ich fühle mich minderwertig“, so spricht sie von zwei Ebenen aus. Der Gedanke der Minderwertigkeit ist eine Begebenheit der obersten kortikalen Gehirnebene. Das Gefühl der Minderwertigkeit ist ein Ereignis der unteren Gehirnebene. Es ist das Limbische System, das uns das Fühlen des Gefühls anbietet. Hierin liegt der erste bedeutende Kernpunkt: Es reicht nicht, über Gefühle nachzudenken. Es ist wesentlich, sie zu empfinden, so dass wir die Fähigkeit zu fühlen erlangen. Gefühle sind unsere Menschlichkeit.

Wenn wir in unserer Kindheit nicht geliebt und bewundert werden, sondern stattdessen mit Gleichgültigkeit und Missachtung behandelt werden, können wir uns durchaus als „nicht gut genug......nicht gut genug, um geliebt zu werden“ fühlen. Das wird zu einer Einprägung.* Sie ist von Dauer. Wenn diese Art von Behandlung durch die Eltern die ganze Kindheit weitergeht, dann wird die Einprägung weggeschlossen. Das bedeutet, dass alle Ermutigung der Welt im Alter von zwanzig Jahren dieses Gefühl nicht auslöschen wird. Ermutigung – „Du bist wunderbar, weißt du“ – ist ein Gedanke; Gedanken können an Gefühlen nichts ändern. Nur Gefühle können das. Diese scheinbar simple Auffassung hat tiefgreifende Implikationen. Denn wenn wir unsere Menschlichkeit wiedergewinnen wollen, müssen wir unsere Gefühle wiedergewinnen; und das schaffen wir nicht allein auf dem Gedankenweg.  

Seite24

 

Um das Fühlen wieder zu erlangen, müssen wir all die Verletzungen voll erfahren, die es blockieren, und den Schmerz zu vollem Bewusstsein bringen. Nur dann kann ein „Gedanke“ Veränderungen bewirken, wenn er Gefühlen entspringt. Volles Bewusstsein beraubt das Unbewusste seiner Macht, das Verhalten zu steuern. Gedanken und Gefühle residieren an verschiedenen Orten im Gehirn. Wir dürfen nicht versuchen, die eine Ebene die Arbeit einer anderen Ebene machen zu lassen. Wir dürfen nicht danach trachten, Gedanken als Ersatz für Gefühle zu benutzen. Das Fühlen der Gefühle involviert bestimmte Strukturen im Gehirn, wie den Hippocampus und die Amygdala. Gedanken über diese Gefühle  werden in der obersten kortikalen Ebene verarbeitet, besonders im vorderen Gehirnteil der linken Hemisphäre. Wenn wir allein den frontalen Kortex zum Fühlen benutzen, stecken wir in Schwierigkeiten. Was wir bestenfalls erwarten können, ist ein Weinen „darüber“, ein Rückblick eines Erwachsenen auf seine Kindheit, aber nicht das Kind, das tatsächlich seine Verletzungen fühlt.

Die Kräfte, die unser Verhalten steuern, befinden sich weitgehend in drei unterschiedlichen Gehirnsystemen: (1) der Kortex, der vollständiges Bewusstsein bewirkt; (2) das Limbische System, das Fühlen steuert; und (3) der Hirnstamm, der Instinkte und Überlebensfunktionen reguliert. Einprägungen ereignen sich in verschiedenen Teilen des Gehirns; das hängt von ihrer Kraft ab und vom Zeitpunkt ihres Auftretens. Ganz frühe Entwicklungen – vor und während der Geburt – wirken sich auf das zu dieser Zeit kompetenteste Nervensystem aus – auf den Hirnstamm. Traumen in der frühen Kindheit beeinflussen den Hirnstamm und das Limbische System. Später, wenn sich der Neokortex entwickelt, sind auch Denkprozesse betroffen. Der Hirnstamm ist ein circa 7,5 cm großer Stiel, der das Gehirn mit der Wirbelsäule verbindet und sich aus drei Hauptteilen zusammensetzt: Medulla, Pons und Mittelhirn. Zu seinen weiteren Strukturen gehören das retikuläre Aktivierungssystem (Gruppen von Nervenzellen, die höhere Gehirnebenen auf Stimuli aufmerksam machen) und der Locus caeruleus (eine Ansammlung von Neuronen, oder Nervenzellen, die das Nervensystem als Reaktion auf Schmerz und manchmal auch auf Lust aktivieren). 1

Erst einmal ist das Gehirn horizontal in zwei Hemisphären geteilt, jede mit ihren eigenen speziellen Funktionen. Die rechte Hemisphäre ist größer als die linke; sie ist der Sitz der Gefühle und Emotionen und des ganzheitlichen, globalen Denkens. Gedanken, Vorstellungen und Planung sind die Domäne der linken Hemisphäre. Das rechte Gehirn ist im zweiten Lebensjahr weitgehend gereift; das  linke Gehirn beginnt zu dieser Zeit erst mit dem Reifeprozess. Gefühle gehen Gedanken voraus. Im Sinne der Evolution sind wir schon lange fühlende Geschöpfe, ehe wir denkende sind. Wenn wir zeitlich in unserem Gehirn zurückgehen wollen, müssen wir mit einem

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geeigneten Vehikel reisen. Gedanken sind der falsche Zug. Wir müssen die Zeitreise auf das Gehirn abstimmen, das zu jener Zeit mit der Einprägung beschäftigt war; so kann ein Geburtstrauma weit unterhalb der Gedanken und sogar unterhalb der Gefühle angesiedelt sein; eingraviert in den Hirnstamm, der der primitivste Aspekt unseres Nervensystems ist. Diese Einprägung kann nur in Form von Salamander-Bewegungen „erklärt“ werden, ein Winden und Drehen ohne Benutzung der Glieder. Das ist die Sprache des Hirnstamms. Wenn wir später verstehen, was wir durchgemacht haben, hilft uns das, aber wir können nicht Stufen der Evolution überspringen und Veränderung erwarten. Das ist mein zweiter gewichtiger Kernpunkt: Wir können uns nicht über die Evolution hinwegsetzen, wenn wir Probleme verstehen und behandeln wollen. Das Gehirn wird es nicht zulassen.

Der Hirnstamm spricht die Sprache des hohen Blutdrucks, des Herzjagens und der Angina; die lautlosen Killer, die sich ohne Worte ausdrücken. Er beinhaltet die Geheimnisse unserer Geburt und unseres Lebens vor der Geburt im Mutterleib. Wenn wir wissen wollen, wie unsere Geburt war, wird er es uns auf seine eigene Art sagen. Sie wird präzise und unmissverständlich sein. Seine wunderbare Beschaffenheit besteht darin, dass er nicht lügen kann und es nicht tun wird. Wenn die Erinnerung eine Herzfrequenz von 180 Schlägen pro Minute einschloss, dann gibt es im Wiedererlebnis exakt 180 Schläge pro Minute. Das ist eine Möglichkeit, wie wir Erinnerung auf ihre Richtigkeit überprüfen können.

Die Struktur, die ganz zuletzt etwas über uns selbst weiß, ist der linke frontale Kortex. Ereignisse früh im Leben können von der rechten fühlenden Hemisphäre verarbeitet werden, ohne dass sich die linke Seite dessen bewusst ist. Sie muss über Gefühle rätseln und liegt oft falsch. Deshalb kommt es zu Fehlwahrnehmungen und Fehlinterpretationen. Das Paradoxon besteht darin, dass der höchstentwickelte Teil unseres Gehirns oft am wenigsten über den Rest von uns selbst und über andere weiß. Ich werde mich bemühen zu zeigen, dass die alleinige Benutzung des frontalen Kortexes in keinem Menschen tiefgreifende Veränderungen bewirken kann. Das bedeutet, dass Einsichten in Verhalten und Symptome eine vergebliche Übung sind. Verstehen ist manchmal hilfreich, ist aber nicht die sine qua non der Persönlichkeitsentwicklung. Es ist möglich, auf kortikaler Ebene „gesund zu werden“ und dennoch weiter unten „krank“ zu bleiben. Aus diesem Grund ist Traumanalyse – Gedanken über Gefühle – keine Hilfe. Die beste Art von Traumanalyse besteht darin, das Gefühl innerhalb des Traums zu fühlen, und alle seine Symbole werden sich uns offenbaren.

Das Gehirn besteht aus drei unterschiedlichen Bereichen. Die tiefste Ebene ist als Hirnstamm oder Reptiliengehirn bekannt. Über dem Hirnstamm liegt das fühlende oder limbische Gehirn. Das Limbische System übersetzt Instinkte in Gefühle und sendet die Kombination an den frontalen Kortex, das Areal an der oberen Front des Gehirns. Der neueste Teil des Gehirns ist der Neokortex (bedeutet „neuer Kortex“), die Deckschicht des Gehirns.

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Fig. 1     An Gefühlen beteiligte Schlüsselstrukturen  

 

 

 

 

Der Hirnstamm kontrolliert automatische Grundfunktionen wie Augenreflexe, Herzschlag, Verdauung, Atmung und Erbrechen. Er beherbergt die meisten unserer Instinkte und Überlebensmechanismen. Er umfasst unsere fest verankerten Bedürfnisse. Der Hirnstamm produziert die Antriebskraft, die unseren Gefühlen Energie verleiht. Er fügt den Gefühlen den „Schwung“ hinzu. Unverfälschte Wut und Furcht können ihren Ursprung im Hirnstamm haben und sich dann zur Scharfeinstellung ins Limbische System  bewegen, oder sie finden Auslass in künstlerischem Ausdruck wie zum Beispiel in Bildern oder Geschichten, die Gewalttätigkeit beinhalten.  

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Die Medulla beinhaltet Gruppen von Nervenzellen, die sich mit der Regulierung des Herzschlags, des Blutdrucks, der Verdauung und Atmung befassen. Der Pons sitzt über der Medulla und ist über Nervenfasern mit dem Kleinhirn verbunden, einem separaten Organ, das der Rückseite des Hirnstamms anhängt. Sensorische Information von den Ohren, vom Gesicht und den Zähnen wird vom Pons weitergegeben. Über dem Pons liegt das Mittelhirn, das der kleinste Teil des Hirnstamms ist und Augenbewegungen, Pupillenerweiterung und die Koordination der Gliedmaßen-Bewegung abwickelt.

Im Idealfall bringen Hirnstamm, limbisches System und Neokortex unsere Instinkte, Gefühle und Gedanken in harmonischen Zusammenhang. Über lange Zeit jedoch sind die drei Ebenen voneinander getrennt, so dass beispielsweise unsere Gefühle in einem Blizzard von Gedanken zermalmt werden. Wir werden sehen, wie ein frühes Trauma eine Blockierung von einer Ebene zur anderen erzeugt, um zu verhindern, dass andere Ebenen von Eingaben überwältigt werden. Sehr oft produzieren das limbische System und der Hirnstamm ihre eigenen Hemmsubstanzen, um die Schmerzinformation nicht in die Hände des frontalen interpretierenden Kortexes geraten zu lassen. Das ermöglicht dem Kortex, ohne zu viel Einmischung von unten zu denken, planen und weiter seinen Geschäften nachzugehen. Manchmal jedoch sind die Einprägungen der unteren Ebenen so mächtig, dass sie durch die Schutzbarrieren brechen; und genau dann leiden wir unter Ängstlichkeit, Panik, Phobien und Zwangsvorstellungen. Genau dann können wir nicht schlafen, weil Impulse vorwärts eilen und das frontale Areal herausfordern; es stürmt dann los, um die Dämonen in Schach zu halten. Der diabolische Aspekt der Sache besteht darin, dass genau dieselben Traumen -auch jene im Mutterleib-, die einen hohen Spiegel hemmender Neurohormone erzwingen, auch diejenigen sind, die diesen Spiegel senken. Das heißt, diese Traumen sind von solcher Größe, dass sie das Verdrängungssystem lebenslang schädigen.

Die tiefer gelegenen Einprägungen versuchen ständig, das Bewusstsein über Dinge zu informieren, von denen es nichts wissen will. Die tiefere Ebene will dem Kortex erzählen, dass sie sich ungeliebt und verletzt fühlt, aber der Kortex ist zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, Liebe zu bekommen, als dass er der Botschaft Gehör schenken könnte. Er weiß nicht einmal, dass er sich ungeliebt fühlt, agiert es aber jeden Tag aus. Die zerebrale Schaltstation verweist die Botschaft der „Nichtliebe“ anderswohin; an das Herz, wo sie Herzklopfen erzeugt, an den Kopf, wo sie Migräne hervorruft, an die Blutgefäße, wo sie Bluthochdruck auslöst. Sie akzeptieren die Botschaft und übersetzen sie in ihre eigene Sprache. Wenn wir die Geheimsprache des Gehirns erlernen, können wir das Symptom in die reale Information zurückübersetzen und somit den Schmerz aus seiner Behausung in tieferen Ebenen entfernen. Es bedeutet, „den Kode zu entschlüsseln.“ Das bedeutet, die Einprägung anzuerkennen, die verschlüsselte Erinnerung, die vielleicht bis zur Geburt zurückdatiert. Deshalb ist die Konzeption  der Einprägung so entscheidend. Ohne diese Konzeption  treiben wir hilflos umher, können die Ursache vieler Dinge nicht verstehen, oder nicht einmal, 

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dass es Ursachen gibt, die in den Antipoden des Gehirns liegen. Wir sind dann gezwungen, alles in den gegenwärtigen Kontext zu stellen. Nichtsdestotrotz sind wir historische Geschöpfe, und die Wahrheit über uns selbst liegt in der Geschichte, und die Geschichte liegt im Gehirn. Sie kann in Erfahrung gebracht werden.

Der frontale Kortex und Gefühle

Der vordere Teil des Kortexes sitzt auf Höhe der Augäpfel und bildet die oberste Schicht des Gehirns. Er wird als orbitofrontaler Kortex (OBFK) bezeichnet und verarbeitet Informationen von außen zusammen mit Erinnerung und persönlicher Geschichte, um Bewusstheit herzustellen, nicht zu verwechseln mit Bewusstsein. Bewusstsein wird definiert als ein Zustand, bei dem alle drei Ebenen der Gehirnaktivität harmonisch funktionieren. Wenn es zwischen dem frontalen Kortex und tieferen Zentren angemessenen Zugang gibt, spricht man von vollem Bewusstsein. Der präfrontale Kortex, der sich hinter der Stirn befindet, und der OBFK spielen im Alter von etwa zwei Jahren zum ersten Mal eine aktive Rolle, indem sie Verstehen und Nachdenken organisieren. Weil nur wenige von uns in der nahen Zukunft Gehirnchirurgie praktizieren werden, werde ich mir die literarische Freiheit nehmen und den OBFK und präfrontalen Kortex einfach als frontalen Bereich oder frontalen Kortex erwähnen. Der OBFK ist im allgemeinen der „Stopp“-Mechanismus für die Hemmung von Impulsen. Wenn diesem Areal schwerer Schaden zugefügt wird, finden wir Ruhelosigkeit, Mangel an Hemmung, Hyperaktivität und Ablenkbarkeit. Das kann ohne einen Schlag auf den Kopf geschehen, nämlich durch Schwächung in der Entwicklungsphase , wenn ganz früh im Leben Liebe fehlt.2 Der Kortex ändert sich dramatisch, wenn es zu früher Deprivation kommt. Seinen Platz nimmt ein anderes Gehirn ein, das weniger Zellen zur Verfügung hat, um seine Arbeit zu erledigen.

Das Limbische System

Das Limbische System besteht aus mehreren Strukturen und ist im Alter von zwanzig Monaten weitgehend entwickelt. Der Hippocampus dieses Systems ist im Alter von zwei Jahren ziemlich gereift, aber neues Beweismaterial deutet darauf hin, dass intellektuelle Stimulierung im späten Erwachsenenalter neue Hippocampus-Zellen erzeugen kann. Das Gehirn kann neue Zellen hervorbringen, vielleicht für den Rest unseres Lebens.

Die Amygdalae sind ein Paar mandelförmiger Strukturen auf der inneren Oberfläche der Temporallappen, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hippocampus. 

 

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Sie agieren als eine Art Kreuzung im Gehirn. Der Forscher Joseph LeDoux schreibt: „Die Amygdala hat direkte und ausgedehnte Verbindungen mit allen sensorischen Systemen des Kortexes.......und kommuniziert auch mit dem Thalamus.....Derselbe Teil der Amygdala, in dem sensorische Eingaben zusammenlaufen, sendet Fasern tiefer ins Gehirn an den Hypothalamus, den man für den elementaren Ursprung emotionaler Reaktionen hält.“ 3 Die Amygdala scheint der Brennpunkt des Fühlens zu sein, indem sie Nachrichten erhält und via Hypothalamus an die Organsysteme sendet. Sie übermittelt auch emotionale Information – Leiden - an den Thalamus, der sie dann für den frontalen Kortex übersetzt, welcher uns unserer Gefühle bewusst macht.

Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass die Amygdalae sich lange vor dem Neokortex entwickeln, sowohl in der persönlichen Entwicklung (ontogenetisch) als auch in unserer langen Geschichte vom Tier zum Menschen (phylogenetisch). Sie sind eine der ältesten Strukturen des Gehirns, eine Region in der Nähe des Hippocampus, der auch uralt ist, aber nicht so alt wie die Amygdala. Die Amygdala ist in der Verarbeitung emotionaler Information bis zur Mitte des ersten Lebensjahres dominant. Wenn wir erfahren wollen, was das Unbewusste bereit hält, müssen wir Zugang zu dieser Struktur erlangen. Das ist machbar.

Die Amygdalae scheinen ihr eigenes Opium „anzubauen“. Sie sondern Opiate ab, die Schmerz unterdrücken und schmerzvolle Information von vollem Bewusstsein fernhalten. Ich finde es verblüffend, das dieses Stück gallertartiger Materie, das wir Gehirn nennen, sich selbst anweisen kann, ein Mohnblumen-Derivat freizusetzen, um die Wahrnehmung von Schmerz auszuschalten. Mehr noch, es erteilt sich selbst die genaue Anweisung, wie viel und wann sie es freisetzen soll und auch, wann sie damit aufhören soll. Tatsächlich ist es nicht ganz so überraschend, wenn wir betrachten, dass viele Pflanzen, die Sonne brauchen, um Energie für ihr Wachstum zu produzieren (Sauerstoff erzeugende Photosynthese), zum Verschließen tendieren, wenn sie zu sehr dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Die Auffassung von Überlastung und Verschließen ist kurz gesagt etwas, das wir ins Pflanzenleben zurückverfolgen können.4 Für einige Pflanzen wird beständiges und unvermindertes Sonnenlicht gefährlich, weil es den Umsatz der Photosynthese senkt. Ich zitiere jetzt, was zwei Pflanzenforscher sagen: „Wenn die Schutzprozesse überwältigt werden, wird Photoinhibition (meine Betonung) die Effektivität und Kapazität der Photosynthese senken.“ 5 Der Blattschaden kommt  einem Sonnenbrand gleich. Vielleicht trete ich die Sache jetzt breit: Sie fanden heraus, dass extrem intensives Sonnenlicht ein Signalsystem aktiviert, das die Regionen der Pflanze, die noch nicht dem Licht ausgesetzt sind, 

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vor drohender Gefahr warnt. Sie verschließt sich und wird wortwörtlich „das Licht nicht herein lassen“; das könnten wir auf Menschen extrapolieren. Das Schlüsselprinzip ist Überlastung und Verschließen.

 

Überlastung und Verschließen: Wie wir verdrängen

Unser Gehirn kann in der Evolution auf pflanzliches Leben zurückgreifen, um Schutzvorrichtungen aufzubauen. In dem Pflanzenparadigma können wir Anhaltspunkte finden, wie unser Gehirn arbeitet. Es gibt eine Anzahl von Studien über Nervenzellen, die zeigt, dass Zellen „ruhig“ werden, wenn das Maß an Eingaben überwältigend wird. Sie reagieren nicht mehr. Auch das demonstriert, wie Überlastung zum Verschließen oder Stillstand führt. Wenn  es in einer nuklearen Pflanze geschieht, läuten die Alarmglocken. Wenn es mit dem menschlichen System geschieht, passiert nichts. Zumindest nichts Offensichtliches. Unterdecks herrscht ständig aufgeregte Aktivität, weil sich Hormone in das System ergießen: Die Körpertemperatur steigt an, weiße Zellen huschen hin und her, und Hirnzellen rekrutieren Helferzellen im Dienste der Verdrängung. Leider ist der Alarm lautlos, und es ist auch keiner da, der ihn hören könnte. Der Alarm schrillt und brüllt, doch wir sind taub. Die Eingeweide schreien auf, während wir mit einem glückseligen Lächeln herumlaufen, als sei alles in Ordnung mit der Welt, oder wir sind so in unsere Geschäfte vertieft, dass wir die Katastrophe ignorieren, die gerade vorbereitet wird. Diese Katastophe kann das Ende unseres Lebens bedeuten.

 

 Der Hippocampus

Hinter den Amygdalae bildet der Hippocampus die Spitze des Widderhorns; das Wort bedeutet „Seepferdchen“, dem diese Struktur ähnelt. Er ist eine sehr alte Struktur des Gehirns und offenbar für das „deklarative Gedächtnis“ verantwortlich, für den Kontext und die Umstände eines Ereignisses, im Gegensatz zu seinem emotionalen Inhalt, welcher zum Kompetenzbereich der Amygdala gehört.

Der Hypothalamus liegt an der Anschlussstelle zur Widderhorn-Form des Limbischen Systems und hat etwa die Größe einer Kirsche. Er befindet sich hinter den Augen und unterhalb des Thalamus und ist mit anderen Gebieten des Nervensystems verbunden. Der Hypothalamus reguliert die Hormonproduktion und stimuliert das

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Immunsystem über die Hirnanhangdrüse, die genau unter ihm sitzt. Er hilft auch bei der Regulierung vitaler Körperfunktionen, einschließlich Blutdruck, Herzschlag und Körpertemperatur. Der Hypothalamus steuert sowohl das parasympathische als auch das sympathische Nervensystem, die das autonome Nervensystem bilden. Das autonome Nervensystem kontrolliert die Funktion der inneren Organe. Wir werden sehen, wie wichtig dieses System ist.

Wir haben einen flüchtigen Blick auf einige Schlüsselstrukturen des Gehirns geworfen, die am Gefühlsprozess beteiligt sind. Im nächsten Kapitel werden wir untersuchen, wie diese Strukturen interagieren und einander Botschaften zusenden und wie Informationen in neuralen Highways, die als „Bahnen“ bekannt sind, verstärkt oder blockiert werden. Wir werden sehen, wie das Unbewusste zum “Unbewussten“ wird. Wir werden entdecken, was mit unseren Gefühlen geschieht, wenn wir keinen Zugang zu unseren höheren Zentren haben, wo die Bewusstheit liegt. In Kapitel 7 werde ich zwei neue Begriffe einführen: die Einprägung und die kritischen Perioden.  Wir werden herausfinden, wie Ereignisse außerhalb unserer selbst – ein Blick, ein finsterer Gesichtsausdruck oder ein harsches Wort – ein Leben lang  in unser Gehirn eingeprägt werden. Und wir werden entdecken, dass es entscheidende Zeiten gibt, in denen Einwirkung von außen den größten Einfluss auf uns hat und somit die Entwicklung des Gehirns ändern kann.

Es gibt Perioden vor der Geburt und gleich danach, in denen sich das Gehirn mit unglaublich hoher Geschwindigkeit entwickelt. Diese Perioden umfassen die Zeit, in der Nervenzellen des Gehirns – Neuronen – ihre Verknüpfungen zu anderen Neuronen entwickeln, um Nervenbahnen zu formen. Ein schweres Trauma während dieser Perioden - eine ängstliche oder deprimierte Mutter oder eine Mutter, die viel trinkt oder raucht, - kann dazu führen, dass das Gehirn permanent abweicht.

Boten des Gehirns

Das Nervensystem als Ganzes besteht aus Milliarden von Neuronen, die untereinander in Verbindung stehen. Diese Nervenzellen erhalten Signale - oder Informationen - von den Sinnesorganen des Körpers und übermitteln sie an das zentrale Nervensystem. Jedes Neuron besteht aus einem Zellkörper und Verzweigungen, die man Dendriten nennt. Signale reisen zwischen den Neuronen über leitende Fasern, Axone genannt, die sich am Ende verzweigen und Axon-Terminale bilden. Der Spalt zwischen einem Axonterminal und der empfangenden Nervenzelle wird als Synapse bezeichnet. Signale überqueren diesen Spalt mit Hilfe von chemischen Substanzen, die man Neurotransmitter nennt. Die Anzahl der Synapsen 

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ändert sich durch frühe Traumen und schafft dadurch eine andere Art von Gehirn. Wenn wir nicht von früh an geliebt werden (und was ich diskutiere, das findet immer ganz früh im Leben statt, vor der Geburt und in den ersten achtzehn Monaten nach der Geburt), haben wir in gewissem Sinne „nicht alle unsere Tassen im Schrank“, um den Lebenskampf antreten zu können. Diese „Tassen“ sind unter anderem die synaptischen Anschlussstellen. Dort werden die chemischen Boten abgeladen, die Information entweder zurückhalten oder ihre Kommunikationsfähigkeit verbessern, besonders in Richtung höhere Ebenen, die aus all dem einen Sinn machen könnten.Beruhigungsmittel wirken in diesen Spalten meistens dahingehend, dass sie die Nachricht verhindern - eine sehr alte....“niemand kümmert sich um mich.“ Das Gehirn, das Limbische System und der Hirnstamm sind mit Nachrichten wie dieser beladen.

Die spinnenartigen Zweige, die von einer Nervenzelle zu anderen Neuronen führen, werden Dendriten genannt; sie liefern Informationen zu anderen Nervenzellen. Wenn Liebe fehlt, leiden die Dendriten. Es gibt weniger Verzweigungen, und das Resultat ist ein anderes – und permanent anderes – Gehirn. Die Anzahl der Stresshormon (Kortikosteroid-) – Rezeptoren hat sich auch verringert, so dass es wahrscheinlich mehr frei fließende Stresshormone im Gehirn gibt.6 Was besonders in den limbischen Gefühlszentren übrig bleibt, ist ein toxisches Gehirnmilieu mit weniger Synapsen, die Information von einer Region zur anderen befördern könnten. Das mag erklären, warum ein Mensch anderen nicht sympathisch und für deren Schmerz nicht empfindsam ist; weil er nämlich sich selbst gegenüber unempfindsam ist. Seine Gefühlszentren sind geschwächt.

Viele verschiedene Substanzen erfüllen die Funktion dieser Boten. Sie helfen dabei, Informationen einer tieferen Ebene zu höheren Arealen zu befördern. Serotonin, zum Beispiel,  unterstützt die Hemmung von Schmerz und hat auch mit Sattheit zu tun - ein ganz positiver Aspekt. Ich werde mich jedoch auf seine repressiven Komponenten konzentrieren, weil es im Grunde ein hemmender Neurotransmitter ist.

Acetylcholin befördert Informationen zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark. Norepinephrin kontrolliert Herzfrequenz und Stressreaktion. Es steht mit Belohnung in Zusammenhang. Dopamin hilft bei der Koordination von Körperbewegungen und dabei, uns und unseren Kortex zu stimulieren, damit wir wachsam werden, und es wird  mit Zielstrebigkeit in Verbindung gebracht. Zu viel Dopamin kann jedoch den Kortex überstimulieren und uns buchstäblich „verrückt machen“. Die Endorphine spielen eine Hauptrolle in der Kontrolle unserer Empfindlichkeit für Schmerz. Diese Neurotransmitter werden in späteren Kapiteln ausführlicher diskutiert, aber für den Augenblick müssen wir uns bewusst sein - und die meisten von uns sind es bereits -, dass das Gehirn seine eigenen Schmerztöter produziert. Gelegentlich werde ich mich auf bestimmte Transmitter konzentrieren, insofern sie sich auf emotionale Verstimmungen beziehen; ich denke aber immer daran, dass diese chemischen Substanzen einen weitgefächerten Funktionsbereich haben. 

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Wir dürfen nicht vergessen, dass hinter all den „Gefühlszuständen“, die in der psychiatrischen Literatur erörtert werden, ein Gehirn steckt, eines, aus dem Angst und Depression aussickern. Wir wollen herausfinden, wo dieses Phänomen stattfindet und warum. Was ist verantwortlich dafür, dass es geschieht? Sollen wir schmerzvolle Information auf ihrem Weg zu vollständigem Bewusstsein automatisch unterdrücken? Wenn sich der Mensch mit Beruhigungsmitteln besser fühlt,- können wir das als Heilung betrachten? Reicht das? Oder muss man für die Verdrängung einen Preis zahlen?

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Quellenverweise und Anmerkungen

*  Anm. d. Übers.: „Imprint“: Prägung/Einprägung. In der Psychologie/Verhaltensforschung existierte der deutsche Begriff „Prägung“ vor dem englischen „Imprint.“ Da aber der Begriff „Prägung“ meiner Ansicht nach zu schwach ist, um ein früh eingraviertes Trauma angemessen zu beschreiben, übersetze ich „imprint“ überwiegend mit „Einprägung.“

N. 1         Der locus caeruleus erzeugt Norepinephrin – Aktivierung. NE moduliert den Kortex als Reaktion auf Stress oder Lust, aber ich werde mich auf Stress konzentrieren.                Siehe: N.                    Singewald  und A. Philippu, „Neuroanatomy of the Pain System and of the Pathways that Modulate Pain,“ Progress in Neurobiology 56, no. 2 (Oktober 1998): 237-67.

N. 2         Siehe K. H. Pribram und D. Mcguinness, „ Arousal, Activation, and Effort: Separate Neural Systems,“ Psychological Review 82, no. 2 (März 1975): 116-49.

N. 3         Joseph LeDoux, The Emotional Brain (New York: Simon & Schuster, 1996), s. 163.

N. 4         C. H. Foyer und Graham Noctor, “Leaves in the Dark Sea the Light,” Science 284, no. 5414 (23. April 1999): 599

N. 5         Ibid.

N.6          A. Barzanges et al.,  « Maternal Glucocorticoid Secretion Mediates Long-Term Effects of Prenatal Stress,” Journal of Neuroscience 16 (15. Juni 1996): 3943-49

 

KAPITEL 2

DER FRONTALE KORTEX  

Das Gehirn des denkenden Menschen

Der orbitofrontale Kortex (OBFK) liegt hinter den Augäpfeln in der obersten Schicht des Gehirns und kombiniert Informationen von außen mit Erinnerung und persönlicher Geschichte, um bewusstes Verhalten zu erzeugen. Zusammen mit dem präfrontalen Kortex, der sich hinter der Stirn befindet, beginnt der OBFK etwa im Alter von zwei Jahren zu funktionieren und entwickelt sich weiter bis zum Alter von ungefähr zwanzig Jahren.

Es reicht hier, wenn man weiß, dass sich dieses vordere Areal der obersten Gehirnschicht mit Gedanken, Ideen, Planung, Überzeugungen, Philosophien, Logik, Vernunft, Verstehen, Voraussicht und Einsicht befasst, und all das zustande bringt, indem es Informationen von innen mit Eingaben von außen vereint. Es integriert auch Gefühle der unteren Ebene ins volle Bewusstsein und verleiht unseren Gefühlen Bedeutung; damit hilft es uns, mit der Außenwelt umzugehen. Es beinhaltet Ehrgeiz, abstraktes Denken und ausgeklügelte Konzeptionen. Es hat mit Ehrgeiz zu tun, weil es Ziele für die Zukunft setzen und Pläne schmieden kann, wie sie zu erreichen sind.

Das Problem besteht darin, dass diese Konzeptionen manchmal allein im frontalen Bereich existieren ohne solide Verbindung zu den subkortikalen Strukturen des Gehirns. Das erklärt, warum wir schlau sein können, aber nicht intelligent. Durch die Abkoppelung von tieferen Zentren können wir falsch wahrnehmen und falsch urteilen.

Das Wachstum des frontalen Kortexes erreicht zwischen achtzehn Monaten und zwei Jahren eine vorläufige Reife. Weil er in wechselseitiger Beziehung zum retikulären Aktivierungssystem steht, 

 

 

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muss er angemessen funktionieren, um die Weck- und Alarmfunktion modulieren zu können. Wenn ernsthafte Widrigkeiten vor, während und nach der Geburt eintreten, schwächt das den frontalen Kortex; das Schleusensystem wird beeinträchtigt, und das bedingt unzulängliche Impulskontrolle und/oder lebenslange Spannung und Ängstlichkeit. Das Kind/der Erwachsene hat keine starke Anti-Schmerz-, Anti-Angstfunktion mehr.

Ereignisse in unserem Umfeld bestimmen die Tiefe kortikalen Wachstums; das wiederum legt fest, wie wir Dinge wahrnehmen, wie wir denken und planen. Ein hohes Maß an Stress oder Vernachlässigung in den ersten zwei Lebensjahren hat zweifellos dauerhafte Folgen für die Gehirnentwicklung. Es kann auch eine Rolle bei der übermäßigen Straffung der kortikalen Neuronen spielen, die dem Kind weniger Gehirnkapazität für den Umgang mit zukünftigem Stress belässt.  Neuronen scheinen dorthin zu gehen, wo sie benötigt werden; sie verkümmern oder schwinden, wenn und wo sie nicht gebraucht werden. Im Umgang mit frühen Traumen werden neue Nervenbahnen konstruiert und andere eliminiert. Im Gegensatz dazu kann es sehr wohl zu einem Defizit in der Entwicklung von Synapsen kommen, wenn es im ersten bis zweiten Jahr nicht genügend Stimulierung oder emotionale Interaktion zwischen Eltern und Kind gibt.

Ein Trauma kann die Sekretion von Dopamin stören, eine aktivierende neurochemische Substanz, die oft als  „Wohlfühlchemikalie“ bezeichnet wird und die für die Entwicklung unserer frontokortikalen Nervenzellen notwendig ist. (Hohe Dopaminwerte neigen dazu, Euphorie zu erzeugen.) Wie wir sehen werden, ändert vor allem fehlende Liebe am Lebensanfang - und das ist immer ein Trauma - die inhibitorischen Neurohormon-Systeme, so dass die Verdrängung lebenslang an Wirkung einbüßt. Es ist kein Wunder, dass Angst, die ihre Wurzeln im Mutterleib haben kann, für die konventionelle Psychotherapie so schwer zu behandeln ist.

Ein richtig funktionierender Kortex arbeitet mit dem retikulären Aktivierungssystem zusammen, um die Weck- und Alarmfunktion zu regulieren. Ohne ihn kann man nicht zur Ruhe kommen, und das Ergebnis kann ein chronischer Hyper-Zustand - oder noch schlimmer - eine Angstattacke sein. Die Forschung zeigt, dass frühe Ereignisse unsere Gehirne buchstäblich formen. Ein geliebtes Kind hat wortwörtlich ein anderes Gehirn als ein ungeliebtes. Die Arbeit von Jean Lauder sammelt Indizen, die beweisen, wie Widrigkeiten im Mutterleib die Struktur der langen Axone verändern, die Informationen an andere Nervenzellen weitergeben. Manchmal kommt es zu übermäßiger Straffung, weil sich das Gehirn mit übermäßigem Schmerz befassen muss und Gehirnzellen für Verdrängung benutzt anstatt für den Umgang mit der Wirklichkeit der Außenwelt. Liebe erzeugt eine große Menge an Serotonin 

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und anderen verdrängenden Gehirnhormonen, die bei der Unterdrückung zukünftigen Schmerzes helfen. Sie baut auch einen starken präfrontalen Kortex auf, so dass Eingaben von innen und außen besser integriert werden können.  Deshalb ist ein geliebtes Kind ein kluges Kind.

Hier sei nur gesagt, dass die Mutter oder Bezugsperson eines kleinen Kindes sein übriges Nervensystems konstituiert. Sie füllt die Leerräume auf. Das Kind kann weinen oder schreien, aber es kann sich nicht selbst trösten und somit nicht beruhigen; dafür braucht es die Liebe der Eltern. Durch liebevolle Fürsorge wird es die Fähigkeit entwickeln, später normale liebevolle Reaktionen zu zeigen. Ohne diese Fürsorge wird es zu einem gestörten Erwachsenen, der für immer unfähig ist, sich in sich selbst zu Hause zu fühlen. Wie könnte es anders sein, wenn doch Menschen, die unter Schmerz stehen, ein anderes Gehirn haben?

Der frühe Schmerz wird zu einem reverbierenden oder zurückschwingenden Schaltkreis.1 Was Schore vorgeschlagen hat, ist eine mögliche neuronale Schleife für dieses Reverbieren. Überzogene Reaktionen lodern auf angesichts des allerbanalsten Ereignisses. Eine Frau, die als Kind nie nach ihren Meinungen oder Gefühlen gefragt wurde, wird bei der leisesten Andeutung von Respektlosigkeit überreagieren, zum Beispiel wenn  eine Verkäuferin sie beim Vornamen nennt oder ihr Kind ihr widerspricht. Diese unangemessenen Reaktionen erhielten einst das Prädikat „Neurose“. Es ist ein Begriff, den wir benutzen können, aber „Schmerz“ tut es ebenso.

Eine Einprägung hat eine lange Lebensspanne und wandert endlos von subkortikalen Zentren des Hirnstamms zu kortikalen Orten und zurück. Sie formt den Hintergrund, vor dem sich gegenwärtiges Verhalten bildet. Im oben genannten Fall wird der fehlende Respekt seitens der Eltern im Limbischen System deponiert, das dann jeder Situation Bedeutung verleiht, in der Respektlosigkeit vorkommt.

Je katastrophaler das frühe Trauma ist, je länger die frühe emotionale Deprivation andauert, umso katastrophaler ist die spätere Krankheit, sei es psychisch oder physisch. Diese Einprägungen wirken sich nachteilig auf die kortikale Entwicklung aus; das bedeutet möglicherweise lebenslange Angst. Wenn genug Stresshormone in konstanter Wechselwirkung mit dem übrigen Hormonsystem stehen, kann es schließlich zu ernster Krankheit kommen. Eingestempelte Erinnerung verleiht Verhalten wie Aggression, Depression, Paranoia, Eifersucht, Albträumen, Trinken und Drogensucht beständige Dynamik. Wir können von der Zeit „wissen“, als unser Vater unsere Mutter verließ, aber wir müssen von diesem Ereignis auch „wissen“, indem wir uns mit den Gefühlen in Verbindung setzen, die in unserem Unbewussten unterhalb des Kortexes liegen. Dann werden wir voll bewusst; darin liegt die Agonie begründet. Sich einer Sache nur intellektuell bewusst zu sein, bedeutet nicht unbedingt Agonie. Sich ihrer voll bewusst zu sein, bedeutet sehr wohl Agonie (vorausgesetzt, diese frühen schmerzvollen Ereignisse existierten). Es ist kein Mysterium, 

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warum ein Urschmerz-Trauma später im Leben zu katastrophaler Krankheit führt. Jene frühen Traumen führen zu sehr hohen Messwerten vitaler Körperfunktionen. Diese Kraft bleibt im System und schafft Verwüstung, die schließlich zu ernsthaften Leiden führt. Diese Kraft erfordert eine gleichwertige und entgegengesetzte Verdrängungskraft, so dass das System eine Vielzahl hemmender biochemischer Substanzen in den Dienst beordern muss. Diese tiefe Verdrängung (und es ist nahezu unmöglich, die Stärke dieses Druckes mit Worten zu vermitteln) übt großen Druck auf die Zellen aus, die schließlich zerfallen oder vom Normalzustand abweichen.

Der frontale Kortex kann uns entweder mobilisieren oder bremsen (Regulierung nach oben oder unten). Frühe Traumen und fehlende Liebe schwächen die Fähigkeit, langsamer zu werden und bedingen ein hyperaktives und schwer zu kontrollierendes Kind. Überflutet von Impulsen, die von all dem frühen Schmerz stammen, den es erlitten hat, besitzt es nicht die kortikale Ausstattung, um Schmerz zu unterdrücken. Es wird dann diszipliniert, weil es ihm an Disziplin fehlt. Das Kind braucht genau deshalb Disziplin von außen, weil es seine innere verloren hat. Darüber hinaus beschleunigt sich sein Herzschlag aufgrund der Einprägung und aufgrund seiner mangelhaften Kontrollfähigkeit, und schließlich kann es Jahrzehnte später eine Herzattacke erleiden.

Im Alter von zwei Jahren befindet sich dieses Kind bereits auf dem Weg zu Herzproblemen, die mit fünfzig auftreten. Er wird zu dieser Sorte von Erwachsenen, die sich immer in Bewegung halten müssen, die keinen Urlaub machen und nicht ausspannen können. Es fehlt ihm die kortikale Fähigkeit, seinen Stoffwechsel zu verlangsamen – „die Abkoppelung der Erregung“, von der Schore spricht; das führt zu Geschwüren oder zu ulzerativer Kolitis. Auch die Funktionen der Eingeweide können beeinträchtigt werden, da sie ebenso unter Stress stehen. Dieser Personentyp kann reizbar und leicht aufzubringen sein. Manchmal kann dieser Mensch sich fühlen wie: „Ich möchte aus meiner Haut fahren.“ Er will die Dinge jetzt erledigt haben! Der frontale Kortex ist ein Kraftwerk selbstproduzierter Analgetika – hemmender, schmerztötender chemischer Substanzen. Stimulation dieses Areals hebt den Spiegel abgesonderter Endorphine an. Auf diese Weise legen Vorstellungen und Gedanken den Schmerz still. Das Geheimnis besteht darin, den Kortex nicht zu früh überzustimulieren.

Der orbitofrontale Kortex (wann immer ich eine Struktur auf globale Weise anspreche, ist unbedingt zu beachten, dass nur Teilbereiche involviert sind) sendet direkte Botschaften an den Hypothalamus, der dann Strukturen des Hirnstamms wie zum Beispiel die Medulla und ebenso limbische Stellen aktivieren kann. Er sendet anregende Katecholamine (Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin) zur Amygdala des Limbischen Systems, wogegen er hemmende (cholinerge)  Sekrete an den Hirnstamm schickt.  

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Er sendet hemmende Information auf biochemischen Routen an die Amygdala und an den Hirnstamm, weil der Input von Schmerz es erfordert. Schmerz erzeugt automatisch und dialektisch seinen Unterdrücker, um einen neuen Zustand herzustellen – einen verdrängenden oder partiell fühlenden Organismus. In all seiner Weisheit sagt das Gehirn: „Ich werde dich jeweils nur ein wenig fühlen lassen.“ Das Gefühl kann sein: „Ohne die Liebe meiner Mutter kann ich nicht überleben.“

 

Wie ein zorniger Blick zu einer chemischen Substanz in unserem Gehirn wird

Wie wird das böse Wort eines Vaters zu einer chemischen Substanz im Gehirn des Kindes? Die zornigen Worte zeigen mögliche Gefahr und Zurückweisung an. Es gibt Hinweise im Tonfall der Stimme, im Blick und in den Worten selbst. Nun geschieht im Kind Folgendes: Die Achse Hypothalamus-Frontaler Kortex ist damit beschäftigt, Nachrichten, die zur Wachsamkeit auffordern, an alle anderen Systeme zu versenden. Diese Nachricht wird per chemischer Kurier geschickt. Es ist die der Nachricht innewohnende Bedeutung, welche die chemische Transformation im Gehirn des Kindes in Gang setzt. Der Hypothalamus löst dann die Freisetzung von Katecholaminen im endokrinen System aus, die den Herzschlag und den Blutfluss beschleunigen. Grundsätzlich verläuft der Prozess vom wahrnehmenden frontalen Kortex und anderen Aspekten des Kortexes (Hören, Sehen, etc.) über den Hypothalamus zur Hirnanhangdrüse und dann zu Neuronen des sympathischen Nervensystems, welche die Kampf-oder-Flucht-Reaktion auf Gefahr organisieren.

Dieser Prozess kann auch für den angestiegenen Serotonin-Ausstoß verantwortlich sein, der die Flut der Gefühle zurückhalten soll. Wenn die Traumen schwer sind und früh genug stattfanden, können diese Veränderungen fortbestehen, weil sich die Sollwerte verändert haben. Terror des Vaters kann zu einem permanenten Anstieg der Stresshormon-Spiegel führen. Die Frontalzone  interagiert mit der Medulla im Hirnstamm, um auf Herz- und Lungenfunktion einzuwirken. Umgekehrt hält der Hirnstamm den Tonus und die Spannkraft des frontalen Kortexes aufrecht und stellt ihn ständig darauf ein, auf Gefühle zu reagieren. Wenn der Hirnstamm aufgrund eines frühen Traumas, besonders eines Geburtstraumas, in einem hyperaktiven Zustand ist, können die Areale des Frontalhirns, Limbischen Systems und Hirnstamms überreagieren. „Hysterie“ ist das Etikett, das wir dem resultierenden Verhalten verpassen. „Worüber regst du dich so auf?“ „Weiß nicht.“ Nun wissen wir, woher die Überreaktion kommt.

Der frontale Kortex ist unser ganzes Leben hindurch der veränderbarste Bereich des Gehirns. 

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Wenn wir vom Zugang zu unserem inneren fühlenden Selbst abgeschnitten werden, so werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach beeinflussbarer für Vorstellungen von außen, auch über uns selbst. Anstatt mit Zentren des tieferen Gehirns Verbindung zu halten und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, hört der Kortex auf die Gehirnzentren anderer und folgt ihrem Beispiel. Die Gedanken anderer Leute können dominieren.

Wenn die Handlungen der Eltern im Umgang mit dem Baby Wärme ausdrücken, wird das Gehirn des Babys von Opiaten durchströmt, und das Ergebnis ist ein Gefühl der Behaglichkeit. Ich habe vieler meiner Patienten ausrufen hören: „Zeig mir, dass du mich willst, Mama!“ In der Tierforschung vermehrt die liebevolle Betreuung von Versuchstieren gleich nach der Geburt die Anti-Angst–Chemikalien wie zum Beispiel Serotonin. Dieses erhöhte Niveau ist von Dauer, so dass es auch später im Leben noch einen passenden Mechanismus gibt, um mit Unglück oder Stress umzugehen.

Wenn ein Vater sein kleines Kind niemals berührt, wenn er ungeduldig und zornig ist und von einem Zweijährigen Gehorsam verlangt, wird es an kortikalen Neuronen fehlen......für eine sehr lange Zeit. Umarmungen und Küsse während dieser kritischen Perioden bewirken, dass diese Neuronen wachsen und sich angemessen mit anderen Neuronen verknüpfen. Sie können dieses Gehirn zur Reife küssen.

Ein Vater, der niemals Freude zeigt, wenn er das Baby sieht, niemals freundlich auf sein Schreien reagiert, formt ein neues Gehirn in seinem Nachwuchs. Jede Handlung der Eltern kann ausstrahlen, dass sie unglücklich mit dem Kind sind, das nichts anderes getan hat als geboren zu werden und sich in ihr Leben einzumischen. Jetzt ist bereits alles vorbereitet für Unglück und Depression später im Leben. Es steht nun in einem lebenslangen Kampf, den Vater dazu zu bringen, dass er mit ihm glücklich ist – ein fruchtloses Unterfangen. Es ist eine Empfindung des Ungewolltseins, die das Baby fühlen kann, lange bevor es die begrifflichen Vorstellungen von ungewollt und ungeliebt versteht. Und was kann das Baby tun? Nichts. Sein Gehirn wird in Alarmbereitschaft sein. Wenn auch seine Mutter kalt und lieblos ist, kann es sich später als Frau dann Frauen zuwenden, um Liebe zu bekommen. Oder, noch wahrscheinlicher, die Frau kann sich an Männer wenden, die ihr gegenüber leidenschaftslos sind, so dass sie darum kämpfen kann, dass diese sie lieben. Wer kann mit so einem Gefühl leben, total von Leuten abhängig zu sein, die einen nicht mögen? Und aufgrund des frühen Traumas und seiner Auswirkungen auf den frontalen Bereich kann die Person sich selbst und ihre Bedürfnisse nicht kontrollieren. Sie wird sie umgehend ausagieren.

Alles ändert sich jedoch im Erwachsenenleben, weil das Kind jetzt für die Eltern sorgen kann; es kann sich um sie kümmern, kann ihnen Aufmerksamkeit schenken, ihre Plätze einnehmen und, kurz gesagt, es braucht kein kleines Kind mehr sein. Und warum macht das Kind das? Weil sich das Bedürfnis nie gewandelt hat und das Kind sich noch immer erwünscht fühlen muss. 

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Nun ist es nicht nur erwünscht, sondern wird von den ältlichen Eltern tatsächlich gebraucht; ein vollständiger Rollentausch und das, was die depravierten Eltern die ganze Zeit brauchten.  Wie hätte sich die Mutter um das Kind kümmern können, wo sie doch selbst das bedürftige Kind war?

Der frontale Kortex nimmt 30 Prozent der kortikalen Gesamtmasse ein. Wenn ein Defizit im Kortex auftritt, können Impulse reagieren. Wenn ein Ehemann seine schwangere Frau verlässt, weil er keine Kinder will, wird sie wahrscheinlich deprimiert oder ängstlich sein. Damit konfrontiert, ein Kind alleine aufziehen zu müssen, sondert die Mutter mehr Stresshormone ab. Dieses veränderte chemisch-hormonelle Gleichgewicht wirkt sich letzten Endes auf das System des Fetuses aus und kann zu einer Früh- oder Fehlgeburt führen. Natürlich wird eine Mutter, die wegen ihrer eigenen miserablen Kindheit chronisch ängstlich ist, auch ohne ein aktuelles auslösendes Ereignis hohe Stresswerte aufweisen.

Eine hyperaktive Mutter, die sich wegen der Ereignisse, die ihr vielleicht in den ersten Monaten oder Jahren ihres eigenen Lebens widerfahren waren, nicht entspannen kann und ihr Kind nicht beruhigen kann, schwächt den frontalen Kortex ihres Kindes; nicht durch vorsätzliche Handlungen, sondern weil sie so ist, wie sie ist. Können Sie ihr sagen, das Baby sanft zu halten? Ja, aber Sie können ihr nicht sagen, das Baby mit Liebe zu halten; denn die teilt sich auf natürlichem Wege mit. Wenn die Mutter ihrem Baby niemals sagen würde „Ich liebe dich“, aber ihr Kind ständig bewundern, herzen und küssen würde, so würde dieses Kind mit dem Gefühl aufwachsen, dass es geliebt wird.

Die Anzahl synaptischer Anschluss-Stellen nimmt kontinuierlich  bis zum Alter von zwei Jahren zu, wo sie einen Höhepunkt erreicht. Dann schwinden die Verbindungsstellen, die nicht mehr benötigt werden, in einem Darwinschen Überlebensprozess, der als Straffung bekannt ist, und belassen uns die Menge, die wir benutzen und brauchen. Schweres Trauma stört den synaptischen Wachstumsprozess, was sich letztendlich in verminderter Denkfähigkeit widerspiegelt – eine Lücke im Intellekt. Wir finden dann vielleicht Unbeholfenheit vor, Mangel an Koordination, schlechtes räumliches Vorstellungsvermögen und einen ganzen Haufen an Problemen, deren Vermeidung von einem gut funktionierende Kortex abhängig ist.

Die gesamte aktuelle Forschung weist darauf hin, dass frühe elterliche Fürsorge einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Kinder, die von Anfang an ohne Herzlichkeit und Berührung aufgezogen wurden, wiesen einen abnorm hohen Stresshormon-Spiegel auf. Eine Studie an rumänischen Waisenkindern erbrachte dieses Resultat. Diese Hormone können das Wachstum und die Entwicklung des Gehirns schwächen. Beim Treffen der Gesellschaft für Neurowissenschaften in New Orleans (1997)  bemerkte Michael Meaney vom Douglas Hospital Research Center in Montreal, dass die Gegenwart der Mütter dafür garantiert, dass die Stresshormone in ihrem Nachwuchs auf niedrigem Niveau bleiben. Jede Art von Berührung, 

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einschließlich sanftes Bürsten, konnte bei Tieren das hohe Stressniveau rückgängig machen, das durch frühe mütterliche Deprivation verursacht worden war. Es braucht nicht viel Berührung, um ein Kind zu beruhigen. Diejenigen meiner Patienten, die unter mangelndem Körperkontakt zu leiden hatten, erleben den Moment wieder, als ihr Vater ihnen freundlich die Hand auf die Schulter legte. Welch ein wundervoller Augenblick das für sie war!

„Haben Sie Ihr Kind (oder Ihren Hund) heute schon geherzt?“, fragt der Autoaufkleber. Umarmung wirkt nicht nur wie 25 Milligramm Prozac (Serotonin), sondern Umarmung gleicht im wahrsten Sinne des Wortes physiologisch einer bestimmten Milligramm-Menge an Prozac im Körper des Babys. Wir ermutigen unsere isolierten, zurückgezogenen Patienten, sich ein Haustier zu beschaffen. Es ist ein erster Schritt dahin, Zuneigung zu geben und zu bekommen. Sie müssen etwas oder jemanden umarmen. Ein Hund wird sie dafür ablecken. Er kann nicht „Ich liebe dich“ sagen, aber er wird es zeigen.

Berührung und Zärtlichkeit sind von ganz früh an entscheidend. Berührung erzeugt Vorstufen oder Bausteine unserer eingebauten Beruhigungsmittel wie Serotonin.2 Auf diese Weise macht es uns stark gegenüber späteren Nöten. Eine Wirkung fehlenden Körperkontakts am Lebensanfang besteht darin, dass es uns anfälliger für Angst macht, indem es das Verdrängungssystem schwächt, das Furcht zurückhält, die tief im zentralen Nervensystem an einem Ort gespeichert wird, wo Hirnstamm-Terror organisiert wird: im Locus caeruleus. Eine Studie von Smythe und anderen fand Langzeiteffekte in der Entwicklung und Vermehrung von Serotonin-Vorstufen bei Tieren, die sehr früh im Leben liebevoll betreut worden waren. Das war nicht der Fall bei erwachsenen Tieren, die außerhalb der kritischen Periode betreut wurden.3

Die Langzeit-Wirkungen von frühem Stress auf die spätere Entwicklung hat der Pharmakologe David Peters4 genau dokumentiert. In Tierexperimenten mit Föten beeinträchtigte eine gestresste Mutter den Serotonin-Ausstoß des Nachwuchses. Peters fand heraus, dass Stress die spätere Entwicklung von Schlüssel-Neuronen des Hemmungsapparats schwächte und die synaptischen Kontaktstellen störte. Das ist ein wichtiger Beweis dafür, dass der Zustand der austragenden Mutter das Kind für den Rest seines Lebens beeinflussen kann.5 Die Arbeit von M.J. Meaney gibt Aufschluss darüber, wie sehr früh eintretende Umstände die Gehirnentwicklung beeinflussen, speziell die des Vorderhirns. Rattenjunge wurden in dieser Studie in den ersten einundzwanzig Tagen nach der Geburt betreut. Später im Leben wiesen sie ein niedrigeres Stresshormon-Niveau bei der Reaktion auf äußere Stressoren auf. Sie normalisierten sich auch schneller, indem sie nach einer Stress-Situation schneller zu den Ausgangswerten zurückkehrten. Der Autor betont, dass die Veränderungen im System der Ratten ein Leben lang anhielten.6  

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Protokoll einer Sitzung

Das Folgende ist die Abschrift einer Sitzung mit Mary* . Wo (Weint) geschrieben steht, handelt es sich oft um das tiefe kleinkindliche Weinen eines Babys. Dann kommt sie aus dem Gefühl heraus und diskutiert ihre Einsichten. Der Leser wird sich fragen: Wie kommt es, dass die Therapeutin so wenig sagt? Ich habe siebzehn Jahre lang Einsichts-Therapie praktiziert und ich war wortreich. Primärtherapie erfordert sehr wenig Intervention. Im Zeitraum einer Zwei-Stunden-Sitzung sage ich gewöhnlich nicht mehr als zwei oder drei Sätze. Aber diese Worte müssen präzise sein und sie müssen zählen. Wir Therapeuten reden am Ende der Sitzung sehr viel; das ist bekannt als „Nachsitzung“. Dann beschäftigen wir uns mit den Einsichten und versuchen, die heutige Sitzung mit der gestrigen zu verbinden. Wir wollen auch verstehen, wie die in der Sitzung erlebten Gefühle zum gegenwärtigen Leben des Patienten in Beziehung stehen. Es ist die Zeit der Integration.

Therapeutin: Sag mir, wie fühlst du dich?

Mary: Nun, ich bin müde, ich hab’ nur ein paar Stunden geschlafen.

Warum?

Ich glaube, ich hatte am Nachmittag ein Nickerchen gemacht, weil ich gestern nachmittags so müde war. Und weil mir so viele verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf gingen. Ich war einfach so aufgeregt und hab’ mich schwer getan es abzustellen. Ein Gefühl, das ich heute morgen bemerkte, ist, dass mein Atem sich sehr, sehr flach anfühlt. Da hab’ ich bemerkt, was mit meinem Körper los ist; dass ich einfach nicht viel atme.

Dein Körper fühlt sich einfach müde an?

Ich fühle mich, als möchte ich in einen ganz tiefen Schlaf fallen. Ich spüre, dass ich keine Lust habe, viel nachzudenken. Ich will nicht viel nachdenken. Ich möchte jede Stimulierung abschalten. Und ich weiß wirklich nicht, wie ich an meine Gefühle rankommen kann, weil ich überhaupt keinen Anhaltspunkt habe.

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* Die Namen der Patienten wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.  

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Ist das dein üblicher Zustand, wenn du körperlich müde bist, oder denkst du, dass etwas nicht stimmt?

Ich glaube, dass ich Schlaf benutze, um alles abzustellen; dass, wenn ich überlastet bin, es meine Art ist, alles.......abzuschalten. Und so, tja, wie ich mich heute morgen fühle, ist normaler Input. Es ist, als will mein Körper in diesen glückseligen Zustand hineinkommen und ihn erreichen. Ich hab ihn durch Schlaf erreicht oder versucht zu erreichen.

Fühlst du dich überwältigt?

Ja, ich fühle mich, als ob eine Menge los wäre in meinem Tagleben. Eine Menge Dinge erfordern Aufmerksamkeit.

Du möchtest darüber reden?

Die größte, ich glaube, die größte Sache handelt vom Vater der Kinder. Er drangsaliert mich. Wie Entscheidungen zu treffen sind darüber, wie wir mit unserer Trennung weitermachen sollen,....und die Gefühle, die es hochbringt.

Kannst du genauer sein, welche Gefühle bringt es hoch?

Es bringt das Gefühl hoch, dass ich gemein sein muss, und ich will nicht gemein sein. Ich bin drauf und dran, das Boot wirklich ins Wanken zu bringen, sein Leben durcheinanderzubringen. Ich will das wirklich nicht tun. Es ist, Dinge tun zu müssen, die ich wirklich nicht tun will. Ich hätte lieber, dass die Dinge einfach glatt liefen und dass es Verständnis gäbe. Als ich durch diese Scheidung ging, hatte ich so viel Angst, ihn durcheinander zu bringen und ihn verrückt zu machen, weil ich spürte, dass es mir Schaden zufügen würde. Ich erkenne, dass das ziemlich zu der Situation mit meiner Mutter passte. Ich wollte sie nicht verrückt machen, weil das sehr bedrohliche Konsequenzen hatte. Sicher, als ich das mit Ted durchmachte, begriff ich nicht, dass es das war, womit dieses große Gefühl verknüpft war, so ist noch ein Rest davon da. Ich fühle mich, als ob es meinen Verstand einnebelt. Kann es mir schaden, wenn ich weiter auf diesem Thema herumreite? Es fühlt sich einfach nicht sicher an, es ist einfach unangenehm. Ich fühle mich, als müsste ich durch ein Territorium gehen, das ich einfach nicht mag, und dass ich es lieber nicht tun würde.

Also ich denke, das ist es....durch eine Situation gehen, wo ich nicht durch will. 

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Fühlt sich nicht gut an. Das ist verwandt mit kämpfen müssen. Ich habe versucht, diese Art von Druck wegzuschieben. Und noch weiß ich, was ich tun muss. Dann wünsche ich mir, es sei anders, ich wünschte mir immer, es sei anders. Es ist einfach erstaunlich für mich. Ich meine, hier rede ich darüber, wie ich mir immer gewünscht habe, meine Situation mit Ted, dieser ganze Trennungsprozess sei anders. Das ist genau so, wie ich über meine Kindheit empfinde. Ich wünschte, es wär’ was anders als ein Kind zu sein, ich wünschte, es wär’ anders.  (Weint)

Ich wünschte, es gäbe Verständnis. Ich wünschte, es gäbe Rücksicht. Rücksicht auf mein Leben. Ich wünschte, es gäbe keine Bedrohung. Ich wünschte, es gäbe Unterstützung. Ich wünschte, jemand würde sich um mein Leben kümmern, würde es mir leichter machen. (Weint) Ich höre alles, was ich gerade sage und ich höre, wie zutreffend es für mein ganzes frühes Leben ist. Ich weiß einfach, dass mein Leben mit Ted dadurch verkorkst wird. Ich fühle mich, als würde er kontrollieren und die Dinge schwer machen, gerade wie.....Sie hat sich einfach nicht gekümmert. (Weint) Sie hat sich nicht darum gekümmert, wie ich mich fühle. (Weint heftig) Es war nicht wichtig. Die Wirkung, die es auf mich hatte. Es gab einfach keinen Gedanken, keine Sensibilität in meine Richtung, als Person, als ein anderes menschliches Wesen. Es hat nicht bedeutet. Ich habe nichts bedeutet. (Weint)

Erinnerst du dich an solche Zeiten ?

Ja,  es gibt ein paar, die herausstechen, einen sehr großen Eindruck auf mich machten. Eine davon..... Ich war etwa sechs Jahre alt, und was ich tat, war, hm,......Es war Weihnachten, es war Weihnacht-Abend, ja.  Und sie hatte Leber zum Abendessen gemacht, und als wir uns an den Tisch setzten zum Essen,... und ich hab’es probiert und hab’ es nicht gemocht. Ich hab’ es überhaupt nicht gemocht. Und es war ihr egal, dass ich es nicht gemocht habe. Ich musste es essen. Und es brachte mich zum Würgen, so sehr habe ich es nicht gemocht. Und es ist, als würde es nichts machen, dass ich diese Art von Reaktion hatte, es machte nichts aus. (Weint)

Was ist passiert?

Nun, sie ließ mich hinsetzen und es essen. Verstehst du, ich hab’ daran gewürgt, obwohl ich es nicht mochte, hat sie es gemacht, und ich war dabei, es zu essen. Und dann fing sie an, mir zu drohen, dass, wenn ich es nicht aufesse, ich dann sofort ins Bett gehen müsse und kein Geschenk aufmachen dürfe. Sie fing an, alles wegzubringen. Und ich hasste es einfach, ich hasste es einfach!

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Ich mochte es nicht! Ich wollte es nicht essen! Es schmeckte nicht gut! Und ich konnte es nicht aufessen. Und so ging ich weinend ins Bett. Es gab einfach kein Mitleid, keine Sensibilität. Ich tue das niemals meiner Tochter an. Niemals! Es gab viele solche Momente. Wo ich einfach weinend ins Bett ging. Es spielte einfach keine Rolle, wie ich mich fühlte. Und es war niemand da, der sich wirklich sorgte, der dachte, dass meine Gefühle wirklich was bedeuteten. Sie bedeuteten nichts.

(Weint) Ich habe nichts Schlimmes getan, ich habe nichts Falsches getan, ich mochte einfach den Geschmack nicht. Ich wollte nicht ungehorsam sein. (Tieferes Schluchzen) Ich wollte nichts Schlimmes oder Falsches machen, es hat einfach so grauenvoll geschmeckt. Ich will, dass du mich verstehst. Ich wollte dich sagen hören.....ich wollte dich sagen hören „Schmeckt es wirklich so grässlich?“ Ich wollte, dass du hörst, wie ich mich fühlte, wie es mir geschmeckt hat, wie ich es nicht gemocht habe, wie es mich zum Würgen brachte, und dass es in Ordnung für dich ist, dass ich es nicht gegessen habe; dass ich wichtiger für dich bin als ein Stück Leber zu essen. Ich hätte mir gewünscht, dass du schaust, ob was anderes da ist, das ich essen könnte. Aber du warst gemein. Du lässt mich etwas essen, dass so furchtbar schmeckt. (Kehrt zum Weinen eines Erwachsenen zurück) Ich wollte, dass du zuhörst, ich wollte, dass du zuhörst. Ich wollte, dass du dir genug Sorgen machst, wie ich mich fühlte. Ich wollte wissen, dass ich wichtiger war als dieses Stück Fleisch. (Nun als kleines Kind) Bitte kümmere dich darum, wie ich mich fühle. Bitte lass’ mich nicht etwas tun, das ich nicht tun will, das sich nicht gut anfühlt für mich. Oh bitte mach’ dir Sorgen um mich und wie ich mich fühle (15 Minuten tiefes kindliches Weinen).

(Patientin liegt im schalldichten Raum auf dem gepolsterten Boden. Hier ist das Gespräch an die Therapeutin gerichtet.) Weil ... das ist, wie ich mich fühlte, als ich belästigt wurde. Bitte zwing’ mich nicht etwas zu tun, dass ich nicht tun will. Und wenn jemand Dinge macht, die ich nicht tun wollte, macht es mich verrückt. Meine Mutter spielte geradewegs in diesen Prozess mit ein. Bitte zwinge mich nicht, Dinge zu tun, die ich nicht tun will. Es fühlt sich nicht gut an.

Es gab eine Menge, es gab eine Menge Dinge, die ich tun musste und nicht tun wollte. Ich wollte es nicht tun. Ich musste es tun, weil ich überleben musste. So brachte mich dieser Mist, Dinge zu tun, die ich nicht tun wollte, dazu, dass ich mich alleine fühlte. Da war niemand, der zuhörte. (Wieder in der Kindheit, weint) Zwing’ mich nicht, ich will es nicht tun. Du willst nicht hören! Niemand ist da, um mich zu beschützen. (An die Therapeutin) Deswegen will ich schlafen gehen; deshalb will ich unbewusst werden, weil ich in diesen Momenten nichts wahrnehme, nichts fühle, mich nicht damit beschäftigen muss, was um mich vorgeht. Ich kann mir eine Auszeit nehmen.

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Mein Bruder hat mich herumkommandiert; wenn ich nicht getan habe, was er von mir wollte, hat er mich verhauen. So viele Male, als ich aufwuchs, nannte er mich seine Sklavin. Wenn ich nicht getan habe, was er wollte, drohte er damit, mir weh zu tun. So stand ich da und hatte  niemanden, an den ich mich wenden konnte. Niemand, in dessen Arme ich mich flüchten und dem ich sagen kann „Schütze mich, sie verletzen mich“. Niemand, der mich beruhigte: “Ich lasse nicht zu, dass dich irgendwas verletzt.“ Das gab es nicht. Also musste ich es hinnehmen.

Wer sollte dich beschützen?

Ich wollte von denen in meiner Umgebung, dass sie mich beschützten. Ich wollte, dass meine Mutter sich um mich kümmert und mich beschützt. Ich wollte einen Vater haben, der da war, der nicht zuließ, dass mir was passierte. Ich wollte, dass mein Bruder sich um mich kümmert und mich beschützt. Ich wollte, dass die ganze Welt mich beschützt. Und sich um mich kümmert. Und kein Unrecht an mich heranließ. Ich wollte, dass die ganze Welt sich um mich kümmerte

(Tiefes Weinen) Oh bitte. Bitte kümmert euch um mich. Bitte habt mich lieb, bitte beschützt mich. Bitte seid freundlich zu mir. Bitte! Bitte! Ich muss wissen, dass ihr euch Sorgen macht. Bitte sorgt euch. Bitte! Ich hab’ nichts Falsches gemacht. Ich will nur wichtig für euch sein. Bitte. Ich will nur, dass meine Gefühle etwas bedeuten. Bitte, bitte, bitte, seid freundlich, bitte. Bitte verletzt mich nicht. Bitte sorgt euch, wie ich mich fühle. (Zwanzig Minuten tiefes Weinen) Und ich dachte daran, als mein Sohn auch so sechs oder sieben war, und er seine Schwester schlug, da kam Wut in mir auf. Es war wie „Du wirst ihr nicht weh tun! Ich werde sie beschützen! Und sie ist ein wunderbares Kind! Du wirst ihr nicht weh tun!“ Genau so hätte ich gewollt, dass mich jemand beschützt! Was ich wollte, war, dass jemand aufgestanden wäre, wie ich es für Betty getan habe, und gesagt hätte „Nein, nein! Das wirst du nicht tun! Ich lass’ dich nicht. Zuerst musst du durch mich hindurch!“ Aber da war niemand! Keiner da, der das für mich getan hätte.  Und ich ließ es in keinem Fall zu, dass Rob Betty verletzte. Ich hab’ sie beschützt. Ich ließ sie nicht erleben, was ich erlebt hatte.

 Und es war mir wirklich ungemein wichtig, nachdem diese Situationen mit Rob passiert waren, ihm zu erklären warum, ihn wissen zu lassen, wie mir weh getan wurde, wie da niemand war, der mich beschützte. Wie es sich anfühlte und wie ich das in meinem Haus nicht zulassen konnte, wenn ich da war. Weil ich denke, dass Gefühle zählen, zählen sie eine Menge. Meine Gefühle haben niemals etwas gezählt. Ich wünschte, jemand hätte gefühlt, dass sie etwas zählen. Gefühle sind sehr wichtig. Ich wollte, dass sich jemand darum gekümmert hätte, wie ich mich fühlte.

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Ich wollte jemanden, in dessen Arme ich fliehen konnte um mich sicher zu fühlen, jemanden, der mich beschützen würde. Ich konnte nirgendwo hingehen.

Einmal passierte es, dass meine Mutter an einem Wochenende fortging, und als sie zurückkam, war sie mit jemanden verheiratet, dem ich nie zuvor begegnet war. Sah die Person nie zuvor. Und ich wünschte, sie hätte sich die Zeit genommen zu sagen: „Schatz, was denkst du darüber?“, weil es mir nicht gefiel! Es gefiel mir nicht. Dieser neue Typ gefiel mir nicht. Es spielte keine Rolle, wie ich mich fühlte. Sie nahm sich nie die Zeit, mich was zu fragen. „Willst du diesen Menschen hier haben? Wie fühlst du dich dabei?“ Ich musste es einfach akzeptieren. Und sie wollte, dass ich sofort Papi zu ihm sagte. Er ist nicht mein Papi. Und ich wollte ihn nicht küssen, und ich wollte nicht, dass er mich berührt. Und ich musste es einfach akzeptieren. Ich wurde nicht gefragt, wie ich mich fühlte. Ich war nicht wichtig. Ich wollte, dass du mir sagst, was du tust, ich wollte, dass du mich fragst, wie ich mich fühle. Ich wollte, dass du mich fragst: „Will ich einen Papi?“ Ich wollte, dass du mir Zeit gibst, diesen Menschen kennen zu lernen und dir zu sagen, wie ich mich fühlte. Und dass dir an meinen Gefühlen liegt. Du hast ihn einfach auf mich geschmissen! Es gefiel mir nicht. Es war nicht richtig, es war nicht richtig, das zu tun. Es ist nicht richtig. Und ich habe die Tatsache nicht gemocht, dass er mir die Beachtung wegnahm, das bisschen Beachtung, das ich von dir bekommen konnte. Ich mochte die Tatsache nicht, dass er mehr bedeutete als ich. (Weint)

Und ich sehe, wie all das wahr ist, auch für die Zeit im Mutterleib. Es spielte keine Rolle. Ich zählte nicht, ich wurde nicht beachtet! (Tiefes Weinen). Ihr sollt wissen, dass ich zähle. Ich bin etwas wert! Meine Gefühle spielen eine Rolle. Ich zähle! Und ich wollte etwas wert sein! Du machst es mir so schwer!

Allein die Vorstellung, dass das Leben leicht ist. Ich kann mir vorstellen, wie es in einer Umgebung wäre, in der ich eine Mutter und einen Vater und eine Familie hätte, die sich um mich kümmert. Ich hätte das Leben geliebt. Ich hätte gedacht, dass Leben sei magisch, sicher, tragend. Ich wäre nicht voller Angst aufgewachsen. Stattdessen bekomme ich eine Menge Schmerz, genau das bekomme ich. Meine Mutter hat mein Leben nie unterstützt. Nicht am Anfang, nicht als Kind, nicht, als ich älter wurde. Sie verursachte nur eine Menge Schmerz. Es war so grausam. (Zurück zu kindlichem Weinen) Du kümmerst dich nicht! Du bist so böse. Es tut mir so weh. Ich brauche es, dass du mich liebst. Ich brauche es, dass du mir hilfst. Es würde so viel ausmachen. Du wärst so stolz auf mich. Ich könnte dich so sehr lieben. Du denkst nur an dich selbst. Niemand anders ist wichtig, nur du, du bist wichtig. So ist es.

(Zurück in der Gegenwart)   Ich wollte, dass es ganz anders lief mit dem, was ich mit Fred durchmache. Ich wollte, dass es anders lief. Es sind dieselben Gefühle. 

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Ich will, dass er sich darum kümmert, wie ich mich fühle. Ich will, dass er versteht. So bringt es mich zum Kämpfen, weil ich darum kämpfen muss, wie ich mich fühle. Ich muss kämpfen, dass man mir zuhört. Ich muss kämpfen und sagen, dass ich was bedeute. Ich zähle. Ich muss kämpfen, dass man mir zuhört. Und ich will, dass es anders ist!

Das sollte das Recht eines Kindes sein. Ich bin immer so erstaunt darüber, wie fragil und doch unverwüstlich ein Mensch wirklich ist. Ein Wort, ein Satz kann so große Wirkung haben, und es kann dich durch und durch verletzen. Ich hab’ mich immer gefragt „Wie kann das sein?“ Und ich denke, wenn ich ein menschliches Wesen wie ein Stück Lehm betrachte, und wenn jede harte Sache, die du je gesagt hast einen Abdruck auf dem Lehm hinterlässt,....du kannst den Lehm nehmen und draufsteigen und ihn platt machen, er wird immer noch eine gewisse Form haben. Ich glaube, Menschen sind wie Lehm; und abhängig von den Dingen, denen sie ausgesetzt sind, und von den Erfahrungen, die sie machen, ist die Skulptur, zu der sie werden.

(An die Therapeutin gerichtet) Also ist es die Wahrheit, dass Gefühle nicht wirklich verstanden werden, nicht wahr? Sie sind wie eine Sprache, die nicht gesprochen wird. Wir verstehen die Sprache, ihr versteht die Sprache. Ihr seid die Interpreten der Sprache. Ihr werdet ein neues Fachgebiet sein, Fühlologen genannt.

Wenn du ein Kind hättest und kannst die Striemen auf seinem Körper sehen, dann weißt du, dass du Schaden angerichtet hast. Aber Worte und  gedankenlose Kritik machen dasselbe. Du kannst es nicht sehen. Und ich hab’ das alles so satt. Es ist ein bisschen schwer für mich zu verstehen, warum das so schwer zu verstehen ist. Es ist ein bisschen schwer für mich. Aber ich kann es doch klar sehen. Haben wir nicht unsere Augen, um das zu sehen, oder unseren Verstand, um es zu begreifen?  Natürlich, das passt zu meinen Gefühlen, dass wir primitiv sind, noch nicht genug entwickelt.

Ich meine, Gefühle zu fühlen würde einfach die Wesensart der Menschheit ändern. Zu wissen, dass es einen Anfangspunkt gibt. Zu wissen, wenn du ein Kind austrägst, dass es so wichtig ist, wie du dich fühlst. Weißt du, ich scherze mit dir über den sprechenden Fetus, aber die Wahrheit ist, nüchterner gesagt, dass es der fühlende Fetus ist. Wirklich. Was für ein Unterschied, wenn du weißt, du wirst geliebt. Das gibt dir einfach Bedeutung, wirklich, dass glaube ich. Es trägt zu einem Gefühl bei, dass du alles kannst, und das öffnet deine Seele noch mehr. Wenn du daran glaubst, dass du alles kannst bis zu einem gewissen Grad, dann glaubst du, das alles möglich ist.

Was hast du noch durchgemacht?

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Nun, ich kam heute herein und dachte, ich hätte kein einziges Gefühl; und merkte dann, wie flach ich geatmet habe. Und dass ich müde war. Das brachte mich dazu, einfach schlafen zu wollen. Die Stimulierung ausblenden; diesen Frieden finden.

Kannst du identifizieren, was es ist?

Nun, ich sag’ dir, wie sich das für mich angefühlt hat. Ich war einfach in der Ruhephase.

Was bewirkt die?

Sie schont die Energie.

Und gefühlsmäßig?

Es hält mich vom Fühlen ab. Ich will nicht fühlen, ich will keinen Input.

Was macht das aus?

Es ist eine Schutzmaßnahme. Es ist ein Rückzug. Eine der Verknüpfungen, die ich dazu bilden kann, ist, dass es grundsätzlich eine Schutzmaßnahme ist, um mein Leben zu schonen. Und ich denke, es verdient Respekt.

Du weißt, es ist ein Mechanismus, dessen du dir bewusst sein musst, wenn du fühlen willst, so dass du nicht hineinfällst, weil es so bequem ist. Aber es ist gut für dich zu wissen, dass, wenn du in diesen Zustand gehst, es ein Reparatur-Zustand ist. Es ist auch ein Abwehr-Zustand in dem Sinn, dass du, wenn du da reingehst, alles wegschließt. Du erholst dich, aber du fühlst auch nichts.

Aber ich brauche das, wirklich, ich brauche das.

Es ist zu viel. Es ist eine Abwehr. Das musst du wissen, und wenn es geschieht, weißt du, was mit dir geschieht. Du hast gesagt „Dorthin muss ich mich begeben, wenn ich überlastet bin.“ Und jetzt bist du überlastet.

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„Überlastet“ ist ein sehr vertrautes Wort in meinem Leben. Teil meines, ja, Teil meines Vokabulars, „überlastet“ wäre eins. Zu viel.

Weißt du, wenn es zu viel Schmerz gibt, lebst du tatsächlich in einem Zustand von Überlastung. Wir laufen jeden Tag unseres Lebens in einem Zustand von Überlastung herum, weil wir schon diese gewaltige Menge an Schmerz haben. Unser System beschäftigt sich mit so vielem. Irgendwas in der Gegenwart kommt noch hinzu, und dann ist es für alle einfach zu viel, als dass sie damit klarkommen könnten. Genau das ist passiert. Du könntest ein anderes Wort verwenden, nämlich „Leiden.“

Aber ich bin sowas wie dran gewöhnt, weil ich mich so lange darin aufgehalten habe. Aber ich sehe, da gibt es andere Möglichkeiten. Ich spüre, das ist die Richtung, in die ich mich bewege. Deshalb..., ich meine, ich habe Vertrauen, das ich da durchkomme. Einmal, weil ich dieses alte Muster habe, in das ich zurückfallen kann, von dem ich weiß, dass es mich da durchbringt. Ich kann überlastet sein, ich kann leiden, aber ich werde überleben. Aber ich sehe auch diese andere Richtung, die, wenn ich mich weiter dorthin bewege und es fühle und die Gefühle wieder nach oben bringe, geradewegs die Tür zu der Erfahrung öffnet, in die ich eintauchen will.

Könntest du mir jetzt sagen, warum es sich so unangenehm anfühlt, durch diesen Prozess zu gehen?

Ich gehe da durch, aber ich will nicht. Ich spüre, ich muss es tun. Und es beschwört diesen Kampf um meine Rechte herauf. Ich meine, es spielt in so viel hinein. Ich meine, das ist der schwierige Part für mich. Ich bin ständig am Kämpfen, von dem Moment an, als sie diesen Ehevertrag aufgesetzt hatten, und sie gaben sich zehn Jahre, um mich auszuzahlen, und es war ganz und gar nicht in Ordnung für mich. Ich denke nicht, dass es fair ist, und mein ganzes System ist aufgebracht, um es zu ändern. Was auch immer nötig ist, das zu klären, ich mach’ es, weil ich nicht daran gebunden sein will, weil wir nicht mehr verheiratet sind.

Meine erste Reaktion in der Therapie ist, ich werde nicht um das bitten, was eigentlich selbstverständlich gewesen wäre. Ich werde sie nicht bitten. Doch als du mich gedrängt hast, es zu tun, hat es die Fluttore geöffnet. Soviel Leiden. Das bringt mich in Rage, das macht mich rasend, lässt meinen Atem stocken. Weißt du, das ist der richtige Weg. Ich bin mir bewusst, wohin bestimmte Dinge mich bringen. Aber es hat sich gut angefühlt, in meiner Kindheit zu leben und mit all diesen Gefühlen Verbindung aufzunehmen.

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  An der Kreuzung: Das Limbische System: Thalamus, Amygdala und Hippocampus

Das Limbische System, ein Ring von Strukturen, der direkt unterhalb des zerebralen Kortexes liegt, verarbeitet und organisiert Fühlen. Einige der Schlüsselstrukturen sind der Thalamus, die Amygdala, der Hippocampus und der Hypothalamus. Der Hippocampus, der das faktische Wissen eines Ereignisses beinhaltet, steht mit der Amygdala in Verbindung, die sich mit dem Gefühlsinhalt dieses Ereignisses befasst. Wenn uns unsere Mutter zornig angestarrt hat, nehmen wir mit dem Limbischen System Verbindung auf und fühlen: „Sie hasst mich.“ Es ist der erste Schritt zu fühlen, was wir wissen und zu wissen, was wir fühlen. Das Ergebnis ist, dass wir leiden.

Das Limbische System kombiniert Emotionen mit tieferen Hirnstamm-Empfindungen, und bildet dadurch den Kern und die Agonie des Erlebnisses. Es ist das „fühlende“ Gehirn. Ich nenne es die fühlende Ebene. Es kapselt Empfindungen ein, die aus der Hirnstammregion (erste Ebene) kommen. Diese Ebene verteidigt das Bewusstsein gegen den Terror eines Traumas der ersten Ebene und verwandelt den Terror in Bilder und Szenen. Sie ist für Albträume verantwortlich, in denen man stranguliert wird, oder für Platzangst. Sie hilft, künstlerische Bilder zu schaffen.

Daniel Goleman, ein Wissenschaftsjournalist, der für die New York Times schreibt, wirft in seinem Buch Emotionale Intelligenz Licht auf die Kluft zwischen Denken und Fühlen.8 Er schreibt, dass wir zwei Arten von Intelligenz haben, eine rationale und eine emotionale, die als Gegenstück zwei Arten von Gedächtnis haben, eines für Fakten und eines für emotionalen Inhalt. Diese Funktionen werden in unterschiedlichen Teilen des Gehirns vermittelt. Er betont etwas, das wir alle wissen, nämlich dass viele hoch intelligente Leute ihr privates Leben verpfuschen, weil ihre Impulse und Gefühle die Oberhand über ihre Vernunft gewinnen. Goleman zitiert Forschungsergebnisse darüber, wie das Gehirn machtvolle Erinnerungen eingraviert und verarbeitet, und wie diese Erinnerungen eine gewichtige Rolle im späteren Leben spielen.

Viele Leute können keine Entscheidungen treffen, weil sie so von ihren Gefühlen abgeschnitten sind, das sie nichts haben, das sie führen könnte. „Ich weiß nicht, was ich bestellen soll. Was hast du bestellt?“, ist ein Beispiel dafür, was ich meine. „Es spielt keine Rolle, nach welchem Essen mir zumute ist, weil ich nicht weiß, was ich fühle. Ich muss wissen, welche Entscheidung du getroffen hast, damit ich nachziehen kann.“  Anders ausgedrückt sekretieren die Amygdala des Limbischen Systems (und andere limbische Strukturen) so viele unterdrückende Nervensäfte, die sich mit eingeprägtem Schmerz beschäftigen, dass es eine funktionale Unterbrechung

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zwischen Gefühlszentren und ihren kortikalen Gegenstücken gibt. Wir sind dann gezwungen, uns allein von kortikalen Zentren leiten zu lassen.

Wir versuchen, den Grund für unsere Wut zu erklären: „Wenn du das nicht gesagt hättest, würde ich nicht wütend werden“; „Wenn du aufhören würdest, mich unter Druck zu setzen, wäre ich nicht so aufgebracht.“ Solche Vorstellungen sind niemals irrational; sie sind zuallererst Antworten auf die vergangene Geschichte. Deshalb gibt es so viele Einsichten nach einer Wiedererlebens-Erfahrung: Unter blockierten Gefühlen liegt die wahre Ursache für die Wut. Anstatt zu sagen „Ich bin verrückt geworden, weil du mich nicht respektiert hast“,  lernen wir: „Ich bin verrückt geworden, weil mein Vater mich die ganze Zeit heruntergesetzt hat und dann, als ich protestierte, gedroht hat, mich zu verhauen.“ Es ist nun therapeutisch, aus Protest gegen sein Verhalten auf die gepolsterten Wände einzuschlagen und die Wut rauszulassen. Es ist niemals genug, über den Zorn zu diskutieren.

Jemand kann den Drang verspüren, die Energie des frühen Liebesmangels in bestimmte Kanäle zu lenken, und niemals wissen warum. Schlimmer noch, vielleicht ist der Person nicht einmal klar, dass es diesen Mangel gab. Sie fühlt sich einfach unbehaglich, nicht wohl in ihrer Haut. Eines ist sicher: Wenn sich die Person nicht in Bewegung hält, fühlt sie sich nicht wohl. Eine Patientin war ständig auf Achse, reiste hierhin und dorthin, nur um herauszufinden, dass es keinen Ort gab, wo sie hätte hingehen können. Genauer gesagt: Um sich davor zu bewahren es herauszufinden, hatte sie nie einen Ort, wo sie hingehen – hinfliehen konnte. Sie war auf der Flucht vor dem Innersten ihrer qualvollen Kindheitsschmerzen, die in einem kalten, harten, gefühllosen Elternhaus geschaffen worden waren, aus dem sie entkommen musste.

Ohne volles Bewusstsein wird die Person einfach ängstlich sein.

Der Thalamus: Schalt- und Relaisstation des Gehirns

Der Thalamus ist eine Schlüsselstruktur im Limbischen System und ein Hauptakteur bei frühen Traumen. Nach der vierzehnten Schwangerschaftswoche ist er voll funktionsfähig.8 Zum Teil besteht die Funktion dieser Struktur darin, Gefühle zu integrieren und dabei zu helfen, sie an den frontalen Kortex weiterzuleiten, wo sie konkreten Zusammenhang und Bedeutung annehmen. Nach der vierzehnten Woche können wir sehen, wie entscheidende  Verbindungen zwischen thalamischen und kortikalen Zentren hergestellt werden. Es gibt einige Beweise, dass der Tastsinn, der teilweise durch den Thalamus organisiert wird, bereits im Mutterleib nach dem dritten oder vierten Monat registrierfähig ist.

W. J. Nauta, ein Pionier auf dem Gebiet der Neurologie, und Mitverfasser Michael Feirtag 

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beschreiben den Thalamus als „letzten Kontrollpunkt, bevor Nachrichten aus allen sensorischen Eingängen der Zutritt zu höheren Stationen des Gehirns gestattet wird......an jeder synaptischen Kontaktstelle in den sensorischen Bahnen wird der Input transformiert: Der Kode, in dem die Nachricht ankam, wird grundlegend geändert. Vermutlich könnten die Daten auf höheren Ebenen nicht verstanden werden:  Eine Übersetzung wird benötigt.“ 9

Der Thalamus übersetzt die Nachricht mit Hilfe des Hippocampuses in die Sprache des Kortex. Diese Übersetzung befähigt den Kortex, einen emotionalen Reiz mit Bedeutung zu versehen. Er befähigt einen Menschen, auf ein vages unbehagliches Gefühl zuzugreifen und es zu artikulieren als „Vater hasst mich und bringt mich dazu, dass ich schlecht über mich selbst denke und fühle“. Der Thalamus übermittelt auch unser Bedürfnis nach Genugtuung, wie in „Bitte sei nett zu mir, Mama!“

Wenn jedoch das Fühlen der Entbehrung zu überwältigend ist, wird die Botschaft umgeleitet, die Einprägung endet in einem reverbierenden Kreisprozess im subkortikalen Unbewussten, und versucht mit Macht, die Schleusen zu öffnen und sich mit dem frontalen Kortex zu verbinden. Es ist das Reverbieren, das uns angespannt, nervös, traurig und gehetzt macht. Viele der biochemischen Substan­zen, die gegen überwältigende Gefühle freigesetzt werden, erzeugen den gleichen Effekt, als hätte jemand einen Virus – zum Beispiel verursachen sie Veränderungen in den natürlichen Killerzellen des Immunsystems. Diese Zellen stehen Wache und halten Ausschau nach neu geformten Krebszellen; sie zerstören sie, bevor sie sich voll entwickelt haben. Nach einem Jahr Primärtherapie sehen wir eine Normalisierung dieser Zellen.

Wenn der Thalamus geschwächt ist, versagen die kortikalen Schleusen ihren regulären Dienst. Die Schleusen haben nicht genug Saft, um ihren Job zu erledigen. Die Person kann nicht klar denken; alles ist ein Wirrwarr, und Konfusion regiert. Ihr System versucht, sich mit Gefühlen oder Empfindungen zu befassen, die keinen Sinn ergeben; denn als sich das ursprüngliche Trauma enfaltete, war der präfrontale Kortex noch nicht weit genug entwickelt, um ihnen einen Sinn zu geben.

Wenn der Thalamus die Informationen umleitet und vom Kortex fern hält, dann tut er dies „im Glauben“, er rette unser Leben und unsere Gesundheit. Der Aufbau einer kortikalen Verbindung würde eine exakte Wiederholung der ursprünglichen Reaktionen der Person auf das Vergangenheits-Trauma hervor­bringen – schnelle Herzfrequenz, erhöhten Blutdruck, hohes Fieber und anhaltende Ausschüttung von Stresshormonen; sie alle bedrohen das Überleben des Organismuses. Ich habe „im Glauben“ oben in Anführungszeichen gestellt, 

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aber dennoch ist klar, dass der Thalamus in gewisser Hinsicht an unseren Denkprozessen teilnimmt.

Wenn ein frühes schmerzvolles Gefühl abgeblockt wird, sendet es dennoch Signale nach oben, partielle Aspekte des Gefühls, die letztendlich zu Illusionen oder Halluzinationen werden, zu hohem Blutdruck oder Herzklopfen. Je näher eine alte traumatische Empfindung dem vollen Bewusstsein kommt, umso intensiver und aufdringlicher ist die Zwangsvorstellung, Illusion oder Halluzination oder das körperliche Symptom. Die Evolution zwingt sie nach oben zur Verknüpfung, genau wie es in frühesten Zeiten eine Migration nach oben und außen gab, als sich der Kortex bildete. Leider wenden der Thalamus und andere verwandte Strukturen die Empfindung ab. Jede traumatische Einprägung tendiert immer dazu, den Strömen zu den höheren Zentren hin zu folgen, die sich in unserer Geschichte entwickelt haben. Der frontale Kortex ist die Endstation für das Fühlen.

Es stellte sich heraus, dass Psychotiker, die Stimmen hören, wirklich Stimmen hören – ihre eigenen. Ihre eigenen Sprachzentren sind während dieser Episoden aktiviert. Sie wissen nicht, dass es von ihren Gefühlen und Sprachzentren kommt, aber sie hören wirklich etwas. Ihre Gefühle „Meine Eltern wollen mich verletzen“ werden zu Gedanken, die zu ihnen sprechen, wie zum Beispiel: „Der Mann an der Ecke will mich verletzen.“ Sie spüren Gefahr, nicht von innen, wo sie residiert, sondern von außen, wohin sie projiziert wird. Weil sie keinen inneren Zugang haben, müssen sie sich nach außen konzentrieren. Deshalb können sie, wenn sie weiter vorankommen und inneren Zugang gewinnen, diese Gefühle auflösen, und die Halluzinationen und Wahnvorstellungen verschwinden. Manchmal, wenn sich Patienten in einer Sitzung einem schweren Gefühl annähern, können sie vielleicht eine vorübergehende Halluzination haben. Das geht beinahe immer mit radikalen Sprüngen bei den Messwerten der vitalen Körperfunktionen einher.

Bei vielen meiner Patienten fehlt zu Beginn der Therapie jeglicher Optimismus. Ihr gesamtes System hat sich in den (ursprünglichen) Versagensmodus begeben – Pessimismus. Eine Patientin begann eine Sitzung deprimiert, hilflos und zynisch: „Was hat das für einen Zweck? Das bringt nichts. Diese Therapie funktioniert nicht bei mir“. Ihr Geburtserlebnis, eine Geburt, während derer ihre Mutter schwere Betäubungsmittel erhielt, war Motiv für ihre Haltung. Auf ihrem Weg durch den Geburtskanal war sie von Drogen behindert worden, die in sie das Gefühl einprägten, dass nichts von dem, was sie tun könnte, etwas bewirken würde. In einer Kindheit, in der nichts, was sie tat, ihre Mutter dazu bringen konnte, sie zu lieben, verstärkte sich dann der Pessimismus und das Gefühl des Geschlagenseins.

Hier finden wir zuerst eine physiologische Hirnstamm-Erinnerung. Mit dem Erscheinen von Worten wird sie zu „Hoffnungslosigkeit.“ Keine andere Erinnerung; eine detaillierter ausgearbeitete. 

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Hoffnungslosigkeit steigt später zum Kortex auf und erhält ihr Prädikat. Manchmal ist sie so gut maskiert, dass jemand zum Therapeuten gehen muss und dort eben herausgefunden wird, dass er in Hoffnungslosigkeit ertrinkt. Sie läuft in der Psychotherapie unter vielen Namen – „maskierte Depression“ ist sehr beliebt. Also haben wir zuerst eine Physiologie der Hoffnungslosigkeit; dann die Leidenskomponente auf der limbischen Ebene; und schließlich den Gedanken an sie. Alle drei tragen zu dem überwältigenden Gefühl bei. Das System kann sich hoffnungslos fühlen: und dieses Gefühl kann bereits Schaden am Organsystem anrichten, lange bevor wir bewusst darunter leiden.

Eine Patientin fühlte als Kind, dass sie nichts hatte, an das sie sich halten konnte. Im Erwachsenenalter eignete sie sich auf der Suche nach einem Anker eine mystische New-Age-Idee nach der anderen an. Sie fiel ständig auf aggressive Verkäufer herein, weil sie nicht wusste, wie sie sich widersetzen, wie sie Nein sagen sollte. Ihr übermächtiger und fordernder Vater hatte ihr diese Fähigkeit genommen. Vor allen realen Hindernissen wollte sie aufgeben, fühlte sie sich resigniert und geschlagen, so ziemlich das Gefühl, das sie bei der Geburt hatte. Es prägte sich ein und wurde zu einem Dauerzustand. Sie erlebte wieder, wo all diese Schlüsselgefühle begannen, und versetzte sie in die Vergangenheit zurück, wo sie hingehörten. Bei den seltenen Gelegenheiten, als das Gefühl wieder aufstieg, war es seiner früheren Kraft beraubt, und sie konnte beschließen, nicht nachzugeben. Sie hatte die Kraft, ihr Leben zu ändern.

Eine meiner Patientinnen, deren Blutdruck normal ist, erlebte einen Anstieg des Blutdrucks auf 220/110, als sie sich der tiefen Hoffnungslosigkeit annäherte, die sie als Kind erfuhr. Als sie dann in das Gefühl hineinfiel, sank der Druck radikal ab. Diese Messwerte weisen auf den Zusammenhang zwischen Gefühlen und Blutdruck hin. Der Anstieg bei den vitalen Funktionen gibt uns einen Hinweis auf das Ausmaß des Gefühls. Sich in der Therapie hoffnungslos zu fühlen, erlaubt einem schließlich, dieses Gefühl abzustreifen. Weil der Kampf, in der Gegenwart Liebe zu bekommen, von jenem entsetzlichen Gefühl veranlasst wird. Dieses Gefühl ist die Basis allen möglichen Ausagierens. Zu oft gibt es nicht einmal einen Kampf um Liebe, weil das Individuum einfach die Hoffnung aufgibt, sie jemals zu bekommen. Die Frau zieht sich zurück, hat keine Freundinnen, die ihr mit ihren Gefühlen helfen könnten, und wird immer deprimierter. Man kann sie ermutigen, sie solle Freunde gewinnen, ausgehen und Leute treffen, aber es bedeutet, gegen eine mächtige Einprägung zu kämpfen, die besagt: „Gib’ auf, versuch’ es nicht, es hat keinen Zweck.“

Patienten, die in Hoffnungslosigkeit versunken sind, beginnen eine Sitzung gewöhnlich mit sehr niedrigen Vitalfunktions-Werten, die gleichen Werte, wie sie im ursprünglichen Trauma aufgetreten waren, weil jenes Trauma wieder ausgelöst wird. Eine Art und Weise, wie Erinnerung sich fortsetzt, besteht in der niedrigen Körpertemperatur und in der 

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niedrigeren Lymphozyten-Produktion des Immunsystems. Kurz gesagt, „psychosomatisch“ bedeutet nicht, dass sich etwas Psychisches auf das Soma oder den Körper auswirkt. Vielmehr bedeutet es, dass ein Bestandteil der Erinnerung darin besteht, dass Ereignisse in das körperliche System eingepresst werden. Es ist nicht entweder das eine oder das andere. Es ist beides zugleich. Es gibt auf Immunzellen Rezeptoren für schmerztötende Substanzen, welche die gleichen sind, wie das Gehirn sie herstellt. Schmerz geht direkt zu diesen Zellen und verändert ihre Immunfunktion.

Nach einem Gefühlserlebnis fällt die Körpertemperatur erheblich, und ebenso der Blutdruck. Der Körper schaltet in den Energiebewahrungs-Modus. Warum? Weil genau das ursprünglich (während der Sauerstoffnot infolge der Anästhesie bei der Geburt) erforderlich war. Oft verlassen diese Patienten die Sitzung mit höheren Vitalfunktions-Messwerten. Wiedererleben normalisiert, weil die Einprägung des Traumas destabilisiert. Mir ist keine Möglichkeit bekannt, wie eine Therapie die Körpertemperatur so radikal ändern könnte, wie wir das schaffen. Es ist ein Beweis dafür, dass der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist; Gefühle spiegeln sich in der Temperatur und anderen Vitalfunktionen wider, und alle zusammen bewegen sich in Richtung einer Normalisierung. Die Temperatur bewegt sich auf normale Messwerte zu, während die Patientin berichtet, sie fühle sich viel besser. Wenn jedoch die Patientin berichtet, dass sie sich viel besser fühle, aber die physiologischen Messwerte dies nicht widerspiegeln, müssen wir uns die Sache noch einmal genauer ansehen. Das passiert oft bei der Abreaktion, bei der der Patient Spannungs-Energie entlädt aber keine Verknüpfung hergestellt hat, was zu einem Zustand von Selbsttäuschung führt. Die Vitalfunktionen fallen dabei sporadisch und nicht alle zusammen. Dies ist ein Hinweis, dass sich das System nicht in Harmonie mit sich selbst befindet.                   

Organisation der Erinnerung

Nachdem der Thalamus geholfen hat, die Information der Erinnerung zu verschlüsseln, verfestigen die Amygdala (rechte und linke Seite) und der Hippocampus diese Information. Die Amygdalae liegen nahe am Hippocampus auf der inneren Oberfläche der Temporallappen und bilden eine Art Kreuzung im Gehirn. Das Bedürfnis-Gefühl „Ich brauche meinen Papi“ wird vielleicht vom Thalamus verschlüsselt und gespeichert und von den Amygdalae und dem Hippocampus konkretisiert. Wenn das Bedürfnis nicht erfüllt wird, signalisiert es „Gefahr“ und wird über den Hypothalamus an die Körpersysteme geschickt, wo es unsere physischen Funktionen verändert und uns schließlich krank macht.

 

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Die Verbindung der Amygdala zum frontalen Kortex und Hippocampus ermöglicht uns, ein Gefühl zu empfinden, es zu benennen und ihm einen Titel zu verpassen. Sie kann eine dumpfe Empfindung in der Magengrube in ein Gefühl von Leere, Einsamkeit und Verlassenheit transformieren. Man hat kürzlich herausgefunden, dass die Amygdala „Stop-versus-Go“-Mechanismen im frontalen Kortex reguliert, so dass die zwei zusammenarbeiten, um Schmerzimpulse zu hemmen. Wenn die Amygdalae ruhig sind, brandet weniger Energie hoch, die jemanden schlecht fühlen lassen würde. In diesem Fall kann der frontale Kortex aufwallende Gefühle blockieren. Er tut dies, indem er Gedanken erzeugt, die der Gegenpol der inneren Realität sind: „Ich fühle mich großartig. Ich habe Gott gefunden, und er beschützt mich.“ Die Realität gleicht Folgendem: „Ich fühle mich verloren, schutzlos und unsicher“. Oder die Person kann zu grübeln anfangen, so dass bestimmte Gedanken zwanghaft werden: z.B. „Der Untergang naht.“

Die Gedanken drücken wirklich ein tief verborgenes Empfindungs-Gefühl  aus. Irgendwo spürt das System, dass das Verhängnis (das wirkliche Feeling, das im Aufsteigen begriffen ist) naht. Nun projiziert es dieses Gefühl in die Welt.  Die Person sieht überall Verderben. Es ist nicht so, dass nicht die Möglichkeit ernsthafter Probleme bestünde. Man kann niemals die Zukunft voraussehen. Aber in diesen Leuten ist es übertrieben. Es wird zum Ende der Welt. Und in der Tat, das Ende der Welt und des Lebens können für diese Personen jene ganz früh eingeprägten Erfahrungen auf Leben und Tod gewesen sein. Tod und Verderben liegen ständig auf der Lauer, weil der Tod wirklich drohte und in der Tat nur einen Sprung entfernt war. Die Person wird dieses oder jenes finden, das ihr als Brennpunkt dient, aber der Inhalt ist immer der gleiche – das Ende von allem – die Apokalypse.

Die Dopamin-Connection

Jüngste Forschung hat eine Korrelation zwischen abgesenkten Dopamin-Werten und Depression gefunden.10  Oft weisen die Forscher darauf hin, es seien genetische Faktoren im Spiel. Es ist meine Überzeugung, dass die meisten von uns nicht mit genetischen Defiziten an Dopamin geboren werden. Es geschieht so viel in utero, bei der Geburt und gleich danach, das für Veränderungen der Dopamin-Sollwerte verantwortlich sein könnte. Neue Forschungsarbeiten zeigen, dass Stress vor der Geburt in einer Veränderung des Dopamin-Spiegels in der rechten Gehirnhemisphäre resultiert. Das führt schließlich zu gesteigerter Emotionalität und zur Unfähigkeit, Emotionen angemessen zu regulieren. 11

Es ist kein Zufall, dass eine Umarmung oder ein Kuss den Dopamin-Spiegel erhöht. Es muss ein intrauterines Äquivalent zu einer Umarmung geben, das ein Gefühl des

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Wohlbehagens erzeugt. Ich glaube, dieses Äquivalent ist eine Mutter, die sich wohl in ihrer Haut fühlt, die glücklich mit dem Baby ist, die sich richtig ernährt und ein ausgeglichenes inneres System hat. Ich denke nicht, dass Depression durch genetisch verringertes Dopamin „verursacht“ wird. Wahrscheinlicher ist, dass ein schlechtes uterines Milieu und dann eine erstickende, repressive häusliche Umgebung die Dopamin-Werte verändert und die Voraussetzung für Depression schafft.

Niedrige Dopamin-Pegel stehen mit der Aufmerksamkeitsmangel-Störung in Zusammenhang. Viele der Medikamente, mit denen sie behandelt wird, tendieren dazu, die Dopamin-Vorräte zu erhöhen. Ich bin überzeugt, dass viel Liebe am Anfang und ein angenehmes Leben im Mutterleib solche Defizite vermeiden würden, besonders da niedrige Dopamin-Werte eher im linken Gehirn in Erscheinung treten, wo Gedanken und Gedankenbildung die Unterdrückung von aufwallenden Impulsen unterstützen. Es ist diese Hirnhälfte, die Ankurbelung durch Dopamin benötigt, um Hirnstamm-Impulse zu unterdrücken. Und es ist vielleicht diese Hemisphäre, die ihre Ressourcen aufgrund fehlender Liebe am Lebensanfang aufgebraucht hat.

Es gibt jüngste Beweise, die auf die Rolle von Dopamin auch bei Drogen- und Alkoholsucht hindeuten. Es scheint, je mehr das Dopamin-System durch Drogen gestärkt wird, umso wahrscheinlicher ist die Abhängigkeit. Im chemischen Sinne nimmt es den Platz von Liebe ein; je besser ich mich drinnen fühle, je weniger tot und taub ich mich fühle, umso mehr will ich die Droge, die mich so gut fühlen lässt. Kokain hält das Dopamin-Niveau hoch und macht süchtig. Dopamin hat Einfluss darauf, wie gut wir schlafen.12

In einer Studie in Paris, durchgeführt von Merle Ruberg vom Salpetriere Hospital, stellte sich heraus, dass die Patienten oft weinen und depressiv werden, wenn Elektroden in einer Gehirnregion platziert wurden, die als Substantia nigra bekannt ist, wo die Parkinsonsche Krankheit mit der Zerstörung von Gehirnzellen beginnt.13 Sie sagten Dinge wie „Ich will nicht mehr leben.“ Die Depression lichtete sich, sobald die Elektrode entfernt wurde. Hier beginnen wir die Beziehung zwischen Depression, Hoffnungslosigkeit und Hirnzellentod zu verstehen. Die Substantia nigra ist die Region der Dopamin-Produktion, die bei der Parkinsonschen Krankheit ins Stocken gerät. Deshalb benötigt man L-Dopa, um das Dopaminniveau in diesen Individuen anzuheben. Es kann sein, dass eingeprägter Schmerz wegen der Notwendigkeit, ständig vor der Einprägung auf der Hut zu sein, die Dopamin-Vorräte erschöpft, Nach sechzig Jahren Wachsamkeit kann das System den Bedarf nicht mehr befriedigen. Es braucht Hilfe von außen. Diese Wachsamkeit kann im Mutterleib angefangen haben und gegen ein Trauma wie zum Beispiel Rauchen oder Trinken der Mutter gerichtet gewesen sein. Es beginnt so früh, dass wir leicht zu dem Glauben kommen, es sei genetischen Ursprungs.

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Wenn jemand während der Schwangerschaft hochreguliert worden war (eine unruhige Mutter, die viele Tassen Kaffee getrunken hatte), dann kann die Einnahme eines „Downers“ für den Erwachsenen ein wichtiger Moment sein, weil die Person bei sich denkt: „Also das ist es, was ich schon immer gebraucht habe.“ Natürlich will sie noch mehr davon haben. Jemand, der zu hoch oder zu niedrig eingestellt ist, wird sich immer unbehaglich fühlen, und er wird sich durch normalisierende Hilfe von außen besser fühlen.

Die Amygdalae: Mutter Natur bei der Arbeit

Wird über die Nervenfasern, die von den Amygdalae zum frontalen Kortex führen, eine Verbindung hergestellt, beginnen die weiter unten brodelnden Gefühle einen Sinn zu ergeben. Aber wenn die Schleusensysteme aktiv sind, werden die Gefühle maskiert. Sie kennen das alte Sprichwort „Mutter Natur lässt sich nicht täuschen“? Die Amygdalae und ihre kleinen Helferlein im Hirnstamm sind Mutter Natur so nahe, wie wir ihr nur kommen können. Das frontale Areal jedoch ist ein Gimpel. Im unverknüpften Modus kann man ihm alles weismachen. Wenn wir die Gedanken eines Menschen manipulieren wollen, brauchen wir nur bei seinen Bedürfnissen einhaken. Dann wird er absolut dumm, weil er nur die Erfüllung der Bedürfnisse vor Augen hat und sonst nichts.

Opiathaltige Fasern laufen von den Amygdalae zu den sensorischen Systemen, wo sie die Funktion eines Torwächters erfüllen. In Antwort auf emotionale Zustände, die im Hypothalamus und in limbischen Strukturen erzeugt werden, setzen sie Schmerztöter frei. Wenn ein kleines Mädchen Inzest erleidet, werden Schmerztöter freigesetzt und die Botschaft wird auf dem Weg zum frontalen Kortex blockiert. Dennoch dringt das schreckliche Leiden durch. Die Person fühlt sich elend und weiß nicht warum. Auch wenn sie die Existenz des Inzests mit ihrem frontalen Kortex erkennt, wird sich nichts ändern. Das Elend wird bleiben. Manchmal ist die Verdrängung oder Hemmung so effektiv, dass sogar die Leidenskomponente blockiert wird und die Person überhaupt nichts fühlt. Vielleicht ist da nur ein vages Empfinden, dass dem Leben überhaupt nichts abzugewinnen ist.

Die Amygdalae beinhalten unverarbeitetes Gefühl. Sie sorgen für den Schmerz, und der Hippocampus hängt den Namen „erniedrigt“ an und sendet ihn zum frontalen Kortex. Während eines Wiedererlebnisses feuern die Amygdalae auch Informationen in Richtung Thalamus, der sie dann für den frontalen Kortex übersetzt; zum Beispiel „Sie demütigen mich!“ Wenn die Botschaft beim Kortex ankommt, deaktiviert sie 

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den linken präfrontalen Bereich und überlässt das Regiment dem rechten Hirn, der „fühlenden“ Seite. Jetzt haben wir eine verknüpfte Gefühlserfahrung.

Die Amygdalae beinhalten den Gefühlsanteil eines Ereignisses; den „Klang“ und die „Eingeweide“ des Feelings; das Fühlen des Gefühls. Es ist das Fühlen des Gefühls, das meiner Überzeugung nach bei so vielen Individuen fehlt und auch bei so vielen Psychotherapien. Überdies beinhaltet der limbische Bereich, besonders der Hippocampus, die Geschichte des Gefühls. Somit wird das Gefühl zuerst als „Meine Freunde sind ziemlich beleidigend“ empfunden. Wenn man dann in das Gefühlserlebnis eingeschlossen ist, übersetzt es sich in „Meine Eltern haben mich immer schlecht gemacht.“ Das wird dann durch geeignete therapeutische Techniken zu „Papi, sag‘ ich bin gut. Sag‘ ich bin gut, bitte!“

Es ist keine Überraschung, dass die Amygdalae während des Traumschlafs sehr aktiv sind, während der frontale Kortex weit weniger aktiv ist. Träume symbolisieren Gefühle. Wir sagen „Letzte Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum.“ Tatsächlich war es nicht der Traum, der furchtbar war, sondern die „furchtbare“ Einprägung, die den Traum erzeugt hat. Diese Gefühle sind die ganze Zeit in uns, was dafür verantwortlich ist, dass wir immer wieder die gleichen Träume haben. Nur dann ziehe ich in der Therapie Träume in Betracht, wenn wir uns mit dem zugrunde liegenden Gefühl befassen. Denn das ist real und historisch. Die Traumgeschichte ist die Tarnung. Wie bei Watergate wollen wir nicht nur die Kriminellen fassen, sondern wir wollen wissen, wer das ganze Ding organisiert. Die Traumgeschichte ist das, was das Limbische System und Aspekte des rechten Kortexes machen, um reale Gefühle zu tarnen. Wir wollen uns nicht mit den Tarnungen befassen, weil sie ständig wechseln. Gefühle und Bedürfnisse tun das nicht.

Limbische Strukturen  wie die Amygdalae unterliegen einer kritischen Reifeperiode, die vor der Geburt beginnt und bis zum Alter von zwei Jahren dauert. Lange bevor der Kortex myelinisiert und handlungsbereit ist, dominiert die Amygdala in der Verarbeitung emotionaler Information. Das ist ein Grund, warum das Unbewusste das Unbewusste ist – weil der denkende Kortex auf der oberen Ebene noch nicht „bewusst“ ist. Beinahe jedes Wirbeltier hat eine Amygdala und ein hemmendes Serotonin-System. Sie datieren einige Hundertmillionen Jahre zurück. Hunde und Katzen können keine Gefühle artikulieren, aber sie können fühlen und aufgrund ihrer handeln. Schmerzbahnen und das Serotonin-System scheinen in allen Vertebraten ähnlich zu sein. Überdies scheinen sie im Nervensystem dieselben Plätze einzunehmen. Auch limbische Strukturen sind in den meisten Säugetieren ähnlich, so dass es keine Vermessenheit ist, die Reaktivität von Tieren mit unserer eigenen zu vergleichen. Wo die zwei auseinanderlaufen, das ist im Bereich der Gedanken über diese Gefühle.

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Die Provokation von Gefühlen, die durch vergangene Ereignisse eingeprägt worden waren, geschieht vielleicht dann, wenn ein Auslöser von außen, sagen wir der drohende Ton in der Stimme eines Elternteils (oder egal in wessen Stimme), die Amygdalae in Bewegung setzt, die der Hypothalamus-Hypophyse-Achse signalisiert, Stresshormone zu produzieren, die das gesamte Gehirn in Wachsamkeit versetzen. Der Ärger wird in limbischen und kortikalen Arealen des Kindes verinnerlicht. Wenn die Menge an Stresshormonen zu große Ausmaße annimmt, droht sie Gehirnzellen zu schädigen. Gewöhnlich ist die Bedrohung weitaus subtiler. Wenn es in den ersten Wochen des Lebens keine Worte gibt,

keinen emotionalen Kontakt, keine elterliche Wärme, wird das System des Säuglings in die Stressreaktion getrieben; hier ist die eingeprägte Gefahr das Fehlen von Liebe. Es ist ein Mangel, der das Baby unter Stress setzt. Das ist das wirklich Subtile. Wenn jemand versucht, sich an schlechte Szenen aus seiner Kindheit zu erinnern, gibt es vielleicht überhaupt keine schrecklichen Szenen; nur das Nichts, keine Wärme, keine Liebe, keine Berührung, und keine Fürsorge.....nichts, worin man einhaken könnte. Hier ist das Gefühl allein die Erinnerung, und es genügt, sich von ihm überfluten zu lassen; es zu integrieren und zu verknüpfen. Unser Gehirn kann „nichts“ (ein Fehlen von Augenkontakt) in physischen Schaden umformen. Es ist kein „Nichts“ für das Gehirn. Es ist die Versagung des Bedürfnisses. Kein Hormon funktioniert allein; aus diesem Grund wird es als endokrines „System“ bezeichnet, eine Kaskade von Hormonen, die zusammenarbeiten, und eine Kaskade von Abweichungen, wenn Schmerz eindringt.

Wenn wir die Amygdalae eines Patienten in der Therapie übersehen, indem wir tiefe Gefühle ignorieren (und damit meine ich nicht, dass der Patient schluchzt oder über seine Kindheit weint), erhalten wir als Endresultat einen klugen, leidenschaftslosen Menschen. Schlimmer noch, sie oder er kann nicht einmal fühlen, dass sie oder er nicht fühlt, und erlebt nie das Fühlen des Gefühls. Ein Mensch, der wundervolle Einsichten in sein Verhalten hat, kann völlig von sich selbst vereinnahmt sein und gedankenlos und unsensibel gegenüber den Leuten in seinem Umfeld.

Manchmal führen Eltern früh im Leben eine Amygdalektomie*  an ihren Kindern durch, indem sie einfach nicht für sie da sind. Auf diese Weise werden die Gefühle des Kindes nicht direkt unterdrückt; sie werden einfach ignoriert, was auf dasselbe hinausläuft. Das Ergebnis ist, dass die Gefühle unverknüpft, unausgedrückt und ungelöst im Inneren bleiben. Therapie sollte Amygdaloide herstellen, Leute, die in Kontakt mit ihrem tiefen, fühlenden Selbst ste

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* Anm.d.Ü.: Operatives Herausschneiden (eines Organs, hier der Amygdalae)

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Sind wir zuerst bewusst und dann unbewusst?

Die Amygdala (zusammen mit anderen limbischen und mit Hirnstamm-Strukturen) kann mit einem Delirium von Wut, Furcht oder Sex reagieren, noch ehe der Kortex weiß, was los ist, weil solche rohe, unbearbeitete Emotionen unabhängig von und früher als Gedanken ausgelöst werden. Auf diese Weise überkommen uns Gefühle. War etwas schmerzhaft in unserem Bewusstsein und wurde dann ins Unbewusste verlegt? Nein, es hat es nie bis ins vollständige Bewusstsein geschafft. Bevor schließlich der präfrontale Kortex wachsam wird und versucht, diese aufsteigenden Gefühle aufzuhalten, ist die Amygdala bereits sehr geschäftig gewesen; bevor er zum Beispiel unseren Fress-Orgien Einhalt gebieten kann. Tiefsitzende Einprägungen üben die Kontrolle aus. Es ist klar, dass Bedürfnisse, die Überleben involvieren, mächtiger sind als Gedanken über diese Bedürfnisse. Wenn jemand außer Kontrolle ist, steht die Person gewöhnlich unter der Kontrolle von Einprägungen der tieferen Ebenen und außer der Kontrolle des frontalen Kortex. So viele Anleitungsbücher („Wie man...“) konzentrieren sich auf die Kontrolle unserer selbst, unserer Impulse, unseres Zorns, etc., und dennoch werden die Einprägungen niemals aufhören, unser Leben zu dominieren.....bis sie sich mit den kortikalen Prozessen der obersten Ebene verbinden. Gefühle sind keine Geschäfte, die man „verwaltet.“ Sie sind dazu bestimmt, gefühlt zu werden.

Ein Mensch, der keinen Kontakt mit seinem fühlenden Selbst hat, kann wegen eines vermeintlich sexuellen Problems in die Therapie kommen. Bei wenig Zugang zu tieferen Strukturen wie den Amygdalae kann ein Mann asexuell und mit nur geringer Libido und gedämpfter Leidenschaft ausgestattet sein. Die Amygdalae sorgen für eine Erektion. Ein Mann erkennt jedoch vielleicht nicht, dass dies das Problem ist, weil es wie bei Hunger ist; wenn Sie Ihren Appetit verloren haben, so begreifen Sie nicht, dass Ihr Problem darin besteht, dass Sie nichts essen. Der Schlüssel in der Psychotherapie für sexuelle Probleme besteht darin, Zugang zu den Amygdalae als auch zu anderen limbischen Orten zu erlangen.14

Antonio Damasio erklärt in seinem jüngsten Buch The Feeling of What Happens,15  wie wir auf der  Grundlage unbewusster Gefühle handeln. Er schildert den Fall David, der eine massive Beschädigung des Hippocampuses aufwies, was bei ihm zu der Unfähigkeit führte, neue Erinnerungen zu verankern. Es bestand auch ein Schaden an der Amygdala. Damasio führte an ihm ein Experiment durch, das als „Guter Junge, schlechter Junge“ – Versuchsanordnung bekannt ist. David hatte Begegnungen mit jemanden, der sehr nett und freundlich zu ihm war, und andere Begegnungen mit jemandem, der brüsk und unangenehm war. David konnte diese Leute nicht wiedererkennen, waren sie einmal aus seinen Augen verschwunden. 

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Er hatte keinerlei Fähigkeit, die Geschichte als Führer für sein Verhalten zu benutzen, weil er diese Fähigkeit verloren hatte. Er konnte nicht zu sich selbst sagen: „Dieser Mensch ist böse, und ich sollte ihn meiden.“ Er konnte seine Erfahrungen nicht integrieren oder sie artikulieren; dennoch tendierte er immer zu den netten Leuten hin und weg von den unerfreulichen. Er wurde von einer unsichtbaren und unerkannten Kraft geführt – von seiner Geschichte, von Gefühlen, die auf vergessenen Erfahrungen beruhten. David war buchstäblich und physisch von seiner Geschichte abgeschnitten und dennoch von ihr motiviert, und das ist genau der Punkt, auf den ich bei denjenigen hinaus will, die nicht unbedingt einen Schaden aufweisen, sondern wegen der Verdrängung von tieferen Zentren abgeschnitten sind. Seine Reaktion war eher organismisch als bewusst. Hier haben wir ein neurologisches Paradigma für das Verständnis der Depression; zum Beispiel ohne offensichtlichen Grund in Stimmungen hineingetrieben zu werden. Stellen Sie sich vor, David hätte seine Verknüpfungen zu tieferen Zentren wiedergewonnen. Er würde nicht mehr von seinem Unbewussten gelenkt werden. Genau darauf will ich hinaus, wenn die funktionellen Verknüpfungen zu tieferen Zentren durch Aufheben der Verdrängung wiedergewonnen werden. Bei vollständigem präfrontal-limbischen Bewusstsein (das unbewusste Gefühle ins Bewusstsein integriert) gäbe es keine Depression mehr. Das Unbewusste würde bewusst gemacht, so dass wir nicht länger von unbewussten Gefühlen herumgestoßen würden, worum es bei der Depression geht. Wir verwenden darauf den anspruchsvollen Begriff „Stimmungsschwankungen“, aber unser gesamter Organismus dreht sich um tiefsitzende Gefühle, von deren Existenz wir keine Ahnung haben. Diese Erfahrungen geschehen oft viele Jahre, bevor wir einen voll funktionierenden frontalen Kortex haben, der ihnen einen Sinn geben könnte. Volles Bewusstsein ist, wie ich bei meinen Patienten beobachtet habe, DAS Gegenmittel bei Depression.

Ich erhielt heute mit der Post einen Brief von einer meiner Patientinnen, Regina, der mein Argument exemplifiziert: „Ich möchte Dir meine Erfahrungen mitteilen, als ich am ersten Tag dieses neuen Jahres (das Millenium) aufwachte und in Tränen aufgelöst war. Warum? Nachdem ich letzte Nacht all die Feierlichkeiten überall auf der Welt beobachtet hatte, ohne einen einzigen Ausrutscher, keine Terroristen, keine Stromausfälle oder Flugzeugabstürze, erkannte ich, dass all die schlechten Dinge, die mir, wie ich im vergangenen Jahr glaubte, passieren würden, dass all die Katastrophen, über die ich mir den Kopf zerbrochen habe, gar nicht meine Intuition waren, sondern vielmehr aus der Vergangenheits-Realität kamen, die in mir lebendig ist. Es war, als sei ein großer Spiegel vor mir, der mir zeigte, dass es meine Vergangenheit war, die das Problem war. Ich fühlte, dass ich mich selbst schützen müsse und kaufte eine Vierteltonne Getreide. Ich musste auf das vorbereitet sein, was mir begegnen würde. Es war mir bereits begegnet, und ich hatte mich selbst belogen: 

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dass ich verletzt werden würde, wenn ich mich nicht genügend vorbereitete. Also war ich besessen vom Gedanken an Y2K. Quälte mich mit „Was-Wenns“. Jetzt weine ich wegen all dieser Gefühle, nicht sicher zu sein, und ich weiß, wohin sie gehören. Dass ich diese Gefühle nach Y2K  verlagerte, ließ mich erkennen, wie ich den inneren Dingen einen neuen äußeren Brennpunkt gab.“ 16

Einige meiner männlichen Patienten, die ständig sexuell erregt sind, finden heraus, dass auch ihr sexueller Drang nachlässt, wenn sich ihr emotionaler Schmerz aus einem frühen Trauma vermindert. Ereignisse im Mutterleib haben so tiefgreifende Auswirkungen auf das spätere Leben. Zum Beispiel fand man heraus, dass die Verabreichung von Morphium an trächtige Ratten deren männlichen Nachwuchs femininisiert.17 Das gesamte sexuelle Gleichgewicht kann durch Ereignisse im Mutterleib umgeworfen werden. Morphin ist ein Unterdrücker bzw. Hemmer. Wir produzieren die gleiche chemische Substanz selbst, möglicherweise mit den gleichen Effekten für die spätere Sexualität. Wenn wir in ausreichendem Maße verdrängen, verdrängen wir unsere Sexualität.

Hypersexualität kann ihren Ursprung im Hirnstamm haben und von einer Einprägung herrühren, die tatsächlich nichts mit Sex zu tun hat. Satyriasis sodann als Sexproblem zu behandeln, trifft nicht den wesentlichen Punkt. Sex ist nur eine Möglichkeit, wie Primärenergie freigesetzt wird. Und die beteiligte Energie kann von Anoxie bei der Geburt kommen, auch wenn sie Sex als Ventil bevorzugt. So behandeln wir Sex, wenn wir Anoxie behandeln sollten. Es ist niemals nachteilig, das Symptom zu behandeln, solange wir verstehen, dass es ein Symptom ist – von etwas anderem. Ein altes Bedürfnis kann in einem Mann oder einer Frau sexuelles Interesse wachrufen; zum Beispiel könnte eine Kindheit ohne Vater den Sexualimpuls auf andere Männer umleiten. Schmerz wird in den Sexualtrieb umgewandelt. Die Raserei des sexuellen Verlangens entspricht der frühen Entbehrung von Liebe; dieses Verlangen erfährt seinen Antrieb durch das retikuläre Aktivierungssystem des Körpers, welches das System in Wachsamkeit versetzt. Dann kanalisieren Kindheitsereignisse - ein tyrannischer oder abwesender Vater - den Trieb. Homosexualität kann das Ergebnis sein. (Später mehr darüber).

Bei Frauen, die Inzest erlitten und deshalb Angst vor Männern haben, kann der Sexualtrieb, sobald er in Erscheinung tritt, in Richtung Frauen umgelenkt werden. Geschlechtsverkehr mit Männern würde den Schmerz des Inzest reaktivieren und die Frau überwältigen. Deswegen wendet sie sich an Frauen, um ihr Bedürfnis nach Liebe zu erfüllen und, wichtiger noch, um den Schmerz in Schach zu halten. Viele meiner lesbischen Patientinnen erlitten Inzest in der Kindheit.

Wir werden die Amygdala niemals täuschen, aber wir können ihre kortikalen Abkömmlinge zum Narren halten. Beispiel: Ein Mädchen wurde von ihrem Vater sehr früh im Leben sexuell missbraucht, aber irgendwie lernt sie in der Therapie ihm zu vergeben. 

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Der Vater und die Tochter sind nun versöhnt, aber das Problem besteht darin, dass sie einer Einprägung nicht vergeben kann. Und die Amygdala kann nicht verzeihen; das ist nicht ihre Aufgabe. Es ist, als müsste sie der Physiologie der Frau verzeihen. Die alten Gefühle sind noch immer an Ort und Stelle, nur dass sie jetzt von kortikaler „Vergebung“ überlagert sind. Wenn genügend viele Schichten  darüber liegen, verlieren wir den Zugang zu den realen Gefühlen. Es ist seltsam, aber diese Überlagerung kann dazu führen, dass wir uns wunderbar fühlen. Also, was ist das Problem, könnte man fragen? Was ist falsch daran, sich gut zu fühlen? Wenn wir uns gut fühlen könnten, wäre es wunderbar. Wenn Sie denken, dass Sie sich gut fühlen, so ist es eine andere Sache. Es bedeutet, irreal zu sein; in einem Zustand der Irrealität zu leben, nur um später vorzeitig von einer verborgenen Realität niedergestreckt zu werden.

Eine junge Frau, die ich behandelte, erlebte wieder, wie sie von ihrem Stiefvater sexuell attackiert worden war. Ihre Hände überkreuzten sich automatisch hinter ihrem Rücken (ihr Stiefvater fesselte ihr die Hände auf den Rücken), sie krümmte sich nach hinten und ihre Herzfrequenz stieg auf 180 Schläge pro Minute. Diese Frau fürchtete sich vor Männern und Sex in der Gegenwart, aber die Einprägung selbst war Jahrzehnte alt; dennoch dominierte sie die meisten ihrer Beziehungen.

Eine Patientin fand heraus, dass sie immer dann Migräne bekam, wenn sie auch nur unter dem leichtesten Druck stand, wie zum Beispiel eine Arbeit für die Klasse vorzubereiten. In ihren Sitzungen erlebte sie ihre Geburt wieder, während der sie nicht genug Sauerstoff bekam (ihre Mutter erhielt schwere Betäubungsmittel). Der Druck, der ihre Blutgefäße zusammenzog und sie dann erweiterte, war ihre Einprägung. Jeder Druck, den sie später im Leben spürte, führte bei ihr zu einer Migräne, brachte sie durcheinander und ließ sie nicht mehr funktionieren.

Die Amygdala entsteht, lange bevor der Neokortex (neuer Kortex) sich entwickelt, sowohl in der Entwicklung des Individuums (ontogenetisch) als auch in unserer langen Historie vom Tier zum Menschen (phylogenetisch). An einem bestimmten Zeitpunkt in der individuellen und phylogenetischen Geschichte musste die Amygdala die ganze Arbeit alleine machen. Sie hatte keinen Hippocampus und keinen Neokortex, um die Dinge genauer zu bestimmen und um Gefühle zu lenken. Sie leitete einfach Instinkte. Sie fügte der Gleichung ihren Anteil an Furcht hinzu.

Wenn sich die Schmerzimpulse anhäufen, tendieren sie dazu, das Rezeptorsystem zu überwältigen. Das Resultat kann frei fließende Angst sein. Sie fließt frei, weil die Einprägung geschah, lange bevor Worte in Erscheinung traten, die sie hätten umschreiben und eingrenzen können. Wenn die Amygdala Ruhe gibt, ist weniger Energie auf dem Vormarsch, die uns schlecht fühlen lässt. In diesem Fall kann der frontale Kortex Angstattacken und/oder Besessenheit und Zwänge blockieren. Man könnte versucht sein zu sagen, dass die neuen Medikamente obsessiv-zwanghafte Symptome „heilen“,

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aber in Wirklichkeit heilen sie gar nichts. Sie schieben das Problem nur hinaus! Dieselben Einprägungen sind immer noch da, sie werden nur besser von Medikamenten in Schach gehalten, die sie unterdrücken und die verhindern, dass die Botschaft den frontalen Kortex überwältigt. Eine Glaubensüberzeugung ist wie eine selbst verabreichte Droge. Der Kortex weiß, was er tut, wenn er Glaubensvorstellungen ausheckt. Diese Überzeugungen gehen dorthin, wo sie benötigt werden, und helfen uns zu überleben. Es ist nicht immer eine gute Idee, jemanden von irrationalem Glauben abzubringen. Er erfüllt eine wichtige Funktion in der Ökonomie der Psyche. Und wenn wir die Glaubensüberzeugung mit der Geschichte verknüpfen, ist sie nicht so irrational wie es scheinen mag.

Der Tabernakel der Wahrheit

Die Amygdalae sind der Tabernakel der Wahrheit. Ein junger Mann erlitt eine Panikattacke, als er um eine Präsentation vor seinen Arbeitskollegen gebeten wurde. Hier kann die wirkliche Reaktion diejenige auf den Sauerstoffverlust sein und nicht Lampenfieber. Vor anderen Leuten zu sprechen, nahm die Bedeutung eines Ereignisses auf Leben und Tod an. Dieser Mann litt bei der Geburt unter Anoxie. Seine gegenwärtige Furcht resoniert mit dem Terror der Vergangenheit, und das Ergebnis ist, dass er sich so fühlt, als müsse er wieder sterben. „Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssten. Es sind Ihre Freunde,“ sagt ihm vielleicht ein Berater. Indessen haben die Amygdalae sehr viel gefunden, wovor er Angst haben müsste; der Hirnstamm greift mit der alten Anoxie und Todesangst in die Präsentation ein, und wiederum geht es um Leben und Tod. Die gegenwärtige Furcht setzte die Schmerzkette in Bewegung und rief den ursprünglichen Terror am Anfang des Lebens wach. Ja, es gab Ängste später in seiner Kindheit, die ebenso zählten. Aber die viszerale Angst hatte ihre Wurzeln vor der Zeit, als er den ersten Menschen sah. Würde der ursprüngliche Terror später nicht zusätzlich verstärkt, hätte er bei der Präsentation weit weniger Angst.

Wenn jemand in einem Zustand ist, in dem er dringend Drogen oder Alkohol braucht, so ist es die Amygdala, die sehr aktiv ist. Wenn  sich ein Süchtiger in Qualen windet und unbedingt einen Schuss braucht, dann ist laut Dr. Hans Beiter vom Massachusetts General Hospital die Amygdala die treibende Kraft.  Sie schickt ihre Botschaft hinaus, dass sie unter Schmerz steht und etwas braucht, das diesen Schmerz lindert. Es überrascht nicht, dass Antidepressiva auf die Amygdala wirken. Man beachte, dass Depressionen trotz des phlegmatischen, energielosen Ausdrucks des Individuums  Zustände hoher Aktivierung sind.

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Weil die Amygdala und andere Strukturen, die Gefühle verarbeiten, auch unterdrückende, hemmende Hormone abscheiden, kontrollieren sie letztlich den Zugang zu diesen Emotionen und haben Einfluss darauf, was wir wahrnehmen und was wir nicht wahrnehmen. Schaden an der Amygdala hindert jemanden daran, einen angstvollen Gesichtsausdruck bei anderen (und vermutlich bei sich selbst) zu erkennen; ein weiteres Indiz für die Rolle dieser Struktur bei der emotionalen Wahrnehmung. Amygdalae, die aufgrund der Schmerzlast geschwächt sind, können uns weniger einfühlsam für die Empfindungen anderer machen. Die Amygdala spielt eine Schlüsselrolle bei emotionaler Sprache und beim Weinen, so dass wir sicher sein können, dass die Amygdala beteiligt ist, wenn meine Patienten mit der Stimme eines Fünfjährigen jammern: „Mama, bitte halte mich!“ Es ist meine Vermutung, dass die vermittelnde Gehirnstruktur umso älter ist, je entfernter die Erinnerung ist. Sehr alte Gehirnstrukturen scheinen mehr in die eher geheimnisvollen und weit abgelegenen Erinnerungen unserer frühen Kindheit und der Zeit davor verwickelt zu sein.

Ein weiterer Grund, warum Einsichtstherapie, die den sich spät entwickelnden präfrontalen Kortex erfordert, nicht so wirksam ist, wie sie sein könnte, besteht darin, dass die Frontalzone versucht, die Arbeit eines sehr alten Gehirns zu erledigen, das sich mit Gefühlen befasst. Es ist der Versuch, Zugang zum Fühlen und zu tief gelegenen Empfindungen zu gewinnen. Das alte Gehirn, die Amygdala und der Hippocampus werden diesen Versuch der Einmischung nicht tolerieren und den Zugang verweigern. Es ist ein Dialog unter Tauben. Das alte Gehirn kann nicht hören und verstehen, worüber sich der frontale Kortex auslässt. Michaela Gallagher, eine Neurowissenschaftlerin an der Johns Hopkins Universität, hat herausgefunden, dass ein voll funktionierender Kortex die Amygdala und ihr Gefühle in Schach halten kann. Anders ausgedrückt wäre eine Person hyperreaktiv und würde zu sehr auf Stimuli reagieren, wenn der frontale Kortex nicht intakt wäre. Aber ein übermäßig aktiver Kortex ist genau das, was wir nicht brauchen, wenn wir fühlen wollen. Seine Hyperaktivität wird zu einer Abwehr gegen die Regression zur fühlenden Ebene. Deshalb befinden sich unsere Patienten in einem abgedunkelten, ruhigen Raum.

Der Hippocampus: Zugriff auf Kindheitserinnerungen 

Der Hippocampus liegt hinter den Amygdalae und bildet die Spitze der Widderhorn-Form des limbischen Systems (siehe Kapitel 1). Der Hippocampus befasst sich mit dem Kontext und den Umständen eines Ereignisses; die Amydalae sind mit dem emotionalen Inhalt beschäftigt. Wenn Sie fünf Jahre alt sind und Ihre Mutter zu Ihnen zum hundertsten Mal sagt: „Du bist nutzlos und dumm. Geh’ mir aus den Augen!“, werden die Umstände und das Gefühl des Ereignisses durch den Hippocampus bzw. durch die Amygdalae eingeprägt.

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Eine präzisere Bedeutung fügt der denkende Kortex hinzu, so dass die volle Verknüpfung lauten kann: „Mutter hasst mich!“ Die unterbewusste Logik des kleinen Kindes ist wahrscheinlich folgende: „Sie ist wütend, weil ich schlecht bin.“ Weil diese Erkenntnis für ein Kind so vernichtend ist, werden Endorphine abgesondert, um die volle Verknüpfung zu verhindern. Die Gefühle werden jetzt geschleust und im Unbewussten gehalten. Dann beginnt der Kampf, weil das Kind und später der/die Erwachsene sich bemüht, andere dazu zu bringen, dass sie ihn/sie lieben. Das Gefühl ist unbewusst und wird unbewusst ausagiert.

Der Hippocampus verankert neue Erinnerung, indem er mit der Frontalzone zusammenarbeitet, um Gefühle zu festigen. Sobald die Erinnerungslast zum Kortex verlagert worden ist, kann sie zu Bewusstheit gebracht werden. Der Hippocampus hat nun Raum, um mit dem Benennen von neuen Gefühlen und Bedürfnissen fortzufahren und kann neue Erinnerungen ablegen, die auf aktuellen Stimuli gründen. Bei der Konsolidierung von Gefühlen tastet der Hippocampus mit Hilfe der Amygdalae die persönliche Erfahrung ab und sucht in der Geschichte nach Schlüsseln. Wenn diese Geschichte mit Schmerz beladen ist, ist es schwer, an diese Schlüssel zu gelangen. Entweder reagiert die Person übermäßig oder sie reagiert zu schwach – redet zu viel, isst zu viel, hat keinen Sex oder nicht genug Sex, und so weiter.

Der Hippocampus ist eine der wenigen Gehirnstrukturen, die sich mit dem Alter weiter entwickeln. Forscher am Salk Institute in La Jolla, Kalifornien haben herausgefunden, dass die Anzahl der Hippocampus-Zellen als Ergebnis geistiger oder körperlicher Betätigung zunimmt.18 Ich glaube, dass früh im Leben erfahrene Liebe dem Gehirn ebenso hilft, sich weiter zu entwickeln.

Betrachten Sie den Hippocampus als Handlanger der Amygdalae. Beide haben direkte Verbindung zum Thalamus. Furcht kann sich vom Thalamus zu den Amygdalae bewegen, oder zum Thalamus via Kortex, dann zu den Amygdalae, um auf vielfältige Weise eingraviert zu werden. Bei einigen kann es schon zu einem plötzlichen Angstanfall kommen, wenn sie morgens aufstehen, weil sie in dieser Phase relativ abwehrlos sind. Furcht kann vom Thalamus unter Auslassung des frontalen Kortexes zu den Amygdalae wandern und dort eine unmittelbare Krisenreaktion auslösen. Das nennt man emotionales Lernen. Eine Region der Amygdalae hat Verknüpfungen zum Hirnstamm, der den Herzschlag und andere automatische Funktionen erhöht. Eine traumatische Geburt bringt das Gehirn in Schieflage, so dass thalamische Bahnen den Vorrang vor den kortikalen Bahnen gewinnen. Die Frontalregion wird dann nach einem Feeling lediglich für „Aufräumarbeiten“ eingesetzt.

Der Hippocampus schwächt auch emotionale Reaktionen ab. Wenn sich schwerer Schmerz einprägt, so bürdet das dieser Struktur eine große Last auf. 

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Schließlich beginnt der Hippocampus zusammenzubrechen oder er schwindet, und die Erinnerung wird fehlerhaft und flacht ab. Wenn die Degeneration anhält, kann es zu permanentem Gedächtnisverlust kommen. Es hat sich mittels Autopsie herausgestellt, dass Hippokampus-Zellen bei Psychotikern total ungeordnet sind. 19 Eine Reihe von Studien über schwere psychische Krankheiten hat aufgedeckt, dass die Hippocampus-Region überaktiv wird, wenn die Funktion des frontalen Kortexes nachlässt. Emotionen brodeln, während die Integrationszentren verfallen.

Eine massive Gefühlsentladung der Amygdalae legt den Hippocampus still. Das ist eine weitere Art, wie die Schmerzbotschaft daran gehindert wird, den frontalen Kortex zu erreichen. Der Hippocampus sagt: „Mir reicht’s. Die Nachricht überbringe ich nicht. Das ist zuviel Leid.“ Er lässt den frontalen Kortex im Dunkeln. Niemand kann dem Individuum sagen,  welche Gefühle tief drinnen verborgen sind, weil sie niemand außer diesem Individuum fühlen kann.

 

   

Abb. 2.   Hippocampus: Verankert neue Erinnerung; bewahrt die Erinnerung als Fakt. Amygdala: Das Fühlen des Gefühls; Erinnerung als Emotion.

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Jeder Auslöser, sagen wir ein angewiderter Blick eines Elternteils oder ein verächtlicher Tonfall des Chefs kann den Hippocampus dazu bringen, dass er die Erinnerung wieder hervorholt. Das bewerkstelligt er durch seinen Abtastmechanismus: Der Auslöser resoniert mit einem verschlüsselten Gefühl aus der Vergangenheit, holt es aus dem limbischen Lagerhaus heraus und katapultiert es in Richtung vollständiges Bewusstsein. Die Information aktiviert physische Systeme, die Angst erzeugen und die Gefahr signalisieren, dass sich das ursprüngliche Ereignis dem Bewusstsein nähert. Es ist das frühe Trauma im Mutterleib plus das Geburtstrauma, welche die viszerale Reaktion erzeugen, die wir Angst nennen. Sie geschieht, weil ein bestimmtes gegenwärtiges Ereignis (ein ärgerlicher Tonfall eines anderen) den Prototyp in Gang setzt. Die Gefahr im Tonfall löst die primär eingeprägten Ängste aus. Es kommt zu einer übermäßigen Sekretion des Stresshormons Kortisol, weil das die ursprüngliche lebensrettende physiologische Reaktion war. Das Problem ist, dass diese Reaktion ohne Verknüpfung geschieht, weil es praktisch unmöglich ist, Zugang zu der Erinnerung ohne systematische Annäherung zu gewinnen, die darin besteht, dass man zuerst durch geringere Schmerzen geht. Somit haben wir jetzt frei fließende Angst.

Wir brauchen Zugang zu unseren Gefühlen, um ein intelligentes Leben zu führen. Jemand kann fähig sein, mathematische Probleme logisch auszuarbeiten, während er gleichzeitig ein chaotisches Leben führt, das von Drogen und gefährlichem Ausagieren geprägt ist. Ein brillianter Geschäftsmann, zum Beispiel, versteht die Kunst des Geschäftsabschlusses, ist erfolgreich, sozial, und dennoch ist sein Leben leer. Sein Leben sieht gut aus, aber er kann es nicht genießen. Wie einer meiner Patienten sagte: „Ich habe einen faszinierenden Job. Zu dumm, dass er mich nicht interessiert.“ Ein Mann kann sein ganzes Leben mit dem Versuch verbringen, sich wichtig zu fühlen, weil er niemals für die Leute wichtig war, die zählten, nämlich seine Eltern. Wir können unsere Beziehungen verpfuschen, weil uns diese „Liebes-Einprägung“ früh im Leben fehlt.

Wenn meine Patienten ein Gefühl voll wiedererleben, kommen sie daraus mit einer großen Anzahl von Assoziationen und Einsichten hervor, die ganz unterschiedliche Verhaltensmuster abdecken. „Jetzt verstehe ich, warum ich mein ganzes Leben zu spät kam, und warum ich es in der Schule nie in einem Klassenzimmer ausgehalten habe,“ sagen sie. „Ich konnte es nicht aushalten, eingeengt oder eingeschlossen zu sein, zuerst im Geburtskanal, dann im Kinderbettchen und dann zu Hause, wo meine Eltern so streng waren.“ Fühlen hat ihrem Verhalten Bedeutung verliehen. Eine Patientin musste vor Gericht erscheinen. Dort stand sie einem Psychopathen gegenüber, der lügte. Sie fühlte sich völlig hilflos. Sie kam hinterher in die Sitzung und fühlte sich zuerst allgemein hilflos, dann im Umgang mit ihren Eltern, die jeden ihrer Schritte kontrollierten, und schließlich fühlte sie die Hilflosigkeit bei der Geburt, als ihre Mutter eine massive Dosis Betäubungsmittel erhalten hatte.

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Diese Hilflosigkeit war der Prototyp, auf dessen Grundlage sich alle späteren Erfahrungen entwickelten. Hilflosigkeit wurde zu einem Gefühl, das sich aus mehreren Komponenten zusammensetzte und sich immer wieder verstärkte.

Der Prototyp der Hilflosigkeit steuert viele Charakteristika des späteren Lebens wie Angst vor Veränderung, Rigidität und Mangel an Spontanität. Das

 

 

Abb. 3. Frontaler Kortex: Bedeutung und Verstehen; Integration des Feelings; Hippocampus: durchsucht die Geschichte und ruft ähnliche Ereignisse ab;     reichert den Strom des Bewusstseins an; Amygdala: hilft, das System zu elektrisieren, wenn sie Gefahr entdeckt.

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Unbewusste warnt: „Du kannst an deiner Situation nichts ändern.“ Wenn Sie ursprünglich nichts tun konnten, um Ihr Leben zu retten, sind Sie in der Tat hilflos.

Der Schmerz, der zu Magersucht führt

Ein magersüchtiges junges Mädchen, das ich behandelte, wurde im Alter von sechs bis neun Jahren zum Oralsex am Freund ihrer Mutter gezwungen. Als sie später Anorexie und Bulimie entwickelte und sich immer wieder vollstopfte und anschließend übergab, erbrach sie unbewusst das, was der Freund ihrer Mutter in sie ejakuliert hatte. Das Abstoßen der Sperma-Flüssigkeit war ein Überlebensmechanismus; ihr Körper wies eine fremde und bedrohliche Kraft von sich. All dies geschah nach dem Alter von fünf Jahren. Ich hätte niemals die Verknüpfung zustande bringen können, die sie in Ihren Gefühlserlebnissen herstellte, weil es dann mein Kortex wäre, der versuchen würde, die Einprägung einer tieferen Ebene im Gehirn eines anderen Menschen herauszufinden.

Anorexie hat ihren Ursprung oft im Hirnstamm, während die bewusste Entscheidung, sie zu bekämpfen, weit vom Hirnstamm entfernt lokalisiert ist. Sich auf einen solchen Dialog zwischen dem Kortex und dem Hirnstamm einzulassen, kommt einer Konversation gleich, die viele Millionen Jahre der Entwicklung überspringt, weil der frontale Kortex gebeten wird, die Arbeit des Hirnstamms zu erledigen. Es ist nichts anderes als der Versuch, allein Willenskraft im Kampf gegen Anorexie einzusetzen.

Es ist bekannt, dass „Speed“ den Appetit reduzieren kann. Die Person, die durch interne Überstimulierung auf Speed ist, kann allein durch diese Tatsache ihren Appetit verlieren. Anorexie kann in einem beruhigenden und ermutigenden häuslichen Gruppenmilieu behandelt werden, zum Beispiel in einem Reha-Zentrum, und manchmal können die Symptome ausgemerzt werden, aber die dahintersteckende Dynamik wird niemals ausgelöscht. Dennoch ist es wichtig, das Symptom zu behandeln, weil es fatal sein kann.

Das untere Gehirn weiß mehr über seine eigene interne Realität als irgendein außenstehender Experte. Die Anorexie meiner Patientin hielt an, weil ihr Überlebensmechanismus stärker war als jede therapeutische Methode. In diesen Fällen kann die konventionelle Psychotherapie keine Hilfe bieten, es sei denn auf einer oberflächlichen Ebene. Oft glauben sowohl Patient als auch Arzt, es sei ein Fortschritt erzielt worden, obgleich der Arzt sich in Wirklichkeit mit der einen Realität befasst, während Gehirn und Körper der Patientin sich mit einer anderen beschäftigen.

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Eine Patientin von mir, Sandra, erzählte von ihrem Kampf mit Anorexie und von ihrem Weg zur Genesung. Die folgende Fallgeschichte von Sandra stellt wieder einige Ursachen heraus, nicht nur von Anorexie, sondern auch von suizidalen Tendenzen. In ihrem Fall wäre sie beinahe bei der Geburt gestorben. Sie war zu Beginn ihres Lebens von Todesgefühlen überflutet, die zu einer Einprägung wurden, so dass sie davon besessen war. Es ist nicht oft der Fall, dass jemand sterben will. Es ist vielmehr so, dass die Einprägung besagt, dass der Tod die Agonie beenden kann. Es ist diese Gleichung aus der Geburt,  die einen Menschen sowohl zum Tod hin als auch von ihm weg treibt. Fügt man der Mixtur Hoffnungslosigkeit hinzu, ergibt das ein Gefühl drohenden Todes zusammen mit dem Gefühl, dass es keinen Zweck habe, irgendetwas ändern zu wollen. Die meisten meiner Patienten, die vom Tode besessen sind, sagen mir, ihr Gefühl sei, dass der Tod unmittelbar bevorstehe und kein weit entferntes Ereignis sei. Was unmittelbar bevorsteht, ist, dass die Todesempfindung aus der Geburt in Richtung Bewusstheit aufsteigt und Zwangsvorstellungen erzeugt.

Sandras Geschichte

Meine Mutter wollte mich nicht; sie versuchte mich abzutreiben. Als das nicht funktionierte, hungerte sie, damit man ihr die Schwangerschaft nicht ansehen würde. Schließlich fing sie während ihres (meines) siebenten Monats zu essen an, weil sie begonnen hatte, sich zu zeigen. Als ich geboren wurde, war ich anorektisch und konnte nichts unten halten. Ich spüre jetzt, dass ich mich am Rande des Verhungerns halte, weil ich dieses Gefühl ganz von Anfang an gehabt habe.

Bevor ich geboren wurde, verlor meine Mutter während des fünften Monats ein Baby. Dasselbe geschah mit mir, nur dass ich irgendwie stark genug war, um zu überleben.

Heute fühle ich dieselbe Toxizität und mit ihr die Todesgefühle, die mich mein ganzes Leben lang gequält haben. Ich hatte immer eine leichte Empfindung von Übelkeit, vor allem gleich nach dem Essen. Mein Impuls war, alles auszuspeien, das in meinen Körper kam. Ich verstehe jetzt, dass ich jene Vergiftungs-Erfahrung im Mutterleib immer wieder inszeniert habe. Ich muss diesen Impuls zum Ausspeien gehabt haben, um im Mutterleib zu überleben – und vielleicht war es sogar dieser Impuls oder eine primitivere Variante, der mich am Leben hielt. Dennoch hätte mich dieser Impuls später dann beinahe getötet, als ich begann, soviel Gewicht zu verlieren.

Wann immer ich mich in einer Situation von Stress oder Verletzlichkeit befinde, kommen dieselben Todesgefühle herauf, und mein Körper ist gezwungen, sie zu unterdrücken.

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Im Schlaf sinke ich auf etwas hinab, das sich wie die Bewusstseinsebene eines Babys anfühlt; das Ergebnis ist, dass ich schreckliche Angst bekomme und Probleme habe, überhaupt in Schlaf zu fallen. Beim Sex bin ich verletzlich, so dass ich einfach abschalte, wenn ich zu erregt bin. Ich bin seit Jahren suizidal, und nun sehe ich warum. Schon bevor ich geboren wurde, war ich vom Tod umzingelt und musste ihn abwehren!

Demselben Muster, meine Gefühle zu blockieren, folgte ich in der Therapie. Sobald Gefühle aufkamen, war ich überlastet und verdrängte das Gefühl, das mich in der Gegenwart beschäftigte, und reagierte die ganze Energie, die in mir gefangen war, einfach ab oder setzte sie Hals über Kopf frei. Ich wurde immer als „Hysterikerin“ betrachtet. Ich konnte mich nicht auf irgendein Gefühl konzentrieren, weil ich einen Vulkan in mir hatte, mit dem ich mich befassen musste. Keiner meiner Körperprozesse funktionierte richtig, weil mein Körper immer das Todesgefühl gefangen hielt. Um dieses Gefühl mussten sie sich in der Primärtherapie kümmern, bevor mein Körper wieder funktionierte.

Der Hirnstamm: Instinkt und Überleben 

Der unterste Teil des Gehirns, der in die Wirbelsäule überleitet, wird als Hirnstamm bezeichnet. Er besteht aus vielen Strukturen und beinhaltet das retikuläre Aktivierungssystem, die Medulla und den Locus caeruleus. Er ist das erste organisierte Zentralsystem, das sich mit Ereignissen befasst und sie registriert, besonders mit solchen vor der Geburt und mehrere Monate danach.

Wenn Gefahr im Verzuge ist, schlägt der Hirnstamm Alarm und energetisiert den Körper. Er ist an der Regulierung vitaler Funktionen wie Atmung, Blutdruck und Herzschlag beteiligt. Das alles sind instinktgesteuerte, automatische Funktionen. Der Hirnstamm trommelt die Truppen zusammen, indem er das übrige Gehirn und den Körper über Nervenfasern aktiviert, die direkt zum frontalen Kortex und auch zum Limbischen System verlaufen.

In Hirnstamm-Strukturen wie dem Locus caeruleus eingravierte Furchtsig­nale werden zum Kortex auf die obere Ebene gesendet, der sie dann zu einer Phobie, einer Zwangsvorstellung oder zu einem Angstgefühl zusammensetzt, deren Ursachen für den Menschen tief im Dunkeln liegen. „Warum Angst?“ könnte man fragen. Weil Angst kortikale Verarbeitung erfordert; andernfalls ist es Terror der unteren Ebene. Sie müssen sich des viszeralen Grollens bewusst sein. Angst ist nur amorpher Terror. Angst ist ein „teilbewusster“ Zustand. Wir fühlen uns schrecklich, wissen, dass etwas nicht stimmt, aber wir wissen nicht, was es ist und warum es geschieht. Als ich ein MRI* für meinen Rücken machen ließ und eineinhalb Stunden in einer engen Metallröhre eingeschlossen war, wies ich den Techniker an, in unregelmäßigen Intervallen hart auf meine Füße zu klopfen (sie ragten heraus), um Angst zu vermeiden. Es funktionierte. Keine Angst; keine Fähigkeit, die Furcht kortikal zu erzeugen und aufzubauen.

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* Magnetic Resonance Imaging (Magnet-Resonanz-Tomographie), Anm d.Ü.;  

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Stellen Sie sich den Hirnstamm als das Reptilien-Gehirn vor.20 Er ist das, was wir mit unseren animalischen Vorfahren gemeinsam haben. Traumen, die in der Schwangerschaft geschehen, stehen in direkter Verbindung mit diesem System.

Das ist der Grund, warum sich ein Patient während eines Feelings in der Sprache tierischer Physiologie und Anatomie „erinnert“, mit überkreuzten Beinen, Kurzatmigkeit, Grunzen, Würgen und Husten. Indem wir geeignete Techniken benutzen, können wir auf diese primitive Ebene zugreifen.* Wenn der Patient während einer Sitzung schreit, ist es das Wimmern eines Neugeborenen, nicht der Schrei eines dreijährigen Kindes. Wenn eine Patientin etwas wiedererlebt, das im Alter von sechs Jahren geschah, ist das Schreien charakteristischerweise das einer Sechsjährigen. Steigt sie jedoch die Schmerzkette hinab, wird das Schreien automatisch infantiler. Wenn sie beim Hirnstamm ankommt, ist es kein Schreien mehr; es ist ein Grunzen oder ein Ächzen. Selbst ein Babyschrei, wenn er während eines Geburts-Primals geschieht, sagt uns, dass es kein reales Ereignis ist.

Anoxie kann niemals erklärt werden. Sie ist ein physiologischer Zustand und kein Gedanke. Deswegen ist Angst so amorph. Sie ist rein physisch, viszerale Empfindung – ein Würgen, eine Enge in der Brust, ein aufgewühlter Magen und ein einengendes Band um den Kopf, Benommenheit, Schwindel, Kurzatmigkeit, Herzaussetzer, und so fort. Diese Anoxie ereignete sich lange vor der Entwicklung des logischen Kortex, der ihr einen Sinn hätte geben können. Je eingeschränkter die gegenwärtige viszerale Reaktion ist (zum Beispiel ein umgedrehter Magen, Kolitis, Diarrhoe), umso wahrscheinlicher liegt die Ursache in der präverbalen Vergangenheit. Die prototypische Reaktion, die ihren Anfang bei der Geburt nahm, ist jetzt die erste Antwort auf jede neue Bedrohung. Im Angesicht einer aktuellen Gefahr tastet der Hippocampus die Geschichte ab, um den Prototyp zu finden, der die Reaktion bestimmt. Sie gründet auf dem Überlebensinstinkt.

Der Hirnstamm hat sein eigenes Gedächtnissystem. Die Art, wie wir atmen, zum Beispiel, und die Kraft und der Tonfall unserer Stimme oder unser generelles Energieniveau haben ihren Ursprung in dieser Gehirnregion der ersten Ebene. Diejenigen, deren Sprechweise etwas Durchdringendes an sich hat, werden oft von der Macht eingeprägter Empfindungen gelenkt, welche die Domäne der ersten Ebene sind. Obwohl die Sprache an sich eine höhere Gehirnfunktion ist, kann die Energie einer eindringlichen Sprechweise vom Reptilienhirn aus gesteuert werden. Wenn wir jedoch krank sind, verlieren wir oft unsere kraftvolle Sprache. Warum sehen kranke Leute krank aus? Weil uns eine Virusattacke genau wie eine Gefühlsattacke unter Stress setzt, der Energie verbraucht. Die Stimme zum Beispiel ist nicht mehr dröhnend und gewaltig.

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*Die Veröffentlichung unserer Techniken würde ein weiteres Buch erfordern. Es dauert sechs Jahre, sie zu erlernen. Sie zu veröffentlichen birgt die Gefahr des Missbrauchs.

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Die Arbeit des frontalen Kortex: Wie sich sonderbare Gedanken entwickeln

Der Hirnstamm hält den Tonus und die Spannkraft des frontalen Kortexes aufrecht. Er benötigt eine gewisse Menge an Eingaben, um sich selbst in einem guten, arbeitsfähigen Zustand zu halten. Der frontale Kortex hat direkten Zugang zur Medulla und beeinflusst somit die Herz- und Atmungsfunktion. In umgekehrter Manier reguliert der frontale Kortex den Ausstoß des Hirnstamms.

Zuviel Input vom Hirnstamm bewirkt, dass wir leicht ablenkbar und konzentrationsunfähig sind. Stellen Sie sich bildlich eine Faust vor, die nach oben in ein Puzzle hineinstößt und die Teile kreuz und quer verstreut. Grob gesagt geschieht das, wenn Eingaben von unten mit unverminderter Wucht zum frontalen Kortex aufsteigen, der verzweifelt versucht, all die Teile wieder zusammenzusetzen. Der frontale Kortex fällt auseinander und verliert den Zusammenhalt. Paranoia zum Beispiel ist ein letzter Versuch, die Fragmentierung abzuwehren. Es ist der Versuch des Kortex, alle Ängste zu sammeln und ihnen eine vernunftmäßige Erklärung beizufügen. Wenn Paranoia versagt, haben wir eine geisteskranke Person. Hier also haben wir ein Beispiel, wie jemand psychotisch wird (Paranoia), um völlige Verrücktheit abzuwenden. Zumindest funktioniert der Paranoide: Er kann einen Job beibehalten, für sich selbst sorgen, eine Familie unterhalten, etc.

Ein Patient, der unter Paranoia litt, glaubte, der Zeitungsverkäufer unten an der Straße wolle ihn töten. In unseren Sitzungen gelangte er schließlich zu der Hirnstamm-Einprägung der Anoxie (Sauerstoffentzug) bei der Geburt. Die Einprägung stieg nach oben zum frontalen Kortex, wo das Gefühl vier Jahrzehnte später von „Ich werde sterben“ zu „Sie wollen mich töten“ umgewandelt wurde. Die Einprägung wusste, dass der Tod lauerte, aber weil sie keine Verbindung zustande brachte, kannte der Kortex nicht den Grund für dieses Gefühl. Seine Paranoia nahm so weit zu, dass er Wahnvorstellungen entwickelte und alle seine Befürchtungen auf die Gegenwart konzentrierte. Das bizarre Zeitungsverkäufer-Szenario entwickelte sich aufgrund der großen Kraft seines Geburtsschmerzes, bei dem es um Leben oder Tod ging, und weil sein Abwehrsystem durch so viele Verletzungen in seiner Kindheit geschwächt worden war. 

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Auch seine Eltern verletzten ihn beinahe jeden Tag seines Lebens. Sie wollten keine Kinder. Er war ein Unfall, und sie wollten sicher stellen, dass er dafür bezahlte, dass er sie ihrer Freiheit und ihres Lebens beraubte. Hätte die Einprägung ihren Ursprung nicht bei der Geburt gehabt sondern viel später im Leben, würden wir kaum so eine Wahnvorstellung sehen, wie sie dieser Patient hatte.

Albträume sind ein Anzeichen, wie der Kortex und Teile des Limbischen Systems bis zum Äußersten getrieben werden. Das Gefühl im Albtraum ist die exakte Replik des ursprünglichen Traumas; das Gefühl, nicht die Bilder. Die Bilder sind eine Verkleidung der Empfindung. Wir verwenden keine Zeit darauf, die Bilder und den Inhalt zu analysieren; wir gehen der Sache geradewegs auf den Grund. Wir benutzen die Symbole und Bilder in dem Traum. Der Patient lässt sich von dem Gefühl überfluten und gleitet dann auf dem Gefährt des Fühlens den Weg zu dessen Wurzeln hinab. Wenn das Gefühl jedoch zu stark ist, werden wir den Patienten nicht dorthin gehen lassen, besonders wenn er neu ist. Grundsätzlich wird sein Gehirn es nicht zulassen und die Schleusen dicht machen. Aber wenn die Schleusen durch vielschichtigen Schmerz aus dem ganzen Leben geschwächt sind, dann helfen wir aus. Es könnte sein, dass man an diesem Punkt Beruhigungsmittel benötigt. Sie leisten genau das, was der Kuss einer Mutter geleistet hätte. Albträume bedeuten defekte Abwehr, den Durchbruch von schwerem Schmerz. Gewöhnlich schaffen es die Träume ganz alleine, das Gefühl in Bilder einzuhüllen. Nur wenn das versagt, haben wir Alpträume. Träume sind die Maskierung für Primärgefühle; andernfalls würden wir aufwachen und wären in der Realität. Sie lassen uns weiterschlafen. Einige von uns erinnern sich ihrer Träume, weil sie partiellen Zugang zu dieser Ebene haben.

Unser Versuch, den oben genannten Patienten mit Vernunftargumenten zu überzeugen, dass ihn niemand töten wolle, war zwecklos, weil sein Körper und Gehirn wussten, dass der Tod um die Ecke lauerte. Das war keine „Gedankenstörung“, wie sie in der psychiatrischen Literatur berichtet wird. Tatsächlich ist es überhaupt keine Störung. Es ist eine Anstrengung der letzten zerebralen Verteidigungslinie des Körpers, einem verborgenen Gefühl einen Sinn zu geben. Es ist ein Kompensationsmechanismus, der uns hilft, gesund zu bleiben, wenigstens einigermaßen gesund. Seine Funktion besteht darin, das Zustandekommen der Verknüpfung zu verhindern, weil das bedeuten würde, dass sich die Messwerte vitaler Funktionen in einem gefährlichen Bereich bewegen.

Medikamente, welche die hochwallende Botschaft des Hirnstamms besänftigen oder unterdrücken, lindern nur das Syndrom.  Es ist keine Überraschung, dass diese Medikamente auch obsessiv-zwanghafte Symptome dämpfen, wie ständiges Händewaschen oder dutzende Male zu überprüfen, ob die Türen verschlossen sind. Sie verringern die Arbeit, 

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ie der Kortex zu leisten hat, indem sie im Neokortex endende Impulse des Hirnstamms und Limbischen Systems verlangsamen. Es ist egal, ob es sich um Zwangsvorstellungen, Aufmerksamkeitsmangel oder Paranoia handelt; alles das bezieht den denkenden frontalen Kortex und seine limbischen Verknüpfungen mit ein. Es ist offensichtlich, warum dieselbe Pille alle diese Störungen bis zu einem gewissen Grad unterdrückt.

Zwangsvorstellungen, nächtliche Grübeleien, während man versucht einzuschlafen, und mystische Ideen sind die Art und Weise, wie der Kortex mit Gefühlen verfährt und sie zurückhält. Es ist gewiss ein angenehmeres Gefühl, wenn Sie glauben, von einer mächtigen Instanz beschützt zu werden, als wenn Sie sich völlig nackt und schutzlos fühlten. Wenn unsere Gefühle mit unserer Gedankenwelt übereinstimmen, kann das System schließlich zur Ruhe kommen.

Fühlen - Kern unseres Menschseins

Wann immer Hirnstamm-Einprägungen im Spiel sind, kann ich es aus dem Muster des Weinens während eines Gefühlserlebnisses heraushören; das sporadische, abgeflachte Schluchzen; und der Ausfall der Atmung. Wenn ich eine Normalisier­ung der Körperfunktion sehe - eine niedrigere Körpertemperatur zum Beispiel - bin ich mir sicher, dass Abspaltung der Missetäter war und Wiederverknüpfung mit dem ursprünglichen Ereignis der Retter. Ich bin in der Lage, mit Gewissheit zu behaupten, dass Wiederverknüpfung das System neu stabilisiert, weil ich es bei meinen Patienten immer wieder gesehen habe. Nichts ist so wohltuend, als nagende Spannung und Angst loszuwerden und dieses Gefühl abzuschütteln, ungeliebt zu sein.

Fühlen macht uns menschlich. In der Primärtherapie helfen wir den Patienten, sich unwohl zu fühlen, aber nur für kurze Zeit. Wollten wir nicht instinktive Gewalten des Hirnstamms mit höheren Ebenen des Gehirns verbinden, hätten wir keine so direkte Verknüpfung von Nervennetzwerken.

Es gibt ein biologisches Bedürfnis nach Ganzheit und Wiedervereinigung; eine Erinnerung an Gesundheit, daran, wie wir einst waren, liegt in jedem von uns. Wenn sich der Körper durch die Wiedererfahrung früher Gefühle normalisiert, dann können wir annehmen, dass er durch die ursprüngliche Erfahrung jenes Schmerzes aus der Bahn gebracht worden war. Wenn der Patient ein Trauma wiedererlebt, das seinen Blutdruck auf das Zweifache erhöhte, und er ihn später auf normale Werte zurückbringt, gibt es nichts, was wir rauskriegen müssten. Die Geschichte bindet das Symptom an die Vergangenheit.  

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Quellenverweise und Anmerkungen

 

N. 1         Allan Schore beschreibt den reverbierenden Prozess: “Diese posterior kortikal-präfrontal-subkortikal limbisch-präfrontal-posterior kortikale  Schleife  aktiviert einen reverbierenden (sich selbst wiederauslösenden) Kreisprozess, der eine Langzeitgedächtnis-Funktion vermittelt.“ Allan        Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self: The Neurobiology of Emotional Development (Hillsdale, N. J.: Lawrence Erlbaum and                   Associates, 1994), s. 297.

 

N. 2         J. W. Smyth et al., « The Interaction between Prenatal Stress and Neonatal Handling on Nociceptive Response Latencies in Male and Female Rats,”   Physiology and Behavior 55, no. 5 (Mai 1994): 973

N. 3         J. W. Smyth, W. B. Rowe und M. J. Meaney, “Neonatal Handling Alters Serotonin (5HT) Turnover and 5HT Receptor Binding in Selected Brain          Regions,” Developmental Brain Research 80 (15. Februar 1994): 183-89.

N. 4         D. Peters et al., « Effects of Maternal Stress During During Different Gestational Periods on the Serotonergic System in the Adult Rat Offspring, »     Pharmacology, Biochemistry and Behavior 31 (1989): 839-43.

N. 5         Ibid.

N. 6         M. J. Meaney et al., “Early Enviromental Regulation of Forebrain Gluto-corticoid Receptor Gene Expression: Implications for Adreno-cortical Responses to Stress,” Developmental Neuroscience (Montreal, Kanada) 18 (1996): 49-72.

N. 7         Daniel Goleman, Emotional Intelligence (New York: Bantam, 1995).

N. 8         B. Dalens, “La Douleur Aigue de l’enfant et son Traitement,” Annals Franciases D’Anesthesie et De Reanimation (Paris) 10 (1981) : 40-41.

N. 9         W. J. H. Nauta und Michael Feirtag, « The Organization of the Brain, » Scientific American 241, no. 3 (September 1979): 88-98.

N. 10       Siehe Time, 5. Mai 1997, s. 78 für eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse.

N. 11       M. Weinstock, „Prenatal Stress Increases Anxiety-Related Behavior and Alters Cerebral Lateralization of Dopamin Activity,” Life Sciences 42                   (1988): 1059-65.

N. 12       Es sollte jedoch hinzugefügt werden, dass unterschiedliche Neurotransmitter in unterschiedlichen Teilen des Gehirns unterschiedlich wirken. So  kann Dopamin in einigen tieferen Arealen inhibitorisch sein und und inhibitorisch im Kortex, indem es die frontale Region zu erhöhter Effektivität       stimuliert.

N. 13       „A Shocking Case of Depression,“ Science News 154, no. 22 (28. November 1998): 344.

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N. 14       Siehe unsere eigene Forschung, The New Primal Scream (Der Neue Urschrei), erhältlich im Primal Center, Venice, Kalifornien

N. 15       Antonio Damasio, The Feeling of What Happens (New York: Harcourt Brace, 1999), s. 46.

            N. 16       Persönliche Korrespondenz, 1. Januar 2000.

N. 17       R. Gagin, E. Cohen und Y. Shavit, „Prenatal Exposure to Morphine Feminizes Male Sexual Behavior in the Adult Rat,“ Pharmacology, Biochemistry     and Behavior 38 (1997): 345.

N. 18       H. Van Praag er al., „Running Enhances Neurogenesis, Learning, and Long-Term Potentation in Mice,“ Proceedings of the Natinal Academy of          Science USA 96, no. 23 (9. November 1999): 13427-31; G. Kempermann, H. G. Kuh und F. H. Cage, „More Hippocampal Neurons in Adult Mice                   Living in an Enriched Environment,“ Nature 386, no. 6624 (3. April 1997): 493-95.

N. 19       Stephen Plotkin, University of California at Irvine, in “Study Links Schizophrenia, Cells,” Outlook, 16. Mai 1996.

 

           N. 20       Paul Mac Lean, The Triune Brain in Evolution: Role in Paleocerebral Functions (New York: Plenum Press, 1990).

 

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KAPITEL 3

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DIE ALARMSTATION

Das retikuläre Aktivierungssystem

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Es ist nicht in erster Linie Aufgabe des retikulären Aktivierungssystems, globale Information an höhere Zentren weiter zu leiten. Vielmehr „misst“ es den Betrag der durchlaufenden Information und aktiviert das Gehirn in ausreichendem Maße, so dass es sich mit der gegebenen Menge befassen kann. Das System reift früh, noch vor der Geburt, und aktiviert die auf einer gegebenen Entwicklungsstufe jeweils höchste verfügbare Ebene neurologischer Funktionen.

Schmerz mobilisiert das System, hält es wachsam, signalisiert Gefahr und möglichen Schaden. Diese Information zu organisieren, ist Aufgabe des retikulären Aktivierungssystems. Diese netzähnliche Struktur ist eines der Schlüsselareale für Norepinephrin-Konzentration, die dazu beiträgt, dass wir wachsam bleiben. Ein Spezialist erklärt: „Sowohl Norepinephrin als auch Dopamin (die aktivierenden neurochemischen Substanzen) schicken ihre Axone (die langen Verbindungsarme) in den zerebralen Kortex......hochkomplexe und komplizierte Muster intellektueller Aktivität im Kortex werden von evolutionär primitiven Katecholaminsystemen beeinflusst.“ 1 Das bedeutet, dass Hirnstamm-Orte lange Verbindungsarme – Nervengeflechte - zu den frontokortikalen Arealen senden, die der Information Bedeutung geben. Das ist die Art und Weise, wie Hirnstamm-Einprägungen den Gedanken bildenden Geist aktivieren und ihn in große zwanghafte Unruhe versetzen. Das hindert uns dann daran, uns zu entspannen und einzuschlafen. Wir sind überaktiviert, nicht durch Gedanken, sondern durch nonverbale Einprägungen, die uns zum Denken und Grübeln antreiben. Warum können wir nicht schlafen? Weil wir von unserem zerebralen Abwehrsystem loslassen, wenn wir uns Strukturen einer tieferen Ebene annähern, nämlich genau denen, die Schmerz signalisieren.

Wenn sich Schmerz eingeprägt hat, kann es sein, dass das System den frontalen Kortex überstimuliert. Dann sehen wir obsessiv-zwanghaftes Verhalten oder Phobien, da der Frontalbereich sich anschickt, die eingeprägte Überlast zu entladen. Oder abhängig von der Natur des frühen Traumas, wie zum Beispiel massiver Anästhesie bei der Geburt, schaltet das retikuläre Aktivierungssystem ab und kann vielleicht keine ausreichende Stimulierung liefern, um den frontalen Kortex in aktivem und effektivem Zustand zu halten. Das Resultat ist eine phlegmatische Persönlichkeit mit Passivität und unkonzentrierten, wirren Gedankenmustern. Das ist auch das Muster eines „Verlierers“, der anscheinend nichts in die Wege bringt. Manchmal schalten Gedanken, die sich auf absteigenden retikulären Bahnen bewegen, Empfindungen und Gefühle ab und verhindern, dass Impulse den frontalen Bereich überfluten.

Der Frontallappen hat direkte Verbindungen zu diesem System und kann physiologische Zustände kontrollieren. Tierstudien weisen darauf hin, dass Streicheln oder Tragen dieser Tiere das retikuläre Aktivierungssystem abschwächen oder modulieren kann, was sie weniger nervös sein lässt. Man kann das retikuläre Aktivierungssystem durch Berührung als auch durch Medikamente beruhigen. Berührung ist weitaus effektiver. Ich habe Patienten beobachtet, die sich in Qualen wanden, als sie ihre Eltern um Berührung anflehten. Während kritischer Perioden ist Zärtlichkeit und Berührung wesentlich für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Nach dieser Periode wird alle Berührung der Welt den Schaden nicht völlig beseitigen können; eine bestimmte Menge an Körperkontakt-Deprivation wird bleiben. Und genau das ist oft der Antrieb hinter zwanghafter sexueller Aktivität bei Frauen – und ebenso bei Männern. Wenn das System aktiviert wird, wie bei sexueller Erregung, droht auch die gesamte Aufmachung vergrabener Gefühle wieder an die Oberfläche zu kommen. Wenn die Einprägung hochgradiger Erregung ursprünglich zum „Abschalten“ führte, dann wird hochgradige sexuelle Erregung zum Abschalten des sexuellen Erlebens führen. Wenn etwas wie bei Sex sehr erregend ist, tastet das Gehirn seine Geschichte nach Erregung gleichen Niveaus ab und sucht nach der richtigen Antwort. Wenn die ursprüngliche Reaktion auf massive Stimulierung Verschließen oder Abschalten war (wie im Geburtstrauma), dann wird es wieder zum Verschließen kommen. Hier liegt eine mögliche Ursache von Frigidität.

Ich möchte hier ganz deutlich werden. Wenn im Erwachsenenalter ein Ereignis hoher Valenz (Kraft) stattfindet, wie zum Beispiel sexuelle Erregung, zwingt dieses Ereignis die limbischen Strukturen, nach anderen Ereignissen von gleich hoher Valenz zu suchen, wie zum Beispiel nach dem Geburtstrauma, und löst es dann aus. Es holt auch andere Kindheitstraumen hervor, so dass jetzt hochgradiger Schmerz im Aufsteigen begriffen ist mitsamt den Abweichungen, die sich ereigneten – zum Beispiel, Mutters Slips anzuziehen. 

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Der Sextrieb wird nun durch die persönliche Lebensgeschichte beeinträchtigt. Vielleicht ergeben sich unablässige homosexuelle Fantasien, wenn sexuelle Erregung aufkommt – das Bedürfnis nach Vaters Liebe in einem Mann. Dieses normalerweise gut verdrängte Bedürfnis ist aus den Angeln gehoben worden und dringt in den sexuellen Akt ein. Wenn das aktuelle Ereignis, ein vergnügliches Basketballspiel, von nicht so hoher Valenz ist, würde es vielleicht die sexuellen Fantasien oder Abweichungen nicht auslösen.

Der Locus caeruleus: Im Zentrum des Terrors

Der Locus caeruleus ist ein wichtiges Zentrum der Furcht- und Schmerzreaktion im Hirnstamm. Hoch oben im Hirnstamm liegend (siehe Kapitel 1), sekretiert er Noradrenalin, eine chemische Wecksubstanz, als Reaktion auf präverbale Traumen, Vorfälle bei der Geburt oder auf frühen Mangel an Körperkontakt und Wärme. Wenn sich Noradrenalin mit seinen Rezeptoren verbindet, erleben wir Schmerz. Der Locus caeruleus ist eine primitive Struktur, die nur Empfindungen kennt und wenig mit Gefühlen zu tun hat. In evolutionärer Hinsicht geht er der Entstehung von Gefühlen um Millionen Jahre voraus.

Der Locus caeruleus besteht nur aus wenigen Hunderten bis wenigen Tausenden von Neuronen; dennoch erstrecken sich seine Äste, oder Axone, durch das gesamte Gehirn. Das setzt den Locus caeruleus in die Lage, das Nervensystem auf globale Weise zu aktivieren. Aber obleich der Locus caeruleus auf Schmerz reagiert, weist er auch eine dichte Konzentration von Opiatrezeptoren auf, die Schmerz abwürgen. Mit anderen Worten ist das Haus der Schmerzen auch das Haus der Schmerzverdrängung. Frühe Einprägungen elektrisieren das System, so dass es sich auf die Aufnahme von Schmerz einstellen kann, und bringen das System dann dazu, diesen Schmerz zu unterdrücken, wenn er ein übermäßiges Niveau erreicht. In einer Anzahl von Tierversuchen, die sich mit Schmerz befassten (ausgelöst durch elektrische Stimulation oder durch Schwanzkneifen), stellte sich heraus, dass er den Locus caeruleus sowohl in Hinsicht auf Stimulierung als auch auf Hemmung beeinflusste. 2

Da der Locus caeruleus ein Schlüsselzentrum des Schreckens ist, wird diese Empfindung letztlich die Arbeit des denkenden Kortex stören, wenn der Schrecken vom retikulären Aktivierungssystem zur kortikalen Verknüpfung nach oben gesendet wird.

Das Medikament Clonidin ist ein Hirnstammblocker, der das Feuern von Noradrenalin-Neuronen im Locus caeruleus verhindert. Bruce Perry vom Baylor University Medical Center fand heraus, dass „Ratten, die perinatalem (die Zeit um die Geburt) Stress ausgesetzt waren, bedeutende Veränderungen ihrer Stressreaktionen im späteren Leben aufwiesen.“ 3 Bei misshandelten Kindern stellte sich heraus, dass sie im späteren Leben „Frustration, Wut, Schmerz, Hilflosigkeit, Schreckreaktionen, Schlafabnormitäten, Impulsivität und veränderte kardiovaskuläre Regulierung erleben.“ 4  

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Perry fand auch heraus, dass gestresste und misshandelte Kinder gut auf Clonidin ansprachen, weil es die Aktivität des Locus caeruleus regulierte. Es half den Schlaf zu verbessern, stabilisierte die Herzfunktion, verlangsamte Rastlosigkeit und verminderte Hyperaktivität. Ebenso besserten sich viele impulsgesteuerte Charakterzüge wie Aggression, Stehlen und unkontrollierte Gefühlsausbrüche.

Ich behandelte eine Frau, die als Neugeborene tagelang ohne ihre Mutter gelassen wurde, die mit Tuberkulose in die Klinik eingewiesen worden war. Diese Erfahrung, ohne Unterstützung oder Wärme in einer neuen Welt zu sein, wurde sowohl als Schrecken als auch als Alleinsein eingeprägt. Die meisten ihrer Hirnstamm-Strukturen trugen auf ihre eigene Weise zur Valenz des Schmerzes bei, sonderten Dopamin und/oder Norepinephrin ab, um Gehirn und Körper zu mobilisieren, und machten sie hyperaktiv.

Ihr Schmerz des Alleinseins wurde von Neurotransmittern blockiert und dann zu anderen Zentren umgeleitet. Seine Energie reichte jedoch, um ihre Konzentration zu erschüttern und bei ihr Hyperaktivität hervorzurufen. Auf der Highschool erhielt sie Sechser und Fünfer. Viele ihrer Lehrer dachten, sie sei „blöd“, und ihre Eltern bekräftigten diese Ansicht. Schließlich fühlte sie ihren Schrecken, ihre Lebensangst und ihre Angst, etwas Neues zu versuchen. Ihr ganzes Leben war von Furcht dominiert. Diese Frau ist jetzt eine erfolgreiche Ärztin. Nichtsdestotrotz hat sie gelitten.

Wenn die Stimulierung mit der Zeit ein übermäßiges Niveau erreicht, lässt die Aktivierung seitens des Locus caeruleus nach, was sicher stellt, dass die Schmerzbotschaft nicht das vollständige Bewusstsein erreicht. Der Locus caeruleus antwortet auf eintreffende Reize gewöhnlich mit heftigen Ausbrüchen neuraler Aktivität, denen eine Ruhephase folgt. Diese Ausbrüche können für Panikattacken verantwortlich sein. Diese Panikattacken sind Reaktionen auf Einprägungen. Der Locus caeruleus feuert nicht ohne Grund von selber los.

Der Locus caeruleus ist nicht der Logik unterworfen; in Gegenwart früher schmerzvoller Einprägungen reagiert er einfach und mobilisiert uns.  Man kann sagen: „Es gibt nichts, worüber man sich beunruhigen müsste,“ aber der Alarm ist nach innen gerichtet. Eine Person fühlt sich in einem geschlossenen Raum, als müsse sie ersticken. Eine andere gerät in Panik, wenn sie mit einem Aufzug fährt. Der Locus caeruleus und andere tiefer gelegene Strukturen beinhalten die nonverbale postnatale Botschaft „Ich ersticke im Inkubator“,  die zu Panik führt; es ist dieselbe physiologische Reaktion, wie sie im Inkubator erlebt worden war. Clonidin wird seit dreißig Jahren gegen hohen Blutdruck eingesetzt. Es kann ein Beweis sein für die Beziehung zwischen Schmerz und Blutdruck.

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Gespeicherter Terror kann das ganze Leben hindurch in Myriaden von Kanälen entströmen: durch Phobien, schnelles Reden, Hyperaktivität, Angst und Panikattacken. Schlechte Träume und nächtliches Albdrücken sind gute Beispiele für undichte Stellen.

Wie zu erwarten ist, kommt es bei Morphiumentzug zu vermehrtem Feuern im Locus caeruleus. Wiederum ist das System in Gefahr, und der Locus caeruleus lässt uns das wahrnehmen, indem er den oberen kortikalen Kortex stimuliert. Wir können die Feuergeschwindigkeit der Neuronen des Locus caeruleus und auch der Neuronen in der Medulla durch Medikation verlangsamen. Das plötzliche Absetzen von Medikamenten, die auf den Hirnstamm wirken, steigert den Ausstoß von Noradrenalin (beschleunigt Herzschlag, erweitert Blutgefäße), was mehr Erregung bewirkt. Dies bedeutet mehr Schmerz und deshalb mehr Notwendigkeit, ihn zu unterdrücken; das ist das Entzugssyndrom. Wie bereits früher erörtert, kann der plötzliche Entzug effektiver Hirnstamm-Medikamente gefährlich sein und in einigen Fällen zu Anfällen führen – massiven Entladungen von Gehirnneuronen. Es ist das übermäßige Feuern des Locus caeruleus, das bewirkt, dass sich die unter Entzug stehende Person so unwohl fühlt. Sie/er ist aufs Äußerste erregt, ohne zu wissen warum, was die Sache umso teuflischer macht. Die Einnahme von Medikamenten, die das Feuern verlangsamen, stellt das Wohlbefinden wieder her.

Alles, was das retikuläre Aktivierungssystem und der Locus caeruleus wissen, ist, dass sie einsatzbereit sein müssen. Sie mobilisieren unsere Abwehrmechanismen: Schlechter Schlaf in der Nacht gestattet tiefsitzenden Einprägungen, aus ihrem Speicherort an die Oberfläche zu kommen. Je näher dieses eingeprägte Ereignis dem vollen Bewusstsein  kommt, umso mehr nötigt es den Kortex zur Produktion zwanghafter Vorstellungen. Sie können dem Menschen diese Ideation nicht ausreden, weil sie in einer unbewussten Gefühlserfahrung ankert. Beruhigungsmittel können den Schmerz dauerhaft blockieren, aber werden sie einmal abgesetzt, erhöht der sich ergebende Ausstoß von Noradrenalin den Herzschlag, erweitert Blutgefäße und bereitet erneut eine Angstattacke vor. Wir zahlen immer einen Preis für künstliche Manipulation.

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Quellenverweise und Anmerkungen

N. 1         M. Huttunen und P. Niskanen, „Prenatal Loss of Father and Psychiatric Disorders,“ Archives of General Psychiatry 35 (1978): 429-31.

N. 2         Siehe: S. L. Foote et al., Nucleus Locus caeruleus: New Evidence of Anatomical and Physiological Specifity,“ Physiological Reviews 63 (Juli 1983): 868.

 

N. 3         Bruce Perry, „Clonidin Decreases Symptoms of Physiological Hyperarousal  in Traumatized Children,” vorgelegt der American Academy of Child and Adolescent Psychiatry (17. Februar 1996): 313.

 

N. 4        Ibid., s. 314

 

 

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DER HYPOTHALAMUS

 Kurier der Gefühle

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Außer dem Thalamus, den Amygdalae und dem Hippocampus sind auch die limbischen Strukturen mit dem Hypothalamus und seinem Zusatz, der Hirnanhangdrüse verbunden. Der Hypothalamus reguliert die Hormonproduktion und dirigiert das Immunsystem über die Hirnanhangdrüse, die direkt darunter liegt. Der Hypothalamus unterstützt auch die Regulation des Herzschlags und der Körpertemperatur. Wenn der Hypothalamus mit Schmerz überlastet ist,  scheidet der Körper entweder zu viel oder zu wenig Hormon ab, was zu Veränderungen des Herzschlags und der Körpertemperatur führt.

Zusammen mit dem Hirnstamm ist der Hypothalamus an der „homöostatischen Regulation“ des Körpers beteiligt, indem er Atmung, Herzfunktion, Blutdruck, Verdauung, elektrolytisches Gleichgewicht, viszeralen Tonus und andere vitale Funktionen kontrolliert. Der Hypothalamus ist eine gemeinsame Endbahn, auf der das Limbische System Gefühle in das Körpersystem sendet. Er bewirkt, dass das Gefühl der Kritik den Magen aufwühlt und die natürlichen Killerzellen und die Lymphozyten des Immunsystems verringert. Im Gegensatz dazu kann Stimulierung des Hypothalamus die Antikörper vermehren, um fremde Substanzen und/oder Infektionen zu bekämpfen.

Auch der Hypothalamus braucht Liebe. Seine Verbindung zum frontalen Kortex beeinflusst das Wachstum der Hirnstamm-Neuronen. Seine Art, das Bedürfnis zu zeigen, besteht darin, dass er uns ständig wachsam sein lässt und uns dann krank macht, wenn er nicht bekommt, was er will. Ich entsinne mich einer Patientin, die Dermatitis hatte. Wir fanden heraus, dass ständiges Streicheln während der Sitzungen ihren Zustand beträchtlich verbesserte. Was schließlich das Symptom ausmerzte, war, dass sie das Gefühl wiedererlebte, wie ihr Körper um die Berührung einer Mutter flehte, die unfähig war, körperliche Zuneigung zu zeigen. Sie hob ihre Arme und schrie und flehte wochenlang darum.

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Gefühle bewegen sich zum Hypothalamus und manifestieren sich in solchen Symptomen wie Magenkrämpfen, Beklemmung in der Brust, schnellem Herzschlag und hohem Blutdruck. Die Symptome zeigen an, dass sich das System in Disharmonie befindet. Die Person mag sich des Unbehagens bewusst sein, aber sie kann es nicht abstellen, weil sie das frühe Gefühl nicht abstellen kann.

Das Geburtstrauma bringt den Hypothalamus aus der Symmetrie, so dass er sympathischen Ausstoß begünstigt und uns damit ‚überdreht’. Wenn ein Baby mit Allergien „geboren“ wird, können der Hypothalamus und andere Strukturen, die bei der Bewältigung von Allergien helfen, im Mutterleib beeinträchtigt worden sein. Wenn ein Kleinkind in den ersten ein oder zwei Jahren seines Lebens nicht geliebt wird, kann das den Hypothalamus schwächen, was wiederum in einem chronisch kranken Kind resultiert, das ständig von Allergien, Infektionen und Fieber geplagt wird.

 

 

 

 Abb. 4.   Gefühle im Limbischen System regulieren die Hormonproduktion  

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Stimulierung des Hypothalamus kann die Menge der Antikörper ansteigen lassen, die fremde Elemente (wie Pollen oder Katzenhaar), Antigene, Viren und so fort bekämpfen. Autoimmun-Krankheiten wie z.B. Arthritis sind eine weitere mögliche Folge. Ein Spezialist für Immunfunktion, Hugo Besedovsky aus Davos in der Schweiz, hat über die Mechanismen geschrieben, die an der Übertragung elektrochemischer Informationen vom Kortex zum Hypothalamus beteiligt sind, der dann die Immunzellen anweist, ihre Aktivität zu steigern oder zu senken.1

Vom Hypothalamus ausgehende Informationen sagen auch den sympathischen Neuronen, dass sie sich in Bewegung setzen sollen. Einer meiner Patienten war ständig auf Achse, als wollte er versuchen, der Gefahr aus dem Weg zu gehen – was er wirklich tat. Als er ein Kind war, stritten seine Eltern ständig untereinander. Er fühlte sich hilflos, glaubte, es gebe keinen Ausweg. Als er aufhörte herumzuhetzen, stellte sich äußerste Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ein. Konstante Aktivität war seine Abwehr gegen das Gefühl, dass er nichts tun konnte, um sein Familienleben zu ändern. In unseren Sitzungen entdeckten wir, dass er bei der Geburt im Kanal eingequetscht wurde und stecken blieb, da ein Tumor den Weg blockierte. Seine Eltern bestätigten das später. Durch Raten wären wir nie auf dieses letztere Erlebnis gekommen, dass er eingequetscht wurde. Die Empfindung und die mit dem Schmerz  einhergehenden Körperkontraktionen übermittelten uns, dass es die Wahrheit war. Sein Ausagieren war von der Gefühlserfahrung  gesteuert und sollte ihn davon abhalten, sie zu erleben. Lassen Sie mich gleich hinzufügen, dass wir keine Ausschau nach dem Geburtstrauma halten und es nicht erwarten. Der Körper der Patienten bietet es an, wenn er dazu bereit ist, und nicht früher. Es kommt vor, dass dieses Trauma nicht existiert. Das ist häufig bei Hausgeburten der Fall, in denen keine Anästhesie angewendet wird.

Der Hypothalamus ist zum Teil für Herzklopfen, Tachykardie und andere Herzrhythmus-Störungen verantwortlich, die durch Erregung aufgrund von Norepinephrin-Absonderung zustandekommen. Wenn der Hypothalamus das sympathische Nervensystem aktiviert, schaltet das parasympathische System weitgehend ab. Das sich ergebende Ungleichgewicht ist der Grund, warum es oft so schwer ist einzuschlafen, oder warum wir uns nicht konzentrieren können. Von frühem Schmerz stammende Aktivierung hört nicht einfach auf, weil wir schlafen wollen. Im Gegenteil, wenn wir im Einschlafen begriffen sind und von einigen kortikalen Abwehrmechanismen loslassen, werden wir sogar noch mehr aktiviert. Durch lebenslange Übersekretion von Stresshormonen, welche die Bekämpfung der Einprägung zum Ziel hat, gehen die Vorräte schließlich zur Neige. Schlaf bedeutet die aufeinander folgende Unterdrückung der höheren Ebenen des Bewusstseins beginnend mit dem Kortex, dann weiter schreitend zum limbischen System, das im Traumschlaf aktiv ist, und dann absteigend zum Hirnstamm und zu tiefem Schlaf. Er bedeutet auch, dass Einprägungen tieferer Ebenen freigesetzt werden.

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Auf der Rückseite des Hypothalamus liegt ein bedeutendes Zentrum für Agonie. Ungeachtet dessen, ob der Schmerz von einem Treppensturz stammt oder von der Erinnerung, dass „Mami mich nicht liebt“, bleibt die Agonie dieselbe. Das Herz wird schneller, mehr Stresshormone werden angesondert, der Blutdruck steigt, und eventuell erhöht sich die Amplitude der Gehirnwellen. Das System hat in den Kampfmodus geschaltet, weil ein Bedürfnis um seine Erfüllung kämpft. Das Bedürfnis kann sein: „Hab’ mich ein wenig lieb! Bitte hass’ mich nicht!“ Wenn eine Patientin, die bewegungslos in einem ruhigen Raum liegt, plötzlich einen radikalen Anstieg der Herzfrequenz erfährt, wissen wir, dass sie mit dem Wiedererleben des Gefühls beginnt. Das Gefühl beinhaltet viele Jahre, in denen sie nicht imstande war, „Hab’ mich ein wenig lieb!“ „Sei freundlich zu mir“ zu artikulieren. Das scheint jetzt vielleicht nicht viel Gewicht zu haben, aber in der Kindheit kann es kein Kind ertragen, nicht geliebt zu werden. Die Eltern sind alles für das Kind, und wie wir gesehen haben, bedeutet Liebe die richtige Entwicklung des Gehirns.

Die Botschaft „Liebe mich!“ ist niemals kompliziert, weil sie in Strukturen organisiert wird, die keine komplizierte Syntax bilden können. Tatsächlich wissen wir, wenn jemand ein frühes Kindheitstrauma wiedererlebt und sein Schreien sich in komplizierten Sätzen äußert, dass es nicht real ist. Auch wenn die Person Worte eines Erwachsenen benutzt wie „erkennen“, wissen wir wiederum, dass es keine echte Erfahrung ist.

Wenn das Gefühl nach oben steigt, kommt es in der Phase der Annäherung an das volle Bewusstsein zuerst zu Agonie, und dann entspannt sich das (sympathische) Alarmsystem, das den ganzen Organismus mobilisiert hat, um gegen die Verknüpfung anzukämpfen, während das parasympathische System die Regie übernimmt. Das ist die Zeit der Ruhe und Erholung. Nach einer solchen Verknüpfung habe ich den systolischen Blutdruck innerhalb von Minuten um hundert Skalenpunkte fallen sehen. Hier erkennen wir wieder die Dialektik: Die Strukturen, die Fühlen organisieren, sind auch diejenigen, die es durch die Sekretion von Neurohemmern unterdrücken. Ist die Botschaft aus den limbischen Gefühlszentren schon relativ simpel, so ist die Nachricht, wenn sie dem Hirnstamm entspringt, die Einfachheit selbst – „Ich ersticke. Es ist hoffnungslos. Ich krieg keine Luft! Ich sterbe! Ich komme um. Dräng’ mich nicht!“ Meistens gibt es überhaupt keine Worte, nur Empfindungen – das Gefühl, zermalmt zu werden.

Wie ich schon früher betont habe, sind manische und depressive Zustände keine verschiedenen Krankheiten, sondern unterschiedliche Wirkungsgrade in der Blockade von Gefühlen. Wenn eine manische Person schließlich depressiv wird, ist ein großer Teil der Gefühlsenergie durch das manische Verhalten aufgebraucht worden, so dass sich die Verdrängung jetzt durchsetzen kann. Diese nämlichen Gefühle der Hoffnungslosigkeit sind nicht einfach verschwunden, sondern sie werden  wirksamer verdrängt, weil die Kräfte, die sich ihren Weg zum Kortex und den limbischen Arealen bahnen, schwächer geworden sind.  

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Ich habe ausführlich über die Liebe diskutiert. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit nun der Frage zu, woraus Liebe gemacht ist. Sie ist kein vergeistigtes Konzept, das im Himmel existiert; sie ist etwas Konkretes und lässt sich anhand der Spiegel bestimmter Hormone im Körper und anhand spezifischer Gehirnstrukturen erklären. Wie sich der Leser vielleicht denken kann, hat Schmerz seine Hand im Spiel, wenn sich der Spiegel der Liebeshormone verändert. Wir können versuchen, unseren Lebensgefährten gegenüber liebevoll und warmherzig zu sein, aber dabei sind biologische Grenzen zu überwinden.

Der cinguläre Kortex

Die letzte Gehirnstruktur, die der Erörterung bedarf, ist bei weitem nicht die unbedeutendste – der cinguläre Kortex. Er ähnelt in etwa einem Bogen, der sich über das Limbische System wölbt und limbische Strukturen umrahmt. Denken Sie nochmals daran, dass das Limbische System mit Gefühlen und deren Ausdruck zu tun hat. Der NIMH-Wissenschaftler Paul MacLean glaubt, dass der cinguläre Kortex als Empfangsorgan für das Erleben von Emotionen agiert. Es hat drei Grundfunktionen: (1) Der Trennungsschrei, (2) Spielen, und (3) Säugen/Stillen und anderes familienorientiertes Verhalten. Es unterscheidet uns von niedrigeren Tierformen und repräsentiert den evolutionären Übergang von den Reptilien zu den Säugetieren. Es hat ungemein viel mit Liebe zu tun – mütterlicher Fürsorge und schließlich auch mit Altruismus.

Nehmen wir den Trennungsschrei. Dieser Schrei ist charakteristisch für die meisten Säugetiere und entscheidend für das Überleben. Das Neugeborene/Kleinkind/ Junge braucht Liebe, um zu überleben. Der Schrei ist ein Ruf, der eilends Liebe herbeiholen soll. Er ist verantwortlich für den Urschrei; durch den Schrei des Kleinkinds/Jungen soll die Agonie der Isolation beendet werden. Es gibt für das Kleinkind/Junge keinen größeren Schmerz, als von der Mutter getrennt zu werden. Wir brauchen Kontakt, um zu überleben. MacLean glaubt, dass die frühesten Säugetiere winzige nachtaktive Geschöpfe waren, die im Halbdunkeln lebten. Der Schrei war der heilbringende Fühler, der die Trennung beendete. Wenn wir den cingulären Kortex beschädigen oder entfernen, bereiten wir mütterlichem Verhalten wirksam ein Ende. Es gibt Aspekte dieser Struktur, die in Bezug zur Schmerzwahrnehmung stehen. Also sehen wir hier wieder die Beziehung zwischen Bedürfnis und Schmerz; ein versagtes Bedürfnis wird zu Schmerz. Das Schlüsselgefühl ist ein Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt.

Es ist keine Überraschung, dass dieses Areal üppig mit innerlich hergestellten Opiaten/Schmerztötern ausgestattet ist. Wenn man Jungtieren geringe Dosen Morphium verabreicht, werden ihre Trennungsschreie schwächer. 

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Gibt man ihnen Opiat-Antagonisten, dann schreien sie erneut. Hier erkennen wir wieder, dass Schmerztöter die Qualen der Trennung  erleichtern; und umgekehrt, dass  Trennung für ein Kleinkind Höllenqual bedeutet. Es ist Schmerz, der andauert, weshalb Erwachsene Schmerztöter brauchen – um die Schreie zu ersticken, die dem frühen Gefühl entstammen, nicht geliebt zu werden. Der cinguläre Kortex steht auch mit Empathie in Zusammenhang, mit der Fähigkeit zu fühlen, was ein anderer gerade in seinem Inneren erlebt. Wenn der Präsident sagt: „Ich spüre Ihren Schmerz“, meint er: „Mein cingulärer Kortex versteht Ihre Gefühle.“ Wenn wir uns auf eine fühlende Ebene beziehen, dann ist diese Struktur beteiligt. Oft entzieht sie sich dem Verständnis jener, die zur Erklärung psychischen Verhaltens auf Zahlen, Worte und Formen bauen. Sie ist ein anderes Universum mit einer anderen Art des Gesprächs, und sie war die zentrale, höchste Form von „Gedanke und Kommunikation“ in niedrigeren Tieren.

Wenn wir weiterhin überleben und uns um unsere Mitgeschöpfe kümmern wollen, müssen wir sicher stellen, dass der cinguläre Kortex nicht übersehen wird.

 

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Quellenverweise und Anmerkungen

N. 1         H. O. Besedovsky, „Immune-Neuro-Endocrine Interactions : Facts and Hypotheses, “ Endocrinology Review 17, no. 1 (Februar 1996): 64-102.

 

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DER SYMPATH UND DER PARASYMPATH

Wie die Persönlichkeit im Mutterleib gestaltet wird

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Ich habe schon zu Beginn erwähnt, dass der Hypothalamus die zwei Abschnitte des autonomen Nervensystems kontrolliert, das parasympathische (der Parasympath) und das sympathische (der Sympath). Das sympathische System steuert Energie verbrauchende Prozesse wie die Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Es mobilisiert uns, erhöht die Körpertemperatur und reduziert die periphere Zirkulation, um Blut für die Muskulatur zu konservieren – eine mögliche Erklärung für ein bleiches Gesicht oder kalte Hände und Füße. Häufiges Urinieren, vermehrte Schweißabsonderung, trockener Mund und eine höhere Stimme sind weitere Effekte.

Im Gegensatz dazu kontrolliert der parasympathische Zweig Energie bewahrende Prozesse, nämlich Ruhe, Schlaf und Genesung. Er erweitert Blutgefäße, so dass die Haut warm wird, und fördert den Heilungsprozess. Wenn wir uns im parasympathischen Modus befinden, entspannt sich unsere Muskulatur, um Energie einzusparen, unsere Stimme wird tiefer und nimmt eine langsame, honigsüße Klangfarbe an.

Eine gesunde Person hält das Gleichgewicht zwischen den zwei Systemen. Im Idealfall arbeiten die zwei harmonisch zusammen, so dass wir tagsüber mehr „sympathisch“ sind und im Schlaf mehr „parasympathisch“. Aber ein Geburtstrauma oder eine harte Kindheit können uns in die eine oder die andere Richtung verschieben. Zum Beispiel kann das Neugeborene während einer schwierigen Geburt, bei der die Mutter schwere Anästhesie erhalten hat, sich nicht selbst helfen, um geboren zu werden, weil sein System lahm gelegt worden ist. Dieses Ereignis prägt Verzweiflung und Resignation ein – ein parasympathischer Modus, der zukünftige Reaktionen steuert: Ein Mensch könnte leicht aufgeben oder sich bei der geringsten Kleinigkeit überwältigt fühlen (Kämpfen und Scheitern). Wenn andererseits das Neugeborene erfolgreich um seine Geburt gekämpft hat, kann der eingeprägte Modus der sympathische sein (Kämpfen und Gewinnen). Die Person gibt nicht leicht auf und ist optimistisch und hartnäckig.

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Ich habe ganz bestimmte Persönlichkeitstypen gefunden, die auf den zwei Arten der Erfahrung beruhen, die wir ganz am Anfang machen. Der Prototyp, der eingeprägt wird, ist im Großen und Ganzen lebensrettend. Danach tastet das Gehirn die Geschichte ab, um zu sehen, wie es in der Gegenwart reagieren soll, und es wird immer auf den Prototyp treffen. Beim Parasympathiker treffen wir auf eine regelrechte Konfiguration: niedrigere Körpertemperatur, langsamerer Puls und niedrigerer Blutdruck. Ein Schlüsselzeichen ist der etwas geringere Ausstoß an Schilddrüsenhormon. In einigen Fällen kann die Körpertemperatur während eines Geburts-Wiedererlebnisses um zwei bis drei Grad fallen. Da der Patient keine Ahnung hat, was sich abspielt, ist es eine weitgehend ungefälschte Reaktion. Der Grund für das Absinken kann in der massiven Anästhesie zu finden sein, die der Mutter verabreicht worden war; sie hat das System des Neugeborenen wirksam stillgelegt. Des Weiteren gibt es bestimmte Gedanken, die dieses Absinken begleiten, gewöhnlich Vorläufer des heraufkommenden Gefühls. Gedanken gehen Gefühlen voraus, wenn sich die Kräfte einer tieferen Ebene zu frontaler Bewusstheit bewegen. Gedanken ebnen den Weg, sozusagen; sie erzählen davon, was unterhalb liegt. Das ist der Grund, warum wir uns mit den richtigen Techniken auf Gedanken konzentrieren und dann zu den Ursprüngen regredieren können. Patienten kommen herein und sind allen Optimismuses beraubt; Resignation regiert, weil das gesamte System in den (ursprünglichen) Versagensmodus übergeht. Die Person -nehmen wir als Beispiel eine Frau- fühlt sich hoffnungslos, da der Tod naht, und sie findet, dass sie nichts daran ändern kann. Sie kann eine Therapiesitzung deprimiert, hilflos und zynisch beginnen: „Das wird nichts bringen.“ Was hat es für einen Zweck, es zu versuchen? Diese Therapie funktioniert nicht bei mir.“ Der Grund für diese Einstellung besteht darin, dass sie den Todesgefühlen bei der Geburt nahe ist. Während der Geburtssequenz konnte sie nicht versuchen, gegen den Widerstand massiver Anästhesie anzukommen. Die Werte der Vitalfunktionen stellen sich auf diese Tatsache ein; somit ist alles aus einem Guss – niedrige Vitalwerte einhergehend mit Verzweiflung und Resignation. Kurz gesagt, „hoffnungslos“. Sie konnte auch nach der Geburt keinen Versuch machen, als sie Tag um Tag allein gelassen wurde, als ihr Schreien unbeachtet verhallte, weil die Eltern dachten, es sei korrekt, „sie ausschreien zu lassen.“

Parasympathische Männer haben eine tiefe, gemächliche Stimme. Mattigkeit prägt ihr Erscheinungsbild, der Metabolismus ist langsam. Andere Attribute beinhalten Introspektion, Verträumtheit und emotionale Distanz. Parasympathiker sind oft Nachtmenschen, sie begegnen der Morgendämmerung jeden Tages wie sie der Geburt begegneten – träge (anästhetisiert). Jeder Morgen ist eine Art Rückblende auf die Geburtserfahrung. 

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Der Sympathiker jedoch hat bei der Geburt heftig und erfolgreich gekämpft. Auch diese Konfiguration hat eine ausgeprägte Gestalt an sich: höherer Puls, erhöhte Körpertemperatur, eine fröhlichere und optimistischere Haltung. Männliche Sympathiker haben eine höhere, quieksende Stimme. Der sympathische Prototyp verändert die Sollwerte vieler biologischer Systeme. Der Sympathiker tut sich schwer, angesichts der Realität auf die Bremse zu treten. Sich voran zu kämpfen, war der frühe lebensrettende Modus. Er manövriert sein Außenleben dergestalt, dass es mit seinen inneren Gefühlen übereinstimmt. Er ist der Verkäufer, der kein „Nein“ als Antwort hinnimmt. Wird das sympathische System durch eine tödliche Gefahr aktiviert, die von der Geburt stammt, so deaktiviert es das parasympathische System. Dann herrschen Angst und Herzklopfen vor, weil das parasympathische System, das normalerweise dem sympathischen System Ruhe und Entspannung verordnet, vorübergehend unterfunktional ist.

Das parasympathische System spielt eine Hauptrolle bei Depression. Frühe asymmetrische Verschiebungen zwischen dem parasympathischen und dem sympathischen System ändern die Persönlichkeit auf genau bestimmte Weise: von passiv zu aktiv, von reflektiv zu impulsiv, von nach innen gerichtet zu nach außen gerichtet, von artistisch zu praktisch, von verträumt zu pragmatisch, oder in umgekehrter Richtung. Das Geburtstrauma kann die Persönlichkeit ein Leben lang verzerren. Natürlich ist es nicht einfach das Geburtstrauma, sondern es sind auch die neun vorhergehenden Monate, die in gewisser Hinsicht bestimmen, welche Reaktionen das Geburtstrauma nach sich zieht. Eine chronisch rauchende Mutter hat bereits dafür gesorgt, dass schon bei leichter Anoxie während der Geburt der parasympathische Modus dominieren wird.

Auch nachdem man frühe Erlebnisse wiedererlebt hat, lässt sich die elementare Persönlichkeit nicht völlig verändern, weil sie durch sich wiederholendes Verhalten verstärkt worden ist. Man kann aber die Parameter abändern, so dass das Individuum weder außergewöhnlich energielos noch außergewöhnlich überaktiv ist. In Fällen, bei denen die Eltern das Verhalten oder die Aktionen des Kindes nicht belohnt haben, herrscht wahrscheinlich das parasympathische System vor, weil die Erinnerung an die Verzweiflung fortbesteht. Ich behandelte eine Frau, deren Mutter bei der Geburt starb. Der Vater machte das Kind für ihren Tod verantwortlich, und nichts, was sie je tat, war gut genug für ihn. Es gab keine Liebe, um die sie hätte kämpfen können, es ging nur um die Vermeidung seines Zorns. Sie wurde lethargisch und introvertiert. Mit drei Jahren gab sie auf. Es ist bekannt als ‚Mürrisches-Kind-Syndrom’.

Solange ein überladener Hypothalamus nicht zur sympathischen Seite verschoben worden ist, kann die parasympathische Seite dazu beitragen, Angst und Panikattacken ein Ende zu setzen. Dennoch kann sich das System nicht in bestem Zustand befinden,

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wenn es zu vorgeburtlicher Vernachlässigung, schlechter Ernährung oder Alkohol- und Drogeneinnahme seitens der austragenden Mutter gekommen war. Ein Bericht der Nationalen Organisation über das Fetale Alkohol Syndrom im Oktober 1998 kam zu dem Ergebnis, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft exzessiv Alkohol konsumierten, geistig-psychische Defekte und geistig-psychische Verzögerung, Wachstumsdefizite, mangelnde Verhaltens- anpassung und Funktionsstörungen des zentralen Nervensystems aufwiesen.1 Zweifelsohne lässt sich all das nicht einfach auf Asymmetrie im autonomen Nervensystem zurückführen. Es gibt viele andere mitwirkende Faktoren. Ich biete ‚Asymmetrie’ an, weil ich sie so oft bei meinen Patienten sehe. Mindestens zwei Drittel meiner Patienten sind zur parasympathischen Seite hin verschoben. Wenn sie es nicht sind, kommen sie im allgemeinen nicht zu uns, um sich helfen zu lassen.

Zweifelsohne geht dem Leser eine Frage durch den Kopf, welche die gelegentliche Zigarette oder den gelegentlichen Drink einer schwangeren Frau betrifft. Ich bezweifle, dass eine Zigarette viel Schaden anrichten wird, aber wenn Trinken und Rauchen kontinuierlich wird, dann sprengt es die integrative Kapazität des Fetuses und es kommt zu Abweichungen. In einem Erwachsenen wird ein Glas nicht viel Schaden anrichten. Fünf Gläser können zur Betrunkenheit führen. Im Fetus können fünf Gläser mehr hervorrufen als Betrunkenheit; sie können vitale biologische Funktionen verändern, weil das kleine System sich verzweifelt abmüht, mit dem Input fertig zu werden. Viel besser ist es, sich zu enthalten. Ein Leben steht auf dem Spiel.

Wenn ein Patient eine primärtherapeutische Sitzung mit niedriger Körpertemperatur beginnt, steht er wahrscheinlich unter extremer parasympathischer Dominanz. Das passiert bei unseren depressiven Patienten, weil sie oft kurz davor stehen, ein Trauma mitsamt den ursprünglichen parasympathischen Reaktionen – den Prototyp zu fühlen. Sie befinden sich in einer sonderbaren Stimmung, wissen aber nicht warum. Nochmals: Depressive/suizidale Reaktionen in der Gegenwart sind die exakten Reaktionen aus dem ursprünglich eingeprägten Trauma. Der Hippocampus hat die Geschichte durchforscht und etwas hervorgebracht, das ursprünglich lebensrettend war. Er wird es immer wieder tun. Aufzugeben war ursprünglich lebensrettend; Kampf war eine Bedrohung. Wir versetzen den Patienten in den historischen Kontext zurück, so dass die Stimmungen und die Gefühle mit den Szenen übereinstimmen,  denen sie entsprungen waren. Die Szene mag kein wirkliches Bild sein, vielleicht einfach eine anatomisch-physiologische Konfiguration. Reaktionen werden durch die Natur des Traumas diktiert. Wenn ein Baby gleich nach der Geburt nicht zu seiner Mutter gegeben wird, sondern stattdessen in ein Bettchen gelegt wird, kann Resignation zum Prototyp werden. Das Baby wird als teilnahmslos und apathisch geprägt. Heimkinder, die sehr wenig Liebe bekommen, entwickeln dieses Verhaltensmuster der Lethargie und Passivität. Wenn sich alle drei Gehirnebenen zu demselben Gefühl zusammenschließen, besteht die Möglichkeit des Suizids. Wenn sich jemand im Hirnstamm, im Limbischen System und im gegenwärtigen Leben hoffnungslos fühlt, besteht eine konkrete Gefahr. Ein klein bisschen Hoffnung in der Gegenwart kann Depression so weit mildern, dass sich suizidale Impulse vermeiden lassen.  

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Ein Opfer elterlicher Grausamkeit zu sein, kann durchaus auf diesem Prototyp des Aufgebens beruhen. Im Erwachsenenalter kann jemand als unbewusste Demonstration dieser Grausamkeit die Rolle des Opfers annehmen. Durch ihr Verhalten anderen gegenüber sagt die Person: „Ich werde misshandelt. Helft mir!“ Das ist auch bekannt als Verlierer-Syndrom: „Mir wird nichts gelingen, bis ihr seht, dass ich leide.“

Ich behandelte einen Patienten, der sich in keiner Konfrontation ausdrücken konnte. Nach zwei Stunden in unserer Sitzung erlebte er eine Kindheit wieder, in der seine Mutter ihn ständig rügte. Er fühlte sich unfähig, sich zur Wehr zu setzen, vor allem wegen ihrer enormen Wut. Das reaktivierte eine verwandte tiefer liegende Erinnerung, in der er von der Nabelschnur stranguliert wurde. Eine halbe Stunde lang war sein Gesicht krebsrot angelaufen. Er kam aus der Sitzung mit der Einsicht heraus, dass seine Unfähigkeit, sich zur Wehr zu setzen, aus der Primär- Einprägung stammte, dass er bei der Geburt beinahe erwürgt worden war; diese Einprägung wurde durch die Art, wie seine Mutter ihn behandelte, noch verstärkt. Der Patient bemerkte, dass er immer dann verstummte, wenn ihn jemand grob zurecht wies oder ihn kritisierte, genau wie es im Umgang mit seiner Mutter der Fall war. Er brauchte eine Stunde, um sich zu überlegen, was er hätte sagen sollen.

Für einige Babys ist der Geburtsprozess eine Erfahrung, die sie dem Tod nahe bringt; diese Erfahrung wird einem naiven Gehirn eingeprägt. Es ist kein Wunder, dass dem System bestimmte Züge und Reaktionsweisen aufgedrückt werden; diese Züge waren nichts weniger als Überlebenstaktiken. Die richtige Steuerung des Gefühlsprozesses erfordert den harmonischen Einsatz des sympathischen und auch des parasympathischen Systems.

Unter extremer sympathischer Dominanz fühlt man sich „gerädert“. Sympathische Neuronen halten Einprägungen im Hirnstamm und im Limbischen System zurück und verarbeiten sie. Aber eine bestimmte Menge an Angstenergie schafft es, nach oben durchzudringen und bewirkt, dass sich die Sympathikerin im Bett herumwälzt, über dieses oder jenes Projekt nachdenkt, was sie morgen tun wird, was sie heute tun hätte sollen. Das nennt man zwanghaftes Grübeln. Nachdem genug Angstenergie durch ihre Besorgtheit absorbiert worden ist, fällt sie schließlich in Schlaf. Aber der Terror holt sie ein, und sie hat einen Albtraum. Sie wacht auf; ihr frontaler Kortex ist „hellwach“ geworden, um den Terror des Limbischen Systems und des Hirnstamms im Unbewussten zu halten. Das eine Gehirn wird dazu benutzt, dem anderen zu entkommen. Sie nimmt eine Schlaftablette, um die Furcht zu besänftigen. Die Tablette versetzt den Hirnstamm in Schlaf. Am nächsten Morgen  wacht sie auf und fühlt sich noch immer gerädert, sie springt aus dem Bett und beginnt einen neuen geschäftigen Tag. Es ist ein endloser Zyklus.  

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Einige Individuen sind so vollständig abgeriegelt, dass sie die sympathische Energie nicht einmal spüren. Diese Individuen sind weit von ihren Gefühlen entfernt und kommen gewöhnlich nicht zur Therapie. Wenn der Schmerz so tief im Unbewussten versenkt ist, kann er von irrealen Glaubenssystemen absorbiert werden. In diesem Fall leidet der Mensch nicht. Stattdessen kann er „verrückte“ Ideen übernehmen, wie den Glauben an das Okkulte. Man kann das in der Vorleben-Therapie beobachten. Vorleben-Therapie ist jetzt der ‚Hammer’ im New- Age-Feld; alles Mögliche, nur keine Realität. Es ist nie genug, sich mit dem Leben und seinen Problemen in dieser Welt zu beschäftigen, nein, sie müssen der Spur zurück ins alte Ägypten folgen, um ihr früheres Leben zu finden. Nur allzu oft findet die Person heraus, dass sie eine Prinzessin in einem vergangenen Königreich war. All das gründet auf der Vorstellung, dass unsere Vorgeschichte in unser Nervensystem eingeprägt sei und wir sie nur anzapfen müssten. In dieser Hinsicht gibt es keine Realität, mit der wir uns befassen müssten. In den Tausenden von Urerlebnissen, die ich gesehen habe, habe ich niemals ein solches Phänomen beobachtet. Meine Patienten berichten aber, dass solche Dinge geschahen, als sie vor der Therapie LSD nahmen, wobei sie ihr ganzes Leben übersprangen und schließlich in mystische Vorstellungen eintauchten. Vorleben sind ein Schlüsselzeichen für Überlastung und Symbolisierung, und man sollte sie lediglich als pathologisches Merkmal auffassen.

Der Sympathiker hat gelernt, dass Anstrengung und Kampf lebensrettend sind; der Parasympathiker hat gelernt, dass zu viel Anstrengung lebensgefährdend sein kann (es braucht zuviel Sauerstoff auf). Der Parasympathiker ist nachdenklicher, grübelt mehr und verfällt leichter in Depression. Der Sympathiker ist die Verkörperung des Optimismuses, weniger nachdenklich und selten deprimiert.

Überlegen Sie sich die Sache in evolutionärer Hinsicht: Empfindungen kamen zuerst; Gefühle kamen als zweites; Gedanken kamen zuletzt. Gefühle existierten lange vor der Fähigkeit, paranoid zu sein.

Eine Gedankenstörung lässt sich nicht ohne Bezug auf ihren limbisch-hirnstammlichen Unterbau betrachten. Es sind ungeschleuste Gefühle und Empfindungen, die uns verrückt machen, und nicht zwanghafte Gedanken. Die Gedanken entstehen auf Grund des Druckes, den Gefühle ausüben, die keine Verbindung mit dem frontalen Kortex finden.

Es gibt keine „Gedankenstörungen“, wie sie die psychiatrische Literatur und wirklich jedes Pharma-Unternehmen vorschlägt, das Beruhigungsmittel für solche Störungen unter die Leute bringt. Paranoia wird für eine Gedankenstörung gehalten. Aber tatsächlich ist es eine Störung der Gefühle, der zugrunde liegenden Gehirnprozesse, die durch Veränderungen im System der austragenden Mutter verursacht worden war. Schizophrene Mütter haben eine fünffach höhere Wahrscheinlichkeit, ein schizophrenes Kind zu bekommen, nicht unbedingt wegen der Vererbung, sondern weil eine tief gestörte Mutter eine tief gestörte Physiologie schafft, die den Fetus umgibt und schließlich die limbischen Zentren desorganisiert.2

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Der Körper steuert den Sexualtrieb eines Menschen automatisch auf der Grundlage  des Bedürfnisses. Wenn ein Mann Slips und Kleider anzieht, kann sein Verhalten auf die Erfüllung eines alten Bedürfnisses ausgerichtet sein – nach Mutters Gegenwart früh im Leben. Wurde das Bedürfnis zu Beginn des Lebens nicht erfüllt, geht es in den Untergrund. In meiner klinischen Praxis entwickelten so viele Männer ihren Hang zum „Auftakeln“, weil eine berufstätige Mutter nur ihre Kleider als Erinnerung daließ. Das Bedürfnis ist, eine Mutter um sich zu haben; bleibt es versagt, nimmt der Mann das nächstbeste Ding, symbolische Andenken – Slips. Bei einer Frau, der eine Mutter versagt blieb, kann das verdrängte Bedürfnis in der Adoleszenz an die Oberfläche kommen und seinen Brennpunkt auf Frauen ausrichten. Das Resultat kann lesbische Liebe sein. Es mag schwer fallen, sich dessen zu erinnern, dass unsere Eltern für uns Kinder das Ein und Alles waren.3 Ein Mädchen, dem Körperkontakt mit ihrer Mutter versagt blieb, erfährt vielleicht im Alter von fünfzehn Jahren die Berührung einer Freundin. Es fühlt sich so gut an, dass es allmählich die sexuelle Ausrichtung bestimmen kann. Sie will mehr von dem, was sie braucht. Sie ist über das Alter hinaus, dass sie Wärme von ihrer Mutter bekommen könnte, und so tut sie das Nächstbeste. Sie findet es bei Freundinnen.

Diese Frau kann vielleicht zu mir kommen, aber nicht wegen ihrer lesbischen Neigung, sondern weil sie unter Angstattacken leidet oder unter anderen Problemen, die von frühem Liebesmangel herrühren. Der Lesbismus kann sich so richtig anfühlen, dass die Person überzeugt ist, er sei normal und vielleicht sogar genetisch bedingt. Sie hat eine Geliebte und würde es nicht anders haben wollen, weil ihr Bedürfnis nach einer liebevollen Frau nichts anderem entspräche.

Ein Patient fühlte sich, als käme er aus einem lebenslangen Trancezustand heraus. Er sollte als zweiter von Zwillingen geboren werden, aber er lag in Steißposition im Mutterleib (Füße voran). Er musste im Mutterleib umgedreht werden, was extrem schmerzhaft war, und wurde schließlich nach mehreren Stunden geboren. Er glaubte, dass er an jenem Punkt aufgrund des Schmerzes und des Erstickens das Bewusstsein verlor. Seine Lungen füllten sich mit Flüssigkeit und ließen in ihm das Gefühl des Ertrinkens zurück. Nachdem er geboren worden war, wurde seine Mutter in Folge des Geburtsverlaufes krank und stand nicht zur Verfügung, um ihn zu trösten und zu beruhigen.

Der Schrecken türmte sich auf und hielt sein ganzes Leben an. Er hatte einen Vater, der nie da war. Seine Mutter musste arbeiten, um sie beide durchzubringen. Sein ganzes Leben lang war er in Schmerz aufgelöst. Man konnte es auf Fotos aus seiner Kindheit sehen. Er wurde in der Slowakei geboren und während des Krieges ohne seine Mutter fortgeschickt. Er klammerte sich an seine Schwester, die später bei einer Explosion ums Leben kam und ihn völlig allein zurückließ. Er war präpsychotisch, mit gelegentlichen Wahnvorstellungen und Halluzinationen; er war sich sicher, dass der Mann in dem Parkplatzhäuschen böse auf ihn sei, weil er ihn lächeln sah. Trotz der Wahnvorstellung funktionierte er sehr gut.

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Die Verdrängung des grauenvollen Schmerzes machte ihn zu jeder Zeit beinahe bewusstlos; in der Tat befand er sich in einer Trance. Als er anfing, seine Bedürfnisse und Schmerzen zu integrieren, kam er allmählich aus dem Trancezustand heraus, da er nicht mehr so tief in Gefühlen der unteren Ebenen versunken war. Das ist eine Trance wirklich: Man ist in tiefere Bewusstseinsebenen eingeschlossen, ohne dass der frontale Kortex die Dinge klären könnte.

Eine Therapie für den emotionalen Notfall

Wenn Patienten in der Primärtherapie mit alten Gefühlen in Kontakt kommen, schalten weite Teilbereiche des frontalen Kortexes ab, während tiefere Zentren die Regie übernehmen. Genau das geschieht in Notsituationen, wenn der Instinkt in den Vordergrund tritt, um unser Leben zu retten. An diesem Punkt haben wir keine Zeit, über unsere Optionen nachzudenken; wir müssen reagieren. In der Therapie signalisieren die im Aufsteigen begriffenen verfremdeten und gefährlichen Gefühle eine Notsituation und zwingen die tieferen Zentren, die Herrschaft zu übernehmen. Es findet ein Angriff der Gefühle statt. Teile des Immunsystems treten in Aktion, als würde gerade ein Virus angreifen.

Das Gehirn verfährt mit Gefühlen, als seien sie Aliens, die um jeden Preis zurückgeschlagen werden müssen. Das untere fühlende Gehirn behandelt sie wie eine gegenwärtige Bedrohung. Ein Grund dafür ist, dass die unteren Zentren keinen Zeitschlüssel haben; es ist der Kortex, der die Zeit misst. Deshalb brauchen wir den Kortex, um ein Gefühl richtig der Vergangenheit zuzuordnen, so dass es nicht länger in das gegenwärtige Leben eindringt. Wie wir an anderer Stelle feststellen, sind die limbisch-hirstammlichen Prozesse schon lange voll ausgereift, ehe der frontale Kortex in Aktion tritt. Aus diesem Grund bezeichnete Freud sein Unbewusstes, das Es, als „zeitlos“.

Gefühlstherapie ist beinahe immer auf einen Notfall ausgerichtet, denn wären die Gefühle keine Bedrohung, so wären sie bereits gefühlt worden. Wir müssen es zulassen, dass der Patient sich dieser Krise hingibt und die Kette der Evolution hinabsteigt. Wir achten sehr darauf, dem Patienten, der seinen Gefühlen nahe ist, keine Fragen zu stellen. Wir wollen keine Erklärungen, und wir wollen nicht, dass der Patient Worte für ein wortloses frühes Trauma benutzt. Kurz gesagt wünschen wir keine Einmischung des frontalen Kortexes, bis wir zur Einsichtsphase des Gefühlserlebnisses gelangen. Zu oft sind Gedanken der Gefühle Feind.

Bei einer Sitzung in dem abgedunkelten Raum sitzt der Therapeut hinter der Patientin. Die Patientin beginnt gewöhnlich damit, dass sie über etwas in der Gegenwart redet, zum Beispiel über einen Streit mit einem Freund. 

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Sie kann deshalb wütend sein oder weinen. Sie wird immer mit der gegenwärtigen Situation weitermachen. Etwa dreißig Minuten später kann sie in etwas Ähnliches aus ihrer Kindheit fallen. Ihre Mutter musste immer Recht haben und duldete keinen Widerspruch. „Lass mir meine Gefühle, Mama!“, könnte sie schreien. Automatisch macht sie mit anderen ähnlichen Szenen ihrer Kindheit weiter, da das Limbische System anscheinend dem Bewusstsein alle relevanten Szenen anbietet, als wären sie alle unter einem übergeordneten Gefühl verschlüsselt. Und in der Tat sind die Szenen durch das Fühlen chiffriert. Ist die Patientin einmal in dem Feeling eingeschlossen, kann sie eine Zeit lang ganz ruhig sein, ein wenig husten und würgen, und dann lautlos und langsam tieferen Zugang erlangen. Für neue Patienten ist das gefährlich: zu schwerer Schmerz, zu früh für die Integration ins Bewusstsein. Nach eineinhalb oder zwei Stunden öffnet sie die Augen, blinzelt und kommt, wie es scheint, in die Gegenwart zurück. Dann beginnen die Einsichten, und erst dann übernimmt der Therapeut eine viel aktivere Rolle, erörtert ihr gegenwärtiges Leben und bespricht, wie diese Gefühle in ihr früheres Verhalten hineingespielt haben. Alle anderen Menschen wurden zu ihrer Mutter und lösten somit ihren Zorn aus. Nach der Gefühlserfahrung setzt sie sich auf, sie ist erfrischt und keinesfalls am Boden zerstört, wie man es sich vielleicht vorstellen würde, und sie grüßt uns zum Abschied. Sie entscheidet, wann sie wiederkommen will. Die Macht liegt in ihren Händen.

Sobald ein Gefühl oder frühes Ereignis das volle Bewusstsein im Frontalhirn erreicht, koppelt es an. Es entsteht eine feste Verbindung, und das Körpersystem kehrt zur Normalität zurück. Das ist die Verbindung, die ursprünglich hätte stattfinden sollen, hätte das Schleusensystem nicht eingegriffen, um den frontalen Kortex und das Körpersystem vor Überlastung zu bewahren. Es sind jetzt genügend frühe Gefühle verknüpft worden, so dass das System bereit ist, tiefere Schmerzen in Angriff zu nehmen.

Das wird geschehen, solange kein Außenstehender, das heißt Therapeut, bestimmt, was der Patient fühlen soll und wann er es fühlen soll. Das Gehirnsystem und der Körper des Patienten kümmern sich schon darum. Wir müssen lernen, der Biologie und dem Individuum zu vertrauen und dem Verlangen nach Macht abschwören. Wenn ein Mensch seine Klaustrophobie besiegt, nachdem er die schreckliche Angst und Qual fühlte, als er als Kind bestraft und in einem kleinen Raum allein gelassen wurde, kommen die Verknüpfungen und Einsichten automatisch zustande. Es kommt sogar zu noch weiter reichenden Einsichten, wenn die Patientin in eine Geburtssequenz hinabgleitet und wiedererlebt, wie sie für vielleicht Stunden oder Tage in einem Inkubator allein gelassen worden war.  

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Nach der Wiedererfahrung und Verknüpfung der Gefühle kehren die Vitalfunktionen meiner Patienten zu Werten zurück, die unterhalb der Anfangswerte liegen. Die Verdrängung von Gefühlen erzeugt im Körper Wärme, aber wenn man ermöglicht, dass diese Gefühle an die Oberfläche kommen, sehen wir ein Absinken der Körpertemperatur, oft eine permanenten Senkung um ein halbes bis zu einem Grad. (Wir messen die Vitalfunktionen eines jeden Patienten vor und nach jeder Sitzung.) Wenn ein Patient abreagiert – wenn die Energie eines Gefühls sporadisch freigesetzt wird und nicht fest mit der Vergangenheit verhakt ist – fallen die Vitalfunktionen sporadisch oder überhaupt nicht. Das ist für uns ein Schlüsselkriterium, anhand dessen wir überprüfen, ob eine Verknüpfung zustande gekommen ist

So viele Selbsthilfe-Bücher konzentrieren sich darauf, wie wir uns selbst kontrollieren können, unsere Impulse, unsere Wut, aber sie ignorieren die Einprägungen, die nie aufhören werden, unser Leben zu dominieren. Nun verstehen wir, warum die meisten gewalttätigen Gefangenen noch immer eine Gefahr für die Gesellschaft sind, nachdem sie entlassen worden sind. Kein noch so großes Quantum an Wut-Kontroll-Therapie hilft, weil die Ursache der Wut nicht berührt worden ist. Beratung liefert uns lediglich Vernunftargumente, warum wir nicht ausagieren sollen. Am Ende aber sind es die Gefühle, die gewinnen, besonders wenn die Energie des Hirnstamms diese Gefühle steuert.

In den 1950er Jahren erfand Kaiser Permanente Hospital eine „bequeme“ Methode, wie Mütter mit ihren Neugeborenen umgehen sollten. Sie stellten ein Schubfach zur Verfügung, das auf und zu glitt. Wenn die Mutter mit dem Füttern des Säuglings fertig war, wurde das Baby in einem Schubfach weggeschlossen. Der Terror dieses Traumas ist eine wirkungsvolle Methode, um den Kortex und andere Gehirnzellen fehlzusteuern. Würde man an diesen Kindern, die jetzt erwachsen sind, eine Studie durchführen, kämen die Auswirkungen dieses ziemlich monströsen Konzepts allen guten Absichten zum Trotz zum Vorschein.

Wenn Sie wie ich gesehen haben, wie jemand seine Geburt wiedererlebt, werden Sie zu der Überzeugung gelangen, dass die Energie, die eingesetzt wird, um diese Empfindungen und Emotionen all die Jahre im Zustand der Verdrängung zu halten, schließlich die zelluläre Struktur des Körpers beeinträchtigen muss. In unseren therapeutischen Sitzungen sehen wir, welchen massiven, furchtbaren Schmerz die meisten von uns im Inneren verbergen. Es erfordert eine gleichermaßen massive Hemmkraft, um diese schrecklichen Schmerzen unten zu halten. Die plötzliche Freisetzung dieses frühen Schmerzes kann explosiv sein. Fügen Sie nun ein gewisses Maß an elterlicher Gleichgültigkeit und Mangel an Wärme gleich nach der Geburt und während der ganzen frühen Kindheit hinzu, und Sie erhalten massiv verstärkten Schmerz mit Schaden im frontalen Kortex und in limbischen Strukturen. Das bedeutet chronisches Leiden. Es ist nicht nur so, dass ein hoher Angstpegel bei der austragenden Mutter von Kortisolsekretion begleitet wird, sondern die schleichende Sekretion wird schließlich auch limbische Zellen des Babys schädigen. Das ist eine direkte Demonstration, wie fehlende Liebe ganz am Anfang des Lebens das Gehirn schädigen kann.  

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Bruce Bower in Science News stellt fest, dass „zwanzig Jahre währende Studien an Ratten und anderen nichtmenschlichen Lebewesen nahelegen, dass Zellverlust im Hippocampus die Folge ist, wenn diese Lebewesen permanent hohen Konzentrationen von Stresshormonen ausgesetzt sind.“4 Er impliziert, dass chronisch hohe Kortisol-Spiegel zu Schaden am Hippocampus führen können und zu den kognitiven Krankheiten, die wir oft mit fortgeschrittenem Alter in Verbindung gebracht haben. Das kann bedeuten, dass Gedächtnisverlust nach dem sechzigsten Lebensjahr vielleicht das Resultat einer Geburtseinprägung ist, die das ganze Leben hindurch chronisch hohe Kortisol-Spiegel hervorrief. Und genau deshalb ist es so teuflisch, wenn wir versuchen, exakte Ursachen für Gedächtnisverlust zu finden und uns dabei nur auf physiologische und neurologische Ereignisse im hohen Alter konzentrieren.

An diesem Punkt könnte uns eine Analogie das Verständnis erleichtern. Wenn ein Arzt einem Patienten über Wochen oder Monate schmerzstillende Mittel verschreibt,  warnt er ihn, sie nicht abrupt abzusetzen. Der Grund........Anfälle. Tiefe innere Kräfte entweder mit unseren eigenen innerlich gefertigten Dämpfern oder mit Medikamenten zu unterdrücken, bewirkt, dass sich das verdrängte Material aufbaut. Wenn man es mit einem Male frei werden lässt, bedeutet das eine ausgedehnte explosive Eruption von Gefühlen überall im Gehirn – ein Anfall -, sobald die Abwehr gegen die anströmende Gewalt schwächer wird. Eine Sache, die dem sehr nahe kommt, sehen wir in unserer Therapie – eine zufällige, massive, ungezielte Eruption, wenn sich Gefühle aufbauen und dem Bewusstsein nähern. Es ist der Brennpunkt, eine Szene oder Erinnerung, der das Gefühl in die richtigen Kanäle schleust und einen Anfall vermeidet. Aber wenn zu viel zu früh hochkommt, geht der Brennpunkt verloren und das Gehirn wird überlastet.

Im Schlaf werden wir stufenweise unbewusst, angefangen von gegenwärtiger Bewusstheit bis zu tiefem Schlaf. Schlaf erfordert die Unterdrückung  höherer Bewusstseins-Schichten. An einem gewissen Punkt, wenn sie dem Tiefschlaf nahe kommt, befindet die Person sich buchstäblich in demselben Gehirn und physiologischen Zustand wie ein sechs Monate altes Kind: keine begrifflich-intellektuellen Abwehrmechanismen gegen den Schrecken. Genau das ist für diejenigen, die ein präverbales Trauma wiedererleben, so entsetzlich. Es gibt nichts in ihren Köpfen, das in Begriffe oder Bilder fassen könnte, was sich gerade abspielt. Es ist pures Entsetzen, das oft von Einprägungen der ersten Ebene im Locus caeruleus organisiert wird.

Da wir gerade über physiologische Erinnerung reden, in den letzten Monaten hatten wir zwei Patienten, die Meningitis und Scharlachfieber aus ihrer Kindheit wiedererlebten. In beiden Fällen hatten die Patienten während des Wiedererlebens Fieber.

Nehmen wir als Beispiel ein kleines Kind, dem in den ersten Monaten des Lebens wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Im Erwachsenenalter aktiviert das Limbische System die furchtbare Verlassenheit und spornt den Kortex zur Hoffnung an („Vielleicht kommt jemand und leistet mir Gesellschaft. Ich rufe meine Freunde an. Vielleicht kommen sie und vertreiben mir die Einsamkeit“). Diese Handlung findet vor jeder Überlegung statt und ist eine Art, wie wir uns gegen das Gefühl verteidigen. Und wenn unsere Eltern oft genug sagten: „Mach’ nicht so ein finsteres Gesicht“, kann sogar Glücklichkeit eine Abwehr sein; der Schein gibt vor, alles sei gut, obwohl dem nicht so ist.  

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Könnte die Person die Traurigkeit und ihre Ursachen erleben, wäre sie vielleicht nicht deprimiert. Im Grunde sind es diese Traurigkeit und so viele andere Gefühle, die bei Depression eine Rolle spielen. Traurigkeit überflutet so viele verschiedene Erlebnisse, in denen das Kind sein Unglück nicht seinen Eltern mitteilen konnte. So viele meiner Patienten kommen mit hohem Blutdruck und Migräne herein und erzählen mir, dass sie eine sehr gute Kindheit hatten. Monate später winden sie sich auf der gepolsterten Matte und beklagen ihr frühes Elend, während gleichzeitig ihre Migräne verschwindet. Niemand redet dem Patienten diesen Schmerz ein. Er entsteht, wenn jemand seine Kindheit wieder besucht. Wenn wir lernen, in unseren persönlichen Gehirnarchiven zu stöbern, gibt es keinen Hinweis, was wir finden könnten. Keinem Patienten wird jemals gesagt, was er zu fühlen habe oder dass er weinen oder schreien solle.

Eine unserer gegenwärtigen Patientinnen wurde von ihrem Freund, mit dem sie seit zwei Jahren ging, einfach sitzen gelassen. Sie war am Boden zerstört und bettelte und rief ihn immer wieder an. Er ermahnte sie, sie solle nicht mehr anrufen. Sie konnte nicht an sich halten; ständig lauerte sie ihm auf. Dann verfiel sie schließlich wochenlang in einen depressiven Angstzustand, konnte ihr Appartement nicht verlassen, rief ihre Freunde nicht mehr an und gab ihr Leben auf. Das Gefühl, zu dem sie schließlich gelangte, war eine schwer anästhesierte Geburt, die sie überlastete, und so entwickelte sie das „Kämpfen-und-Scheitern“-Syndrom, das heißt, sie gab bei Widerständen schnell auf. Dann bewegte sie sich die Gehirnebenen aufwärts zu der Beziehung mit ihren verschlossenen Eltern, die emotional distanziert waren, so distanziert, dass sie es aufgab, sich um Liebe zu bemühen, sich nur noch mit sich selbst beschäftigte und als Einzelgängerin galt. Als sie als Erwachsene die Chance sah, Liebe zu bekommen, wurde sie hartnäckig und obsessiv. Sie klammerte sich an Hoffnung. Und genau das machte ihre Situation hoffnungslos – sie litt so sehr unter Liebesentzug und war so bedürftig, dass sie Männer abstieß. Je mehr sie brauchte, umso weniger bekam sie.

Es ist das Ziel der Primärtherapie, die frontokortikale Erinnerung mit der unbewussten Leidenskomponente (Limbisches System-Hirnstamm) zu verhaken, um vollständiges Bewusstsein zu erreichen – ein frontaler Kortex, der mit den Strukturen des Limbischen Systems und des Hirnstamms voll verknüpft ist. Das ist Zugang.  Bewusstsein ist das Endziel der Therapie: das Unbewusste bewusst zu machen. Wir trachten danach, den Druck aus dem System zu nehmen, während gleichzeitig lindernde Maßnahmen Anwendung finden. Wir bestehen darauf, dass die Symptome  ungeachtet ihrer Ursachen behandelt werden. Wir müssen eine Migräne oder hohen Blutdruck durch Medikation im Zaume halten, so dass wir funktionieren können.

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Quellenverweise und Anmerkungen

 

 

N. 1         Siehe die New York Times, 19. Januar 1994.  Der Untertitel des Artikels lautet: “Wenn die Mutter trinkt, trinkt ihr Baby mit.“

 

N. 2         E. Cantor-Grace, „Links between Pregnancy Complications and Minor Physical Anomalies in Monozygotic Twins Discordant for Schizophrenia,“ American Journal of Psychiatry                   151, no. 8 (August 1994): 1188-93.

 

N. 3         R. Gagin, E. Cohen und Y. Shavit, „Prenatal Exposure to Morphine Feminizes Male Sexual Behavior in the Adult Rat,” Pharmacology, Biochemistry and Behavior 38, (1997): 345.

N. 4         Bruce Bower,  Science News 153 (25. April 1998): 263.

 

     

KAPITEL 6

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DIE DREI EBENEN DES BEWUSSTSEINS

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Die drei Ebenen des Bewusstseins gründen auf den drei schon eingangs besprochenen Schlüssel-Gehirnsystemen: der Hirnstamm, das limbische (oder „fühlende“) Gehirn und der Neokortex. In meiner Nomenklatur bezeichne ich sie als Linien. Die erste Linie umfasst das primitive Nervensystem, im Wesentlichen den Hirnstamm. Obgleich die Strukturen des Nervensystems erst bei der Geburt ausreichend leistungsfähig sind, beginnen sie tatsächlich schon während der Schwangerschaft zu funktionieren, um die physiologische Entwicklung zu koordinieren.

 

 

Erste Linie: Instinktives Bewusstsein

 

Die erste Linie ist die viszerale Psyche, die Verwalterin von Empfindungen. Die vitalen Funktionen sind weitgehend unter ihrer Kontrolle: unter anderem Atmung, kardiovaskuläre Aktivität, Hormonausstoß, Verdauung und Harnprozesse. Traumen, die sich vor der Geburt und bis zu einigen Monaten danach ereignen, wirken sich wahrscheinlich auf diese Funktionen aus. Wenn also ein erwachsener Patient chronische Kolitis oder Herzklopfen aufweist, können wir voraussehen, dass ein Trauma der ersten Linie darin verwickelt ist – etwas, das geschah, bevor das Kind sechs Monate alt war, möglicherweise bei der Geburt oder vorher. Das kann zur Erklärung beitragen, warum einige Leute einen weit niedrigeren Puls, Blutdruck und Körpertemperatur haben als andere. Ereignisse im Mutterleib haben die Sollwerte für diese Funktionen festgelegt.  

 

 

 

 

 

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Vielleicht sind sie partiell auch durch Vererbung vorgegeben worden. Da sich diese Sollwerte in der Therapie ändern können, scheint es, dass genetische Faktoren nicht der vorherrschende Grund sind. Unser Vertrauensarzt hat in den vergangenen zwanzig Jahren festgestellt, dass fortgeschrittene Primärpatienten, die ihn aufsuchen, ausnahmslos niedrigere Vitalwerte aufweisen.

 

Zwanghafter Sex ist ein Beispiel für Hirnstamm-Antrieb. Die Art, wie jemand seine Sexualität ausdrückt, hängt von den Lebensumständen ab, aber die Energie dieses Triebes setzt sich schon ganz früh fest. Bei diesem Symptom haben wir ein Auge auf den Hirnstamm. Ich habe nie jemanden Tränen vergießen sehen, während sie/er die Geburt wiedererlebte. Und Sprechen ist unmöglich, weil Sprache eine Funktion höherer Ebene ist, die erst später kommt. Während des Geburts-Wiedererlebnisses stellt sich eine charakteristische Fuß- und Armposition ein. (Ich übergehe sie, um zukünftige Probleme mit Patienten zu vermeiden, die versuchen könnten, diese Erfahrung zu simulieren). Dieses Merkmal kann man nicht vortäuschen, weil der Patient keine Ahnung hat, was er während des Primals macht. In dem Augenblick, da der Patient aus der Sequenz herauskommt und zu sprechen beginnt, ändert sich die Fußposition – ein klarer Beweis für die Vollständigkeit und Einheit einer jeden Bewusstseinsebene.

 

Der Gebrauch von Worten versetzt das Individuum automatisch auf eine höhere Bewusstseinsebene, weil es jetzt auf andere Gehirnstrukturen zugreift. In den Wiedererlebnissen können wir beobachten, dass die drei unterschiedlichen Linien den drei Schlüssel-Gehirnfunktionen entsprechen. Die erste Linie kann jedoch die katastrophale Empfindung der Todesnähe speichern, das hektische Atmen und die gewundenen Körperbewegungen, wie sie auftreten, wenn traumatische Geburtserinnerungen durch die Barrieren der Verdrängung brechen. Diese nämlichen Erinnerungen belasten den Körper für Jahre und Jahrzehnte und können bei der Entwicklung kardiovaskulärer Krankheiten, Schlaganfall und auch Krebs eine Rolle spielen. Es gibt eine steigende Anzahl von Forschungsergebnissen, die belegen, dass Traumen in den allerersten Monaten des Lebens die Neurobiologie1 verändern. Diese Traumen können den Reifeprozess des Limbischen Systems ändern.

 

Wie Martin Teicher vom McClean Hospital, Massachusetts, betont, „können (diese Traumen) das biologische Substrat für eine ganze Aufmachung späterer psychiatrischer Folgen sein, die affektive Instabilität, Unfähigkeit, Wut zu modulieren, schlechte Impulskontrolle, eingeschränkte Stresstoleranz, aggressive Episoden, Beeinträchtigung des Gedächtnisses und halluzinatorische Phänomene umfassen.“ 2 Diese Autoren fanden heraus, dass von zweiundzwanzig Patienten, die als Kinder inzestuösen Beziehungen anheim gefallen waren, 77 Prozent Anomalien der Hirnwellen aufwiesen.3 Die Schlussfolgerung ist unausweichlich: Frühe schwere Traumen führen zu Abweichungen der Gehirnwellen, und diese Abweichungen deuten auf mögliche psychiatrische Probleme hin, weil Gehirnabweichungen das Substrat für spätere Denkstörungen bilden.  

 

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Steve

 

Ich kam per Kaiserschnitt zur Welt, wurde entfernt, weil die Ärzte befürchteten, ich würde wegen der Medikamente bei der Geburt sterben. Schon mein ganzes Leben lang habe ich ein Muster ausgeprägter Aktivität, gefolgt von ausgeprägter Inaktivität. Ich habe Angelegenheiten immer so erledigt, als bliebe mir sehr wenig Zeit und als müsste ich sie zu Ende bringen, solange ich noch die Energie dazu hatte. Das konnte ich aber nur eine Zeit lang beibehalten, und dann kam immer der Punkt, wo ich sehr müde wurde und „zusammenbrechen“ oder für eine Weile untätig sein musste. Das manifestierte sich auf vielerlei Art, hauptsächlich durch Trinken und Drogen, gefolgt von Katerstimmung, in der ich nichts anderes tun konnte als auszuruhen und nicht zu funktionieren. Dann wiederholte sich der Kreislauf. Das Traurige daran ist, dass ich mein ganzes Leben verbracht habe, ohne das, was ich gemacht habe, zu erleben. Ich war immer ‚entfernt’, wenn ich mit Freunden beisammen war, solche Dinge machte wie Sport, Musik, und wenn ich mit Mädchen zusammen war. Ich möchte immer zu diesen Erinnerungen zurückkehren und eine zweite Chance bekommen, oder ich erlebe sie ein zweites Mal und bin traurig darüber, wie vollkommen doch jede Erfahrung wirklich war, wie großartig meine Freunde wirklich sind, wie gut mein Leben doch in vielerlei Hinsicht war. Ich war einfach nicht wirklich „präsent“, um es zu erleben. Und ich war ganz einfach zu sehr damit beschäftigt, Schmerz abzuschalten – den körperlichen Schmerz. Das zu erleben, was ich in meinem Leben gemacht habe, hätte bedeutet, auch diese Verletzungen in meinem Körper zu fühlen. Und das sind reale körperliche Schmerzen. Sie tun weh. Sie sind unangenehm. Aber ich glaube, ich fange an, sie in ihren richtigen Zusammenhang zu stellen. Ich bin „kontraphobisch“, das bedeutet, dass ich mich zum Beispiel zum Weiterarbeiten zwinge, wenn ich anfange, müde zu werden. Gewöhnlich suche ich gezielt nach Herausforderungen und manchmal nach Gefahr. Das ist die einzige Art, wie ich mich lebendig fühlen kann. Wie schon erwähnt, brauche ich gewöhnlich Vernunftgründe für gewisse Dinge, wie den Kauf eines Autos, den Abschluss eines Geschäftes, etc., weil ich kein Gefühl daür habe, was sich abspielt. Meine Schmerzanzeiger sind überlastet, deshalb versagen sie den Dienst. Ich muss mich auf andere Möglichkeiten verlassen, mein erfolgreiches Überleben zu gewährleisten. Ich kann nicht behaupten, dass sich das bereits geändert hat, aber ich weiß bestimmt, dass es mir irgendwie hilft, meinem Leben einen Sinn zu geben und dass es eine Erleichterung ist, wenn ich den Schmerz in meinem Körper fühle. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass sich, wenn ich weiterhin diesen Schmerz fühle, die Überlastung verringert und ich Zugang zu den Gefühlen bekomme, die ich so sehr will und brauche. Für mich ist es nicht anders als irgendein anderes Handikap, wie z.B. ein fehlendes Glied, Taubheit, Blindheit. Vielleicht ist es weniger extrem, aber die Wirkung ist beinahe genau so einschränkend.

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Die Situation mit Steve ist selbsterklärend, während Myras Fall anders ist; ein äußerst atypisches Ereignis, das wir selten sehen. Hier ist ein dramatisches Beispiel dafür, wie Ereignisse im letzten Drittel der Schwangerschaft lebenslange Auswirkungen haben können. Sie war überlastet und wurde unbewusst – der Prototyp für spätere Überlastung und späteren Blackout: nichts verstehen oder hören. Zeuge dieses (gefilmten) Ereignisses zu sein, bedeutet, die schreckliche Gewalt früher Geschehnisse zu sehen und wie sie ein Leben lang in ihrer Ursprünglichkeit erhalten bleiben, so dass Myra in ihren Vierzigern ein Ereignis wiedererlebte, das sich vor vierzig Jahren abgespielt hatte, als sei dazwischen nichts geschehen. Für die Einprägung ist das so. Sie bleibt von Erfahrung unbeeinträchtigt, weil Erfahrung sie nicht berührt. Nur die eine Erfahrung zählt: die Wiedererfahrung des ursprünglichen Ereignisses. Jetzt verstehen wir Marylin Monroe. Alle Bewunderung  der Welt änderte nichts an der Tatsache, dass sie in einem Heim war und ganz am Anfang sehr wenig Liebe bekam. Diese Bewunderung fand niemals Zutritt zu ihrem System. Sie wurde durch Schmerz und Verdrängung blockiert. Nur wenn sie im richtigen Zusammenhang in ganzer Tiefe gefühlt hätte, dass sie am Anfang ungeliebt war, hätte sie sich schließlich geliebt fühlen können.

 

Myra

 

Eines Tages sahen wir in einer Therapiesitzung etwas Merkwürdiges, eine Patientin in Konvulsionen, in anfallsähnlicher Aktivität, die nicht auf die Geburt hindeutete; keine typische Arm- und Beinposition. Es ging tagelang so weiter, und auch die Patientin war verwirrt. Wir gingen der Sache nach, indem wir ihre Mutter befragten, und fanden heraus, dass sie in ihrem achten Schwangerschaftsmonat einen Stecker in eine 220Volt–Dose eingeführt und einen massiven Schlag erhalten hatte. Dieser Schlag traf auch das Baby. Das Kind wurde in komatösem Zustand geboren, der drei Tage anhielt; kein Lebenszeichen und keine Bewegung wie vorher. Dann kehrte sie ins Leben zurück. Aber alle Erinnerung an das Vorausgegangene war zunichte gemacht, und später war ihre prototypische Reaktion bei Überlastung der Blackout. Offensichtlich war der Schlag überwältigend. Wenn die Stimulierung zu viel war- zum Beispiel wenn sie Anweisungen von ihrem Chef erhielt, die leicht kompliziert waren-, konnte sie nicht sehen oder verstehen, was direkt vor ihr war. Sie erlebte einen Blackout, weil das alte unbewusste Ereignis und die ursprünglichen Reaktionen zum Vorschein kamen, im zerebralen Kortex eintrafen und sie hilflos machten.  

 

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Sie wurde tatsächlich unbewusst. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie, wie sie sagte, „benommen.“ Der Schlag, den ihre Mutter in ihrem achten Monat erhalten hatte, war der gleiche wie bei Elektroschocktherapie. Ihre Reaktion auf eine Überlastung im Alter von zwei und drei Jahren war sofortiges Abschalten, es wurde zum Prototyp. Sie wuchs im Zustand der Unbewusstheit auf. Sie konnte den einfachsten Kursen in der Schule nicht folgen. Sobald in ihrem Leben eine Überlastung geschah, war sie „wie in einem Koma oder wie benommen“, sie wusste nichts und sah nichts. Spätere Überlastung – zu viele Aufgaben zugleich, sogar die Lektüre eines langatmigen Buches -, war genug, um sie völlig abzuschalten. Sie kaufte sich nur dünne Bücher. Alles war zu viel, weil ihr unbewusstes Stressniveau bereits sehr hoch war.

 

Als sie begann, den elektrischen Schlag wiederzuerleben und ihn mit den verarbeitenden kortikalen Integrationszentren verknüpfte, ließ ihre Benommenheit immer mehr nach, und sie konnte die Dinge besser verstehen. Die Hirnstamm-Einprägung, die ihr Leben kontrollierte und ihr späteres Denken, reverbierte nicht mehr ausschließlich um ihre tieferen Gehirnzentren, sondern hatte Zugang zu höheren frontalen Integrationszentren. Das passiert vielen meiner Patienten, die bei der Geburt schweren Betäubungsmitteln ausgesetzt waren. Die physiologische Gleichung lautet ursprünglich und gegenwärtig: Stress führt zu Unbewusstheit. Oder eine Variation: Stress führt zu Alkoholkonsum, der zu Unbewusstheit führt. Warum ist das so? Weil der ursprüngliche Stress eine gegenwärtige eingeprägte Erinnerung ist. Neue Ereignisse resonieren mit dieser Erinnerung und erzeugen die gleiche prototypische Reaktion. Der Prototyp kontrolliert das Verhalten, weil er die erste Erinnerung an Trauma und Überleben ist und sich in einer frühen Situation auf Leben und Tod abspielte.

 

Betrachten wir Anästhesie bei der Geburt. Eine neue Studie, die im Oktober 1999 von der Amerikanischen Gesellschaft für Anästhesieforschung veröffentlicht wurde, zeigt, dass sich die Anzahl der Fälle, in denen Müttern während der Geburt schmerzstillende Medikamente verabreicht worden waren, zwischen 1981 und 1997 verdreifacht hatte. Die neuen Artikel, die diesen „Fortschritt“ verkündeten, sagten, dass Frauen sich endlich dafür entschieden, sich besser zu fühlen, während Ärzte bemerkten, dass Frauen während der Kindgeburt nicht unnötig leiden sollten. Ich bin einverstanden, dass Frauen nicht unnötig leiden sollten, - aber nicht auf Kosten des Babys, das den Rest seines Lebens leiden wird! Betäubungsmittel sind kein Fortschritt; sie sind ein Notbehelf, und der kann gefährlich sein. Die vollen Kontraktionen sind bei der Geburt aus vielen Gründen notwendig, einschließlich dem der Stimulierung des Atmungs- und Harnsystems des Babys. Kontraktionen sind kein Trauma, wenn sie den Geburtsprozess fördern.   

 

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Wenn sich ein frühes Trauma ereignet, verbleibt das System - abhängig von der Art der Reaktion auf das frühe Ereignis - entweder lebenslang im erregten Modus oder im gedrückten, nach unten regulierten Modus. Es hängt nicht nur von der Reaktion des Babys ab, sondern auch von den Umständen, insbesondere von der Art der Medikamente, die der gebärenden Mutter - falls überhaupt -  verabreicht werden. Schwere Anästhesie bereitet oft die Grundlagen für spätere Depression, vorausgesetzt, das familiäre Milieu ist so repressiv, dass das Kind sich nicht ausdrücken darf. Spätere depressive Reaktionen sind, wie ich erklärt habe, genau die gleichen wie die ursprünglichen Reaktionen auf die Geburt unter Anästhesie: „Ich kann nicht mehr. Es ist alles hoffnungslos. Was hat es für einen Sinn? Das bringt nichts.“ Anders gesagt  verstärkt sich das Grundgefühl mit den Jahren. Es ist dasselbe Gefühl, das jetzt auf drei verschiedenen Ebenen gründet.

Eine depressive Person, die die Sitzung mit einer Körpertemperatur von 96,0 F ((35,6°C)), einem Blutdruck von 85/65 und einer Herzfrequenz von 55 beginnt, wird sie meistens mit den normalisierten Werten einer nicht-depressiven Person beenden, falls sie gefühlt und die Verbindung zu dem zugrunde liegenden Gefühl hergestellt hat. Das heißt, mit einem Blutdruck von 120/80 und einer Körpertemperatur von 97,5 F ((36,4°C)) (Durchschnittswert meiner fortgeschrittenen Patienten).4  Wenn dann die Person aussagt, dass sie sich besser fühle, können wir ihr glauben. Die an Angst leidende Person beginnt mit den genau entgegengesetzten Werten. Nach der Sitzung normalisieren sich alle Vitalfunktionen.

 

Unter bedrohlichen Umständen, wenn zum Beispiel der Fetus von der Nabelschnur stranguliert wird, scheint die Produktion von Katecholaminen radikal anzusteigen. Diese Reaktion graviert die Einprägung – als Überlebenserinnerung – tiefer in das System ein. Es wird zum Prototyp. Der nach unten regulierte Prototyp steuert später im Leben viele Charakteristika, wie Angst vor Veränderung, Rigidität und Mangel an Spontanität. Rühr’ dich nicht! Die Gefahr lauert! Der Prototyp ist die erste wesentliche Reaktion auf ein Ereignis, bei dem es um Leben oder Tod ging. Er wird zu einer Schablone für alle zukünftigen Reaktionen auf Gefahr.

 

Die zweite Linie: Emotionales Bewusstsein

 

Die zweite Linie – die emotionale Ebene des Limbischen Systems – beginnt mit der Entwicklung vor der Geburt und erreicht ihre volle Entfaltung im Alter zwischen zwei und drei Lebensjahren. Mit der Zeit bezieht sich das Kind auf eine immer größere Welt, die über Brust und Wange der Mutter hinausreicht, und stellt eine emotionale Bindung  

 

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zu Freunden, Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten her. Das ist die Ebene von Gefühlszuständen, Tränen und Schluchzen. Es gibt viele Individuen, die von der ersten Linie, dem Hirnstamm, gesteuert werden: impulsiv, voller Zorn, pausenlos angetrieben, ungeduldig und unaufmerksam, unfähig, sich zu konzentrieren. Sehr oft entwickeln diese Individuen keine angemessene limbische/fühlende Bindung. Es fehlt eine gewisse Art emotionaler Empathie. Ihre erste Linie dominiert und verhindert, dass sie die emotionale Ebene richtig entwickeln. Große Athleten stehen manchmal nahezu ausschließlich mit ihrer ersten Linie in Verbindung. Ein Interview mit einigen dieser Athleten ist keine intellektuelle Glanzleistung. Aber auf dem Feld weiß der Fußballspieler instinktiv, wo er hinlaufen muss. Müsste er darüber nachdenken, wäre er kein guter Spieler.

 

Ein Patient beginnt eine Sitzung vielleicht auf der zweiten Linie mit Weinen im Alter von zehn Jahren, als seine Eltern seinen geliebten Hund fortgaben. Bald jedoch wird er das grundlegend andere Weinen eines Kleinkinds annehmen, weil er in einen Modus wechselt, der die Kleinkind-Erinnerungen birgt, wie ihm zur Strafe der Teddybär weggenommen worden war, als er zwei Jahre alt war.

 

Kommt es zu Würgen und Husten inmitten einer Kindheitsszene (zweite Linie), bezeichnen wir das als Intrusion der ersten Linie. Wir sehen das ziemlich oft. Wir stehen dann vor der Entscheidung, die Energie der ersten Linie entweder abzuleiten oder sie mit Beruhigungsmitteln zu unterdrücken. Wenn sie weiterhin eindringt, dann kann der Patient kein integriertes Gefühlserlebnis haben und fühlt sich schlechter, wenn er die Sitzung verlässt. Wenn wir entsprechende Techniken benutzen, um dem Eindringen größeren Zugang zu verschaffen, kann der Patient einen Teil der Hirnstamm-Energie (erste Linie) ableiten und dann zu seinem Gefühlserlebnis zurückkehren.

 

Ein traumatisches Ereignis wie die Scheidung der Eltern im Alter von fünf oder sechs Jahren, betrifft weitgehend die zweite Linie, obgleich es wegen seiner katastrophalen Bedeutung (es gibt keine Familie mehr) Komponenten der ersten Linie beinhaltet. Die Leidenskomponente des Schmerzes wird auf der limbischen Ebene gespeichert. Auf dieser Ebene kann das Kind den Zustand von Anspannung erleben. Angst ist eine viel primitivere Reaktion, welche die Viszera oder Eingeweide einbezieht. Diese viszeralen Reaktionen bildeten die höchste Ebene der Gehirntätigkeit, als das Trauma geschah. Ist es einmal eingeprägt, diktiert es die viszeralen Reaktionen auf spätere Widrigkeiten:  In dem früher erwähnten Fall von Angst bei einer Präsentation kam es zum Beispiel zu Magenkrämpfen, Beklemmung in der Brust, Schmetterlingen im Bauch, Herzklopfen und häufigem Urinieren.

 

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Eine Möglichkeit, vom Ursprung eines Traumas Kenntnis zu erlangen, ist die Art der sich zeigenden Reaktionen. Ein aufgewühlter Magen kann eine Reaktion auf Mutters Zorn sein, wenn das Kind sechs Jahre alt ist, aber die körperliche Reaktion an sich ist prototypisch und betrifft die erste Linie. Sie ist präverbalen Ursprungs, und das kann ein eingeprägtes intrauterines Trauma bedeuten.

 

Aus diesem Grund sind Gedanken gegen Angst wirkungslos. Gedanken bedeuten den Versuch, den neuen Kortex zu benutzen, um eine 300 Millionen Jahre alte Instinktreaktion zu unterdrücken. Man kann niemals die eine Ebene des Gehirns dazu bringen, die Arbeit einer anderen Ebene zu erledigen. Angst muss man als vollständig viszerale Reaktion ohne Worte erfahren, um sie zur Auflösung zu bringen. Sie kann Worte haben, wenn die Reaktion mit Kindheitsszenen verknüpft ist, aber es kommt die Zeit, da man den Prototyp in seinem nackten Zustand erreicht, die Zeit, als der Kortex noch nicht entsprechend entwickelt war.

 

Wenn sich Individuen mit den limbischen Strukturen erinnern, erinnern sie sich an Bilder aus der Kindheit, an Szenen, Bilder und an die Küchengerüche. Insbesondere an Gerüche, weil es das uralte Geruchshirn der Reptilien ist, das sich zum fühlenden Gehirn des Menschen weiter entwickelte. Auf diese Weise bringen wir Patienten in ihre Kindheit zurück. Und wenn sie sich an ein Zimmer erinnern, als sie drei Jahre alt waren, können sie die Farbe des Linoleums und das Arrangement der Möbel beschreiben; Später verifizieren die Eltern diese Beschreibungen, welche die Patienten vor der Wiedererlebens-Episode nie zustande gebracht hätten. Sie können Mutters Backwerk riechen, als wären sie wieder als Kinder in der Küche.

 

Das Ziel jeder tiefgreifenden Therapie sollte die Wiedergewinnung von Gefühlen aus Strukturen des Limbischen Systems und des Hirnstamms sein, wobei darauf zu achten ist, dass man nicht bei limbischen Einprägungen stehen bleibt. Wenn die Wiedergewinnung vollständig zustande kommt, normalisiert sich die Person. Das macht Ratschläge, Kindererziehung, Eheberatung oder Hilfe bei Alltagsproblemen nicht überflüssig. Zu oft jedoch stammen Eheprobleme von ziemlich tiefen Einprägungen in einem oder beiden der Partner.

 

Wenn ein Patient sich in einem Gefühlserlebnis aus der Vergangenheit befindet, kommt es zu einem Fluss an Worten und Gedanken, der von Gedankenbildung  kortikalen Ursprungs nicht erreicht wird. Mühelos sprudeln die Einsichten, und das geht lange Zeit so weiter,  anscheinend ohne dass der Patient bewusst und gezielt nach Gedanken sucht. Ich habe immer wieder festgestellt, dass sich diese Art von Gedankenmuster qualitativ von rein links-kortikalen Prozessen unterscheidet, die rein intellektuell sind.  

 

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Die dritte Linie: Intellektuelles Bewusstsein

 

Die präfrontalen und orbitofrontalen Kortices der dritten Linie beginnen ungefähr im Alter von zwei Jahren eine aktive Rolle zu spielen und entwickeln sich bis zum Alter von ungefähr zwanzig Jahren weiter. Unter Vermittlung des Frontallappens organisiert das Gehirn alle intellektuellen Angelegenheiten. Das Bewusstsein der dritten Ebene integriert die tieferen Ebenen, hilft Impulse zu hemmen, befasst sich mit der Außenwelt und fügt den Gefühlen Bedeutung bei. Es ist der Sitz ausgeklügelter Ideen. Es erledigt die Vorausplanung und kann Handlungsfolgen absehen.

 

Das Problem besteht darin, dass Gedanken und Begriffe allein auf der dritten Linie existieren können, ohne eine solide Verbindung zu den unteren Linien zu haben. In diesem Fall sind wir schlau, aber nicht intelligent. Unsere Gefühle können uns nicht führen. Leute, die nie Hunger haben, die tagelang auskommen können, ohne ans Essen zu denken, sind ein Beispiel. Einige Individuen können monatelang ohne Sex auskommen, fühlen keinen Mangel und kein Verlangen danach. Für guten Sex brauchen Sie Zugang zur ersten Linie. Zu viel Zugang aufgrund schlechter Schleusung erzeugt jedoch Hyperreaktivität, die mit schlechter Impulskontrolle einhergeht. Diese Individuen können ihre sexuellen Impulse und ihr Verlangen oft nicht kontrollieren. Schlechte Schleusung kann zu vorzeitiger Ejakulation oder zu Nymphomanie führen, ganz zu schweigen von Vergewaltigung.

 

Als unsere Vorfahren vor langer Zeit Widrigkeiten aus dem Weg gehen mussten, brachte ihnen die Wanderung von Gehirnzellen nach oben und außen einen evolutionären Vorteil. Dank dieser evolutionären Entwicklung erwarben wir die Fähigkeit des Verstehens und Sprechens. Die dritte Linie, der Neokortex, handelt in Logik, Rationalität, Begriffen, Kalkulation und Wirklichkeitsprüfung. Er kann „vernünftig“ sein und komplexe Philosophien entwickeln.

 

Das Bewusstsein der dritten Linie findet „Vernunftgründe“, um das Verhalten anderer und unser eigenes zu erklären, befähigt uns, Motive auf andere zu projizieren, falsch wahrzunehmen und Logik so zu biegen, dass sie mit unseren inneren Wahrheiten übereinstimmt. Das ist eine Methode, Kritik abgleiten zu lassen. Es ist die dritte Linie, die Zwangsgedanken organisiert. Die Gefühlszentren müssen wegen der frühen Entbehrung von Liebe Überstunden leisten, während der frontale Kortex versucht, sich gegen die Flut zu stemmen. Er benutzt Obsessionen, um Gefühle zu absorbieren und zu kontrollieren. Obsessionen entstehen aus dem Zusammenprall  tiefsitzender Gefühle erster und zweiter Linie mit dem frontalen Kortex. Das Ergebnis ist die Überlastung dieses Kortexes und die Erzeugung von Zwangsvorstellun- gen.Beruhigungsmittel funktionieren, weil sie die Menge an Eingaben dämpfen, die aus den zwei tieferen Ebenen aufsteigen.  

 

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Unverwurzelte Einsichten kommen auf der dritten Linie vor. Wenn es keine Verankerung im Unterbewusstsein gibt, bleiben Einsichten auf dieser Ebene, ohne die instinktive und fühlende Basis zu berühren. Wenn erste, zweite und dritte Linie in Zusammenhang und Verbindung gebracht werden, kann der Mensch schließlich sich selbst trauen und seine eigenen Motive und ebenso die der anderen erkennen. Er ist bewusst.

 

Die linke Hemisphäre gräbt in unserer Vergangenheit nach den Fakten des Fühlens, während das rechte Gehirn das Rohgefühl an sich hervorholt.  Es ist die Zusammenarbeit der zwei Seiten, die gestaltloses Leiden in spezifisches Fühlen umwandelt. Es bedeutet das Ende von Zwangsvorstellungen; endlich weiß die linke Seite, was die rechte fühlt. Das ist Verknüpfung.

 

Also haben wir drei nach ihrem evolutionären Zeitpunkt voneinander getrennte Ebenen des Bewusstseins, die verschiedene Gehirnstrukturen beinhalten und spezifische Funktionen erfüllen. Schaden auf einer Ebene muss nicht unbedingt Auswirkungen auf eine andere haben. Man kann beeinträchtigte motorische Funktionen haben und dennoch eine kristallklare Wahrnehmung behalten. Leute im Koma funktionieren auf der ersten Linie, wobei die zwei höheren Ebenen inaktiv sind. Sie agieren auf einer elementaren Ebene, aber sie „funktionieren.“ Wenn Sie sie mit einer Nadel stechen, zucken sie zurück. Die Hand eines Menschen zu halten, der unter Narkose steht, kann den Schmerz lindern helfen. Die Person fühlt den Kontakt, obgleich sie sich auf einer anderen Ebene aufhält. Körperlicher Kontakt ist wichtig. In der Primärtherapie halten wir die Hand von Patienten, um den Schmerz zu besänftigen und um sie in die Gefühlszone zu bringen. Wir achten darauf, nicht zu viel oder zu lange dauernden Körperkontakt anzuwenden, um die Patienten nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. Zuviel Beruhigung blockiert Gefühle. Es ist eine knifflige Angelegenheit.

 

Jede Ebene des Bewusstseins trägt zu vollständigem Bewusstsein bei. Intellektuell bewusst zu sein, ist die dritte Linie. Voll bewusst zu sein, umfasst die fließende Zusammenarbeit aller drei Linien – die rechte und linke Hemisphäre und der Hirnstamm mit dem limbischen und frontalen Kortex in harmonischer Kofunktion. In einer normalen, gesunden Person entsprechen diese drei unterschiedlichen Psychen spezifischen Gehirnstrukturen und funktionieren als integrierter, ausgeglichener psychischer Apparat. Sie ermöglichen dem Menschen, ein fühlendes und denkendes Wesen zu sein. Gedanken können tiefere Bewusstseinsebenen prompt erreichen. Bewusstsein hilft uns, ungesunde Tätigkeiten wie Rauchen oder übermäßiges Essen zu vermeiden. Man ist kein Opfer seiner Impulse mehr.

 

Gesundheit bedeutet optimale Kohärenz oder Zusammenhang  zwischen Ebenen, harmonisches Funktionieren, das dem Überleben dient. Werden die Ebenen gewissermaßen zerlegt, besteht die Neigung zu späterer Krankheit. Die instinktive erste Linie ist damit betraut, unser Leben in einem Notfall zu retten. Ein Trauma beeinträchtigt diese Harmonie, bringt jemanden dazu, etwas zu tun, das er wissentlich nicht tun sollte, wie z.B. Alkohol- oder Drogenkonsum. Ohne diese Hilfsmittel müssten wir uns mit zu viel Schmerz befassen.  

 

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Wenn meine Patienten in einem Gefühlserlebnis sind und sich von der Gegenwart zur fernen Vergangenheit bewegen, dann zur Gegenwart zurück, nennen wir das eine 3-2-1-2-3 Sequenz. Das ist ein vervollständigtes Feeling: Zugriff auf die tiefsten Gehirnebenen und dann Rückkehr zum integrierenden frontalen Kortex, wo die Erinnerung zur letzten Ruhe gebettet wird. Die Ebenen formen eine Gefühlskette oder eine Schmerzkette. Deshalb kann jemand, der eine Kindheitserinnerung wiedererlebt, im weiteren Verlauf der Sitzung in etwas Tieferes eintauchen. Niemand muss den Patienten den Weg dorthin zeigen; es geschieht automatisch, weil ein frühes Trauma Repräsentationen auf jeder der aufeinander folgenden Ebenen hat. Wenn eine Mutter und ein Vater liebevoll und freundlich, warmherzig und glücklich waren, wird ein Baby diesen Zugang schließlich ohne Therapie erlangen.  Wenn sie es nicht waren, bedarf es tiefschürfender Therapie, um diesen Zugang anzubieten.

 

Eine meiner Patientinnen war bestürzt, weil sie nicht auf eine Dinner-Party eingeladen worden war. Sie kam in die Sitzung auf der dritten Ebene, fühlte sich „vergessen“.  Im weiteren Verlauf der Sitzung brachte sie das Gefühl auf die zweite Linie hinab, wo sie von ihren Eltern ausgeschlossen wurde, deren emotionale Beziehung unter Ausschluss ihrer Kinder stattfand. (Den Kindern war nicht erlaubt, mit den Eltern zu essen.) Schließlich fühlte sie ihre Geburt. Sie war die zweite von Zwillingen. Die Ärzte hatten sie zuerst nicht wahrgenommen, und sie blieb für, wie sie es jetzt betrachtet, übermäßig lange Zeit im Mutterleib. Sie litt physiologisch, was später durch die limbisch-frontalen Verknüpfungen zu einem Gefühl des Vergessenwordenseins oder Ausgeschlossenseins ausgearbeitet wurde. (Tatsächlich ließ man sie drinnen, aber sie fühlte sich draußen gelassen).

 

Die erste Erinnerung ist strikt physiologisch, aber mit der Entwicklung des Gehirns interpretieren die Nervennetzwerke auf höheren Ebenen die Erinnerung auf ihre eigene Weise; das fühlende Gehirn im Sinne von Bildern, Poesie, Gemälden und Träumen, während der denkende Kortex dafür das Etikett oder die Bedeutung zur Verfügung stellt. Zum Glück können wir diesen Repräsentationen folgen, bis uns das Gehirn des Patienten zum Ursprung zurückführt. Wir fangen nicht mit dem ursprünglichen Schmerz an. Wir versuchen immer, bei Schlüssel-Repäsentationen auf den höheren Ebenen anzufangen. Das Gehirn erledigt den Rest, falls wir uns nicht einmischen und die Patienten zu „behandeln“ versuchen. Jetzt verstehen wir, warum ein Patient, der sich in der Gegenwart hoffnungslos und deprimiert fühlt, sich die Ebenen des Bewusstseins hinab zu einem Geburtstrauma bewegen kann, bei dem schwere Anästhesie jegliche Art von Reaktion verhindert hatte.

 

 

 

 

 

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Dieser Prototyp führt zu Resignation und zu Gefühlen des Scheiterns. Es standen keine Alternativen zur Wahl. Als mein Patient mit dieser Art von Einprägung sich von seiner Freundin verlassen fand, steckte er wieder im gleichen Gefühl, sah keinen Ausweg, fühlte sich überwältigt und geschlagen. Er war total handlungsunfähig, die ganze Strecke von Anfang an. Wenn wir ein gewisses Verhalten sehen, zum Beispiel Handlungsunfähigkeit, und es als separate Angelegenheit behandeln, lassen wir alle mit der Erinnerung einhergehenden Aspekte aus.

 

Wenn ein Trauma seinen Ursprung auf der ersten Linie hat und der Therapeut nicht weiß, wie er den Patienten sicher dort hinbringen kann, wird der Patient nicht gesund werden. Kurz gesagt kann es Ihnen auf der dritten Linie „gut“ gehen; Sie können gut angepasst sein, in der Schule gut zurecht kommen, eine gute Ehe führen, und dennoch mit Schmerz belastet sein. Wenn jemand mit diesem Ergebnis zufrieden ist, dann ist es gut. Aber er oder sie sollte wenigstens darüber informiert sein, dass es Vieles gibt, das darunter verborgen liegt.

 

Die oben genannte Patientin, die bei der Dinner-Party übergangen wurde, begriff ihre Angst. Das Unbewusste war bewusst gemacht worden. Keine Angst mehr. Sie wird nicht in einer einzigen Sitzung aufgelöst, weil unser Verdrängungssystem jeweils nur eine begrenzte Menge an Gefühl zulässt. Wenn zuviel Schmerz Zugang gewinnt, haben wir eine Überlastung und in der Folge entweder völliges Abschalten oder mystische Symbolisierung, weil der Kortex sich windet, um mit dem Schmerz fertig zu werden. Das ursprüngliche Trauma auf Leben und Tod ist von solcher Größe, dass es vieler, vieler Primals zur Auflösung bedarf. Wir würden gar nicht wollen, dass wir in einer einzigen Sitzung die Auflösung erreichen.

 

Der frontale Kortex ist wesentlicher Bestandteil des Fühlens. Er schreit oder weint nicht einfach für sich selbst. Er hat Zugang zum limbischen Gefühl, um es richtig verstehen zu können; er befasst sich mit den limbisch-kortikalen Schaltkreisen, die das Gefühl vollständig machen. Solange Sie den frontalen Kortex nicht einbeziehen, können Sie brüllen und schreien, weinen und schluchzen und auf die Wände einschlagen, ohne jemals einen Fortschritt zu erzielen. Aber wenn Sie nur den frontalen Kortex benutzen, ohne Zugang zu tieferen Ebenen zu haben, werden Sie auch kein vollständiges Gefühlserlebnis haben.

 

Ein Trauma erstreckt sich über alle Ebenen des Bewusstseins und wird letzten Endes im Neokortex hinterlegt. Therapie involviert das Zurückholen der Erinnerungen auf allen drei Ebenen. Endgültige Verknüpfung bedeutet, die Erinnerungen unter Einbeziehung aller drei Ebenen zurückzugewinnen: der instinktiven/das Überleben sichernden, der fühlenden, und der kognitiven Ebene.  

 

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Die Hemisphären der Liebe: Die rechte und die linke Hemisphäre

 

Wenn ein Baby Emotion bei einem Elternteil miterlebt, feuern Nervenzellen in der rechten Hemisphäre seines Gehirns,  und der Blutzufluss in diese Region nimmt zu. Diese Zellen feuern auch, wenn das Baby die Emotion erwidert. Die rechte Seite antwortet auf Liebesimpulse, die von den Eltern kommen. Dementsprechend  leuchtet sie auf, wenn ein Patient ein emotionales Trauma aus der frühen Kindheit wiedererlebt.5  Für uns ist das eine weitere Möglichkeit, uns zu vergewissern, dass das Wiedererlebnis ein reales Ereignis ist. Wenn ein Patient ein altes Trauma erzählt, dann ist weitgehend das linke Gehirn beteiligt. Der zentrale Kern der Höllenqualen liegt indessen ein paar Zentimeter westlich und südlich. So verläuft die Route, wie wir sie in unseren Patienten sehen können, die eine Sitzung damit beginnen, dass sie von fehlender Liebe im Alter von sechs Jahren erzählen. Die kortikal-limbischen Netzwerke operieren mehr von der rechten Seite des Gehirns aus. Kurz gesagt kommunizieren Gefühle mehr mit dem rechten Gehirn als mit dem linken und enden im rechten frontalen Kortex.

 

Verbale, analytische, Probleme lösende Prozesse werden von der linken Seite des Gehirns ausgeführt, wogegen Gefühle, emotionale Bindung und Kreativität die Domäne der rechten Seite sind. Folglich würde ich die rechte Seite in der Tat als Hemisphäre der Liebe betrachten. R. J. Davidson glaubt, dass die rechte Seite die Hemisphäre ist, die das große Bild sieht, einschließlich der Gesamtheit der Beziehung zu den Eltern.6

 

Die linke und rechte Hemisphäre haben ihre jeweils eigenen spezifischen Funktionen. Die rechte Hemisphäre ist größer als die linke und bearbeitet emotionale Einprägungen. Es ist die Seite des Fühlens, des ganzheitlichen und globalen Denkens. Die linke Seite steuert Denken, Planung und Begriffsbildung. Der frontale Kortex ist gegen Ende des zweiten Lebensjahres halbwegs entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt ist das rechte Gehirn weitgehend reif, während das linke Gehirn erst mit dem Reifeprozess beginnt.

 

Es ist interessant, dass die rechte Seite mehr mit dem Rückzug aus einer Konfrontation assoziiert ist. Es scheint, dass die Verschiebung zum parasympathischen Modus das rechtsseitige sozial-emotionale Rückzugssyndrom begünstigt. Was ich hier diskutiere, ist gezwungenermaßen zum Teil Spekulation. Es ist jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen, weil dahinter viele Jahrzehnte klinischer Erfahrung stecken. Nichtsdestotrotz sollte der Horizont manchmal über die aktuellen Fakten hinausreichen; ein atavistischer Sprung in bloße Möglichkeiten. Aber wenn wir das Mögliche nicht sehen, werden  wir keine großen Sprünge machen. 

 

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Diese Möglichkeiten müssen jedoch in gewisser Beziehung zur aktuellen Forschung stehen. Seit dreißig Jahren schreibe ich über das Geburtstrauma und eingeprägten Kindheitsschmerz. Jetzt zieht die Forschung nach. (Eine aktuelle Ausgabe der Newsweek schreibt in der Titelgeschichte über die Auswirkungen des Lebens im Mutterleib.) Wir sollten nicht davor zurückschrecken, Möglichkeiten zu postulieren. Anders gesagt ist Wissenschaft nicht einfach Statistik. Auch Ideen zählen.

Vielleicht bin ich der Schuster, der nur Schuhe in der Welt sieht; da ich Therapeut bin, sehe ich nur Schmerz in Menschen. Alle Wissenschaftler müssen in dieser Hinsicht vorsichtig sein, denn wenn wir einen Hammer haben, sieht alles auf der Welt wie ein Nagel aus.

 

 

Die Empathie des rechten Gehirns

 

Das rechte Gehirn ist empathisch, fähig zu spüren, was andere fühlen, fähig wahrzunehmen, ob jemand aufrichtig ist. Es hält uns in Kontakt mit uns selbst und unseren Gefühlen. Weil es sich früher entwickelt, ist es empfindlicher für die Emotionen der schwangeren Mutter, geht eine Bindung mit ihr ein und organisiert die limbischen Strukturen, soweit sie zu kortikalem Wissen in Bezug stehen. Auch auf diese Weise wissen wir, dass Gefühle Gedanken vorangehen, besonders abstraktem Denken, und stärker als Gedanken sind. Das rechte Gehirn ist von Gefühlen abhängig. Es braucht die „Liebe“ der Mutter, um sich weiter zu entwickeln. Mit dem limbisch-fühlenden Strukturen steht es durch starke interaktive Schaltkreise in Verbindung und dominiert deshalb, wenn es um Gefühle geht.

 

Schore kommentiert, wie das Kleinkind das rechte Gehirn der Mutter „als Schablone für die Einprägung und feste Verdrahtung  der Schaltkreise in seinem eigenen rechten Kortex (benutzt).“ 7 Diese Hemisphäre ist weitgehend  dafür verantwortlich, wie sich Kind und Erwachsene aufeinander beziehen. Defekte Beziehungen in den ersten zwei Jahren des Lebens reduzieren die Anzahl kortikaler Synapsen und verändern die Struktur der rechten Seite.

 

Wenn die Mutter zu aufgeregt ist und  zuviel Aufmerksamkeit von ihrem Baby verlangt, überlastet und überwältigt sie das Baby. Wenn eine Mutter zu wenig Interesse hat und auf ihr Baby nicht eingeht, werden die sich schnell entwickelnden Nervenbahnen zwischen dem frontalen Kortex und dem limbischen System beeinträchtigt, und zwar mehr in der rechten Hemisphäre als in der linken. Das ist in der aktuellen Literatur als fehlende Übereinstimmung  bekannt. Das Gehirn braucht optimale Stimulierung, um sich zu entwickeln.  

 

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Wenn es in der frühen Kindheit anhaltenden Stress und elterliche Gleichgültigkeit gibt, wenn Liebe ständig fehlt und auf Bedürfnisse nicht eingegangen wird, dann leidet das rechte Gehirn. Oft wird oder kann es dem linken Gehirn nicht mitteilen, was nicht stimmt oder nicht einmal, dass etwas nicht stimmt. Der Grund mag sein, dass das linke Gehirn noch nicht voll entwickelt ist. Wenn wir älter werden, geht das linke Gehirn lustig seinen Weg weiter, blind für das Leiden des rechten Gehirns. Wollte man einen Psychopathen erzeugen, jemanden ohne wirkliche emotionale Bindung, müsste man Vernachlässigung, Mangel an Körperkontakt und Gleichgültigkeit am Anfang des Lebens zudiktieren. Dann schnellen die Kortisolwerte im Baby in die Höhe und „fühlende“ Zellen beginnen zu sterben. Die rechte Hemisphäre ist dann unfähig, den Schmerz anderer mitzufühlen oder ihn auch nur zu sehen.

 

Früher Stress beeinträchtigt die Verknüpfungen zwischen dem rechten Gehirn und dem Limbischen System und verursacht einen Dominanzwechsel von links nach rechts. In unserer Forschungsarbeit mit Dr. Erik Hoffman und Dr. Leonid Goldstein von der Rutgers Universität fanden wir eine Normalisierung und eine größere Ausgeglichenheit zwischen den Hemisphären nach einem Jahr Primärtherapie.8 Hoffman schreibt: „Im Verlauf der Therapie werden die bilateralen Amplituden symmetrischer.“ 9 Das Gehirn befindet sich in größerer Harmonie. Bei eingeprägtem Schmerz scheint es zu einer Asymmetrie zwischen den Hälften zu kommen, die vielleicht auf unterschiedlich starken Druck aus tieferen Ebenen zurückzuführen ist. Der Druck scheint auf der rechten Seite größer zu sein. Therapie hilft, die Symmetrie wieder herzustellen.

 

Leute, die ein beeinträchtigtes Rechtshirn haben, können ein „hölzernes“ Gesicht, Ausdruckslosigkeit oder Teilnahmslosigkeit an sich haben. Vielleicht fehlte ihnen in der Kindheit eine spontane, warmherzige, empfängliche Beziehung mit ihren Eltern. Im weiteren Verlauf kippt das Gehirn zur linken Seite hin, weil es die Gefühle vergräbt. Die linke Seite denkt analytisch bis ins kleinste Detail über äußere Angelegenheiten nach, im Gegensatz zur rechten, die Selbst-Bewusstheit organisiert. Die linke Seite achtet nur auf den Text, während das rechte Gehirn sich zu der Musik bewegt.

 

Die rechte Hemisphäre ist in jegliche Art von Psychopathologie schuldhaft verwickelt, von Autismus bis Psychose und Depression. Bei Angstzuständen ist es das rechte Gehirn, das hochaktiv ist. Reaktivierung früher Erinnerungen stimuliert das rechte Gehirn und seine limbischen Ergänzungen.10 Kleinkinder, die schrien, wenn sie von ihren Müttern getrennt wurden, zeigten größere rechtsfrontale Aktivierung als die Kinder, die nicht schrien.11 Aber um genau zu sein: Auch das linke Gehirn hat man mit Schizophrenie in Zusammenhang gebracht. Ich denke, das hat eine Menge damit zu tun, dass das linke Gehirn tut, was es kann, also paranoide Ideen gebraucht, um mit den Gefühlen von der anderen Seite fertig zu werden.  

 

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Es ergibt einen Sinn, dass die rechte Hemisphäre so vielen unterschiedlichen Störungen zugrunde liegt, da sie durch frühes Trauma und fehlende Liebe Schaden erleidet. Beim Wiedererleben dieser frühen Traumen ist hauptsächlich diese Hemisphäre beteiligt. Eine stattliche Reihe von Krankheiten psychischer und physischer Art wurzelt in fehlender Berührung und Zärtlichkeit am Anfang des Lebens, in ungesunden Gewohnheiten der austragenden Mutter, in den chaotischen ersten paar Jahren des Lebens und in schweren Geburten, die den massiven Einsatz von Anästhesie erfordern.

 

Die Wirkung hält bis ins Erwachsenenalter an, wo dann vielleicht anhaltende Lernprobleme wie Dyslexie auftreten. Ein Defizit im rechten Gehirn kann sich darauf auswirken, wie gut jemand stabile Freundschaften schmiedet und wie leicht sie oder er starke emotionale Bande entwickelt. Es ist nicht so leicht, mit einem Rechtshirndefekt eine beständige warmherzige Beziehung zu unterhalten. Die linke Seite argumentiert vernünftig und entschuldigt sich, und zwei Monate später gibt es vielleicht einen weiteren gewaltigen Ausbruch der rechten Seite, die vergaß, was die linke bei ihrer Entschuldigung gesagt hat. In einem zusammenhanglosen Gehirn ist das linke Gehirn unfähig, das rechte zu kontrollieren. 12

 

Die rechte Hemisphäre befasst sich im allgemeinen nicht mit Worten, zumindest nicht im komplexen Sinn von Worten. Das ist logisch, zumal sie genötigt ist, mit präverbalen Traumen fertig zu werden. Wenn meine Patienten lebendige frühe Szenen ‚anzapfen’, folgt die Emotion gewöhnlich nach. Neurochemikalien wie Serotonin haben den Informationstransfer von der rechten Seite zur linken blockiert und lassen den Erwachsenen in einem Zustand zurück, in dem er keinen Zugang zu seinen Gefühlen hat. Er glaubt, was immer ihm gesagt wird, weil er keine Gefühle mehr hat, die ihn leiten könnten. Es gibt eindeutig ein Rechtshirn-Bewusstsein und ein Linkshirn-Bewusstsein, aber vollständiges Bewusstsein erfordert beide.

 

Emotionales Gedächtnis (implizites Gedächtnis genannt) gehört zum rechten Gehirn, während das Erinnern von Fakten und Figuren (explizites oder deklaratives Gedächtnis  genannt) zum linken gehört. Wenn meine Patienten auf eine tiefere Bewusstseinsebene zurückgehen, kann sich das überwiegend auf Bahnen der rechten Hemisphäre abspielen, die sie zu limbischen Trakten hinabführen und von dort zum Hirnstamm. Unterdessen ist sich die linke Hemisphäre nur vage bewusst, was in der rechten los ist.  Wenn jemand auf die tiefste Gefühlsebene hinabsteigt, kann das linke Gehirn ankoppeln und beginnen, das frühere Verhalten der Person zu erklären.  

 

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Das linke analytische Gehirn

 

Das linke Gehirn analysiert und folgert, kann Erinnerung aber nur auf abstrakte Weise abrufen. Wenn wir versuchen, in der Therapie allein durch die Einsichten des linken Gehirns gesund zu werden, betreten wir ein Gedanken-Labyrinth ohne Ausgang. Es bedeutet, nur halbwegs gesund zu werden. Das linke wird gut angepasst sein, während das rechte dem Emotionalleben entsprechend ein Durcheinander ist. Aber das linke Gehirn kann noch immer mit einem Rechner umgehen, gute Noten bekommen und erfolgreich arbeiten. Es ist nicht möglich, das linke Gehirn die Arbeit des rechten Gehirns machen zu lassen. Wir müssen die verletzte Seite mit dem Gehirn heilen, das verletzt wurde.

 

Wenn wir älter werden, entwickeln wir raffiniertere linkshemisphärische Rationalisierungen für unsere Gefühle. Gedanken können sich ändern, aber sie sind doch durch die Parameter der Gefühle und Einprägungen eingegrenzt. „Du kannst keinem trauen“ ist das, was ein  Zyniker jeden Tag ausagiert. Seine Vorstellungen folgen seiner Vergagenheits-Geschichte. Wenn er niemals liebevolle Eltern hatte und sich niemals sicher fühlte, wenn er Eltern hatte, die nie ihr Wort hielten, dann traut er vielleicht anderen nicht. Viele Patienten haben diese Erfahrung gemacht. Sie gehen vorsichtig zu Werke und können sich einer Beziehung nicht voll hingeben. Auf diese Weise führt das linke Gehirn das Diktat des rechten Gehirns aus; es führt Befehle aus, die aus einer unsichtbaren, ungefühlten Quelle stammen.

 

Das rechte Gehirn fügt einer Situation Gefühl – Bedeutung – hinzu. Roboter haben kein Gefühl; sie reflektieren nicht über ihr Verhalten. Auch überwiegend vom Linkshirn dominierte Leute tun es nicht. Die rechte Seite ist sich innerer Zustände bewusst, sie erkennt zum Beispiel, was unsere Stimmungen verursacht. Die linke Seite ist sich der Außenwelt bewusst und benutzt diesen äußeren Brennpunkt, um sich weit von Gefühlen entfernt zu halten. Sie engagiert sich darin,  sich über den Punktestand beim Fußball, über die Entwicklung im Basketball, über Kasseneinnahmen und ökonomische Trends auf dem Laufenden zu halten. Sie kann auch fantastische Einsichten in der Psychotherapie loslassen, ohne je das geringste zu fühlen. Wenn die Erinnerung des rechten Gehirns wieder zum Vorschein kommt, kann sie durchaus wortlos sein, und sie beinhaltet den innersten Kern des Schmerzes, weil der limbische Hippocampus und die Amygdala geheime Leidensbotschaften zum Kortex losschicken.

 

Die linke Hemisphäre bleibt auf Distanz. Sie kann uns sagen lassen: „Oh, wie schrecklich.“ Aber um zu fühlen und sich einzufühlen und zu „wissen,“ wie schrecklich etwas tatsächlich ist, brauchen wir die Kooperation und Assistenz der rechten Hemisphäre.  

 

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Die Wiedergewinnung emotionaler Erinnerung kommt durch den Hippocampus der rechten Seite zustande. Er bringt Gefühle zum frontalen Kortex, so dass es zu einer Verknüpfung kommt. Wir brauchen diesen frontalen Kortex, um uns unseres inneren Zustands bewusst zu sein. Der frontale Kortex kann mit Gefühlen alles Mögliche machen; das schließt ein, dass er sie symbolisieren und in mystische Ideen umleiten kann. „Gott wacht über mich und lässt nicht zu, dass mir Böses widerfährt,“ sagt ein Mensch, über den zu Beginn des Lebens nie jemand gewacht hat und den nie jemand beschützt hat. Der Schmerz/das Bedürfnis hat sich ins Gegenteil gewandelt: symbolische Erfüllung durch eine Gottheit. Es ist eine Erfüllung, die der Kortex ausgeheckt hat, indem er uns den trügerischen Glauben gibt, wir werden beschützt, obgleich dem nicht so ist. Die Person fühlt sich sicher und beschützt, nicht von der Gottheit, sondern von dem Wort „Gott“. Kortikale Ideen sind sehr gute Hemmer.

Das Frontalhirn bewirkt, dass wir uns durch die Freisetzung von Opiaten, die im obigen Fall durch die Idee „Gott“ ausgelöst werden, „besser fühlen“. Wenn die Menge an Opiaten, die im System aktiv sind, gemessen wird, finden wir, dass wir uns umso besser fühlen oder nicht fühlen, je höher der Grad der Hemmung oder Schleusung ist. Es ist ein Oxymoron: Nichts zu fühlen bewirkt, dass wir uns besser fühlen. Genau das verwirrt so viele von uns. Der frontale Kortex ist sehr erfinderisch, wenn es darum geht, mit Gefühlen fertig zu werden. Der linke Kortex kann beschließen: „Liebe ist ein Mythos. Niemand braucht Erfüllung,“ während die rechte Seite danach schreit. Dieser lautlose Schrei arbeitet sich durch das Körpersystem, bis schließlich ein blutendes Geschwür, ein Schlaganfall oder eine Herzattacke auftritt. Er erhöht den Blutdruck, weil das System für den permanenten Kampf gegen einen unsichtbaren Feind - gegen katastrophale Gefühle - hochschaltet.

 

Das Limbische System hat auf der rechten Seite des Kortex mehr zweibahnige Nervenfasernetze als auf der linken. Liebe trägt zur Entwicklung dieser Hemisphäre bei. Ein umsorgtes Kind ist empathischer und sympathischer, bereitwilliger, die Gefühle anderer anzuerkennen und zu verstehen, so dass es eines Tages eine bessere Mutter oder ein besserer Vater sein wird, weil es schon seit seiner frühen Kindheit die ausgeprägte Fähigkeit zu fühlen besitzt. Frühe Liebe formt das Gehirn im wahrsten Sinne des Wortes. Sie brauchen nicht zu resignieren. Sie können eine Menge tun, um frühen Schmerz und seine Folgen zu reduzieren, auch wenn er nicht völlig ausgelöscht werden kann.

 

Der Krieg im Gehirn zwischen Gedanken und Gefühlen

 

Gedanken können an eingeprägten Gefühlen nichts ändern. Es ist kontra-evolutionär, verkehrte Logik. Das Gehirn hält sich an seine Evolution: Die rechte fühlende Hemisphäre war und ist vor der kritisierenden linken entwickelt.  Gefühle ändern Gedanken, nicht umgekehrt. Es gibt viel mehr von limbischen Zentren zum 

 

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Frontalbereich aufsteigende als vom frontalen Kortex absteigende Bahnen. Gefühle gehen der Entwicklung von Gedanken voraus und sind stärker; wohingegen die dem Hirnstamm eingeprägten Empfindungen weitaus stärker als Gefühle und Gedanken zusammen sind, weil sie mehr mit dem Überleben in Verbindung stehen.

 

Was geschieht mit unseren Gefühlen? Der emotionale Schmerz im limbischen Areal bewegt sich zum Kortex, damit wir uns seiner bewusst werden. Aber er wird von einer Reihe von Strukturen blockiert und abgelenkt, nicht zuletzt vom Thalamus. Er bewegt sich dann in Richtung Assoziationskortex, wo die Gefühle zerhackt und neu definiert werden. „Ich bin nicht wirklich eifersüchtig. Ich bin nicht wütend.“ Sie werden entschärft. Unterdessen greift unsere Hand sofort nach einer Zigarette, um das System ruhig und die Verdrängung aufrecht zu halten.

 

In einer Studie der Kinderärzte R. J. Harmon und Paula D. Riggs wurde fünf Kindern im Vorschulalter mit posttraumatischem Stress-Syndrom Clonidin (ein Hirnstammblocker) verabreicht. Die Kinder wurden weniger aggressiv und impulsiv, erlebten weniger emotionale Ausbrüche und schliefen besser.13 Clonidin ist bei der Behandlung von Erwachsenen mit Angst- oder Zwangsstörungen sehr effektiv, weil die Wurzeln der Angst in primitiven Gehirnstrukturen liegen, die Einprägungen aus der fernen Vergangenheit verarbeiten. All das bekräftigt tendenziell unsere klinischen Forschungsresultate, dass sehr frühe Einprägungen Regionen des Hirnstamms beeinträchtigen und die Grundlage so vieler späterer Symptome bilden. Die Symptome können sich von Person zu Person unterscheiden, aber die Startrampe ist die gleiche.

 

Bei zwanghafter Besorgtheit kann es sein, dass der Thalamus und die Amygdala der rechten Seite zusammen mit dem retikulären Aktivierungssystem zu viel Input zu höheren Zentren und insbesondere zum linken Frontalbereich zulassen, was den Kortex zu Überstunden veranlasst. Die Gedanken treiben die Person nicht zum Wahnsinn; die Gefühle treiben die Gedanken, was die Gedanken dann verrückt erscheinen lässt. Furcht aus einem frühen Trauma bahnt sich seinen Weg zum frontalen Kortex. Ein Teil des Leidens gelangt durch die Schleuse und erreicht den frontalen Kortex, wo es in ständige Besorgtheit übersetzt wird: „Was , wenn ich einen Autounfall habe?“ „Wenn es ein Erdbeben gibt?“ „Und wenn ich meinen Job verliere?“ Die schlechte Nachricht hat sich bereits ereignet. Wenn der Schmerz noch stärker ist, können die Gedanken in den bizarren Bereich ausstrahlen wie zum Beispiel: „Ich weiß, es wird jeden Augenblick ein Erdbeben geben, und Kalifornien wird im Meer versinken“.  







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Das Gehirn ist in der Tat eine wundersame Struktur in dem Sinne, dass es uns vor Schlimmem bewahrt, und in dem Sinne, dass die eine Hälfte nicht weiß, was die andere Hälfte gerade vorhat; eine Zweiteilung, die als weiterer  Überlebensmechanismus dient. Die Neuronen, die mit einer Art Gallert gefüllt sind, wissen, wann Gefahr im Verzug ist, und konstruieren die Kräfte, die sie zurückschlagen. Dieses Gallert kann farbenprächtige Bilder hervorzaubern und einen Teil des Gehirns „anweisen“, Schmerztöter zu produzieren. Letztlich ist es nur ein Stück Materie. Aber was für außergewöhnliche Kräfte!

 

Solange wir nicht unter den Kortex gehen, werden wir weiterhin dem Trinken, Stehlen, den Migränen, Geschwüren, Drogen und was immer Sie haben zum Opfer fallen. Es steht zur Wahl: Entweder wir lassen die Gefühle nach oben zur Verknüpfung kommen und verbinden die rechte Seite des Gehirns mit der linken, oder wir unterdrücken sie, indem wir sie ignorieren, sie umleiten, betäuben oder indem wir uns selbst glauben machen, dass sie nicht existieren. Das ist das Dilemma, mit dem sich jede Psychotherapie auseinandersetzen muss. Wann immer tiefer Schmerz ignoriert wird, ist das gleichbedeutend damit, unsere Physiologie zu verleugnen.

Meine Kollegen und ich führten 1984 in England in Verbindung mit Open University und St.Bartholomews Hospital, London, Imipramin-Messungen durch. Es war eine Doppelblindstudie, die von Professor Steven Rose von der Open University geleitet wurde, unter Mitarbeit von Professor Bernard Watson vom St. Bartholomews.

Wir maßen die Imipramin-Bindung an Blutplättchen. Imipramin ist ein Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer und ebenso ein Norepinephrin-Hemmer*, also nahmen wir an, die Vorgänge im Blutsystem würden mit den Vorgängen im Gehirn übereinstimmen. Wenn wir von Aufnahme-Hemmern reden, brauchen wir nur zu wissen, dass das Endresultat mehr Serotonin und Epinephrin in der Synapse ist, und das bedeutet bessere Verdrängung oder Hemmung. Bei Depressiven ist die Imipramin-Bindung geringer.

 

Blutplättchen ähneln in biochemischer Hinsicht den Neuronen, was den Besitz von Stellen zur Transmitteraufnahme und Transmitterbindung einschließt. Die Werte stiegen im Verlauf unserer Therapie an, so dass sich die Imipramin-Bindung an Blutplättchen, obwohl sie bei Depressiven geringer ist, in unserer Therapie normalisiert. Mit der Normalisierung stieg dann die Antischmerz- und Antiangstkapazität der Patienten. Das Verdrängungssystem arbeitete besser.

 

Hier sind Professor Roses Schlussfolgerungen:

 

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* Wenn ein „Aufnahme-Hemmer“ in Aktion ist, bedeutet dies, dass die chemische Substanz Serotonin nicht aufgenommen oder  nicht zurückgenommen wird. Das Resultat: mehr Serotonin in der Synapse, um die Verdrängung zu fördern.

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1.         Selbstbezogene Individuen zeigen zu Anfang der Psychotherapie einen Bindungsgrad von 3H-Imipramin an Bluttplättchen, der ungefähr die Hälfte des Wertes einer Kontrollgruppe von selbstdefinierten normalen Versuchspersonen beträgt, die nicht in Therapie sind.

2.         Sechs Monate nach Beginn einer primärtherapeutischen Behandlung hatte sich ihr durchschnittlicher Imipramin-Bindungsgrad erhöht, bis er nicht mehr von den Kontrollwerten zu unterscheiden war, und diese Erhöhung hielt weitere sechs Monate an.

3.         Elf von zwölf Versuchspersonen zeigten während dieser Periode Verbesserungen der Punktezahl auf einer willkürlichen psychischen Bewertungsskala, und es gab eine positive Korrelation zwischen dieser verbesserten Bewertung und erhöhter Imipramin-Bindung.

 

 

Wenn wir Imipraminbindung diskutieren, müssen wir uns „Serotonin“ denken (oder noch leichter: „Prozac“). Wir messen etwas, das, wie wir glauben, im Gehirn nachgemacht wird. Die Bedeutung dieser Forschung liegt darin, dass neue Patienten, die oft äußerst ängstlich sind, eine niedrige Bindung aufweisen. Wenn die Therapie jedoch fortschreitet, kommen sie auf normale Werte. Durch die Auflösung von Gefühlen wird ihr Verdrängungssystem effektiver. Deshalb sind sie ruhiger und entspannter, was wir durch unseren Fragebogen herausfanden.

 

Diese Studie repräsentiert nach unserem Wissen den ersten Versuch, eine biochemische Messung, die in der biologischen Psychiatrie allgemein gebräuchlich ist, auf eine psychotherapeutische Behandlung zu beziehen. Sein positives Ergebnis sollte zu ausgedehnteren experimentellen und theoretischen Studien biochemischer Kennzeichen in der Psychotherapie ermutigen.

 

Wer soll sagen, dass ich mich nicht gut fühle, wenn ich mich tatsächlich gut fühle? Der Körper soll es, weil er vielleicht aufgrund dieser Selbsttäuschung einer Herzkrankheit, einem Geschwür oder Schlaganfall erliegt. Es mag sein, dass wir rauchen wollen, egal, was die Forschung sagt. Unser Kortex wird sich dafür einen Grund suchen. Wir argumentieren, dass ein Raucher in Russland 110 Jahre alt geworden ist, bringen uns selbst zu der Überzeugung, es sei möglich, ohne Schaden davonzukommen. Das Bedürfnis, den Schmerz zu unterdrücken, ist übermächtig; niemand ist schlauer oder stärker als dieses Bedürfnis, und niemand setzt sich je darüber hinweg. Es ist Grundlage des Überlebens. Wir müssen daran denken, dass Selbsttäuschung Teil des Abwehrapparats und somit zwingend notwendig ist, genau wie es die Wahnvorstellungen des Paranoiden sind. Nichts ist so grenzenlos wie Selbsttäuschung. Es ist Teil der menschlichen Existenzbedingung. Wir sollten noch einmal nachdenken, ehe wir unsere Patienten hinsichtlich ihrer sonderbaren oder irrationalen Ideen eines Besseren belehren, weil hier der Kortex versucht, unsichtbare und unbekannte Kräfte zu rationalisieren.  

 

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Nolan

 

Ich kam wegen der Primärtherapie von Australien nach Venice, Kalifornien, weil ich immer unglücklich, alleine und ängstlich war und mich vor den Leuten versteckte. Ich war nicht in der Lage, mich zu ändern. Achtzehn Jahre lang war ich schwerer Trinker, um Erleichterung zu finden und um es bei Leuten auszuhalten. Aber schließlich war alles zu viel - mein Verhalten, meine Schuldgefühle und die gräßlichen Kater hinterher. Ich ging zu den Anonymen Alkoholikern, aber nach neun Jahren Nüchternheit im Zwölf-Schritte-Programm und nach vielen verschiedenen Therapeuten war ich verzweifelt. Als ich Dr. Janovs Bücher las, kam in mir Hoffnung auf. Ich war wütend auf meine Eltern.  Mit meiner Lohntüte aus elf Jahren Arbeit kam ich hierher – was erstaunlich für mich war, weil ich so viel Angst hatte, alleine wohin zu gehen. Die Hoffnung auf ein glückliches Leben bedeutete mir alles. Ich bin nun seit zwei Jahren hier und zu einem großen Teil bestand die Therapie darin, mehr über mich selbst zu erfahren.

 

Es ist unglaublich, aber mir war nie klar, wie ängstlich und deprimiert ich immer gewesen war. Jahrelang habe ich versucht, alle meine Probleme durch Trinken zu lösen. Das war eine große Abwehr, um nicht fühlen zu müssen, wie sehr ich litt. Ich hatte immer Streit mit Leuten und war unfähig, mit den Gefühlen umzugehen. Entweder ging ich gekränkt weg oder ich attackierte sie rasend vor Wut. Wenn ich nun den Schmerz eines gegenwärtigen Ereignisses fühle und ihn zu ähnlichem Schmerz in der Vergangenheit zurückverfolge, kann ich verstehen, warum ich so sehr leide. Es befähigt mich auch, näher bei Menschen zu sein. Zum Beispiel sagte mir eine meiner Zimmergenossinnen hier, dass ich ihr Freund sei und dass sie mich möge – magische Worte für mich. Es bedeutet alles für mich, gemocht und erwünscht zu sein.

 

Wir wurden Freunde, aber allmählich begriff ich, dass sich unsere Beziehung allein um ihre Bedürfnisse drehte. Dass sie das zu mir gesagt hatte, damit ich mich um sie kümmern würde. Ich erkannte, dass meine Gefühle nicht zählten. Schließlich explodierte ich in der Gruppensitzung und fühlte die ganze Frustration und  den ganzen Ärger. Ich wollte, dass sie für mich da ist, so wie ich für sie da war. Durch diese Beziehung konnte ich zurückzugehen und fühlen, wie meine Mutter all die richtigen Worte sagte, sich aber nicht um mich kümmerte – all den Schmerz, nicht erwünscht zu sein – und wie ich darum kämpfte, dass sie mich liebte.   

 

 

 

 

 

 

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Das Schlimmste an dieser Therapie ist, fühlen zu müssen, wie sehr ich meine Eltern lieben wollte und wie sehr ich es brauchte, dass sie das wissen. Aber sie mochten mich nicht. Das hat alle meine Beziehungen beeinträchtigt. Es fühlt sich für mich an wie der Tod – ungewollt zu sein. Vor kurzem fühlte ich, wie sehr ich wollte, dass meine Tante Maisie mich zu sich nahm. Ich liebte sie und wusste, dass sie mich wirklich mochte. Ich war erst drei Jahre alt und wusste schon damals, dass meine Eltern mich nicht wollten. Mein ganzes Leben drehte sich um Unglück und Hoffnungslosigkeit. Indem ich zurückgehe und den Horror meiner Kindheit fühle, gibt es mir Hoffnung auf eine Zukunft. Mein Vater beging Selbstmord - und ich fühlte, dass ich auch darauf zusteuerte. Da ich mehr von meinen Gefühlen erlebe, komme ich meinen Kindern näher. Vor der Therapie war es zu schmerzvoll, bei ihnen zu sein, weil es meine eigenen Gefühle auslöste. Indem ich diese Gefühle mit meiner Beziehung zu meinem Vater verknüpfe, kann ich sie nun mehr sie selber sein lassen und ihnen zuhören.

 

Ich möchte ein liebevoller Vater sein – mein Vater schien mich zu hassen. Es erreichte eine Phase, in der er mich mied, wo immer es möglich war. Ich war am Boden zerstört. Ich war in der Gruppe und redete über meine Kinder. Ständig und immer wieder sagte ich: „Es tut mir Leid“. Ich hatte ein Bild in meinem Kopf, wie ich sie in meinen Armen hielt, und dennoch hatten sie Schmerzen. Ich begriff, dass ich derjenige war, der sie verletzte. Das ließ mich losschluchzen. Später hatte ich eine Erinnerung, wie ich in einem Laufstall war und sah, wie meine Eltern die Tür schlossen und mich allein ließen. Ich weinte und flehte sie an, mich nicht zu verlassen: „Ich tue alles – aber verlasst mich nicht.“ Der Schmerz darüber, nicht erwünscht zu sein, war zu viel – alles lieber als das.

 

Nachdem ich mich ausgeruht hatte, verspürte ich  Erleichterung darüber, den Schmerz gefühlt zu haben, und hatte ein paar Einsichten: Wenn meine Kinder mich brauchen, bringt es mein Bedürfnis nach meinen Eltern hoch, und ich laufe davon, genau wie meine Eltern es taten. Indem ich fühle, wie sehr ich leide, bin ich, wie mir scheint, viel mitleidsvoller mit meinen Kindern.

 

Es fällt mir so schwer, mich in Bewegung zu setzen. Ich warte immer ab. Dadurch, dass ich mehr in Kontakt mit meinem Körper bin, lerne ich, mich in meinem eigenen Tempo zu bewegen. Vorher leugnete ich immer die Gefühle, dass ich aufgeben wollte. Ich war getrieben. Ich konnte nie entspannen. Ich konnte nie genug tun, um meinen Vater zu erfreuen. Jetzt komme ich dem Gefühl näher, dass es alles zu viel ist. Ich fange an, um Hilfe zu bitten – zu akzeptieren, dass ich sie brauche. Es war mir schon ganz am Anfang eingeimpft worden, dass ich um nichts bitten sollte – stark sein und keine Anzeichen von Schwäche zeigen.  Nun ist es so eine Erleichterung, dass ich endlich menschlich sein kann. Dass ich über meinen ganzen Schmerz weinen und schluchzen kann.  

 

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Für mich geht es in der Primärtherapie darum, meine Erlebnisse in der Vergangenheit mit meinem gegenwärtigen Verhalten zu verknüpfen – die wunderbare Erleichterung von: „Oh, deshalb mache ich das!“ Ich begreife allmählich, warum ich so viel Angst vor den Leuten habe, indem ich die Gefühle wiedererlebe, wie schrecklich die Angst war, die ich vor meinem Vater hatte – totaler Schrecken, der mich lähmte. Ich dachte, ich sei ein Feigling, weil mich das Gefühl so total durchdrang. Ich lerne, dass ich tatsächlich funktionieren kann, auch wenn ich Angst habe. Vorher waren die Gefühle so überwältigend, dass ich handlungsunfähig war. Jetzt weiß ich, es sind Gefühle und ich weiß, woher sie kommen und wie sie mich beeinträchtigen. Es ist nicht leicht, aber nach und nach schaffe ich es.

 

Ich kehre immer wieder zur Primärtherapie zurück, weil ich ein voll fühlender Mensch sein will. Vorher habe ich überlebt, nicht gelebt. Ich fühle mich, als wäre ich eingefroren und taute langsam auf. Nach jahrelanger Suche glaube ich, dass dies der richtige Weg für mich ist.

 

Roger

 

Warum Primärtherapie? Die Antwort schien so offensichtlich, dass ich es niemals richtig durchdacht hatte. Warum durch all diesen Schmerz gehen? War es nicht beim ersten Mal schon schlimm genug? Warum ihn ausgraben? Welcher Vorteil lässt sich erzielen? Ich werde versuchen, während des Schreibens an diese Fragen zu denken.

Ich fange damit an, dass ich Ihnen von meiner jüngsten Sitzung erzähle. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich nun seit ungefähr sechzehn Monaten in der Therapie bin. Es war eine unglaubliche Reise.

 

 

20. April

 

Ich begann vorige Woche in der Gruppe davon zu erzählen, wie unehrlich meine Chefin meinem Empfinden nach gewesen war. Sie hatte jedem erzählt, wie gut sie ihre Angestellten behandle. Es hatte mich damals nicht gestört, aber an diesem Morgen quälte mich die Nachricht, dass sie mich aus meinem Job feuern wolle. Ich hatte nichts falsch gemacht. Es schien so unfair. Sie traute mir nicht. Ein paar Tage zuvor hatte sie meine Bezahlung kürzen wollen, wegen einer Sache, die nicht mein Fehler war. Ich erhob mich gegen sie, aber ich fühlte mich schuldig, als hätte ich etwas Falsches getan. Ich wollte ihr wirklich sagen, dass sie mir Unrecht tat – mich alleine zu lassen. Eine Therapeutin ermutigte mich, und ich geriet sofort in Wut.  

 

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Sie platzte aus meinem Bauch heraus, füllte meine Arme und Beine aus – unglaubliche Wut. Ich wollte einfach, dass sie damit aufhört. Ich beruhigte mich, und dann schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte mir immer gewünscht, eine solche Wut zu bekommen – machtvoll in meinem Umgang mit Leuten zu sein.

Mir wurde klar, dass ich mich immer schuldig gefühlt hatte, wenn mich eine Autoritätsperson zur Rede gestellt hatte, auch wenn ich nichts falsch gemacht hatte. Sie müssen mich als Kind dazu gebracht haben, dass ich mich so schlecht fühle. Die Wut und die Frustration war noch immer da. Ich wollte alles in Stücke reißen. Ich begann, heftig und unkontrolliert zu atmen. Ich ging mit dem Gefühl mit. Die Frustration brachte mich um. Mein Körper krümmte und streckte sich. Mir war, als könnte ich nicht atmen. Dann reißender Husten, der bis zu meinem Unterbauch hinabreichte.

 

Als ich da raus kam, hatte ich plötzlich eine gewisse Lücke. Es fühlte sich so vertraut an – klein sein und gesagt bekommen, ich sei schuldig und schlecht. Dann kam es mir wie ein Schatten in den Sinn: „Es ist, wie wenn mein Vater mich schlägt.“ Ich war beschämt und wollte nicht darüber reden. Ich rollte mich zusammen. Ich weinte jetzt. „Bitte Papi, bitte. Es tut mir Leid, Papi.“  Ich fühlte mich so schuldig. Es machte mich betroffen, wie viel mir mein Vater bedeutete. Ich würde alles für ihn tun. Er war riesig. Er war alles. Ich liebte ihn so sehr. Ich hatte nichts wirklich Schlimmes getan – vielleicht zuviel Lärm gemacht. Gewöhnlich wachte er aus seinem Nachmittagsschlaf auf und kam über uns wie ein wahnsinniges Tier, verdrosch zuerst den von uns, der ihm gerade am nächsten war. Ich konnte mich beobachten sehen, wie mein Bruder verprügelt wurde, und ich konnte den qualvollen Ausdruck in seinem Gesicht sehen. Ich wusste, ich würde als nächster drankommen. Ich bettelte: „Tut mir Leid, Papi“, und rollte mich zusammen, um mich selbst zu schützen. Ich ließ so viel davon zu, wie ich konnte.

 

Ich wollte wirklich, dass jemand den ganzen Schmerz wegnimmt. Ich dachte an meine Mutter. Sie beschützte mich nicht. Sie hatte ebenso Angst vor meinem Vater. Ich war sprachlos. Wie konnte sie das tatenlos zulassen? Sie ist meine Mutter. Ich konnte es nicht fassen. Ich hörte für eine Weile zu weinen auf und lag einfach da. „Ich fühle mich noch immer traurig“, sagte ich zu meiner Therapeutin. Ich bat sie, mich zu halten und ließ mich einfach gehen. Ich versank in furchtbarer Verlassenheit.

 

Nach dem Weinen redete ich ruhig darüber, was bei meiner Chefin passiert war. Ich wusste, dass ich mich in Zukunft gegen sie behaupten müsste. Es war noch immer schwer für mich, dass ich das tun musste – dass ich sie nicht ändern konnte – aber es war in Ordnung.

 

Wie also hilft es mir, wenn ich Gefühle wie diese wiedererlebe? Nun, ich hörte sofort auf, mir über die Situation am Arbeitsplatz den Kopf zu zerbrechen, und fühlte mich ganz wohl mit meiner Chefin, als ich sie nächstes Mal sah. Ich weiß, es wird wieder geschehen.

 

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Ich werde mein ganzes Lebensmuster nicht in einer einzigen Sitzung verändern. Aber nächstes Mal wird es ein bisschen leichter sein. Der Punkt ist, dass das Wissen über die Ursachen das Verhalten nicht ändert. Als ich mich nervös gegen meine Chefin erhob, ging mir als letztes die Art durch den Sinn, wie meine Eltern mich behandelten. Zu diesem gegenwärtigen Zeitpunkt konnte ich die Verknüpfung nicht herstellen. Diese Therapie macht es mir möglich, dem Gefühl von der Gegenwart zu den wirklichen Ursachen in der Vergangenheit zu folgen. Ich kann dann die Verknüpfung herstellen und den ganzen Schmerz hinausschreien, der verhindert hatte, dass ich normal auf meine Chefin reagieren konnte. Vor der Therapie wusste ich, dass mein Vater mich schlug und dass meine Mutter schwach war und nie da, aber das änderte nichts daran, wie machtlos ich mich fühlte, wenn eine Autoritätsperson mich zur Rede stellte. Die Fakten waren nicht unbewusst -  aber die Wahrheit war es. Nur die Verknüpfung zu Gefühlen wie diesen ändert etwas.

 

Ich erkenne auch, wie wenig ich über mein eigenes Verhalten wusste. Ich dachte, ich funktioniere gut. Die meisten Freunde, die wussten, dass ich in die Primärtherapie gehe, konnten nicht verstehen warum. Ich schien gut anpepasst und hatte eine enge und beständige Beziehung zu meiner Frau. Es war ein Akt, und zwar einer, an den ich beinahe selbst glaubte. Meine Freunde sahen nie die Wutausbrüche, zu denen ich neigte. Oft unterrichtete ich eine Klasse von Zwölfjährigen und geriet plötzlich in Wut. Gewöhnlich bestand der Auslöser darin, dass meine Autorität von einem Kind in Frage gestellt wurde. Wenn dann die Situation zunehmend frustrierend wurde, drehte ich gewöhnlich durch. Ich hatte zu der Zeit keine Ahnung, dass dies etwas mit meinen eigenen Erfahrungen als Kind zu tun hatte. Gewiss assoziierte ich es nicht mit den Schwierigkeiten bei meiner Geburt.

 

Ich erinnere mich, dass ich als Kind von Superhero-Comics fasziniert war und später von dem Gedanken besessen war, stark zu sein und meinen Körper aufzubauen. Jedoch schien es, dass ich nie stark genug war. Ich konnte noch immer verletzt werden. Als junger Erwachsener las ich Bücher darüber, wie man Freunde gewinnen und Leute beeinflussen konnte. Ich war auf dem Weg, meine Erwachsenen-Persönlichkeit zu entwickeln. Nach und nach schob ich die schmerzvollen Erinnerungen meiner Kindheit beiseite. Erst seit den letzten paar Monaten bin ich wieder bereit, meine Eltern in mein Leben zurückkehren zu lassen – einzugestehen, dass ich sie noch immer brauche und liebe. Ich sehe sie in klarerem Licht. Ich weiß, dass ich vielleicht anfangen sollte, ihnen Fragen zu stellen, zum Beispiel, warum sie sich scheiden ließen. Ich habe es nie wirklich erfahren. Nun könnte ich vielleicht wagen, wozu ich damals nie in der Lage war.

 

Vor der Therapie klammerte ich mich an die Hoffnung, dass sich die Dinge für mich eines Tages wunderbarerweise ändern würden. Ich wollte, dass es jemand für mich machen würde. Ich agierte das in meinen Beziehungen aus. Auch die Therapie wurde zum Bestandteil dieser Hoffnung.

 

 

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Ich musste die Hoffnungslosigkeit fühlen - die bis zu meiner Geburt zurückreicht - um alles zu ändern. Bei meiner Geburt brauchte ich „jemanden, der es für mich machen würde,“ der mich ins Leben bringen würde. Ich schaffte es nicht alleine. Das Fühlen des Erlebnisses, dass ich von den Medikamenten im System meiner Mutter nach einem gewaltigen Kampf, auf die Welt zu kommen, gelähmt worden war – das hat mir in der Gegenwart eine gewisse Freiheit gegeben, Dinge in Bewegung zu setzen. Ich habe das Bedürfnis nach Hilfe hinausgeschrien, und dadurch konnte ich anfangen, mir selbst zu helfen. Ich weiß, niemand wird es für mich machen. Es ist der Anfang des Erwachsenwerdens. Der Anfang der Freiheit.

 

Gegenwärtig verspüre ich einen neuen Kreativitätsschub. Ich war ein Maler und jahrelang haderte ich mit meiner Kunst. Ich hatte Tage, an denen ich mich wie Picasso fühlte, gefolgt von Tagen, an denen ich mich wertlos fühlte. Das Wiedererleben der Höhen und Tiefen meiner Geburt hat diesen Kampf vermindert. Ich weiß, ich benutzte meine Talente, um für meine Eltern etwas Besonderes zu sein. Ich habe über dieses Bedürfnis geweint. Ich wollte etwas wert sein – geliebt werden, ohne mich darum bemühen zu müssen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, etwas machen zu können, ohne mir selbst einzureden, dass es nicht gut genug ist. Dass ich nicht gut genug bin. Ich kann sogar diesen Artikel hier schreiben, ohne von dem Gedanken gelähmt zu sein, dass es nicht der richtige Stil sei. Es ist ein großartiges Gefühl. Die Dialektik ist überall in dieser Therapie sichtbar – je mehr ich die Vergangenheit fühle, desto mehr kann ich in der Gegenwart machen.

Warum also Primärtherapie? Warum diese alten Gefühle ausgraben? Ich denke, die einfache Antwort lautet: weil ich jetzt fühlen kann. Ich hatte vor der Therapie keine Ahnung, was das bedeutet. Ich lebe nicht mehr in meinem Kopf oder in den furchtbaren Empfindungen meines Körpers. Ich kann jetzt zu den Leuten so sein, wie ich es zuvor nie konnte.

 

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Die Schmerzkette

 

Lange Nervenbahnen erstrecken sich vom Hirnstamm und limbischen System zum frontalen Kortex. Wenn ein aktuelles Ereignis eine traumatische Erinnerung der Vergangenheit auslöst, weiß das Gehirn nur eines zu tun: entweder die Nachricht zu übergeben oder abzuschalten. Wenn jemand kritisiert wird und große Angst fühlt, kann das zugrunde liegende Gefühl sein: „Ich bin schlecht, und ich werde nicht geliebt werden (von meinen Eltern).“

 

Wenn in Ihrem Hirnstamm eine rohe, unverarbeitete Empfindung eingeprägt ist, muss sie, wenn sie aufgelöst werden soll, erkannt, benannt und integriert werden – das heißt, man muss sie erleben. Nicht wiedererleben, sondern zum ersten Mal erleben. Die Erinnerung kann im Kortex mit absoluter Klarheit enthalten sein, aber die

 

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Leidenskomponente, die subkortikal gespeichert wird, ist nur zum Teil erlebt worden. Wenn ein Bluterguss aus einer Tracht Prügel im Alter von sechs Jahren auf dem Körper einer erwachsenen Patientin an derselben Stelle wieder erscheint, sehen Sie, dass Erinnerung von den Jahren der Erfahrung unangetastet bleibt und dass Aspekte der Erinnerung ein Leben lang verborgen bleiben können. (Fotos davon erschienen in früheren Werken des Autors.) Letztlich wird Ihnen klar, dass Erinnerung weit mehr ist als intellektuelles Abrufen.

 

Kommt eine Erinnerung einmal zum Vorschein, scheint sie alle verwandten Traumen aus den Tiefen des Gehirns mitzubringen und überwältigt dadurch den Menschen. Der Kortex kann einfach die verschiedenen Arten des Traumas nicht auseinander halten und nicht speziell auf jedes einzelne in der richtigen Zeitfolge reagieren. Wir können bei unserer Arbeit Beruhigungsmittel verabreichen, um die tieferen Aspekte der Schmerzkette zu unterdrücken, so dass man spätere weniger traumatische Verletzungen fühlen und integrieren kann. Wir wenden Medikamente lediglich als Zwischenstation auf dem Weg zur Auflösung an. Sie sind nicht die Therapie und nicht das Endziel, aber wir wollen jede Chance nutzen, dass die Therapie gelingt. Die Medikamente dienen als Ersatz für die Entbehrung früher liebevoller Pflege und Berührung. Sie sind wahrlich das, was mit der Gehirnchemie geschehen wäre, wenn es frühe Liebe gegeben hätte.

 

Eine Patientin von mir fing in einer primärtherapeutischen Sitzung nach ungefähr einem Jahr Therapie an, sich schwach zu fühlen. Es war eine Frau, die in ihrem Leben ständig in Bewegung war, aber jetzt konnte sie sich kaum bewegen, kaum atmen. Zuerst ging sie durch ein Gefühl, in dem sie alles versuchte, die Liebe ihrer Mutter zu bekommen, aber nichts half. Zwei Stunden später glitt sie voll in den Zustand von Schwäche und Hilflosigkeit, den sie bei der Geburt erlebte, nachdem sie anästhetisiert worden war (durch die ihrer Mutter verabreichten Medikamente) und nichts hatte tun können, um sich selbst zu helfen. Wir ermutigten sie, sich von dem Gefühl der Erschöpfung völlig überwältigen zu lassen.

 

Ihre ständige Aktivität in ihrem gegenwärtigen Leben hatte den Zweck zu verhindern, dass sie diese Hilflosigkeit fühlte. Sie musste sich immer auf Trab halten mit diesem oder jenem Projekt, um sich das Gefühl der Hilflosigkeit vom Leib zu halten. („Ich kann an meiner Situation nichts ändern“).

 

Die Empfindung von Schwäche, die meine Klientin verspürte, verstärkte sich durch ihr Verhältnis mit ihrer Mutter. Ihr Vater hatte die Familie nach ihrer Geburt verlassen, und die Mutter musste arbeiten gehen, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Sie ließ ihren Zorn an ihren Kindern aus, gab ihnen an allem, was schief ging, die Schuld. Von Anfang an hatte meine Patientin das Gefühl, dass sie im Weg stand. Dieses Gefühl war von Dauer. Als Erwachsene hielt sie sich in der Gruppe zurück und entschuldigte sich ständig für alles, was sie tat oder sagte.  

 

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Diese Frau kämpfte so sehr darum, geliebt zu werden, dass sie die Tiefen des Ungeliebtseins nie wirklich fühlte. Ihr Verhalten glich einem verzweifelten Spurt, der sie von ihren Gefühlen fern hielt. In unseren Sitzungen unterbanden wir ihre Versuche, die „perfekte“ Patientin zu sein, und das brachte ihre Ängste, unerwünscht zu sein, an die Oberfläche.

 

Weil die ursprünglichen traumatischen Empfindungen in den limbischen Gefühlszentren ausgearbeitet und später im frontalen Kortex repräsentiert werden, müssen wir erst mit der Wahrnehmung von Schwäche (die Empfindung) in der Gegenwart beginnen, dann der Patientin gestatten, voll in die Empfindung der Müdigkeit zu fallen und von da in die Hilflosigkeit (das ursprüngliche Trauma) und die Erschöpfung. Wenn die Patientin mit einer Empfindung - extremer Müdigkeit - beginnt, können wir sicher sein, dass dem Gefühl tiefe Hirnstammaspekte zueigen sind. Dann helfen wir der Patientin, sich ihren Rückweg durch alle Ebenen zu bahnen. (Dieser Prozess kann Stunden dauern und sich über viele Sitzungen erstrecken; es ist nicht so einfach, wie es sich vielleicht anhört.)

 

Das System kann jeweils nur auf eine bestimmte Menge Schmerz reagieren. Dann verschließt es sich wieder. Also bestimmen wir den Schmerzgehalt, lassen je Sitzung diese Menge zu und warten dann bis zur nächsten Sitzung, um mit demselben Schmerz weiter zu machen. Das Maß an Schmerz in diesen Traumen ist unbeschreiblich; buchstäblich Furcht einflößend, etwas, das ich als konventioneller Therapeut nie gesehen hatte.

 

Nachdem sie die Ebene der Empfindungen erreicht hatte, begab sich meine Patientin direkt in die Erschöpfung/Hilflosigkeit bei der Geburt. Als sie zur Geburt hinabstieg, gab sie kein Wort von sich. Über vierzig Minuten lang krümmte sie ihren Rücken und stieß mit dem Kopf gegen die gepolsterte Wand. Sie schien zu ersticken. Als sie sich schließlich ihren Weg zurück auf die fühlende Ebene und dann zum Kortex bahnte, konnte sie schreien: „Ich gebe auf! Du liebst mich sowieso nicht!“ Die Müdigkeit sagte: „Ich kann nicht mehr. Lasst mich.“ Sie kehrte danach in vielen Sitzungen Dutzende Male zu diesem Gefühl zurück, so stark und anstrengend war die Kraft des Gefühls.

 

Wenn  Patienten aus einer Sitzung herauskommen, liegen sie einige Augenblicke still da, blinzeln und öffnen dann ihre Augen. Alle Patienten berichten, dass sie weit weg waren. Sie sehen aus, als seien sie gerade aufgewacht, und in gewissem Sinne sind sie das auch. Sie kommen vom Traum-Gehirn in den präfrontalen Wachzustand, genau so, als kämen sie gerade ins Leben. Es dauert einige Minuten, bevor die Integration und die Einsichten beginnen. Sie sind in der Sitzung geblieben, solange es nötig war. Es ist das Ende der Fünfzig-Minuten- Stunde. Ich könnte mir nicht vorstellen, eine Sitzung zu beenden, wenn ein Patient sich noch schlecht fühlt oder weint.  

 

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Dieses Eindringen in tiefe und ferne Ereignisse der Vergangenheit geschieht nicht in den ersten Wochen der Therapie und sollte es auch nicht. Hat ein Patient von Anfang an solchen Zugang, so ist es gewöhnlich ein Anzeichen tiefer Störung, fehlerhafter Schleusung. Das bedeutet, dass der Schmerzpegel sehr hoch ist und das Verdrängungssystem defekt. Es kann bedeuten, dass Hirnstamm-Einprägungen von hoher Valenz vorhanden sind. In jedem Fall ist es oft ein Zeichen für die Dominanz der Hirnstamm-Erinnerung. Wenn es in der Therapie vorzeitig passiert, so ist das genau der Fall, für den wir Tranquilizer verwenden. Diese Medikamente arbeiten genau wie Schleusen; eine Funktion, die das Gehirn selbst erfüllen sollte.

 

Der präfrontale Kortex konzentriert sich auf die Gegenwart, gibt dieser oder jener Person die Schuld. Diejenigen, die von ihrer Geschichte getrennt sind, handeln, als würde sich das alte Trauma jetzt gerade entfalten. Sie haben keine andere Wahl. Es wiederzuerleben ist im Wesentlichen eine kortikale Anerkennung, es ist die Integration früher Empfindungen und Gefühle und deren Platzierung in den historischen Zusammenhang.

 

Empfindungen (sich zerquetscht, begraben, erstickt fühlen) bahnen sich ihren Weg aus den Tiefen des Gehirns zum rechten frontalen Kortex, wo sie in „reinen“, einfachen Worten oder kurzen Sätzen Ausdruck finden. Der Patient schreit vielleicht: „Ich gebe auf! Ich ertrinke! Ich komme nicht vorwärts!“ In diesem Schrei liegt eine ganze Geschichte von Versuch, Scheitern und schließlich völliger Aufgabe.......das Kämpfen-und-Scheitern-Syndrom. Die Verknüpfung zwischen Hirnstamm und Kortex findet weitgehend im rechten Gehirn statt, wo die Sätze kurz, genau und unkompliziert sind und direkt tiefen Einprägungen entspringen. Es ist das linke Gehirn, das die Dinge verkompliziert, die Realität verdreht und gewundene Gedanken und komplexen Satzbau produziert.

 

Lassen Sie uns bis hier zusammenfassen: Wenn ein Neugeborenes unmittelbar nach der Geburt und später liebevoll gepflegt und berührt wird, bringt das in jeder Hinsicht ein neues Gehirn in Gang. Diese Behandlung baut das innere Serotonin-/Verdrängungssystem auf, das dafür sorgt, dass das Individuum sich dauerhaft wohl fühlt und entspannt bleibt. Sie vergrößert und verstärkt den frontalen Kortex, der in oberster Instanz für das Aussperren unwesentlichen Inputs im Leben, für die Organisation der Gefühle, für Denken und Reflektieren und vor allem für die Hemmung von Empfindungen und Gefühlen aus tieferen Gehirnschichten verantwortlich ist.  Wenn wir unwesentliche Eingaben nicht aussperren können, haben wir eine Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, können uns nicht sammeln oder konzentrieren und sind leicht ablenkbar.  

 

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Wenn es frühe Liebe gibt, werden die mobilisierenden Kräfte im Hirnstamm durch den frontalen Kortex moduliert. Wenn Liebe fehlt und die Frontalzone schwach ist, kommt es zu Aktivierung, die die Gedanken abschweifen lässt, und zu mangelhafter Kontrolle. Die Neuronen werden nicht richtig reif. Ein starker frontaler Kortex dämpft Gefühle im Limbischen System. Ein schwacher führt zu Hyperaktivität. Dasselbe frühe Trauma, das die beeinträchtigte Kontrollfähigkeit des frontalen Kortexes bewirkt, erzeugt auch die Hyperaktivität. Die aufsteigenden Impulse zwingen das Kind und dann den Erwachsenen zu ständiger geschäftiger Tätigkeit.

 

Die Übersetzung von Gefühlen in Symptome

 

Es gibt direkte Verbindungen vom frontalen Kortex zum Hypothalamus, die dafür verantwortlich sind, dass Stress in körperliche Symptome übersetzt wird. Durch sie wird der Hypothalamus „instruiert“, die Hypophyse anzuweisen, bestimmte Hormone abzusondern, einschließlich der Stresshormone. Das Frontalhirn kann die Katecholamine nicht herstellen, aber er kann anderen Gehirnstrukturen dazu den Befehl erteilen. Es ist der frontale Kortex, der Aktivierung von unten durch den Gebrauch von Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen absorbiert. Es gibt direkte Fasergeflechte vom Hirnstamm zur frontalen Region, die als Zweiwegesystem funktionieren, indem sie Impulse zurückhalten und den Kortex, falls nötig, stimulieren. Sie stimulieren die Frontalregion auch dann, wenn es nicht nötig ist – zum Beispiel ein ruheloser Geist, wenn man einschlafen will.

 

Der frontale Kortex sendet aktivierende chemische Substanzen zur Amygdala, so dass wir fühlen können, was wir denken, und umgekehrt. Jede limbische/fühlende Struktur hat sowohl aufsteigende als auch absteigende Fasernetze. Wenn sie blockiert werden, baut sich in unseren Systemen der Druck auf. Alles, was Fühlen und emotionales Wohlergehen ganz zu Anfang positiv beeinflusst, unterstützt den Aufbau des integrierenden frontalen Kortexes. Die meisten konventionellen Therapien zielen darauf ab, die Abwehr des frontalen Kortexes gegen tief verborgene Impulse zu stärken. Das ist die eine Methode, die Sache anzugehen, wenn man lediglich Kontrolle haben will. Wünschen wir Integration, sieht die Sache anders aus. Wir müssen diese Impulse dämpfen, so dass der frontale Kortex nicht so viel zu tun hat. Auch wenn es im frontalen Kortex Entsprechungen zu Gefühlen gibt, entwickeln sich die tieferen Gefühlsstrukturen doch früher. Aus diesem Grund müssen wir in das Babygehirn hinabgelangen, um Erfahrungen wiederzuerleben, die sich, lange bevor wir die Fähigkeit zu denken besaßen, stark auf uns auswirkten. Nach einem Wiedererlebnis sind Gedanken wichtig. Sie helfen uns zu verstehen, was wir durchmachten und wie es uns ursprünglich verändert hat.

 

Das Fehlen von Liebe bringt das System in Gefahr. Das Gehirn sendet Stresshormone aus, um den Alarm zu bekräftigen, und diese anhaltende Sekretion schädigt das Wachstum der Gefühlszentren und des frontalen Kortexes. Dies wiederum reduziert die Funktion des Immunsystems, indem es die Anzahl der Lymphozyten mindert,

 

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die eindringende Bakterien überwachen und töten. Es gibt einen Grund, dass die Mehrheit der Gefängnisinsassen auf Drogen ist, bevor sie ins Gefängnis kommen: emotionale Deprivation unmittelbar nach der Geburt und in den ersten zwei Jahren. Die meisten dieser Leute wurden von Schmerz beherrscht und brauchten Drogen, um ihn zu kontrollieren. Sie waren auch Opfer von so  frühem und durch Deprivation in der Kindheit verschlimmerten Schmerz, dass die kortikalen Kontrollzentren beeinträchtigt wurden. Impulse lassen ihre Wutausbrüche außer Kontrolle geraten und setzen viele von ihnen außer Stande, einzuhalten oder die Konsequenzen ihrer Handlungen zu durchdenken und abzusehen. Man braucht einen starken frontalen Kortex, um sich selbst gegen übergreifende Impulse abzuschirmen.

 

Eine weibliche Patientin von mir provozierte ständig den Zorn ihres Gefährten, obwohl sie wusste, dass er sie schlagen würde. Den einzigen körperlichen Kontakt mit ihrem Vater hatte sie, wenn er sie übers Knie legte und sie mit bloßen Händen verprügelte. Sie brauchte es noch immer, wusste, es war „verrückt“, und tat es dennoch. Sie brauchte körperlichen und emotionalen Kontakt.

 

Suzanne

 

Das Folgende ist die partielle Niederschrift zweier Sitzungen. Suzanne beschreibt ihr Wiedererlebnis eines Abtreibungsversuchs, den ihre Mutter mit ätzenden Substanzen durchgeführt hatte. Er wurde später bestätigt. Im dritten Monat ihrer Schwangerschaft versuchte ihre Mutter erfolglos, sie abzutreiben. In ihrer Primärsitzung kugelte sie sich so klein wie möglich zusammen und zwängte sich in eine Ecke. Weil sie nicht die charakteristische Arm- und Fußposition zeigte, wurde der Therapeut, der zuerst dachte, es sei ein Geburtsprimal, argwöhnisch und forschte genauer nach, was geschehen war. Hier nach dem Primal diskutiert und weint sie über all das, was es für sie bedeutete. Die meisten Techniken des Therapeuten sind ausgelassen worden. Suzannes Ausagieren hatte darin bestanden, dass sie versuchte, eine unverschmutzte Atmosphäre zu schaffen und in ihr zu leben: einmal, weil ihre Familiensituation „toxisch“ war, und auch wegen der versuchten Abtreibung durch Chemikalien, die ihre Mutter einnahm. Sie war auf der Suche nach einer schützenden Umwelt. Schließlich entdeckte sie die Quelle dieser Toxizität, und erkannte, dass sie dieses toxische Gefühl auf ihre Umwelt projizierte. Der Prototyp wurde hier lange vor der Geburt etabliert, nämlich der Rückzug vor der

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Gefahr. Wir alle ziehen uns vor Gefahr zurück, aber in ihrem Fall wurde es zu einer übertriebenen und oft unangemessenen Reaktion. Es ist nichts anderes als das auf kürzlich gemachten Aufnahmen ersichtliche Phänomen, dass Feten sich angesichts einer Nadelpunktur zurückziehen und schmerzhaft ihr Gesicht verziehen.

 

 

Sitzung I

 

Ich sage dir, ich musste wieder mit dem Rauchen anfangen, weil ich merkte, dass wegen der Woche, die ich aufhörte, das Zeug so schnell hochschoss, dass ich nicht damit klar kam. Ich hatte mein Zyban verdoppelt [ein Medikament gegen das Rauchen]. Aber was ich merkte, war, dass es nach dem fünften Tag ohne Zigarette am sechsten Tag und am siebenten Tag so stark hochkam, dass ich den ganzen Tag ein emotionaler Krüppel war. Also bin ich wieder zum Nikotin übergegangen.

 

Was in den vergangenen zwei Wochen, seit ich hier bin und mit dem Rauchen aufhörte, passierte, ist, ich wache jeden Morgen auf und mir ist schlecht im Magen. Ganz speiübel. Gefühle wie „Ich will nicht leben.“ Jeden Morgen. Allmählich macht mich das wirklich fertig, weil, was ich will, ist einfach mal die Erfahrung machen, dass ich morgens aufwache und mich freue, wach zu sein... zu leben...so wie „Was für ein schöner Tag.“ Hinzu kommt noch das Gefühl von Angst. Was ich wirklich sterben lassen will, ist dieses Gefühl, dass ich sterben will. Aber es wird mich nicht in Frieden lassen; es hat mich so im Griff. Es bestimmt meinen Willen. [ihre Mutter versuchte, sie mit einer sehr starken Salzlösung und noch einer anderen ätzenden Substanz abzutreiben].

 

Überall in meinem Körper war diese Chemikalie, von der mir übel wurde. Viele meiner Probleme scheinen da herzurühren. Angst haben. Sich vergiftet fühlen. Sich nicht bewegen wollen. Ein übles Gefühl. Um 5 Uhr morgens liege ich im Bett, und ich möchte mich zusammenkugeln und dass dieses Gefühl aufhört. Ich hasse es einfach, meinen Tag so zu beginnen. Ständig bringt es mich zum Weinen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus, also greife ich zu den Zigaretten, weil sie mir helfen und mich beruhigen. Ich musste funktionieren, und trotzdem bin ich überschwemmt von dem Gefühl, dass ich sterben will. Ich will nicht leben, wenn ich mich so fühlen muss. Das holt auch Janis (Tochter) ein, weil sie in meiner Welt lebt und weil die extrem vergiftet ist. Wieviel kann sie verkraften? Ich bin nicht da für sie, und sie muss mit einer Mam’ auskommen, die die ganze Zeit weint.

 

Es verzerrt alles in meiner ganzen Welt. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, sind meine Hände heiß, meine Füße sind heiß, mein ganzer Körper ist heiß. Es lässt mich nicht los. Aber ich kann noch nicht zulassen, dass ich es fühle, weil ich nicht genau weiß, wohin es mich bringt  

 

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Therapeut: Was ist es genau?

 

Das Gefühl, dass mir schlecht ist im Magen. Ich kann nichts Schönes sehen im Leben. Es ist etwas in mir, das ständig hochkommt. [Weint und schluchzt]

Ich hasse es...

Ich hasse es...

Ich will Schluß machen. Ich will mich nicht so fühlen. Es lässt mich nicht los. Es schüttelt meine Eingeweide. Es fühlt sich so schrecklich an. Genau das tut es. Ich will mich übergeben, ich fühl’ mich widerlich. Es ist so stark (Ein Häufchen Elend, rollt sich zu einem Knäuel zusammen).

 

Ich schätze, ich war einundzwanzig, und ich verließ New York, um nach Kalifornien zu kommen. Es ist so interessant, weil da diese Lebensangst war, diese Angst vor mir selbst. Als dieses Gefühl in meinem Leben immer wieder hochkam, verstand ich nie, was es war. Warum hatte ich Angst? Es war die Sch......-Erinnerung!

Ich weine einfach, weil ich es hasse. Mir wird so schlecht dvon. Und es klebt an mir wie Leim. Es saugt mich einfach auf. Es ist eine Ganzkörperempfindung. Und es zieht mich aus der Gegenwart raus. Ich will nicht dahinvegetieren. Dieses Gefühl ist mit so vielen anderen Gefühlen verknüpft, es ist mit meinem Gehirn verknüpft.

Es gibt so viel, worüber ich weinen muss. Janis sagte mir heute, dass sie mein Rauchen überwacht. Sie hat sich einen kleinen Kalender gemacht. Sie fragt mich, wie viele Zigaretten ich heute geraucht habe, und sie schreibt es auf; sie sagt: „Mama, du hast wieder zu rauchen angefangen.“ Und ich sagte, es ist, weil zu viel Schmerz zu schnell hochkam und weil die Zigaretten mir helfen und mich beruhigen. Sie sagt: „Ich will wirklich, dass du mit dem Rauchen aufhörst, Mama,“ und ich sagte: „Du willst mir also sagen, du hättest es lieber, dass ich eine Menge mehr weine, als dass ich Zigaretten rauche?“ Sie sagte: „Ja.“ Ich sagte: „Bist du sicher, dass du damit klar kommst?“ Darauf sie: „Mir wäre es lieber, wenn du weinst, anstatt Zigaretten zu rauchen.“ Ich glaube, ich glaube total, dass ich eine schädliche Wirkung auf sie habe. Sie hat eine Mama, die so was durchmacht, und wir sind nicht 100 Prozent zusammen. Ich fühle mich so schuldig, weil ich diese Woche daran dachte, dass meine Mutter Asthma hatte, als ich aufwuchs, und ich es hasste, wenn sie krank wurde. Und ich schätze, Janis muss es genau so empfinden. Und dann denke ich, dass es nicht fair ist.  

 

 

 

 

 

 

 

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So fühle ich mich, wenn das Gefühl hochkommt, dass ich diese kranke Person bin. Ich schaff’ es nicht, es verschlingt mich. Und es bleibt mir treu, tagein, tagaus. Und ich fühl’ mich so verpfuscht. Ich will mich nicht bewegen, ich will nicht hinaus. Ich will nicht reden. Die Einprägung ist so groß! Es ist wie eine Folter.

 

Da ist ein ganz großes Gefühl im Inneren meines Körpers. Es ist wild. Ich will nicht den Atem verlieren. Es macht was aus zu wissen, wo das Gefühl herkommt [sie hatte das Mutterleib-Primal am Tag zuvor]. Ein paar Mal in diesen zwei Wochen, als das Gefühl hochkam, hat es mir geholfen zu wissen, wo es herkam.

Ich habe immer gewusst, dass ich eine sehr naive und unschuldige Seite an mir habe. Und ich kann sehen, dass sie ganz gelegen kam, denn wenn ich wirklich alles begriffen hätte, was ich durchgemacht hatte, so hätte ich es nie geschafft. Ich denke, naiv zu sein, nichts zu begreifen, half mir, dass ich es nicht durchdenken musste. Janis sieht, was ich durchmache, sie sieht meine Höhen und Tiefen. Ich hasse es, ich fühle mich so schuldig. Ich lasse sie wissen, dass sie so etwas nie erleben muss, weil sie erwünscht war, weil sie von Anfang an geliebt wurde, und sie wird das nie erleben. [Weint noch immer] Jede Nacht kommt dieses Fieber, das so um 4 oder 5 am Morgen losgeht, und meine Füße sind so heiß und meine Hände sind so heiß. Es ist, als versuchte mein Hirn, das geradewegs aus meiner Seele rauszubrennen.

 

Sitzung II

 

Ich fand es sehr interessant gestern, als ich hier wegging. Ich freute mich, weil ich in die Abtreibungserinnerung eingetaucht war. Ich fühlte mich einfach glücklich, lebendiger. Ich spürte einfach, dass ich irgendwie glücklich darüber war, durch den ganzen Prozess zu gehen, und über die Intensität der Wirkung, die es hatte. Mag sein, es hat damit zu tun, dass ich weiß, es ist eine ganz bestimmte Erinnerung, und mit der Erleichterung, dass ich nicht verrückt bin. Weißt du, wenn du nicht weißt, woher katastrophale Gefühle kommen, musst du denken, du seist verrückt. Dass meine Körperreaktion irgenwie erfreut war, als sie den Prozess durchlief, dass sie endlich Gelegenheit hatte es auszudrücken.

 

Ich schlief gut, aber so gegen 4 Uhr 30, 5 Uhr war ich auf, nur das üble Gefühl war nicht so intensiv, es kam noch immer hoch, und je länger ich im Bett blieb, ohne mich zu bewegen, umso stärker kam es. Um 6 Uhr dachte ich, oh, jetzt kommt das vertraute Gefühl von Übelkeit hoch. Aber ich spüre dieses üble Gefühl noch immer. Um 6:30 ist es stärker; ich möchte mich zusammenkauern, dieses kleine Knäuel bilden. 

 

 

 

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Es ist jetzt noch immer da. Ziemlich stark sogar. Und ich komme wieder dahin, dass ich mich nicht bewegen will. Also stand ich auf und setzte mich auf die Couch im Hotelzimmer. Und ich will mich nicht bewegen. Ich könnte den ganzen Tag so verbringen, wenn ich mich so fühle. Und die einzige Sache, die mich in Gang bringt, ist Bewegung, Aktion. Das Gefühl hat eine lähmende Wirkung auf mich. Ich habe keinen freien Willen. Es ist, als würde jemand ständig auf mir herumhacken, mich nicht zufrieden lassen.

 

 [Schreit ständig: „Lass mich zufrieden !!!!“]

 

Und ich wollte, dass mein Stiefvater mich zufrieden ließ, als er mich belästigte. Manchmal fühle ich mich so traumatisiert, so als wollte ich mich einfach in eine Ecke verkriechen. Es ist, als bräuchte ich sowas wie Berührung. Einfach eine freundliche Hand auf meiner Schulter. Ich verlange nicht viel. Ich wäre in der Lage gewesen, etwas zu fühlen. Und mein Körper fühlt sich wie glühende Kohlen an. Es ist, als suche ich nach sowas wie Berührung. Halt mich, Mama, bitte halte mich.....

[Weint lange Zeit tief. Streckt flehend die Hände aus.]

 

 [Zurück in der Gegenwart]

 

In diesen Augenblicken ist es, wie wenn ich tanze. Es ist, als sei alles in Ordnung. Manchmal hört es auf, weh zu tun, und es ist wie ein Hauch frischer Luft und ich fühl’ mich okay. Ich fühle, dass ich keine Schmerzen habe. Ich hab so das Gefühl, dass mein Optimismus und meine Freude daher kommen. Diese kleinen Fenster, wenn einfach nichts mehr weh tut und das Gefühl so phantastisch ist.

 

Ich denke ständig daran, als ich vierzehn war und hatte, was ich als „Haupt-LSD-Trip“ bezeichne. Und jetzt sehe ich die Parallelen so klar; was hochkam, war die Geburtserfahrung, nicht die Geburtserfahrung, aber was mir passierte, war, dass ich über zehn Stunden an einem Platz saß und Angst hatte, mich zu bewegen. Und mein ganzer Körper, er war einfach so sensibel. Es war, als könnte ich durch die Wände hören, alles fühlen und mich einfach nicht bewegen. Ich musste dort bleiben. Jetzt sehe ich, ich habe diese ganze Sache wiedererlebt. „Bewege dich nicht. Es ist okay, wenn du dich nicht bewegst.“ Mein Körper war so sensibel, wie ein einziger großer Nerv. Und dann, nach diesem ganzen Erlebnis habe ich dann mit Barbituraten und Beruhigungsmitteln angefangen, weil das das einzige war, das meinem Körpergefühl wie ein einziger riesiger Nerv die Schärfe nehmen konnte, und es war das einzige, das meinen Körper beruhigen konnte. Ich fing mit den Barbituraten an, mit Tuanols und Quaaludes. Ich fühlte einfach zu viel. Der einzige Grund, warum ich sie absetzte, ist, weil süchtig nach ihnen wurde und zu viele nahm. Ich ging zu einem Arzt, und sagte ihm, was ich tat, rechnete damit, dass er es verstehen würde und mir helfen könnte, es zu verstehen. Er konnte es nicht.  

 

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Es ergibt einen perfekten Sinn für meine Reaktionen im Leben, wenn ich zu sehr fühle oder wenn der Input zu groß ist. Ich ziehe mich zurück. Das ist die Einprägung, sich zurückziehen von dem, was mich umbringen will. Was auf mich bis zum heutigen Tag zutrifft, ist, dass ich nie verbergen konnte, wie ich mich fühlte. Ich gehörte zu den Leuten, denen ihre Gefühle ins Gesicht geschrieben sind. Ich hatte kein Geheimnis. Wie ich mich fühlte, lag da wie ein offenes Buch. Du konntest es einfach lesen. Und die Art, wie ich durchs Leben navigierte, war mit meinen Gefühlen. Es ist so, wenn ich mich sicher fühlte, bewegte ich mich vorwärts. Wenn ich mich nicht sicher fühlte, kam ich vom Weg ab.

 

Mir scheint, dass ein Teil dieser Erfahrung, die Wirkung, die sie hatte, war, dass sie sich auf mein Nervensystem auswirkte; dass ich sensibler bin. Ich habe ein sehr gutes Gespür dafür, wie sich andere um mich herum fühlen. Mein Nervensystem war einfach überlastet und als Ergebnis hat es alles aufgebauscht, so dass ich fühlte und dachte, es ist alles zu viel. Also war meine Reaktion im Mutterleib, es abzustellen, indem ich mich zurückzog und so klein wie möglich wurde, mich zusammenzog. Und ich mache es noch immer. Ich nehme an, das ist es, was Dr. Janov als Prototyp bezeichnet. Es scheint so, dass ich vorprogrammiert bin. Ich muss stark sein, gleich, wie schlecht die Dinge stehen. Ich meine, offensichtlich habe ich die ganze Zeit überlebt, weil ich in den schlimmsten Situationen in der Lage war, etwas Gutes zu finden, etwas, das ich lerne, etwas, das mich weise und stärker gemacht hat.

 

Therapeut: Zum einen hat es dir das Leben gerettet.

 

Ich hatte immer diesen Optimismus. Der Optimismus ist die Möglichkeit im Leben. Weißt du, ich denke nicht, dass ich sonst überlebt hätte. Daran klammere ich mich. An diese kleinen Fenster. Und ich trachte immer danach, darauf zurückzukommen. Aber es ergibt einen Sinn, weil der Schmerz dann aufhört. So intensiv der Schmerz auch ist, wenn ich zum anderen Ende des Spektrums schwingen wollte, dann bedeutet es, wie großartig es ist, den Schmerz nicht zu fühlen, es ist wie Tanzen auf den Dächern, die Freude, das ist magisch.

 

Nichts ist so, wie nichts zu wollen; außer die Schönheit des Tages zu genießen, der Zauber, wenn du eine Blume betrachtest, wenn du die Sonne scheinen siehst. Es ist alles ganz einfach. Es gibt kein Streben, es gibt nichts als atmen wollen. Ich muss dir sagen, es ist alles ganz faszinierend für mich. Was für eine Erleichterung darin liegt, wenn du weißt, woher der Schmerz kommt und wo der Optimismus ist!

 

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Quellenverweise und Anmerkungen

N. 1         Y. Ito et al., „Increased Prevalence of Electrophysiological Abnormalities in Children with Psychological, Physical and Sexual Abuse,” Journal of Neuropsychiatry 5, no. 4 (Fall                     1993): 401-407.

N. 2         Viele synaptische Endungen haben Autorezeptoren, die auf Transmitter-Freisetzung durch präsynaptische Neuronen reagieren.

N. 3         Ito, „Increased Prevalence of Electrophysical Abnormalities in Children with Psychological, Physical and Sexual Abuse,“ s. 401.

N. 4         Die Vitalwerte aller Patienten werden vor und nach jeder Sitzung gemessen. Die Physiologie sagt  uns eine Menge darüber, in welchen Gefühlen der Patient steckt.

N. 5         Arthur Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West Hollywood, Kalif.: Dove Books, 1996).

N. 6         R. J. Davidson und N. A. Fox, „Frontal Brain Asymmetry Predicts Infants’ Response to Maternal Separation,“ Journal of Abnormal Psychology 98, no. 2 (Mai 1989): 127-31.

N. 7         Allan Schore, in Brain and Values, ed. Karl Pribham (New Jersey: Lawrence Erlbaum, 1998), s. 342.

N. 8         Siehe: Eric Hoffmann, “Mapping the Brain in Repression,” vorgelegt der California Psychological Association, Annual Meeting, Februar 23-26, 1995. Siehe auch E. Hoffmann,          “Hemispheric Quantitative EEG Changes Following Emotional Reactions in Neurotic Patients,” Acta Psychiatrica Scandinavica 63 (1981): 153-64.

N. 9         Ibid., s. 153

N. 10       S. L. Rauch et al., „A Symptom Provocation Study of Posttraumatic Stress Disorder

                Using Positron Emission Tomography and Script  Driven Imagery,” Archives of General Psychiatry 53 (1996): 380-87.

N. 11       Davidson and Fox, “Frontal Brain Asymmetry Predicts Infants’ Response to Maternal Separation.”

N. 12       Siehe D. Derryberry und D. M. Tucker, „Neural Mechanisms of Emotion,“ Journal of Consulting and Clinical Psychology 60, no. 3 (Juni 1992): 329-38.

               N. 13       R. J. Harmon und P. D. Riggs, „Clonidine for Posttraumatic Stress Disorder in Preschool Children,“ Journal of American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 35                   (September 1996):  1247-49.

 

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DER BEGRIFF DER KRITISCHEN PERIODEN

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Ereignisse werden in einer Phase, die als kritische Periode bekannt ist, in das Nervensystem eingeprägt. Ereignisse, die außerhalb dieser Periode stattfinden, haben nicht die gleichen unheilvollen Folgen wie diejenigen, die in ihr geschehen. Mit acht Jahren die Eltern durch einen Autounfall zu verlieren, kann mit einer Kraft eingeprägt werden, die einem traumatischen Erlebnis in den ersten sechs Monaten des Lebens gleichkommt, aber die Auswirkungen auf die neurologische Entwicklung sind wahrscheinlich nicht so schwerwiegend.

Für den Vorgang der Einprägung ist ein Zustand hochgradiger Erregung notwendig; mit anderen Worten, eine Notsituation, die das System in Alarm versetzt. Das Gehirn beginnt sich zu verändern. Es kann sowohl „Liebe“ als auch „Nichtliebe“ einprägen. Wenn es Liebe gibt, expandieren die Neuronen und wappnen das Gehirn gegen spätere Widrigkeiten. Schlüsselsynapsen vermehren sich, das Gehirn ist stärker und hat mehr hemmende Nervenzellen, um Angst unter Kontrolle zu halten.

Wenn emotionale Deprivation etwas unabdingbar einbezieht, dann ist es fehlende Berührung und Zärtlichkeit ganz zu Beginn. Wenn das Baby wegen fehlenden Körperkontakts unter Stress steht, wird Kortisol freigesetzt, und wenn dieses Stresshormon übermäßig lange abgeschieden wird, erzeugt es ein toxisches Gehirnmilieu, das bestimmte Gehirnstrukturen im Limbischen/fühlenden System schädigen kann und dies auch tatsächlich tut.

Da wir gerade von vergifteter Umwelt sprechen, einer unserer fortgeschrittenen Patientinnen war oft übel, und sie litt in ihren Wiedererlebens-Episoden (Primal) unter einem brennenden Gefühl. Schließlich spürte sie während der Wiedererlebnis-Sequenz eines im Hirnstamm verwurzelten Traumas in ihrem ganzen Körper ein

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schreckliches Brennen. Wir fanden heraus, dass ihre Mutter versuchte, sie mit einer hochätzenden Substanz abzutreiben, die offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Aber sie war auf die wiederkehrende Zwangsvorstellung fixiert, dass sie in einer vergifteten Umwelt lebte. Sie führte den gerechten Kampf gegen die Verschmutzung und zog schließlich in eine saubere Kleinstadt. Ihr Kampf gegen die Verschmutzung war richtig, aber die tiefgründige Motivation kam daher, dass sie sich im dritten Monat in einer schwer toxischen Situation im Mutterleib befand. Diese Motivation setzte ihre Vorstellungen über die Umwelt nicht unbedingt außer Kraft; sie erklärte lediglich deren Ursprung.

Es gibt Perioden, in denen wir Liebe bekommen müssen, um uns angemessen zu entwickeln, und andere, in denen es für die Gehirnentwicklung nicht so wichtig ist. Forscher finden heraus, dass es während der Schwangerschaft „kritische Perioden“ gibt, in denen sich permanente Veränderungen in der Entwicklung ereignen könnten. Es sind viele Versuche an Tieren durchgeführt worden, aber es gibt auch Forschungsergebnisse, die Implikationen für Menschen haben. Es stellte sich heraus, dass kein durch frühe Deprivation hervorgerufenes Versäumnis jemals nachgeholt werden konnte.1 Das mag in der Tat das Hauptmerkmal der kritischen Periode sein: Sie kann nicht nachgeholt werden. Am Lebensanfang zugefügter Schaden, zum Beispiel Tiere, die nach der Geburt nicht berührt wurden, konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Aber warten Sie! Vielleicht sind die Aussichten gar nicht so düster.

Synaptogenesis

In den ersten achtzehn Monaten oder zwei Jahren des Lebens bilden sich die Synapsen zwischen kortikalen Neuronen und stärken oder schwächen sie, je nach Ausmaß des Traumas. Bei ausreichender Stimulierung, einfacher Berührung, ergibt sich eine größere Synapsendichte im Kortex, da sich Bahnen verstärken und Integrationskapazität aufbauen. Trauma wird definiert als etwas, das nicht reibungslos in das System integriert werden kann. Es tritt ein, wenn Bedürfnisse über längere Zeit nicht erfüllt werden. Der Zeitplan diktiert die Notwendigkeit optimalen Körperkontakts direkt nach der Geburt und in den folgenden Monaten. Das Maß an Körperkontakt wird von sensiblen Eltern bestimmt, die spüren, was das Baby braucht; nicht zu viel, damit es nicht überstimuliert wird, sondern gerade ausreichend, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Der Körper drückt einen Mangel in Allergien, Hautkrankheiten, Infektionen und Hyperaktivität aus. Wir können zu dem Gehirn eines Zweijährigen zurückkehren und uns mit diesem Gehirn an bestimmte Dinge erinnern, was wir mit dem Erwachsenengehirn niemals könnten. 

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Wenn dieses Gehirn weint, sind es die Laute eines Kleinkinds. Es leidet Höllenqualen, weil  Körperkontakt und Zärtlichkeit fehlten, und dennoch hat der Mensch sein Leben vergnügt und  ahnungslos verbracht.

Wir brauchen Liebe, um die Synapsen zu bilden, die für die Schaffung eines Gehirns nötig sind, das stark genug ist, um Schmerz zu dämpfen. Wir brauchen Eltern, die dem Baby in die Augen schauen, die auf seine Stimmungen reagieren, sein Unbehagen spüren und sich in seinen Schmerz und seine Beschwerden einfühlen können. Das ist Liebe. Der mitfühlende Blick einer Mutter kann tatsächlich den Blutfluss zum Kortex des Babys regulieren und seine Entwicklung wesentlich beeinflussen. Er tut dies durch die Sekretion von Dopamin, welches das Wachstum kortikaler Neuronen anregt.2 Diese Projektionen veränderter Dopamin­zellen zum frontalen Kortex errichten einen neuen Kortex. Je besser der Fluss ist, umso mehr Nährstoffe und Sauerstoff werden dorthin transportiert. Die Zellen sind gesünder. Ein Maß für die Effektivität und Aktivität eines Gehirnortes kann der Blutfluss sein. So ist zum Beispiel bei der Aufmerksamkeitsmangel-Störung der Fluss zu präfrontalen Orten geschwächt. Das Gehirn kann neue Information nicht leicht verarbeiten, noch kann es unwesentliche Stimuli herausfiltern. Auf diese Weise formt fehlende Liebe einen neuen Kortex, indem sie die Dopaminspiegel senkt. Und nicht nur der Kortex wird verändert. Der Hippocampus ist durch Stress am Lebensanfang besonders verwundbar, und seine Zellen können schwinden durch ein Trauma, das ein gewisses Zeitmaß überschreitet.3 Nicht nur ein Schlag auf den Kopf kann einen Gehirnschaden verursachen: einfache Vernachlässigung kann das auch bewirken. Affen, die von Käfiggenossen misshandelt wurden, wiesen Gehirnschäden im Hippocampus auf, nicht wegen der Schläge, sondern wegen ihres Leidens. Wenn wir an der Unfähigkeit leiden,  uns räumliche Verhältnisse vorzustellen, die Architektur eines Hauses oder Raumes, wenn wir unter Gedächtnisverlust hinsichtlich Zeiträumen, Zeitpunkten und Plätzen leiden, müssen wir auf den Hippocampus schauen und darauf, was ihm der Mangel an Liebe angetan hat, der uns am Lebensanfang widerfahren war. 4

Je dichter die Synapsen in dieser Synaptogenesis genannten Schlüsselperiode der Gehirnentwicklung sind, umso mehr Information kann das Gehirn verarbeiten. Der Rückgang an Synapsen ist zum Beispiel eine physiologische Möglichkeit, wie ein Trauma eingeprägt werden kann; er lässt uns weniger Gehirnzellen, die wir brauchen, um mit Widrigkeiten fertig zu werden. Die Einprägung kann eine einzige Lernerfahrung sein, die monatelange Interaktion mit den Eltern umfasst und in einem Gefühl gipfelt wie: „Sie wollen mich nicht“ Es ist ein epiphanischer Augenblick, wenn das Kind erkennt, dass es niemanden gibt, an den es sich mit seinen Gefühlen wenden könnte. Oft geschieht diese Erkenntnis zu einer Zeit, da das Baby am bedürftigsten ist, zu einer Zeit, wenn das Gehirn nach Erfüllung schreit, wenn Synapsen sprießen und neue Verknüpfungen, neue Netzwerke aus Nervenzellen herstellen; zu einer Zeit, wenn sich fehlende Erfüllung in Schmerz verwandelt. Besonders schmerzvoll ist sie in der kritischen Periode, weil sie ein biologisches Bedürfnis repräsentiert; das System braucht Erfüllung für seine richtige Entwicklung.  

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Schnelle Synaptogenesis kann als Schlüsselmerkmal einer kritischen Periode betrachtet werden. Schwere Deprivation beeinträchtigt den Prozess der Synaptogenesis. Tiere, die traumatisiert wurden und an denen dann eine Autopsie vorgenommen wurde, hatten weniger Gehirnsynapsen.  Es geschieht in dieser Phase, dass widrige Erfahrungen, z. B. eine Mutter, die trinkt und raucht, das Gehirn der Nachkommen verändern können. Das Baby hat ein weniger reichhaltig ausgestattetes Gehirn,  um mit späteren Nöten fertig zu werden. Es geschieht in dieser Phase, dass das System, wenn bestimmte genetische Tendenzen – hoher Blutdruck, Migräne und Allergien - gegeben sind, geschwächt wird und zulässt, dass sich diese Anfälligkeiten schon früh im Leben manifestieren. Ein starkes Gehirn mit angemessenen synaptischen Verbindungen kann in der Lage sein, diese Tendenzen zurückzuhalten. Mit reduzierter Synapsenzahl sind die Vorbereitungen für spätere Lernprobleme schon getroffen. All das kann sich ereignen, wenn der Fetus noch ein Fetus ist und noch kein soziales Leben gehabt hat.

Es verstärkt das Problem, dass alles das stattfinden kann ohne bewusste Wahrnehmung durch das Baby. Das Baby wird einfach „dumm“ geboren. Sich einer Sache nicht bewusst zu sein, beeinträchtigt in keiner Weise die Wirkung der Einprägung. Diese Einprägung ist nicht einfach eine zerebrale Erinnerung. Sie steckt in einem mangelhaften Gehirn. Dieser Mangel ist die Erinnerung, genau wie ein chronisch schneller Herzschlag auf Grund eines intrauterin eingeprägten Traumas eine Erinnerung ist. Es ist die Art, wie sich das Herz „erinnert“. Einige von uns haben einen Ruhepuls von sechzig Schlägen pro Minute. Andere stellen fest, dass ihr Puls bei achtzig Schlägen pro Minute liegt. Jetzt haben wir eine gewisse Vorstellung, wie diese Unterschiede zustande kommen: es sind Unterschiede im pränatalen Leben. Wirkliche Erinnerung hängt nicht von der Fähigkeit ab, „sich zu erinnern“, frühe Ereignisse zu verbalisieren und in Begriffe zu fassen. Erinnerung offenbart sich, lange bevor es Worte gibt. Ein schneller Herzschlag ist die Erinnerung eines Ereignisses, das das Herz zum Beschleunigen veranlasste, zum Beispiel zur Abwehr von Schrecken. Nun ist das Ereignis lange vorbei, aber die Furcht bleibt; sie ist mitsamt ihrem Gehilfen, schnellem Herzschlag, ins System eingeprägt. Das Herz sagt nicht: „Ich erinnere mich, dass mir mein Vater immer dann Angst einjagte, wenn ich geweint habe“, sondern es sagt es eindrucksvoll durch seinen lebenslang erhöhten Herzschlag. Wir können es verstehen, wenn jemand sagt: „Ich erinnere mich an die unkontrollierten Wutausbrüche meines Vaters.“ Aber es ist nicht einfach eine rein begriffliche Erinnerung. Es gibt einen Körper, der sie begleitet, der der Erinnerung „Schubkraft“ verleiht.  

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Die kritische Periode ist die Lebensphase, in der ein Baby für bestimmte Arten von Input am anfälligsten ist. Würde ein Kind in seinen ersten Jahren geliebt, aber im Alter von acht Jahren sich selber überlassen, würde es nicht von demselben Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit geprägt sein, wie jemand, der direkt nach der Geburt nicht geliebt und vernachlässigt wurde. Ein achtjähriges Kind kann sich selbst ernähren, bei Verwandten oder Freunden Zuflucht suchen oder vielleicht in einer Lehrerin/einem Lehrer einen Elternersatz finden. Ein Kleinkind ist hilflos und braucht mit jeder Faser seines Seins Trost und Berührung. Ein fünfzehnjähriges Kind, das von seinen Eltern nicht mehr berührt und in den Arm genommen wird, mag sich dadurch verletzt fühlen, aber es wird keine Gehirnschädigung erleiden wie jemand, der/die in der frühen Kindheit nie gehalten wurde. Das ist der Unterschied zwischen Verletztsein und dem Erleiden tiefen physiologischen Schadens. Dasselbe depravierte Kind kann vom Alter von fünfzehn Jahren an jeden Tag in den Arm genommen werden, und doch wird es die Prägung aus der kritischen Periode nicht auslöschen.

Es ist nicht so, dass unser Sohn Joe begonnen hat, Heroin zu nehmen, weil er mit den falschen Leuten herumhängt. Im Gegenteil, er hängt mit denen herum, die in der gleichen Notlage sind wie er; und diese Notlage ist oft der gleiche Mangel an inneren Schmerztötern mit dem gleichen impulsgesteuerten System. Joe ist auf schweren Drogen, weil er auf schwerem Schmerz ist, und diese Schmerzen geschahen sehr früh im Leben, bevor er seinen ersten Kumpel hatte. Im Großen und Ganzen gilt: Je tiefer und entfernter die Einprägung ist, umso mehr Kraft hat sie.

Der Brennpunkt der kritischen Periode: Die Dopamin-Connection

Die wichtigste kritische Periode findet statt, wenn sich das Gehirn während der Schwangerschaft formt. Trinken und Rauchen der Mutter, ihre Angst oder Depression werden ihren Weg ins fetale System finden und Verwüstung anrichten. Wenn Sie die Verfügbarkeit eines Neurotransmitter-Elements während der fetalen Entwicklung ändern, so wird das wiederum die spätere Anzahl solcher Zellen ändern. Wenn Sie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Dopamin (das die Informationsübermittlung auf den Nervenbahnen fördert) an der Rezeptorstelle reduzieren, indem Sie den sich entwickelnden Rezeptor blockieren, wird die Anzahl von Dopaminrezeptoren nach der Geburt geringer sein.5 Dopamin ist im Großen und Ganzen eine erregende chemische Substanz, die uns wachsam und auf der Hut sein lässt. Es ist ein „Beeil-dich“-Transmitter, der die Nachrichtenverbind­ung beschleunigt, im Gegensatz zu Serotonin und den Endorphinen, die blockierende Wirkstoffe sind (und ebenso Wirkstoffe, die Befriedigung und  Wohlbefinden erzeugen). Dopamin ist eine „Halte-durch-Chemikalie“, ein Schlüsselelement für Hartnäckigkeit im Menschen.  

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Wenn wir den Dopaminspiegel während der Schwangerschaft ändern, erzeugen wir lebenslange Auswirkungen auf das Gehirn, und das kann eine Persönlichkeit bedeuten, die leicht aufgibt, ein begonnenes Vorhaben nicht durchzieht und nicht bis zum Ende durchhält. Ich möchte Eltern nicht unnötig beunruhigen. Ich möchte sie einfach auf die lebenslangen Konsequenzen des frühen Lebens aufmerksam machen. Ganz klar, ein Glas Wein wird einem Fetus keinen Schaden zufügen, aber das ständige Trinken einer schwangeren Mutter wird dies tun. Das sind keine unwesentlichen Fakten.

Wenn der Dopaminausstoß auf Grund eines frühen Traumas (und das beinhaltet immer fehlende Liebe) beeinträchtigt worden ist, finden wir später vielleicht einen niedrigeren Dopaminspiegel in der rechten Hemisphäre, die sich mit Gefühlen befasst. Wegen des eventuell niedrigeren Spiegels hat diese Art von Individuen (passiv, phlegmatisch) nicht das neurochemische Rüstzeug, um anstrengende Aufgaben oder schwierige Verhältnisse durchzustehen; sie geben leicht auf, weil ihnen die nötigen „Durchhalte-Substanzen“ fehlen. Hier sehen wir, wie sich die Persönlichkeit um Schlüsselereignisse im Mutterleib herum zu formen beginnt, Ereignisse, die das Gleichgewicht der Hormone verschieben. Das ist das Kritische an den kritischen Perioden. Ihre Auswirkungen dauern an.

Ich werde eine Reihe von Forschungsstudien zitieren, um diesen Punkt zu bekräftigen, da er nicht nur Dopamin betrifft. Es scheint ein biologisches Gesetz zu sein: Traumatische Ereignisse im Mutterleib können außergewöhnlich schädlich sein und sie können später nicht ausgeglichen werden. Hier können zum Beispiel leichte Veränderungen des Schilddrüsen-Ausstoßes ihren Anfang nehmen, so dass wir in der späteren Kindheit vielleicht Hypothyreoidismus oder Insulinmangel finden. Es ist der Mutterleib, wo so viele biologische Sollwerte fixiert werden, die das System auf subtile, oft subklinische Weise, die vielleicht Jahrzehnte lang nicht offensichtlich wird, abweichen lässt.

Bei einem Trauma im Mutterleib werden die Dopaminwerte nach oben (hyper) oder nach unten (hypo) reguliert, aber sie werden nicht normal sein. Somit kann ungenügende Stimulierung durch Dopamin ihrerseits das kortikale Integrationssystem beeinträchtigen, was bedeutet, dass die Person später bereits durch den geringsten Input überwältigt werden kann. Es gäbe  keine ausreichende kortikale Kapazität, um Widrigkeiten zu trotzen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Parkinson und Alzheimer das späte Resultat einer Traumatisierung im Mutterleib sein könnten. Ein Übermaß an Dopamin kann das Schleusensystem durch Überreizung und Überbeanspruchung seiner Kapazität schwächen. Janet Giler, eine Psychologin, die im California Psychologist schreibt, bemerkt, dass sich die Person konzentrieren kann, wenn das allgemeine Niveau äußerer Stimulierung niedrig ist. Wenn ein Raum voller Lärm und Stimuli ist, geht alle Konzentration verloren. Sie sagt: „Neuere Forschung weist darauf hin, dass dieses Versagen, sensorische Information zu schleusen oder einzuschränken (und das ist eine der Bedeutungen des Schleusens) vielleicht auf erhöhte Dopaminwerte zurückzuführen ist.“ 6 Natürlich sind erhöhte Dopaminwerte nicht die Ursache des Problems, sondern das Ergebnis sehr früher Erfahrungen.  

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Wenn zu viel Schmerz die Dopaminsekretion zu sehr anregt (Hochregulierung), besteht im frontalen Kortex, der die Dopaminaktivierung aufnimmt, die Gefahr der Fragmentierung: „Es stellte sich heraus, dass sich durch pränatale Verabreichung pharmakologischer Wirkstoffe, die die Transmitterzufuhr zu dem entstehenden Dopaminrezeptor verändern, die Anzahl der Rezeptoren ändern kann.“ 7 Wenn sich die Anzahl von Dopaminrezeptoren verringert, gibt es möglicherweise nicht genügend Stimulierung, um den frontalen Kortex wachsam und aktiv zu halten. Der präfrontale „Geist“ kann Information nicht mehr angemessen integrieren und ist schnell verwirrt und überwältigt. Im Gegensatz dazu kann ein überaktives Dopaminsystem dazu führen, dass der frontale Bereich zu „geschäftig“ ist, überreizt und unfähig,  sich zu sammeln und zu konzentrieren. Der entscheidende Punkt ist, dass das Dopaminsystem das ganze Leben lang beeinträchtigt sein kann, wenn eine schwangere Mutter Drogen oder Beruhigungsmittel nimmt.

Der Verlust der Anpassungsfähigkeit

Wenn die soeben zitierten Forscher die Transmitterzufuhr zu den Dopaminrezeptoren während der Schwangerschaft änderten, war das spätere Ergebnis eine lebenslange Veränderung in der Anzahl der Rezeptoren. Wenn das nach der Geburt geschieht, wird es das System durch Erhöhung der Anzahl und Dichte von Rezeptoren kompensieren; aber wenn es in der Schwangerschaft geschieht, gibt es keine Kompensation! Kurz gesagt fallen die Würfel im Mutterleib; nach der Geburt gibt es dann hauptsächlich nur noch „Säuberungsoperationen“. Es ist meine Vermutung, das dieses Paradigma für viele andere biochemische und neurochemische Faktoren gilt. Ereignisse im Mutterleib prägen Schlüsselveränderungen von Hormonen, Immunfunktionen und Nervenbahnen für immer ein. Das ist keine bloße Vermutung mehr, wie wir sehen werden; es gibt Forschungsbeweise dafür. Das Wichtige daran ist, dass es keiner chemischen Injektion bedarf, um diese Veränderungen zu produzieren. Die Stimmung der Mutter, zum Beispiel Übererregbarkeit, kann dieselben physiologischen Veränderungen erzeugen. Der Fetus kann überreizt werden, und das kann auf subtile Weise den sich entwickelnden Neokortex schädigen, der gerade am Anfang seines Lebens steht.

 

A. J. Friedhoff und J. C. Miller, zwei wichtige Forscher für Rezeptorfunktionen, sagen: “Unter adaptiven Gesichtspunkten betrachtet ist es für das System

 

 

 

 

 

 

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erforderlich, wenn eine sich entwickelnde Zelle, die Dopaminrezeptoren hervorbringt, registriert, dass es wenig Dopamin in ihrer Umgebung gibt, außen weniger Rezeptoren anzubringen, damit die Rezeptorzahl an die Transmitterzufuhr angeglichen wird.“ 8 Die Zellen passen sich an ihre Umgebung an, so dass auch der physiologische Bedarf geringer ist, wenn die Zufuhr geringer ist.

Wenn bei den Menschen eine Mutter während der Schwangerschaft hochdosierte Beruhigungsmittel wie Haldol erhält, so wird das permanente Auswirkungen auf den Neurotransmitterspiegel im Fetus haben, und das kann bedeuten, dass der Erwachsene niemals „ganz richtig“ sein wird; vielleicht nie das Rüstzeug besitzt, um richtig zu verdrängen; ein hypernervöser, überaktiver, unruhiger Typ, der innerlich und äußerlich ständig in Aktion ist. Es kann sein, dass diese Prägung es für den jetzt Erwachsenen erforderlich macht, Beruhigungsmittel zu nehmen, und zwar aus genau  dem Grund, weil die Mutter sie eingenommen hatte, als sie schwanger war. Die Überladung mit Beruhigungsmittel in der Schwangerschaft veranlasst das fetale System, weniger davon herzustellen, weil es bereits gesättigt ist. Als Erwachsener mit verminderter Fähigkeit, Schmerz zu verdränegen, muss er zu Medikamenten greifen, um der Schmerzverdrängung nachzuhelfen.

Es ist keine bloße Vermutung, die mich an die lebenslangen Auswirkungen früher Erfahrungen glauben lässt. Ich sehe es seit Jahrzehnten an meinen Patienten und habe ausführlich darüber geschrieben. Aber jetzt betreten andere die Arena. Friedhoff und Miller wiederholen, dass es zu beständigen, lebenslang andauernden Veränderungen kommen kann, wenn das pränatale System des Fetuses Medikamenten ausgesetzt wird.9 Es war bei Kindern psychotischer Mütter der Fall, dass sie im fetalen Stadium antipsychotischen Medikamenten ausgesetzt waren, was sich wiederum auf die Empfindlichkeit ihrer Rezeptorsysteme auswirkte und sie verletzlicher machte.10 Noch wichtiger ist, dass Rosengarten, Friedhoff und Miller feststellen: „Es ist denkbar, dass mütterliche Neuropeptide, mütterliche Hormone (als Resultat psychischer Zustände) und durch die Mutter übertragene Umweltchemikalien solche Veränderungen vermitteln könnten.“ 11 Die chemischen Veränderungen bei der schwangeren Mutter auf Grund ihrer Stimmungen, sagen wir Depression, werden zu entsprechenden Veränderungen im fetalen System. Wenn die Mutter deprimiert ist, so ist es vielleicht auch das Baby. Später dann kann die ständige Depression der Mutter die Gefühle des Kindes dämpfen, weil seine Ausgelassenheit auf keine angemessene Gegenreaktion seitens der Mutter stößt. Durch ihre Niedergeschlagenheit unterdrückt sie schließlich das Baby einfach auf Grund ihres emotionalen Zustands.

Ein Fetus kann die Angst einer schwangeren Mutter spüren. Er ist nicht im zerebralen Sinne des Begriffs bewusst; vielmehr ist er es in der Sprache von Unpässlichkeit, Unbehaglichkeit und vager Spannung, in der Sprache hormoneller Änderung und geänderten Blutflusses. Der Zustand der Mutter kann das Baby unruhig und ängstlich machen, und er kann diese Furcht zu einer permanenten Einprägung machen. In der Zeit vor der Geburt und in der Zeit nach der Geburt werden dieselben physiologischen Prozesse ersichtlich. Viele aktuelle Tranquilizer, die hochgradig gestörten Frauen verschrieben werden, ändern die Serotonin- und Dopaminspiegel des Fetuses und können ihn für spätere psychische Krankheit prädisponieren. Eine Frau, die andauernd raucht und trinkt, während sie schwanger ist, kann im Fetus den Ausstoß beider Transmittersysteme unterbrechen.

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Quellenverweise und Anmerkungen

N. 1          A. J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter Programming of Postnatal Receptor Function,“ in Progress in Brain Research (Amsterdam, Niederlande) 73 (1988):                     509-22.

N. 2          Ich frage mich, ob gering dosierte Dopamin-Tropfen, Deprenyl, bei depressiven parasympath(et)ischen Patienten mit möglicherweise niedrigem Dopaminspiegel gegen ihr                     niedriges Energieniveau und ihre Depression helfen könnte. Wir werden das in der Zukunft ausprobieren.

N. 3          H. Uno et al., “Neurotoxicity of Glucocorticoids in the Primate Brain,” Hormones and Behavior 28, no. 4 (Dezember 1994): 336-48.

N. 4          B. S. McEwen, “Possible Mechanisms for Atrophy of the Human Hippocampus,” Moleculary Psychiatry 2, no. 3 (Mai 1997): 255-62.

N. 5          H. Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive Periods to the Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin Receptors,” in Nervous System Regeneration,                    ed. A. M. Guiffrid-Stella (New York: Alan Liss, 1983), s. 511-13.

N. 6          Janet Giler, “Attention Deficit Hyperactivity Disorder,” California Psychologist (November/Dezember 1999): 52.

N. 7          H. Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive Periods to the Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin Receptors.”

N. 8          A. J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter Programming of Postnatal Receptor Function.“

N. 9          Ibid.

N. 10        Ibid.

N. 11        H. Rosengarten, E. Friedmann und A. J. Friedhoff, „Sensitive Periods to the Neuroleptic Effect of Halperidol to Reduce Dopamin Receptors.”

     
  
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