DIE BIOLOGIE DER LIEBE II
 

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DR. ARTHUR JANOV:    

DIE BIOLOGIE DER LIEBE    

TEIL II

LEBEN IM MUTTERLEIB, ERINNERUNG UND EINPRÄGUNG

 

___________________

 

KAPITEL 8

 

DIE EINPRÄGUNG DER ERINNERUNG

___________________

 

Ich verwende in diesem gesamten Werk den Begriff Einprägung, um zu beschreiben, wie Ereignisse dauerhaft in das Nervensystem eingraviert werden und wie die Auswirkungen überall im übrigen Körper zu spüren sind. Aktivierende Substanzen wie die Katecholamine, einschließlich Dopamin, liefern den „Klebstoff“ für die Einprägung. Strukturen des Limbischen Systems und des Hirnstamms, in die frühe Traumen eingeprägt werden, sind reich an Dopamin, besonders wenn sich die rechte Hemisphäre mit tiefer gelegenen Strukturen verbindet. Der Locus caeruleus, eine Struktur des Hirnstamms, ist eine dieser Strukturen. Das Gehirn benötigt Dopamin für synaptisches Wachstum. Ein Mangel an diesem Hormon bewirkt, dass das Gehirn weniger fähig ist, gewisse Aufgaben wie Erinnerung, motorische Fertigkeiten und Koordination zu bewältigen. Großer Stress über einen längeren Zeitraum scheint Dopaminzellen „ausbrennen“ zu lassen. 

Die Einprägung kann jederzeit nach den ersten paar Monaten der Schwangerschaft stattfinden, wenn das Nervensystem des Fetuses noch ziemlich unversehrt ist. Es geschieht primär während der kritischen Periode, wenn sich die Nervenzellen des Gehirns in hohem Tempo entwickeln und bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden müssen.1 Die Einprägung verursacht tiefgreifende Veränderungen in vielen Vitalsystemen, von der Herzfrequenz bis zum Blutdruck, von der Körpertemperatur bis zur Sekretion schmerzstillender Gehirnsubstanzen wie Serotonin. Es ist möglich, dass man im Mutterleib unter Schmerz steht, und dass dieser Schmerz für immer als separate Erinnerung deponiert wird. Der Fetus macht Bewegungen, als wolle er schreien, er kann zucken und im Falle eines Angriffs das Gesicht verziehen.   

 

 

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Die zentrale, am Lebensanfang eingeprägte Erfahrung strahlt aus und umfasst alle Arten von Reaktionen - viszerale, muskuläre, vaskuläre, und so fort. Die Einprägung ist das Ergebnis des „Urknalls“, der vielleicht um die Zeit der Geburt oder vorher geschah. Im Alter von vierzig können wir die Nackenspannung und den Spiegel von Stresshormonen messen, und wir finden die Auswirkungen jener schmerzhaften Explosion. Wir sehen die Resultate Jahre später bei Blutgefäß–Problemen oder viszeralen Reaktionen, wie zum Beispiel bei der Sekretion von Magensäure. Wir können die weitgestreuten Begleiterscheinungen der Explosion behandeln; zum Beispiel physische Manipulation von Kiefer­spannung, aber diese Folgen zu behandeln bedeutet, dass der Körper ein anderes Ventil finden wird, da sich die explosive Kraft noch immer im Kern des Systems befindet. Wenn man den frühen Urknall (das Haupttrauma) wiedererlebt, kommt es oft zu einem dauerhaften Rückgang bei physiologischen Werten wie dem Kortisolspiegel. Daher wissen wir, dass der Urknall ein Leben lang andauert und dass er die Ursache von Spannung und Stress ist, die Jahrzehnte später auftreten.

Die Einprägung ist verantwortlich für eine Veränderung in der Anzahl synaptischer Verknüpfungen, für eine Verdickung bestimmter Neuronen und für eine Zunahme der Dendriten (die Nachrichten von anderen Nervenzellen empfangen. In einem komplizierten Prozess begründet all das die Entwicklung einer Erinnerungsspur, wobei die Einprägung ihre Tentakeln durch das ganze Gehirn ausbreitet. Die Kraft oder Valenz des Traumas wird zur Kraft der Einprägung. Diese Energie ist ihr Motor und verteilt sich auf viele Orte des Gehirns. Das Ereignis wird nun bestimmten Neuronen eingeprägt, die sich mit anderen verwandten Neuronen verbinden und ausgeformte Bahnen bilden. Sie haben dann eine „Komplizenschaft“; sie verstehen einander und reagieren aufeinander mehr als auf andere Neuronen. Wenn sie zusammen feuern, dann verdrahten sie sich miteinander. Sie verstehen den Kode, der sie bindet, und wenn später ähnliche Ereignisse geschehen, ein angewiderter Blick eines anderen oder eine kalte, abweisende Reaktion eines Freundes, dann reagieren die kodierten Neuronen erneut und erzeugen Furcht und Angst. Diese Kodes sind die internen Repräsentanten, die ausgelöst werden, wenn ähnliche Gefühle wachgerufen werden. Sie erzeugen die Überreaktivität bei sogenannten übertriebenen Reaktionen auf Dinge, die eigentlich eine Kleinigkeit sind. Die Arbeit des Psychiaters William Gray vom Newton Center in Massachusetts, die sich mit Kodierung auseinandersetzt, wird im Brain-Mind Bulletin diskutiert: „In der Kindheit erfahren wir ein grundlegendes Sortiment globaler Gefühle wie Zufriedenheit, Zurückweisung, Zorn und Furcht. Genau wie die Farben Rot, Gelb und Blau in Millionen Farbtönen ineinander übergehen, differenzieren sich diese primären Emotionen durch die Erfahrung in Myriaden von Gefühlstönen.“ 2  Diese Emotionen bilden eine Verknüpfung und verschlüsseln alle Elemente und ähnlichen Szenen miteinander.

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Sie werden als neuroelektrische Wellenformen verschlüsselt, die durch vergleichbare Frequenzen neuer Erfahrungen hervorgerufen werden. Neue Erlebnisse, welche dieselbe Art von Gefühl oder Empfindung an sich haben, lösen die gesamte Traumenkette bis hinab zur Geburt und zuvor aus. Das ist eine Möglichkeit, wie Erinnerungsspuren ausgelöst und rückübertragen werden. Die Gefühlstöne, so sagen sie, „werden im Limbischen System ausgebrütet.“ Auf diese Weise werden Myriaden verschiedener Erfahrungen unter derselben Rubrik zusammengefasst. Wir haben einen Weg gefunden, den Kode abzuhören.

Die Einprägung geht einher mit starkem Blutfluss, hohem Stresshormon–Spiegel und Dopaminausstoß und hoher metabolischer Aktivität des präfrontalen Kortexes. Alle Systeme beteiligen sich daran, das Gefühl zu einer lebenslangen Lernerfahrung einzuprägen. Eines schönen Tages spürt das Kind, dass es nicht geliebt wird, und so wird es in der Tat betrachtet; als jemand, den man meidet. Das Gefühl wird eingeprägt, ohne dass notwendigerweise Gedanken artikuliert werden müssten. Das Kind darf kein Geräusch von sich geben oder Forderungen an Eltern stellen, die wirklich keine Kinder wollen. Es muss nicht einmal darüber nachdenken, wie es handeln soll; die Einprägung erledigt das. Auf diese Weise fühlt es sich unerwünscht, ungeliebt.

Ein Kind fühlt, dass es nicht geliebt wird. All das kann durch elterliches Verhalten ausgelöst werden: durch den Mangel an Wärme, wenn sie sich dem Kind zuwenden, durch Ungeduld, Gereiztheit und Mangel an Augenkontakt. Die Eltern können genauso unbewusst sein wie das Kind. Das Gehirn fühlt die Zurückweisung ohne offensichtliche volle Bewusstwerdung. Im Alter von drei Jahren weiß es bereits, wie es reagieren muss, vielleicht nicht mit dem Verstand, aber auf Grundlage der ursprünglichen Reaktion, besonders wenn diese Reaktion lebensrettend war. Schlimmer noch, das Gehirn wird allmählich in seinem Wachstum und seiner Funktion geschwächt, und das alles wegen des Gefühls, nicht geliebt zu werden.

Die lange Geschichte der Erinnerung

Einprägen bedeutet, eine Erinnerung in jeden Aspekt unseres Seins einzuschleusen: in die Blutgefäße, Muskeln, Nervenzellen und Hormone. Jedes Subsystem graviert die Erinnerung auf seine Weise ein – eine Veränderung in den Blutplättchen, weniger Zellen, die Serotonin produzieren, und so fort. Die Auffassung eingravierter Erinnerung zu akzeptieren bedeutet, dass sich Psychotherapie von einer Therapie der Erscheinungen (Phänotyp) zu einer Therapie der Ursachen (Genotyp) wandeln wird. Deshalb würde sich fast jede Technik ändern, wenn diese Konzeption erst einmal der therapeutischen Psyche einverleibt ist. Es bedeutet, dass Erinnerung andauert, eine bleibende Wirkung auf unsere Neurobiologie hat und die Struktur dieser Neurobiologie und unser späteres Verhalten ändern kann. Der Ansatz der Medizin würde ebenso radikaler Veränderung unterliegen. Wir würden nicht nur auf gegenwärtigen Stress schauen, um eine Herzattacke zu erklären, sondern auch in die Kindheit.  

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Es ist die frühe Einprägung, die Wahrnehmung entstellt und spätere Erfahrungen im Erwachsenenalter kanalisiert. Einige Ehemänner sehen in ihren Frauen nach der Geburt ihres Kindes eher Mütter als Frauen und Geliebte. Die Ehefrauen könnten durch diese veränderte Wahrnehmung frustriert werden und beschließen zu gehen, und der Mann steht wieder ohne „Mutter“ da, wie damals, bevor er heiratete. Jemand, der sich in der Öffentlichkeit entblößt, bis er festgenommen wird, macht das, weil er eine emotionale Reaktion sucht, die er als Kind von seinen Eltern nicht erhalten hat. „Schau mich an!“ „Reagiere auf mich!“ „Zeig etwas Gefühl!“ – und Schock zeigt Gefühl. Er benimmt sich auf diese Weise, weil er in der Vergangenheit lebt und von seiner Geschichte und Erinnerung gezwungen wird, frühe kindliche Bedürfnisse auszuagieren. Seine Einprägung dominiert. Einprägungen dominieren die meisten von uns und unser Verhalten. Das ist ein wichtiger Punkt, wenn wir unsere Symptome verstehen wollen. Ohne die Konzeption der Einprägung sind wir gezwungen, uns mit dem gegenwärtigen Symptom so zu beschäftigen, als sei es die Krankheit; meistens ist das nicht der Fall.

Zwei der Hormone, die den Zugang zur Einprägung und ihren verdrängten Gefühlen blockieren, sind Adrenalin und Noradrenalin (die Katecholamine). Sie wirken sich auf den denkenden, integrierenden Kortex aus und helfen, das Niveau der Aufmerksamkeit oder Wachsamkeit zu regulieren, die der frontale Kortex ausübt. Wenn die Eingaben zu stark sind, macht der Kortex Überstunden, um sie zurückzudrängen. Die hydraulische Analogie von Sigmund Freud (hier drückst du, und dort kommt’s heraus) wurde in den ersten Jahren der Psychoanalyse kritisiert, aber es stellt sich heraus, dass sie gar nicht so ‚daneben’ ist. Der Druck aufgrund der Einprägung ist die ganze Zeit da und muss einen Ausgang finden. Die Energie marschiert in den frontalen Kortex und führt dort zur Bildung von Zwangsvorstellungen, und sie macht sich auf den Weg in den Körper via Hypothalamus, wo sie Herzrasen verursacht. Das Ergebnis: eine mystische, hyperaktive Person, die an Herzsymptomen leidet. Wenn genug Energie „somatisiert“ werden kann, steht weniger für Denkstörungen zur Verfügung. Der Mensch geht zum Kardiologen wegen des Herzrasens und zum Psychologen wegen der obessiv–zwanghaften Gedankenbildung – und beide Symptome können mit genau der gleichen Medizin behandelt werden.......Schmerztötern. Beide erfordern Beruhigung und den Aufbau von Abwehr. Das sind Linderungsmittel, aber sie können funktionieren, weil sie ein mangelhaft verdrängendes Schleusensystem normalisieren, das für beide Leiden verantwortlich ist.  

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Neulich stand eine Geschichte in der Zeitung über einen auf Bewährung entlassenen Sexualstraftäter, der klagte, weil der Staat sich weigerte, ihm seine Beruhigungsmittel zur Kontrolle seines Hangs zu jungen Mädchen zu genehmigen. Der Staat empfahl diese Medikamente zur Kontrolle sexueller Impulse. Warum? Hier geht man stillschweigend davon aus, dass Schmerz die Ursache ist. Stelle den Schmerz ruhig und du blockierst oder kontrollierst den Impuls. Dennoch wird selten anerkannt, dass Schmerz einen zum Ausagieren treibt. Der Staat ist noch nicht so weit zu begreifen, dass es notwendig ist, den Schmerz zu entfernen und nicht nur einfach zu kontrollieren. Es ist ein kleiner aber dennoch sehr großer Schritt.

Eine meiner Patientinnen nahm Pillen gegen hohen Blutdruck und Schmerztöter; sie senkten ihren Blutdruck, aber am nächsten Tag hatte sie eine Migräne. Es ist die „Verabredung in Sumatra“. (Es gibt eine alte Sage über jemanden, der flieht, um den Besuch des Sensenmannes zu vermeiden. Er beschließt nach Sumatra zu gehen, nur um zu entdecken, dass der Tod seine Pläne geändert hat und beschlossen hat, nach Sumatra zu gehen.) Wohin auch immer wir uns wenden, der Schmerz wartet auf uns. Wir unterdrücken ihn hier, und dort taucht er auf. Wir reisen nach Amerika, um „von all dem loszukommen“, und dort ist er wiederum. Wir gehen in die Berge, um uns selbst zu finden und was finden wir? Schmerz. Korrektur. Wenn unser Abwehrsystem noch funktioniert, finden wir keinen Schmerz, sondern mystische Ansichten, mit denen wir ihn ersticken. Wir glauben, wir hätten gerade einen magischen Augenblick erlebt; weil es funktioniert, fühlen wir uns besser.

Es gibt drei kritische Faktoren, wenn eine Einprägung erzeugt wird: die Menge des Inputs, die Reaktion auf den Input und seine zeitliche Steuerung. Alle drei Faktoren konvergieren und schaffen eine dauerhafte Erinnerung, die unsere Neurophysiologie verändert. Wir müssen daran denken, dass ein Teil der Einprägung die Reaktion darauf ist, welche ebenfalls andauert. Der Schmerz und seine Reaktion bilden eine dialektische Einheit. Sie bestimmt die Hartnäckigkeit späteren Verhaltens: zum Beispiel andauernd ein Thema zu diskutieren, das abgetan und erledigt sein sollte. Andere Beispiele beinhalten Paranoia oder schwere Eifersucht mit zwanghaftem Verhalten, das keine Grenzen kennt, die Unfähigkeit den Schmerz der Zurückweisung hinzunehmen und das Bedürfnis, immer und immer wieder um Akzeptanz und/oder Liebe zu kämpfen. Das am weitesten verbreitete Beispiel ist natürlich die Unfähigkeit, einzugestehen, dass wir Unrecht haben.

Wenn ein Trauma ganz früh eingeprägt wird, auch schon vor der Geburt, dann ist es der Hirnstamm, der sich damit beschäftigt. Er aktiviert und motiviert auf genau die Art und Weise, wie die Einprägung abgelegt worden war: wie zum Beispiel das Winden und Drehen, das mit der Steißgeburt einhergeht. Mit der weiteren

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Entwicklung des Gehirns bricht diese präzise Erinnerung – unzureichend geschleust aufgrund ihrer schweren Schmerzlast – in limbische Strukturen durch, wo sie symbolische Verkleidung annimmt. Nun fängt die Person an, Albträume zu erleben, in denen sie in einer Waschmaschine hin- und hergedreht wird (tatsächlich ein wiederkehrender Albtraum eines meiner Patienten, bis er seinen Ursprung fühlte). Die anatomische und viszerale Einprägung ist nun in Bilder übersetzt worden. Es ist dieselbe Erinnerung mit derselben Kraft wie die Hirnstamm – Einprägung, die im Gehirn nach oben auf höhere Bewusstseinsebenen gewandert ist; deshalb hat der Traum oder Albtraum so enorme Wucht. Er ist einfach eine Verkleidung für eine frühe Begebenheit. Grundsätzlich gilt, wenn ein wiederkehrender Traum oder Gedanke eine Empfindung beinhaltet – Drücken, Quetschen, Ersticken oder Ähnliches -, dann können wir sicher sein, dass der Hirnstamm beteiligt ist.

Der Grund, warum eingeprägte Reaktionen auf frühen Liebesmangel fortbestehen, liegt darin, dass sie eine Schablone erstellen für zukünftiges Verhalten, besonders für die Reaktion auf Stress. Ein Patient von mir, ein hart arbeitender Mann, scheiterte vor dem Stadtrat mit seinem Antrag, einen Sport- und Saunakomplex zu errichten. Anstatt einzusehen, dass weiterzumachen sinnlos war, blieb er dabei, Appell um Appell, alles ohne Nutzen und mit großen Kosten für ihn selbst. Seine Reaktionen entstammten der Vergangenheit, und er erkannte die Lage nicht, weil er den Zusammenhang nicht sehen konnte. Alles, was er wusste und erwartete, war, dass ständiger Kampf sein Leben retten würde. Seine frühe Erfahrung bei der Geburt hatte zu bleibenden Veränderungen in seinem Wahrnehmungsapparat und seinem Neurotransmitter–System geführt. Er hätte innehalten sollen, über seine Situation nachdenken und die Folgen seiner Handlungen abwägen sollen, aber er konnte nichts dergleichen tun wegen seiner fixierten Schablone, die bei der Geburt errichtet worden war und ihm sagte: „Halt drauf, wenn du leben willst. Mach weiter, egal welche Hindernisse kommen, weil der Tod auf dich lauert.“  Das ist die Formel, die hinter seinem Antrieb steckte. Aufhören und Aufgeben hätte buchstäblich den Tod bedeutet. Die Einprägung trieb ihn an. Bevor ich das Geburtstrauma vollständig erklärt habe, wird es schwer sein, diese Vorstellungen zu akzeptieren; deshalb bitte ich um Geduld.

Wenn Einprägung stattfindet, verkümmern andere nicht einbezogene Areale des Gehirns und degenerieren mit der Zeit. Die Einprägung steuert die Gehirnentwicklung, um Ressourcen bereit zu stellen, wo sie benötigt werden; mehr Synapsen in bestimmten Bereichen und weniger in anderen. Im Wesentlichen wird ein neues Gehirn aufbebaut. Beim Wiedererleben früher Szenen ist der Patient „dort zurück“. Seine Gehirnwellen sind so beschaffen, dass wir nicht sagen können, ob das Ereignis jetzt geschieht oder einfach eine Erinnerung ist.  

 

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Erwachsene können durch die Einprägung der Hypoxie (niedriger Sauerstoff–Status) bei der Geburt permanent beeinflusst werden. Wachsam und auf der Hut zu sein ist ein natürlich-adaptiver Zustand für angemessenes Funktionie­ren, viel mehr, als energielos zu sein. Das Problem ist, dass viele von uns wegen des hohen Grades innerer Bedrohung zu wachsam und zu sehr auf der Hut sind. Wir sehen Gefahr, wo gar keine ist, oder wir übertreiben die Gefahr, weil wir bereits in einem überwachsamen, angsterfüllten Zustand sind.

Wenn ein größeres Trauma existiert, ist der Hypothalamus beteiligt. Er ist als „gemeinsame Endbahn“ zu den inneren Organen bekannt und übersetzt fehlende Liebe in körperliche Symptome. Er unterstützt den Prozess der Einprägung durch die Freisetzung von Kortikotropin. Dieses Stresshormon aktiviert das sympathische Nervensystem. Diese Aktivierung hilft, die Einprägung zu besiegeln. Es sind die aktivierenden Hormone, die den Klebstoff für fortdauernde Erinnerung liefern. Sie sorgen für die nötige Energie, um ein Gefühl in den Gehirnsystemen zu verankern. Sie liefern den „Schock“ für das System, zwingen es zur Aufmerksamkeit und schließen die Erinnerung ein. In dialektischer Manier veranlassen die Stresshormone auch die Sekretion einer morphinähnlichen Substanz, um uns vom vollen Bewusstsein des Gefühls abzuschirmen („Sie werden mich niemals lieben“). So setzen wir Stresshormone frei, die alarmieren und mobilisieren, und Opiate, die dieselbe Mobilisierung regulieren und unterdrücken, alles im gleichen Augenblick. Würde dies nicht geschehen, so hätten wir eine unverminderte Fluchtaktivierung.

Hier sei nur gesagt, dass wir Sicherheitssysteme haben, um die Sicherheitssysteme zu sichern, und das alles, um das physiologische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, wie zum Beispiel die Körpertemperatur, Blutdruck und geistige Prozesse. Wir müssen Sicherheitssysteme haben, um zu gewährleisten, dass unsere übermäßigen Reaktionen nicht unser Leben bedrohen.

Ganz allgemein kann die Einprägung jemanden dazu bewegen, eine gefühlskalte Frau zu finden und darum zu kämpfen, sie fürsorglich und warmherzig zu machen. Wenn sie der mütterliche Typ ist, haben wir Glück; wenn nicht, so ist die Scheidung abzusehen. Dieser ganze Prozess spielt sich unbewusst ab, weil das Bedürfnis und die Einprägung unbewusst sind.

Wir haben die Einprägung betrachtet und ihre lebenslangen Auswirkungen. Nun werden wir unsere Aufmerksamkeit jener Art universeller Traumen zuwenden, denen die Tendenz zur Einprägung eigen ist. Angesichts der Vorgehensweise bei der Geburt, wie sie überall in der westlichen Welt praktiziert wird, ist der Mangel an Sauerstoff bei der Geburt ein solches Trauma. Es ist zweifelsohne sonderbar, einen Mangel an Sauerstoff als einen Mangel an Liebe aufzufassen, aber es ist so. Vielleicht ist es das wichtigste frühe Bedürfnis im Sinne der Gehirnentwicklung. Ein Kind mag zirka einen Tag ohne Wasser aushalten, aber es steht nur wenige

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Minuten ohne Sauerstoff durch. Es ist möglich, diesen Sauerstoffmangel wiederzuerleben, und dieses Wiedererleben hat ungemein radikale Wirkung, vom Ende der Migräne bis zur Senkung des Blutdrucks und Einschränkung der Drogensucht.

Die Bedeutung der kritischen Periode und der Einprägung  liegt in ihrer Unabänderlichkeit. Wenn etwas einmal während der kritischen Periode verankert worden ist, so ist es für immer da, in dem Sinne, dass wir nicht ausgleichen können, was mit uns während jener Zeit geschah; es sei denn, es gäbe einen Weg, seine Kraft und einige seiner Wirkungen ungeschehen zu machen. Die kritische Perioden und die Einprägungen sind wahrlich das Leitmotiv  dieses Buches. Es bedeutet, dass das, was mit uns im späteren Leben geschieht, hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung weniger wichtig ist als das, was in der kritischen Periode geschah, als sich das Gehirn formte. Wir übersehen es auf unsere eigene Gefahr; denn ohne das Verständnis der kritischen Periode und der Einprägung können wir das Einsetzen von Herzattacken, Schlaganfällen, Alzheimer und anderer ernsthafter Leiden niemals voll begreifen. Diese Einprägungen sind die verborgenen generierenden Quellen so vieler späterer Probleme. Frühe Traumen verdrehen und verkrümmen unsere Biologie, so dass sie permanent abweicht; zu viel Stresshormon, nicht genug Schilddrüsenhormon, zu wenig Serotonin, und so weiter.

Die kritische Periode ist eine Straße mit Gegenspur. Wenn eine Mutter keine Gelegenheit hat, in dieser Zeit „Mutter“ zu sein, wird sie Schwierigkeiten haben, später eine Mutter zu sein. Wenn ein Ziegenkitz von seiner Mutter getrennt wird, ehe es geleckt wird, und es ihr dann später zurückgegeben wird, scheint die Mutter nicht mehr ein noch aus zu wissen und hat „keinerlei verhaltensmäßigen Ressourcen mehr ihrem Neugeborenen gegenüber.“ 3

Michel Odent diskutiert weitere Forschungsarbeiten, um diesen Punkt zu betonen: Wenn ein Lamm bei der Geburt von seiner Mutter getrennt wird und die Trennung länger als vier Stunden dauert, dann kümmert sich die Hälfte der Mütter hinterher nicht um ihre Jungen. Wenn aber die Trennung erst nach einem Tag stattfand, bestand das Problem nicht. Die kritische Periode unmittelbar nach der Geburt war vorüber. Wenn diese Mütter epidurale Injektionen mit Betäubungsmittel erhielten, um die Geburt zu erleichtern, so kümmerten sie sich nachher nicht um ihre Jungen. Mütter brauchen ihre Babys genauso während der kritischen Periode. Wenn sie in der kritischen Periode nicht lieben können, scheinen sie einiges an späterer Liebesfähigkeit zu verlieren. Kurz gesagt kann auch Müttern die Fähigkeit, zu lieben oder nicht zu lieben, eingeprägt sein. Falls sie keine Mütter sein können, wenn sie es sein sollten, so gibt es einen biologischen Mechanismus, der sie daran hindert, später gute Mütter zu sein. Hierin liegt vielleicht eine wichtige Lektion.


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Quellenverweise und Anmerkungen

 

N. 1                B. Bolon und St. Omer, „Biochemical Correlates for Behavioral Deficits Induced by Secalonic Acid D in Developing Mice,“ Neuroscience and Biobehavioral Reviews 16                (1992):    171-75.

N. 2                William Gray, “New Theory: Feelings Code, Organize Feeling,” Brain-Mind Bulletin (8. März 1982): 1.

                N. 3                 Michel Odent, The Scientification of Love (London, Free Association Books, 1999), Seite 7. Deutsche Ausgabe: Michel Odent, Die Wurzeln der Liebe – Wie unsere                wichtigste  Emotion  entsteht,  Düsseldorf, Walter Verlag, 2001

 

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KAPITEL 9
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WIE DER KODE DER ERINNERUNG ENTSCHLÜSSELT WIRD
____________________



Die Fähigkeit des Gehirns, Schmerz wahrzunehmen und zu verschlüsseln, beginnt gleich nach dem dritten Monat der Schwangerschaft, wenn bereits ein primitives Nervensystem existiert. Der Unterschied zwischen dem Zugang zu der kodierten Einprägung und dem verbalen Erinnern eines Ereignisses besteht darin, dass jemand sich in genau dem neurophysiologischen Zustand befindet, in dem er oder sie ursprünglich war, wenn er oder sie die Einprägung erlebt. Diese Art von Erinnerung kann nicht vorgetäuscht werden. Der Kode der Erinnerung kann in elektrischen Frequenzen und in der chemischen Zusammensetzung liegen. Neuronen in verschiedenen Teilen des Gehirns beteiligen sich an dem Kode und reagieren als Ganzheit, als Nervennetzwerk. Jene Aspekte des Gehirns, die für die Reaktion auf das Trauma nicht notwendig sind, verblassen oder verkümmern. Die Erinnerung wird „eingekerbt“, so dass die Gesamtheit der Reaktionen wieder erscheinen kann, wann immer auch nur ein oberflächliches emotionales Ereignis geschieht. Das kommt daher, dass die meisten–wenn nicht alle–unserer gegen­wärtigen Gefühle Weiterentwicklungen der grundlegenden Empfindungen sind,  welche tief im Gehirn organisiert werden. Einprägung bedeutet nicht nur die Schaf­fung neuer Synapsen, sondern auch die Beseitigung von solchen, die nutzlos ge ­worden sind. Die ständige Benutzung einer Bahn oder eines Schaltkreises  erhöht  die Wahrscheinlichkeit, dass er immer wieder verwendet wird, und so wird es wahrscheinlicher, dass wir ein Verhalten wiederholen. Die Persönlichkeit bildet sich um diese stetigen Reaktionen herum. Es ist meine klinische Beobachtung, dass Leute, die schon ganz am Anfang an fehlender Liebe litten, vielleicht weil sie Wochen in einer Anstalt verbrachten, geschwächte soziale Fähigkeiten haben und Bindungen nicht leicht eingehen können. 

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Das kann sich schon lange ereignet haben, bevor das Kind die Sprache gebrauchen kann. Es kann ein brillanter Psychiater werden und dennoch nicht fähig sein, mit anderen Beziehungen einzugehen. Es  kann als Erwachsener durchaus zu anderen gravitieren, die auch nicht fühlen und nicht lieben können.

In Patienten, die frühe Szenen wiedererleben, erwacht das gesamte Spektrum der Erinnerung wieder zum Leben: die Gerüche, die Bilder, Stimmen und Worte. Alles das steigt gemeinsam auf und gelangt zur Verknüpfung. Es ist total, nicht nur zerebral; es ist diese Totalität der Erfahrung, die zu tiefgreifender Veränderung führt.

In einem Urerlebnis wird das ganze Gemälde der Erinnerung wieder lebendig und verknüpft sich schließlich mit dem frontalen Kortex. Manchmal ist nur ein Aspekt der Erinnerung offensichtlich – schneller Herzschlag. Ein Mensch kann an einem zusätzlichen Herzschlag (Extrasystole) leiden oder an plötzlichem Herzklopfen. Es schlägt zu, wenn die Abwehr geschwächt ist. Aber diese Reaktions-Bruchstücke sind immer noch Teil einer Gesamterinnerung. Auf Grund der Spaltung und Verdrängung kommen nur Aspekte der Erinnerung durch: die primitivsten Überlebensreaktionen wie Herzschlag und Blutdruck. Das sind grundlegende, unverfeinerte Aspekte der Erinnerung.

Der hohe Spiegel an Katecholaminen, der den „Urknall“ (die ursprünglichen Traumen auf Leben und Tod) wie zum Beispiel das Geburtstrauma begleitet, hilft dabei, die Informationen auf weit gestreute Bereiche des Gehirns – einschließlich des Hirnstamms – zu verteilen, so dass ein großer Teil des Gehirns in seine eigene Verteidigung verwickelt sein kann. Der Angreifer ist die Erinnerung und ihre Leidenskomponente. Abwehr blockiert die Bewusstheit von Leiden. Wenn wir uns in der Gegenwart gekränkt fühlen, greift das gesamte Gehirn in den Kampf ein, weil unterschiedliche Aspekte der Erinnerung vom zentralen Nervensystem zusammengeführt werden. Die versammelten Neuronen verschlüsseln, speichern und reagieren auf Eingaben im Mutterleib. Deswegen können wir aus einem leicht verärgerten Blick von jemanden in der Gegenwart eine Migräne entwickeln. Oder wenn das ursprüngliche Hirnstammtrauma äußerste Hilflosigkeit angesichts überwältigender Umstände bei der Geburt (massive Anästhesie) war, dann taucht die unartikulierte Hilflosigkeit wieder auf, wenn jemand wieder in eine ähnlich hilflose Situation versetzt wird, zum Beispiel wenn er von starren Regierungsverordnungen eingeschränkt wird, ein Ereignis, das normalerweise nicht so schrecklich ist. Begleitet wird sie vielleicht von Herzklopfen oder Migräne. Die „Kränkung“ ist in Strukturen des Hirnstamms verankert. Wenn die Verletzung die Schmerzkette hinabwandert, ruft sie alle ursprünglich mit dem ersten großen Trauma in Bezug stehenden Reaktionen hervor.....in diesem Fall das Zusammenziehen und Erweitern von Blutgefäßen, das durch Geburts-Anoxie verursacht worden war.  

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Demzufolge behandelt ein Doktor eine Migräne bei einem Patienten von vierzig Jahren, während die ganz frühe Ursache vierzig Jahre alt ist. Es ist kein Wunder, dass Ursachen so schwer zu finden sind. Wenn ein anderer sich aufmacht, um die Ursache zu finden, so wird man sie niemals finden; nur die leidende Person selbst kann sie finden. Und sie kann es niemals vorsätzlich. Es wird widersprüchlich, wenn man versucht, unterhalb des Kortexes zu gelangen, indem man den Kortex benutzt.

Wenn Ärzte ein analytisches Bluttestverfahren an einem Fetus durchführen, indem sie eine Nadel durch die Haut einführen, steigen die Katecholaminwerte als Reaktion auf den Schmerz beträchtlich an. Erleidet ein Fetus Schmerz, wenn er reagiert, es jedoch nicht in Worte fassen kann ? Natürlich. Sein Stresshormon-Spie­gel steigt um etwa 600 Prozent als Reaktion auf die Nadelpunktur.1 Und er reagiert!.......für immer. Die Antwort auf den Stress wird nun kodiert und dauerhaft gespeichert. Die Katecholamine katalysieren die Einprägung, bevor das Baby geboren wird. Deshalb ist es möglich, fürs Leben gezeichnet zu sein, noch ehe wir unsere Eltern zum ersten Mal sehen. Unsere Reaktionen auf unsere Eltern können abgestumpft sein, nicht wegen ihres Verhaltens, sondern aufgrund der Zeit im Mutterleib.

Wie die Neurobiologin Lise Eliot herausgefunden hat, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Leibesfrucht einer Mutter, die unter Stress steht und hohe Katecholaminwerte hat, an Wolfsrachen leidet. Katecholamine schränken den Blutstrom zum Fetus ein und senken dadurch seinen Sauerstoffpegel. Es ist auch möglich, dass chronisch hohe mütterliche Katecholaminwerte vielleicht die Sollwerte deregulieren, so dass das Baby selbst sein ganzes Leben lang einen anderen Pegel aufweist. Zum Beispiel kann es tatsächlich leichter erregbar sein; es kann eine niedrigere Frustrationstoleranz haben, reizbarer und ungeduldiger sein. Weil das Endokrinsystem, wie ich gezeigt habe, ein System ist, können höhere Kortisol- und Katecholaminwerte die Testosteronwerte des Babys verändern. Wir wissen, dass Stress den Wert bei Männern senkt, aber ich glaube, dass eine gestresste Mutter den Wert in ihrem männlichen Nachkommen senkt. Das Ergebnis kann ein leicht feminines männliches Kind sein. Fügen Sie nun eine distanzierte, unnahbare Mutter hinzu, und das Resultat ist vorhersehbar. (In Kapitel 18 erörtere ich diesen Punkt ausführlich).

Lise Eliot hat aufgezeigt, dass die Katecholamine in Erwachsenen und Babys unterschiedlich reagieren: „Während Katecholamine einen Erwachsenen zum Kampf mobilisieren, indem sie den Herzschlag erhöhen und den Blutfluss zu den Muskeln verstärken, haben sie auf kleine Babys entgegengesetzte Wirkung, indem sie ihren Herzschlag senken, die Atmungsaktivität verlangsamen, ja sogar bestimmte Bewegungen lähmen.“ 2  Kaiserschnitt–Babys erhalten nicht den Katecholaminschub, den vaginal entbundene Babys bekommen, und das macht einen Unterschied hinsichtlich der Frage, ob später Atmungsprobleme auftauchen oder nicht. Eliot berichtet, dass die Vaginalgeburt beim Baby ein größeres Wohlgefühl hinterlässt, vielleicht aufgrund der höheren Stoffwechselrate.  

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Ein jüngst erschienener Bericht über die Langzeiteffekte früher Traumen von Forschern an der School of Medicine der Washington Universität zusammen mit dem British Columbia Children’s Hospital und Arkansas Children’s Hospital 3 besagt auszugsweise: „Es zeigte sich, dass Schmerz und Stress in Neugeborenen physiologische und verhaltensbezogene Reaktionen induzieren, auch bei Frühgeburten.“ Fran Lang Porter, Forschungsleiter, fährt fort: „Es gibt Beweise, dass diese Ereignisse nicht nur Veränderungen herbeiführen, sondern dass daraus bleibende strukturelle und funktionale Veränderungen resultieren können.“ (Betonung von mir) Es hat etwa dreißig Jahre gedauert, bis die Forschung mit unseren klinischen Beobachtungen gleichgezogen hat, aber immer mehr Informationen führen zu dem Schluss, dass es in der Tat infolge frühen Traumas andauernde Veränderungen in unseren Systemen gibt, einschließlich dem Gehirnsystem. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass Kleinkinder und Föten Schmerz wahrnehmen können und dass jene Kleinkinder, die beschnitten werden (etwas, das ich in der Kleinkindphase ablehne, wenn das Baby aus ihm nicht ersichtlichen Gründen verletzt wird), schmerzstillende Mittel brauchen. Frühgeborene Kinder, so berichten sie, die während der Schwangerschaft und Geburt verschiedenen Traumen ausgesetzt waren, waren als Babys im Alter von 18 Monaten weniger reaktionsfähig. Beschnittene Jungen reagierten später stärker auf den Schmerz einer Schutzimpfung als nicht beschnittene. Und was sie finden, ist etwas, das ich nachdrücklich betont habe: „Es gibt Beweise, dass die Erinnerung an den Schmerz auf einer biologischen Ebene aufgezeichnet werden kann.“ 4

All dies bedeutet, dass Ereignisse auf der physiologischen Ebene registriert werden, bevor intellektuell abrufbares Gedächtnis möglich ist. Das wiederum erklärt, wie  gewisse Anfälligkeiten im Mutterleib geschaffen werden, die einige von uns stark auf Stimuli und andere überhaupt nicht reagieren lassen. Eine gewisse Art von Leblosigkeit kann bei der Geburt eingeprägt werden, so dass alle späteren Reaktionen abgestumpft sind. In stark depressiven Patienten sehen wir diese Abstumpfung, verminderter Affekt genannt. Es ist nicht so, dass die Person keine Gefühle hätte; vielmehr sind diese Gefühle verdrängt.

In Hinsicht auf Stress bei Kleinkindern sagt der UCLA-Professor für Neuropsychologie, Allan Schore: „Dieser psychoneurologische Mechanismus kann die Effekte vermitteln, durch die Situationen, in denen ein Kleinkind emotionalen Traumata ausgesetzt ist, in sensorisch-affektiven, motorischen und emotional-instinktiven Aufzeichnungen der Erfahrung resultieren, die sich in die Neurotrans­mitter-Muster des Limbischen Systems eingeprägen. Dies kann zu permanenten Defiziten darin führen, die Emotionen von anderen zu lesen.“ 5  

 

 

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Anders gesagt kann man die Erinnerung an ein Trauma anhand der Veränderungen in den Neurotransmitter-Systemen des Gehirns beobachten. Die Einprägung - oder das frühe Trauma - verändert die Neurotransmitter, die Boten, die den Fluss wichtiger Informationen - wie Schmerz - zu kortikalen Orten der obersten Ebene, die uns unserer Gefühle bewusst machen, entweder erleichtern oder behindern.

Ein weiteres Ergebnis ist ein unterregulierter Kortex und später, als Resultat, manische Phasen. Beides, Depression und manische Phasen beinhalten ein hohes Energieniveau. Letztlich erfordert die Depression Anstrengung, um das Verdrängungssystem intakt zu halten. Manische Aktivität bedeutet, dass die Schleusen löchrig sind. Es ist nicht so, als seien Manie und Depression zwei unterschiedliche Krankheiten. Oft befassen sich beide mit derselben Einprägung. Nur herrscht im Falle der Depression effektive Verdrängung. In manischen Phasen ist das Verdrängungssystem defekt oder „leck“ und treibt den Menschen zu frenetischer Aktivität. Sie wechseln sich oft ab in ein und derselben Person. Wenn die Verdrängung einer explodierenden Kraft Platz macht, dann schreibt das manische Individuum Bände über rein gar nichts, kauft ein ohne Grenzen und redet wie ein Wasserfall. Diese explodierende Kraft kann Anoxie bei der Geburt sein.

Wir können diesen Zuständen alle möglichen phantasievollen Diagnosen verpassen, wie bipolares Leiden, aber es ist dennoch Schmerz und Trauma. Viel besser ist es, nachzuforschen, wie wirksam das Schleusensystem ist. Kriminelle, wie ich später erörtere, haben undichte Schleusen, was für ihre Impulsivität und ihr Ausagieren verantwortlich ist. Ihre kriminellen Ausschweifungen können manchmal als von Manie induziert betrachtet werden. Aber Manie ist keine Krankheit; es ist eine Art, wie wir auf zentrale Probleme reagieren. Wir haben zu viele manische Individuen behandelt, als dass wir anders denken könnten.

Wenn die Last ihres Schmerzes weniger wird, nimmt auch die Impulsivität und die manische Aktivität ab. Die Effektivität der Schleusen, wie ich im Kapitel über die Schleusung (Kapitel 14) erörtern werde, hängt weitgehend vom Geburtsprozess ab. Eine Kämpfen-und-Scheitern-Geburt, bei der massive Anästhesie (Betäubungsmittel) das System des Neugeborenen still legt, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Depression führen („Ich gebe auf. Ich kann nicht mehr.“). Der Manische mag eine Geburt gehabt haben, bei der massiver Kampf nötig war um herauszukommen, und er war erfolgreich. Aktivität wird als Überlebensmechanismus eingraviert. Das ursprüngliche Trauma setzt diese Aktivität in Bewegung. Er läuft vor der Einprägung davon, und er läuft wegen der Einprägung. Diese Schleusen sind vielleicht bei der Geburt errichtet worden, als ein Trauma die Entwicklung der sich neu formierenden präfrontalen Gehirnzellen störte, oder im Mutterleib. Das kann geschehen, wenn eine Mutter Missbrauch mit Valium oder mit anderen Schmerztötern betrieben hat. Wie ich aufgezeigt habe, „beschließt“ die fetale Physiologie,

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wenn sie in ihr System eingeführte Schmerztöter entdeckt, keine eigenen zu produzieren. Das Resultat kann die permanent mangelhafte Fähigkeit sein, Schmerz zu stillen.

Wenn die Stresshormon-Reaktion erhöht ist, kann sie andere Hormonsysteme permanent ändern. Männer, die über chronische Angst klagen, haben eine bis zu 600 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, den plötzlichen Herztod zu erleiden als diejenigen ohne Angst-Vorgeschichte. Wer deprimiert ist, stirbt mit dreifach erhöhter Wahrscheinlichkeit, wenn er oder sie eine Herzattacke erleidet. 6 Wir werden gleich sehen, wie früh diese Reaktionen beginnen. Hier sei nur gesagt, dass dieselbe Einprägung, die Angst erzeugt, später auch Herzstillstand verursachen kann. Herz- und Eingeweide-Reaktionen (Schmetterlinge im Bauch) werden als Gesamtheit kodiert. Es sind keine separaten Krankheiten sondern Teile desselben Syndroms. Es ist schwer vorstellbar, ängstlich zu sein, ohne dass das Herz dabei über Gebühr arbeiten müsste.

Die Forschung hat angezeigt, wie diese Verschlüsselung vonstatten gehen kann. Eine Studie von B.J. Young und anderen, die untersuchte, wie Erinnerung verschlüsselt wird, inspizierte einzelne Neuronen in der Parahippocampus-Region von Laborratten, nachdem die Ratten  bestimmten Gerüchen ausgesetzt worden waren. In der Gegenwart eines jeden einzelnen Geruchs feuerten alle zugeordneten Neuronen gleichzeitig, und die Erinnerung wurde verschlüsselt und in der Parahippocampus-Region aufbewahrt. Die Forscher hypothetisierten, dass dieses Areal Erinnerung vielleicht auf eine andere Weise kodiert, als es im Hippocampus selbst der Fall ist.7 Es scheint, dass jedes Neuron ein Stück des Kodes in sich trägt. Im Alter von dreißig Jahren von einem Lebensgefährten verlassen zu werden, kann ein altes Gefühl der Verlassenheit im Alter von sechs Monaten auslösen. Die Tatsache, verlassen worden zu sein, kann die alte Furcht und ein vages Unwohlsein auslösen. Es kann eine Depression folgen, deren Wurzeln ein Geheimnis sind.

Es gibt neue Beweise für die Bedeutung des Cerebellums (Kleinhirn) bei der kodierten Erinnerung. Vor vielen Jahrzehnten versuchte ein Neurophysiologe namens Karl Lashley, das „Engramm“ oder die Erinnerungsspur im Gehirn zu finden. Er war nicht allzu erfolgreich in seinen Bemühungen. Aber nun scheint es, als liege ein wichtiger Teil dieser Erinnerungsspur vielleicht im rückwärtigen unteren Bereich des Gehirns, etwas, das aussieht wie ein Miniaturgehirn, das Cerebellum.

Wenn ich betone, dass unsere Patienten sich im „Dort-und-Damals“ befinden und nicht im „Hier-und-Jetzt“, so meine ich, dass Vergangenheit und Gegenwart nicht zu unterscheiden sind in Hinsicht darauf, wie das Gehirn reagiert. Manchmal erzeugt die Reizung des Kleinhirns die gleichen Muster, als würde nun ein altes traumatisches Ereignis stattfinden. Eindeutig wird die Erinnerung zum Teil im Kleinhirn aufbewahrt. Paul MacLean vom National Institute of Mental Health schlug vor

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(in einer privaten Kommunikation), wir sollten diese Struktur als Schlüssel ins Auge fassen. In jedem Fall ist Erinnerung die beste Waffe gegen eingeprägten Schmerz. Die Erinnerung wiederzuerleben, trennt die Vergangenheit von der Gegenwart, so dass man seine Geschichte nicht mehr im täglichen Leben ausagiert.

Ist das Erwachsenenalter einmal erreicht, kann der Prozess der Einprägung nicht vollständig umgekehrt werden, weil zu viele Jahre spezifischer abweichender Verhaltensweisen vergangen sind, welche nun im System eingebettet sind. Es ist, als hätten Sie anfangs im Tennis die falschen Schläge gelernt und würden nun unter Schwierigkeiten versuchen, sie zu korrigieren. Der Kode durchforscht weiterhin dieselbe Anhäufung von Zellgruppen, um dasselbe abweichende Verhal­ten (unkorrekte Schläge) zu produzieren, egal, wie sonst der Handlungswille sein mag.  Die Einprägung schmiedet bestimmte Nervenbahnen, die von Dauer sind. Wie Schore betont: „Es hat sich herausgestellt, dass die Einprägung von Erfahrungen elektrophysiologische Langzeitwirkungen auf die spontane Nervenaktivität verschiedener Regionen des Gehirns hat.“ 8

Wie die biologischen Sollwerte wieder in Ordnung gebracht werden

Die Einprägung kann auch neue Langzeit-Sollwerte grundlegender biologischer Prozesse einrichten: zum Beispiel die Menge an abgesondertem Endorphin und Serotonin und die Höhe der Stoffwechselrate. Erhöhte Stresshormonwerte sind zum Beispiel Teil des Kodes, der noch immer auf die Erinnerung reagiert als sei sie gegenwärtig. Die Erinnerung hält diese Sollwerte fixiert, und die biologischen Prozesse versiegeln die Erinnerung. Anders ausgedrückt sind diese Veränderungen die Art und Weise, wie Erinnerung fixiert wird. Wenn wir es schaffen, eingeprägte Erinnerung zu ändern, dann können wir den Energiefluss aufhalten, der gewisse Sollwerte verschiebt. Und wir schaffen es. In meiner Praxis erfahren unsere Hochdruck-Patienten ein permanentes Absinken ihrer Blutdruckwerte um durchschnittlich 24 Skalenpunkte nach etwa 8 Monaten Therapie. Die durchschnittliche Körpertemperatur meiner Patienten beträgt 97,5° F ((36,4°C)). Das ist keine unbedeutende Differenz, zumal die Forschung darauf hinweist, dass bei einem Absinken der Körpertemperatur pro ein Grad mit einer Lebensverlängerung von  10 Jahren zu rechnen ist. Wieso geschieht das? Die Erinnerung wird letztlich mit den frontalen Zentren verknüpft und integriert. Warum ging die Körpertemperatur nach oben? Erinnerung. Der Körper arbeitet härter, um zu verdrängen und erzeugt Hitze. Er reagiert ständig auf innere Gefahr. Wenn die Gefahr gefühlt wird, muss das System nicht länger darauf reagieren. Daher ein systematisches Absinken bei vielen vitalen Körperfunktionen.  

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Wenn die Gefühle im Inneren bleiben, wird dies schließlich seinen Tribut von der Gesundheit eines Menschen fordern. Verdrängung ist eine konstante Kraft, die das System zermürbt, und das führt möglicherweise zu einer verkürzten Lebensspanne. Nach meinen Beobachtungen kann tiefe Verdrängung frühen katastrophalen Schmerzes zu katastrophaler Krankheit führen, nicht zuletzt zu Krebs. Es gibt ein paar vorläufige Beweise, dass ein Trauma im Mutterleib zu einigen Arten von Krebs bei den Nachkommen führen kann. Mütter, die übermäßig trinken, haben ein größeres Risiko, in ihren Nachkommen Krebs zu erzeugen. Je früher die Einprägung, umso wahrscheinlicher das verheerende Resultat Jahre später.

Ein Artikel in der New York Times hat Anteil am ständigen Zuwachs neuer Informationen, die spätere Krankheit mit dem Trauma im Mutterleib in Verbindung bringen. „Die Beweise häufen sich, obwohl die Forschung noch im Anfangsstadium ist, dass die Perioden vor und gleich nach der Geburt, die Kindheit und frühes Jugendalter viel bedeutender für das Brustkrebsrisiko sind als man vermutet hatte“, stellte Dr. Karin B. Michels, Epidemiologin von der Harvard Medical School fest.9  Darüber hinaus behauptet der Artikel, dass ein Baby, das bald nach der Geburt schädlichen Substanzen ausgesetzt ist, gefährdet ist, einer späteren Krankheit zum Opfer zu fallen.

Nachdem ich gerade erklärt habe, warum Gefühle Ausdruck brauchen, fällt mir ein Artikel in der London Sunday Times auf.10 Darin werden Statistiken zitiert, um zu erklären, warum es am besten ist, Gefühle nicht auszudrücken. (Das scheint alles so typisch Englisch). Sie behaupten, dass die Forschung zeige, dass „Ihrer schlechten Laune Luft zu machen,“ Sie noch angespannter zurücklässt. Natürlich, wenn Sie nur abreagieren oder einfach die Energie der Gefühle ablassen. Das ist es nicht, was Gefühle ausdrücken bedeutet. Das ist Freisetzung ihrer Energie. Die Autoren stellen fest, dass es besser ist, Zorn zu kontrollieren, indem man stattdessen etwas Ruhiges tut. Die Los Angeles Times betete in einem Hauptartikel dieselbe Meinung nach. Der Los Angeles Times – Artikel betrachtet Zorn als „selbstzerstörerische Gewohnheit.“ 11 Sie sehen es als süchtig machend an, wie es jede Droge ist. Sie berichteten von einer Blutdruckstudie, in der der Ausdruck von Wut einen Anstieg des Blutdrucks verursachte. Dasselbe fanden wir in unserer eigenen Forschung, wenn Wut ein überlegter, bewusster Akt ist ohne Zusammenhang und ohne Hinabsteigen in ein primitiveres Gehirn. Wenn unsere Patienten auf die Wände unserer gepolsterten Räume im Zusammenhang einschlugen, wiesen sie einheitlich eine Senkung des Blutdrucks und der Herzfrequenz auf. Wir wissen aufgrund des sporadischen Steigens und Fallens der wichtigsten vitalen Körperfunktionen, wann es eine Abreaktion ist. Natürlich ist es kein Zufall, dass die Serotonin-Spiegel in aggressiven Persönlichkeiten niedriger sind.12  (Weil sie weniger wirkungsvoll verdrängen).  

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Damienne: Füll mich voll

Diese Aussage „Füll mich voll“ war eine meiner Lebensgeschichten; für mich ist die doppelte Bedeutung ziemlich tiefgreifend, sowohl was meinen Alkoholismus anbelangt als auch die Entbehrung, nie zu bekommen, was ich brauchte.

Im Alter von fünfzehn wurde ich offiziell als Alkoholikerin gebrandmarkt, obwohl ich schon mit dreizehn von einer katholischen Mädchenschule suspendiert worden war, weil ich in der Klasse ständig betrunken war und die Schule schwänzte, um in Bars rumzuhängen. Einmal hatte ich mir eine ganze Woche schulfrei genommen, als meine Mutter nicht in der Stadt war, um mit den Jungs herumzuhängen, die nebenan wohnten. Wir tranken die ganze Woche. Das folgende Jahr (im Alter von vierzehn) forderte man mich auf zu gehen, nachdem man mich auf einem Schulball beim Trinken und Rauchen erwischt hatte. In meinem fünfzehnten Lebensjahr schickte man mich auf ein Adventisten-Internat (laut meiner Mutter war ich unkontrollierbar). Nachts schlich ich mich davon, um mit den älteren Jungs von nebenan zu trinken, und besuchte Partys, nachdem ich meine Mutter über meinen Aufenthalt angelogen hatte. Ich sagte gewöhnlich, ich gehe ins Kino, wenn ich tatsächlich mit meinen Freunden in Nachtklubs ging. Meine Mutter war der Meinung, ich bräuchte „Disziplin.“ Ihre „Ich-treib’s-dir aus“-Methoden hatten nicht funktioniert, ihre ständigen Drohungen, mich an meinen „Scheiß-Vater“ abzuschieben, der mich schon zurechtprügeln würde, hatten nicht funktioniert, und ihre Versuche, mich wochenlang festzunageln, waren völlig wirkungslos.

In diesem Jahr machte ich mir keine Freunde, ich war eines von jenen schlechten Kids, eine „Unruhestifterin.“ Ich verfluchte alles (einschließlich der Kirche). Ich hielt Alkoholflaschen und Zigarettenpäckchen in meiner Matratze und an anderen Orten versteckt, damit die Heimaufsichten sie während der wöchentlichen Zimmerinspektionen nicht finden würden. Ich bekam einen Teilzeitjob bei den Pferdeställen unten an der Straße, aber das bedeutete, dass ich am Samstag morgens arbeiten musste. Die Schule zwang mich nach drei Wochen zu kündigen, weil ich den Sabbat (Samstag) heilig zu halten hatte. Ich war am Boden zerstört. Es war das Einzige, das mich gut fühlen ließ. Zum Ende des ersten Semesters wurde ich suspendiert, weil ich auf der Heimfahrt in die Ferien im Zug getrunken und geraucht hatte. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter in der Küche stand und mich anbrüllte, ich sei nichts als ein „nutzloses besoffenes kleines Miststück“, während sie mich gleichzeitig ohrfeigte. Das war nichts Neues, mit diesen Worten war ich aufgewachsen, und dass sie mich verabscheute, war nur zu offensichtlich, so weit ich auch nur zurückdenken kann.

Als ich zum zweiten Semester in der Schule zurück war, wurde ich von der Polizei erwischt, als ich Graffitis über die Schule auf die Wände öffentlicher Toiletten auf

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dem Stadtplatz sprühte. Ich hatte auch begonnen, mir das Motorrad von der Schulfarm zu nehmen und Freitag und Samstag nachts in die Stadt auszubüchsen, um in Pubs und Klubs zu gehen. Die anderen Kids hielten mein Verhalten für obszön. Was die Sache verschlimmerte: Alles, worüber ich redete, war, wie gemein und grausam meine Mutter war. Einmal ging ich zur Heimleiterin, nachdem mir meine Mutter in meinem Zimmer eine Tracht Prügel verpasst hatte (ein Überraschungsbesuch), nur um gesagt zu bekommen, dass ich es wirklich verdient habe. Zu meinem Unglück passte ich einfach nicht in die Schablone eines „guten christlichen Mädchens“ Ich hatte mich wirklich schwer bemüht-manchmal- aber es war mir nie gelungen.

In einer fünftägigen Semesterpause fuhr ich nach Hause. Zuhause sagte ich zu, dem Ehemann der besten Freundin meiner Mutter bei der Reinigung seiner Yacht zu helfen. In jener Nacht waren wir beide wirklich betrunken, und er vergewaltigte mich. Ich schrieb einen Brief an eines der Mädchen in der Schule, in dem ich ihr meine Angst mitteilte, dass ich nun schwanger sein könnte. Ich schickte den Brief niemals los, und ich kehrte zur Schule zurück, ohne irgendjemanden was gesagt zu haben; ich schämte mich zu sehr. Ein Monat später bat mich meine Mutter an einem Wochenende nach Hause. Ich war so aufgeregt, weil meine Mutter mich sehen wollte. Meine Mutter nahm mich zum Essen mit in eines ihrer Lieblingscafés, aber als wir an den Tisch gingen, saßen die Freundin meiner Mutter und mein Stiefvater bereits da. Sie hatten mir eine Falle gestellt; meine Mutter hatte den Brief gefunden, den ich, wie ich dachte, in meiner Schublade vergraben hatte. Sie fragten mich aus und machten mich dann für das verantwortlich, was dieser vierzig Jahre alte Mann mir angetan hatte: Ich hätte getrunken und ihn dann verführt; ich war fünfzehn. Ich ging zur Schule zurück und wurde dann am Ende des zweiten Semesters hinausgeworfen, nur dieses Mal wegen versuchten Selbstmords. Ich konnte die Einsamkeit und Kränkung, die ich verspürte, nicht länger aushalten. Niemand mochte mich, niemand verstand mich, niemand wollte zuhören. Und wenn, dann glaubten sie mir nicht. Ich wollte nicht sterben, ich wollte jemanden, der sich sorgte und mir helfen würde. Niemand tat das. Der Doktor konnte es nicht glauben, dass meine Mutter nicht ins Krankenhaus kommen wollte und ihm sagte, ich suche nur nach Aufmerksamkeit.

Aus der Klinik kehrte ich auf das Adventisten-Internat zurück, nur um vom Direktor gesagt zu bekommen, dass die Schule mein störerisches Verhalten nicht länger hinnehmen werde und dass ich ein „nach Aufmerksamkeit trachtendes kleines Miststück“ sei. Auch er wusste nicht, was meine Mutter mit mir machen sollte. Sein Rat war, „sie in ein Mädchenheim zu stecken.“

Ich ging zu meiner Mutter nach Hause, die meinen Anblick hasste. Sie hatte einen neuen Mann in ihrem Leben, einen von vielen seit der Scheidung meiner Eltern vor drei Jahren. Meine Trunksucht verschlimmerte sich ständig. Nun war ich nicht mehr in der Schule, sondern die ganze Zeit bei meiner Mutter zu Hause, und es war nicht auszuhalten.  

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Mit sechzehn warf mich meine Mutter aus dem Haus, weil ich trank und rauchte und weil sie auch die Pille in meiner Schublade fand. Nach der Vergewaltigung hatte ich die Antibabypille genommen und war sexuell sehr aktiv geworden. Eine Freundin von mir nahm mich auf, und ich blieb bei ihr und ihrem alkoholkranken Vater, während ich die lokale High School besuchte. Zu dieser Zeit kam mein Vater und fragte, ob ich mit ihm leben und weiter versuchen wolle, auf der Schule zu bleiben.

Ich zog bei meinem Vater ein und begann, auf das lokale College zu gehen (meine vierte High School), aber jeden Tag nahm ich eine Thermoskanne mit zur Schule, voll mit Gin und Tonic, Southern Comfort und Limonade, oder was ich gerade in die Finger kriegen konnte. Zur Mittagszeit war ich gewöhnlich ziemlich betrunken. Ich lebte jetzt bei meinem Vater, und mein Leben war ein Alptraum. (Er war schwerer Alkoholiker, wie Mami sagte.) Jedes Wochenende ging ich zum lokalen Rugbyverein und sah den Spielen zu. Hinterher betrank ich mich und hatte Sex mit jedem Spieler, der gerade Lust hatte. Die Aufmerksamkeit fühlte sich so gut an.

Nachdem ich wegen Trinkens und Mitnahme von Alkohol schon wieder von einer Schule geflogen war und nachdem mein Vater von meiner extremen Promiskuität gehört hatte, bekam ich eine schwere Tracht Prügel. Der Doktor dachte, mein Schädel sei gebrochen. Gott sei Dank war das nicht der Fall. Ich lief von Zuhause weg und beschloss zu versuchen, einen Job zu bekommen und auf eigenen Füßen zu stehen. Jetzt war ich völlig auf mich alleine gestellt und niemandem rechenschaftspflichtig. Ich war alleine. Ich bekam und verlor in den nächsten acht Monaten drei verschiedene Jobs, entweder weil ich verkatert war, zu spät kam oder erst gar nicht antrat.

Woran ich Sie jetzt teilhaben lasse, ist für mich das Verheerendste im Hinblick auf den Preis, den ich für meine Alkoholsucht zahlte.

Mit siebzehn wurde ich schwanger, was mir zu der Zeit sehr wenig bedeutete. Der Vater und ich, wir trafen uns jeden Tag nach der Arbeit in unserer lokalen Bar und tranken bis zur Sperrstunde. Gewöhnlich wachte ich am Morgen auf und trank ein Bier zum Frühstück, um mich besser zu fühlen (Katerfrühstück, sozusagen), und ging dann zur Mittagszeit in die Bar auf einen Drink. Ich rauchte auch fünfzig bis sechzig Zigaretten am Tag und Marihuana, wenn ich es bekommen konnte. Der Vater warf mich raus, als ich im fünften Monat schwanger war, und ich machte mit dem Trinken weiter bis zwei Wochen vor der Geburt. Ich war achtzehn und hatte einen neugeborenen Sohn, um den ich mich jetzt kümmern sollte, obgleich meine Mutter mehrere „reiche“ Leute in Aussicht hatte, die kommen wollten, um mein Baby zu adoptieren, sogar ein Paar aus Australien. Ich weigerte mich, ihn aufzugeben.  

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Zu der Zeit, als mein Sohn drei Monate alt war, trank ich wieder schwer; und das in solchem Maße, dass ich eines Nachts auf eine Party ging und mich so betrank, dass ich ihn bei meiner Rückkehr schreien hörte, und so nahm ich ihn auf, um ihn zu füttern (ich gab ihm noch die Brust); ich ging quer durchs Wohnzimmer, und auf halber Strecke ließ ich ihn aus Brusthöhe fallen. Ich stieg über ihn, setzte mich in einen Sessel und ließ ihn auf dem Boden schreien. Ich hatte total vergessen, was ich gerade getan hatte. Gott sei Dank war er körperlich unverletzt.

Nachdem ich unmittelbar vor der Geburt in das Haus meiner Mutter zurückgekehrt war, zog ich wieder aus, als mein Sohn sieben Monate alt war. Meine Mutter hatte unserem Hausarzt erzählt, welch „inakzeptable Person“ ich doch sei, während ich ihn wegen meiner Depression aufsuchte und wegen meiner Trinkerei; ich erzählte ihm von der Misshandlung, die mir zu Hause widerfuhr. Ich durfte nicht ausgehen. Zuhause kochte und putzte ich und erledigte die ganze Wäsche für die Familie, während ich gleichzeitig versuchte, mich um mein Baby zu kümmern. Ich zahlte 100 Dollar die Woche für Kost und Logis, damit ich überhaupt zuhause bleiben durfte. Ich glaube, mir erging es schlechter, als es Cinderella jemals ergangen war.

Die Heilsarmee nahm mich in ein Haus für misshandelte Frauen auf. Dort ließ ich meinen Sohn gewöhnlich bei den anderen Müttern zurück und ging zum Trinken. Als er zwölf Monate alt war, war ich erneut schwanger. Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich um das Kind nicht kümmern, das ich bereits hatte und eigentlich nicht wollte. Was zur Hölle sollte ich mit einem zweiten?  Mit neunzehn beschloss ich, eine Abtreibung zu machen. Sobald ich meine Entscheidung getroffen und den Termin vereinbart hatte, machte es mir nichts mehr aus. Auch als der Arzt nach dem Eingriff zu mir kam und mir ziemlich wütend erklärte, dass ich über der Zwölf-Wochen-Frist gewesen sei und dass er „es“ in Stücken herausziehen musste, spürte ich nichts. In jener Nacht ging ich geradewegs in den Klub und betrank mich.

Als mein Sohn älter wurde, nahm mein selbstzerstörerisches Verhalten immer größere Ausmaße an. Nachts ließ ich ihn alleine zu Hause und ging zum Trinken. Am Morgen wachte ich entweder nicht auf oder kam nicht aus dem Bett, um mich um ihn zu kümmern. Viele Stunden lang lag er in nassen und schmutzigen Windeln. Wenn er sie selbst herunter bekam, krabbelte er im Schmutz herum.

Zusammen mit meiner Trunksucht litt ich an unkontrollierbarer Wut und Tobsuchtsanfällen. Zu der Zeit, als mein Sohn vier Jahre alt war, hatte ich ihn bereits ernsthaft körperlich und seelisch misshandelt. Eines Tages, nachdem ich die ganze Nacht getrunken hatte, konnte ich das unaufhörliche Flehen meines Sohnes nicht länger ertragen. Ich schlug ihn mit einem Baseballschläger aus Plastik. Schließlich griff ich zum Telefon und bat um Hilfe.  

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In den nächsten Jahren hatte ich „intensive Psychotherapie“. Einmal die Woche sah ich einen Psychotherapeuten, der mir beizubringen versuchte, meine diversen Erinnerungen in einem imaginären Bücherregal abzulegen, weil sie kein Teil meines gegenwärtigen Lebens mehr seien. Einmal pro Woche traf ich einen Elternberater,  der mir beibringen wollte, eine bessere Mutter zu sein, und dass ich meinem Sohn nicht antun müsse, was mir angetan worden war. Eine Nacht pro Woche ging ich zur Gruppentherapie und spielte mit anderen Leuten verschiedene Rollen und Situationen durch, aber wir mussten unsere Gefühle im Zaum halten, um die anderen nicht zu sehr zu beunruhigen. Ich ließ mich regelmäßig in Wochenend-Kurse für Zorn-Management einschreiben, durfte aber niemals wütend werden. Es ging darum, meinen Zorn zu kontrollieren, zu lernen positiv zu sein und nette Sachen zu machen. Das machte mich rasend, aber ich ging weiter hin, weil ich dachte, sie hätten Recht und ich sei das Problem.

Ich bemühte mich wirklich sehr, mit dem Trinken aufzuhören. Manchmal schaffte ich es mehrere Monate lang. Ich dachte es gehe mir besser. Ich nahm immer noch ein paar Gläser mehrere Nächte pro Woche zu mir, aber ich war nicht mehr obszön betrunken. Das Problem war, dass ich nach Monaten der Abstinenz (oder was es für meine Verhältnisse war) heftiger als jemals zuvor zur Flasche griff. Mein Sohn musste in Pflegeobhut, während ich vierundzwanzig Stunden am Tag trank, sieben Tage die Woche und manchmal für die Dauer von bis zu sechs Monaten. Die Therapie verschlimmerte meinen Zustand. Nachdem ich drei Jahren versucht hatte, „meine Vergangenheit hinter mich zu bringen“, und immer wieder gescheitert war, explodierte ich buchstäblich. Ich schlug meinen Sohn so übel, dass ich eine Ambulanz rufen musste. Ich dachte, ich hätte ihn getötet. Als die Polizei eintraf, spielte er mit den Sanitätern, grün und blau geschlagen und arg mitgenommen, aber nichts gebrochen. Ich tobte immer noch, aber nun ließ ich es an den Leuten aus, die zu helfen versuchten. Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschah. Mein Sohn kehrte in Pflegeobhut zurück, und ich kehrte zur Flasche zurück.

Alle meine Beziehungen waren voller Falschheit und scheiterten am Ende. Ich kann mich an die ganzen Sex-Abenteuer, auf die ich mich eingelassen hatte, nicht mehr erinnern. Ich suchte einfach die ganze Zeit nach Aufmerksamkeit. Tatsächlich brüstete ich mich damit, dass ich sogar die erfahrensten Säufer unter den Tisch trinken könne, wodurch ich eine Menge Aufmerksamkeit erhielt.

Am vierzehnten Mai 1996 traf ich den Mann, mit dem ich nun verheiratet bin. Er machte mich mit der Primärtherapie vertraut. Ich las den „Urschrei“ in zwei Tagen vom Anfang bis zum Schluss und überflog in dieser Woche noch zwei weitere Bücher von Dr. Janov. Ich wollte diese Primärtherapie machen.

Seit beinahe zwei Jahren bin ich nun in Primärtherapie, und bis zum heutigen Tag habe ich seit zehn Monaten überhaupt nichts getrunken, und auch damals war’s nur eine Nacht, und vor der hatte ich sechs Monate nichts getrunken.  

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Zwei Monate vor Beginn der Therapie begann ich Antidepressiva zu nehmen, weil ich es nicht aushalten konnte, machte aber mit dem Trinken weiter. Ich spürte keine Wirkung von den Medikamenten. Dann landete ich in einer Klinik mit einem Zustand, der Pseudo-Tumor Cerebri genannt wird (eine Überproduktion von Rückenmarksflüssigkeit erzeugt immensen Druck auf das Gehirn). Nicht nur, dass ich emotional nicht zu Rande kam; mein Körper reagierte nun auf ein ganzes Leben aufgetürmten Schmerzes. Alles war zu viel.

Der Neurologe erklärte mir, ich könne mit der Therapie frühesten in drei bis vier Monaten beginnen, wenn nicht erst in sechs. Ich war am Boden zerstört. Ich war eine halbe Welt von meiner Heimat entfernt, suchte verzweifelt nach Hilfe, und die sagen mir, dass ich sie nicht bekommen kann. Ich war auf Medikation wegen meiner Krankheit und auch wegen meines emotionalen Zustandes, ich war mit der strikten Verordnung von Lumbalpunktionen konfrontiert und fühlte mich hoffnungslos und hilflos bis zum Äußersten. Ich musste meinen Sohn per Flugzeug nach Hause schicken, weil ich weder körperlich noch anderweitig fähig war, mich um ihn zu kümmern, und mein Mann begann gerade seine dreiwöchige Intensivphase im Institut.

Während dieser drei Wochen meines Mannes musste er so viel Zeit wie möglich in Isolation verbringen, was bedeutete, dass auch ich isoliert war. In dieser Zeit war mir, als würde ich gleich verrückt werden. Jeden Tag rief ich im Institut an, und sie redeten mit mir, manchmal stundenlang, so dass ich mich nicht so alleine fühlte. Sie hatten meine Medikation wieder geändert und die Dosis erhöht, aber wenn ich nachts allein im Motelzimmer saß, trank ich eine dreiviertel Flasche Gin zur Erleichterung. Gott sei Dank konnte ich im folgenden Monat mit der Therapie beginnen.

In den ersten zwölf Monaten der Therapie war ich ernsthaft überlastet und funktionierte nicht auf der Basis tagtäglicher Sitzungen. Ich hatte kein Schleusensystem und keine Abwehrmechanismen, um die Flut von Schmerz, die mich überwältigte, zurückzuhalten. Anfangs benötigte ich viel Unterstützung durch Medikamente, weil ich die Gefühle nicht abstellen konnte. Auch machte man mir klar, dass man mich in eine Anstalt einweisen müsse, wenn ich mit dem Trinken weitermachen würde. Durch die Mischung von Drogen und Alkohol bestand die Möglichkeit eines Gehirnschadens. Einmal war ich auf einer Kombination von Haliperidol, Valium, Temapezam (Schlafmittel) und Clonidin, und manchmal musste ich noch zusätzlich trinken. (Laut meinem Therapeuten bräuchte es weniger Beruhigungsmittel, um einen Elefanten ins Land der Träume zu schicken). Nur durch die ständige Therapie und riesige Unterstützung seitens des Primal Centers war ich schließlich in der Lage, zu begreifen und mein Leben zu ändern.

Die Einsichten kamen zustande durch das Wiedererleben vieler unterschiedlicher Erinnerungen, die sich um meine Mutter drehen, und wie sie mich in meiner ganzen

 

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Kindheit behandelte, sowie um die Ereignisse zur Zeit meiner Geburt. Die Geburt war der Anfang meines höllischen Lebens. Meine Mutter hatte einen Kaiserschnitt nach sechsunddreißigstündigen Wehen, während derer ich von der Nabelschnur stranguliert wurde und mich in Steißposition befand. Ich wurde sofort von meiner Mutter entfernt und in die Intensivstation verlegt, weil ich Atmungsprobleme hatte, und meine Mutter hatte eine heftige allergische Reaktion auf das Betäubungsmittel während des Kaiserschnitts; sie wurde zur Genesung ebenfalls auf die Intensivstation gebracht.

Ich erinnere mich, wie ich eines Tages zu einer weiteren Sitzung im Primal Center ankam. Ich fühlte mich nervös, gehetzt, reizbar und einfach unbehaglich. Mein Therapeut maß die Werte meiner Vitalfunktionen, die wirklich hoch waren: Blutdruck 160/110, Temperatur 99,3° F ((37,4°C)). Im Therapieraum begann ich darüber zu reden, wie heiß mir war und wie schrecklich mir zumute war angesichts meiner Angst, dass ich es niemals schaffen würde in L.A. zu leben. Ich konnte nicht arbeiten oder angemessen funktionieren, weil ich immer entweder am Heulen oder Toben war. Auch musste ich versuchen, mich um meinen Sohn zu kümmern, wenn doch mein einziger Wunsch darin bestand, ihn an die Wand zu schmeißen. Der Therapeut fragte nach meinem Sohn. Ich war so wütend, weil ich mich um ihn kümmern musste und kaum in der Lage war, mich um mich selbst zu kümmern. Niemand hatte sich je um mich gekümmert. Warum musste ich mich um ihn kümmern? Es war nicht fair und machte mich stocksauer. Der Therapeut fragte mich, was ich mit ihm tun würde, wenn er hier wäre. Ich fing an, mit den Fäusten auf die Wand einzuschlagen, brüllte und heulte gleichzeitig. „Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich.“ Und dann begann ich unkontrolliert zu weinen, und  ich verspürte körperlichen Schmerz in meinem Magen und hatte gleichzeitig das Gefühl, als würde mich etwas peitschen. Ich  beginne mich an die Wände zu krallen und versuche, an ihnen hochzuklettern; schreiend vor Entsetzen versuche ich, von meiner Mutter wegzukommen. Ich bin zurück im Damals und höre, wie sie mich anbrüllt: „Du verfluchtes kleines Miststück.“ Ich kann fühlen, wie das alkaline Rohrleitungsstück die Rückseite meiner Schenkel verbrennt und mir die Haut abzieht, als sie wieder und wieder auf mich einschlägt. Ich schreie und schreie und will durch die Wand, und ganz plötzlich kann ich nicht mehr atmen und beginne, in Panik zu geraten. Der Therapeut ermutigt mich „dabei zu bleiben“. Ich fange an, ein Stück meiner Geburt zu fühlen. Ich kann nicht atmen, und mein Körper krümmt sich nach hinten. Mein Nacken dehnt sich weiter, als würde er nach hinten gezogen. Das bringt mich um! Ich breche aus und gehe geradewegs in die Szene zurück, in der ich von meiner Mutter terrorisiert werde. Der Therapeut berührt mich an der Schulter und sagt, dass es nun gut ist. Um mir Gewissheit zu geben, dass ich nicht noch in der Vergangenheit bin, sagt er zu mir: “Sie kann dich jetzt nicht verletzen.“ Ich setze mich auf und beginne, ihm von der Erinnerung zu erzählen, die ich hatte. Als ich das mache, erkenne ich allmählich, wie sich das Gefühl durch mein ganzes Leben knüpft.  

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Die Verknüpfungen (Einsichten) ergeben sich als Reaktion auf den gesamten therapeutischen Prozess. Es beginnt damit, dass ich in der Gegenwart emotional so wütend auf meinen Sohn bin, weil er bedürftig ist und von mir fordert, dass ich für ihn sorge und mich um ihn kümmere. Das lässt sich auch an meinem Körper anhand solcher erhöhter körperlicher Messwerte sehen. Meine erhöhten Werte sind ein Hinweis auf den Kampf, der sich in meinem System zwischen dem Fühlen abspielt, das nach Ausdruck verlangt, und der Abwehr gegen diesen Ausdruck. Der erfahrene Therapeut weiß, dass unter der Wut, die ich in der Gegenwart äußere, irgendwo in der Vergangenheit eine bestimmte Erinnerung an ein unerfülltes Bedürfnis begraben liegt, welche jetzt mein Überreagieren verursacht. Indem er mich ermutigt und, was äußerst wichtig ist, mir erlaubt, diese Überreaktion voll auszudrücken, kann ich zu dem Zeitpunkt zurückreisen, als das Bedürfnis nicht erfüllt wurde. Während meiner Sitzung erkannte ich, dass ich Hilfe brauchte, um meine Mutter davon abzuhalten, mich nochmals zu verletzen; aber ich war völlig alleine und musste ihre ständigen Misshandlungen überleben. Ich kämpfte um mein Leben, gerade als ich doch Hilfe und Schutz brauchte und  nicht bekam. Wenn ich mich auf diese Zeitreise zurück begebe, geht das Gefühl sogar tiefer bis zu meiner Geburt. Wieder bin ich in Schwierigkeiten. Ich kann nicht atmen, und die Empfindung, dass mich etwas stranguliert, ist entsetzlich. Ich benötigte Hilfe, aber ich war völlig alleine und fühlte mich, als würde ich sterben. Der Schmerz von all dem ist zuviel, ich kämpfe um mein Leben. Das Endergebnis ist die Erkenntnis, dass das Bedürfnis meines Sohnes nach Hilfe und Fürsorge das Spiegelbild von dem ist, was ich brauchte und niemals bekam.

Primärtherapie funktioniert wie eine Leitung, die meine schmerzvolle Vergangenheit mit meinen gegenwärtigen Handlungen und Gefühlen verbindet. Es geschieht durch diese Verknüpfung ins Bewusstsein, dass ich gesund werden kann; die Verknüpfung bedeutet, dass ich das Gefühl empfunden habe, so dass es nicht länger in meinem System gefangen ist. Das kann man auch am Ende meiner Sitzung sehen. Als der Therapeut wieder meine Werte nahm, waren die Ergebnisse 130/85, Temperatur 98° F ((36,7° C)) – ein wesentliches Absinken der Vitalfunktionen, das zeigt, dass der Druck auf mein Körpersystem nachgelassen hatte. Hierin liegt der Hauptunterschied zwischen Primärtherapie und allen anderen Praktiken. Ein Primärgefühl ist durch das gesamte System hindurch verknüpft. Weinen, Leiden und Wut sind die emotionalen Komponenten; die physischen Schmerzempfindungen sind solche, wie ich sie in meinem Magen verspürte, und die Erinnerung meines Körpers an die Prügel, zusammen mit meiner Geburt. Diese Erinnerungen werden dann in mein Bewusstsein transportiert. Der Schlüssel dafür ist die Erkenntnis, dass „Fühlen“ ein neurobiologischer Zustand ist.  

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Die Primärtherapie hat mein Leben vollkommen verändert. Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass ich jetzt die Fähigkeit besitze, den Schmerz und den Kummer freizusetzen und mein System von diesen Gefühlen zu entleeren, anstatt zu vergessen oder so zu tun, als seien sie nicht länger Teil von mir. Ich habe gelernt, dass ich die Traumen meiner Vergangenheit wiedererleben muss, um das zu fühlen, was mein kindliches System zu jener Zeit nicht aushalten konnte. Als Kind so viel Schmerz zu fühlen, hätte mich töten oder psychotisch machen können. Weil ich mir dessen bewusst war, konnte ich zu Erinnerungen und Zeiten zurückgehen, als meine Mutter mich verletzte, und ich fühlte, dass sie mich hasste, aber jetzt kann ich die absoluten Höllenqualen fühlen, allein, ungeliebt und missachtet zu sein. Nachdem ich kleine Stückchen dieses Feelings aus meinem Inneren entleert habe, ist nun Platz, um guten Gefühlen Einlass zu gewähren, wie zum Beispiel von anderen zu hören, dass sie mich mögen und dass ich ein freundlicher und großzügiger Mensch sei. Ich kann fühlen und glauben, dass es aufrichtig gemeint ist. Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, das alleine war und verabscheut wurde, was wiederum mein Verlangen nach ständigem Alkoholkonsum weniger werden lässt, weil ich nicht versuche, die Leere, die ich fühle, aufzufüllen oder mich vor meinem Elend zu verstecken, weil ein Teil davon verschwunden ist.

Es ist schwierig, die Wucht eines Gefühlserlebnisses zu beschreiben. Nachdem ich Dr. Janovs Bücher gelesen hatte, glaubte ich, ich wüsste es. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, bis ich mit der Therapie begann. Meine Gefühle sind in meiner Psyche, meinem Körper, meiner Persönlichkeit, in meinem ganzen Sein enthalten, und deswegen ist es nicht genug, über alles zu weinen und zu reden, wie andere Therapien mich glauben machten. Ich habe mein Leben damit verbracht, auf meine Vergangenheit zu reagieren. Ich habe geglaubt, ich sei eine schreckliche Person und niemand könne jemals dieses hartgesottene Miststück lieben, das immer zum Angriff bereit war. Ich erkannte nicht, dass ich in Wirklichkeit noch immer das verängstigte kleine Mädchen war, das einfach versuchte sich selbst zu schützen und nicht zulassen wollte, dass man es noch einmal verletzte. Ich laufe nicht mehr herum wie ein tollwütiger Hund, der versucht, alle auf Distanz zu halten und der in Situationen überreagiert, die ihn erschrecken. Ich kann unterscheiden zwischen der Realität, dass jemand etwas sagt, das verletzend ist, und dem Gefühl, das von meiner Mutter herrührt, dass man mich halb totschlagen will. Das bedeutet, ich beginne ein Leben zu gründen, das darauf aufbaut, dass ich eine erwachsene Frau bin, und ich lasse nicht meine persönliche Geschichte bestimmen, wie ich dieses Leben führe.

Ich habe nun auch die Fähigkeit, auf die Bedürfnisse meines Sohnes zu sehen und zu hören; ich kann ihm zuhören und ich kann geben, wozu ich vor der Primärerfahrung niemals im Stande war. Er war für mich der Sündenbock und Lückenbüßer. Jetzt sein Lachen zu hören und es zu genießen, ihn zu halten, wenn er Angst hat, ohne ihm zu sagen, er solle erwachsen werden, weil ich damit nicht umgehen kann, oder ihn weinen zu lassen, wenn er traurig ist, ohne ihm zu sagen, er solle ruhig sein, weil ich es nicht hören will, das ist für mich beinahe schon ein übernatürliches Meisterstück.

Jetzt kann ich „FÜHLEN“, was vor so langer Zeit schief gelaufen war, und kann von innen heraus gesund werden. Es gibt keinen anderen Weg, das zu erreichen.


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Quellenverweise und Anmerkungen

 

N. 1         „Fetal Plasma Cortisol and B-Endorphin Response to Intrauterine Needling,“ Lancet 344 (9. Juli 1994): 77-81.

N. 2         Lise Eliot, What’s Going on in There? New York, Bantam Books, 1999), s. 99. Ich empfehle dieses Buch besonders.

N. 3         „Infant Pain May Have Long-Term Effects“, Medical News and Alerts (16. August 1999).

N. 4         Ibid., s. 3

N. 5         Allan Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self (New Jersey: Lawrence E. Erlbaum, 1994).

N. 6         Siehe diesbezüglich die Arbeit von Ichiro Kawachi von der Harvard School of Public Health.

 

N. 7         B. J. Young et al., „Memory Representation within the Parahippocampal Region,“ Journal of Neuroscience 17, no. 13 (1. Juli 1997): 5183-95.

 

N. 8         Allan Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self (New Jersey: Lawrence E. Erlbaum, 1994), s. 180.

 

N. 9         Jane Brody, “Risk for Cancer Can Start in the Womb,” New York Times, 21. Dezember 1999, s. D1.

N. 10       S. Farrar und Y. Membery, „Bottling Up Emotions Is the Healthiest Option,“ London Sunday Times, 9. Mai 1999, s. 5.

N. 11       “It’s a Mad, Mad, Mad, Men’s World,” Los Angeles Times, 7. Juni 1999, s. S1.

               N. 12       R. A. Clarke, D. L. Murphy und J. N. Constantino, “Serotonin and Externalizing Behavior in Young Children,” Psychiatry Research 86, no. 1 (19. April 1999): 29-40.

 

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KAPITEL 10
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DER AUSLÖSE-EFFEKT
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Ein Patient von mir, Joe, wurde um 7 Uhr durch einen Telefonanruf aufgeweckt. Die Person am anderen Ende sagte „Oh, Verzeihung. Falsche Nummer“, und legte auf. Mein Patient verfiel darauf in eine Depression. Zuerst wusste er nicht, warum. In unseren Sitzungen ließ ich ihn diese Depression erleben, ein Prozess, den ich ein Gefühl fühlen nenne. Mein Patient fühlte: „Niemand ist an mir interessiert.“ Seiner Vorstellung nach wusste die Anruferin sofort, dass er nicht der war, den sie wollte. Das brachte ihn in seine Kindheit zurück, wo Unglück und finanzielle Sorgen seiner Familie Vorrang vor seinen Bedürfnissen gewannen und in ihm das Gefühl zurückließen, er werde völlig übergangen. Seine Eltern waren voll damit beschäftigt, über die Runden zu kommen und den Tod eines Familienmitglieds zu bewältigen. Er entdeckte, dass er aus ein und demselben Grund die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens deprimiert war.

Als er den Anruf der Person erhielt, die sich verwählt hatte, löste das jenes verborgene Gefühl aus. Mein Patient wurde nicht abgelehnt, aber er glaubte das. Das Gefühl war in seinem Gehirn lebendig geworden und änderte seine Wahrnehmung. Glücklicherweise war er in der Lage, sich damit zu befassen, indem er es fühlte, es mit dem frontalen Kortex verknüpfte und einen Teil davon auflöste. Aber wie werden diese Gefühle in unser System eingeprägt? Warum leben sie fort, und wo?

In unseren Sitzungen offenbarte Joe, dass er eine Frau wollte, die ihm unter Ausschluss aller anderen ihre totale Aufmerksamkeit schenken würde – ein Bedürfnis, das unmöglich zu erfüllen ist. Das half, die Serie seiner misslungenen Beziehungen zu erklären. 

 

 

 

 

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Er wollte eine aufmerksame „Mutter“, damit er sich nie wieder übergangen fühlen würde, eine Rolle, die niemand je erfüllen könnte außer seiner eigenen mittlerweile verstorbenen Mutter. Sie hätte das Bedürfnis nur während der kritischen Periode erfüllen können.

Wenn sie jetzt zurückkäme und ihn völlig liebte, so wäre es zu spät. Es könnte die Einprägung abschwächen, jedoch nicht umkehren. Dieser Patient musste als Erwachsener fühlen, was er als Kind nie wirklich fühlte: dass niemand an ihm interessiert war. Sie kümmerten sich nur um sich selbst und ihre Probleme. Er muss zeitlich zu einem primitiveren Gehirn zurückgehen und mit diesem Gehirn erfahren, was er zu jener Zeit nicht erfahren oder fühlen konnte.

Das Ausagieren dieses Patienten bestand darin, eine Mutter/Frau zu finden. Und als jemand abrupt den Hörer auflegte, wurde er in die realen Gefühle gestürzt, die er sein Leben lang verborgen hatte: Niemand will mich. Anstatt jedoch sich selbst zu erlauben, das Gefühl zu fühlen (meine Mutter will mich nicht haben), verdrängte er es und bekam deshalb eine Depression. Er hatte die Hilfe vieler körpereigener Substanzen, die dieses einfache und dennoch qualvolle Gefühl von seinem Bewusstsein fern hielten.

Wenn wir bestimmte Prinzipien der Gehirnfunktion untersuchen, kann uns das begreifen helfen, warum wir Depressionen bekommen, warum wir ängstlich sind, warum wir nicht schlafen oder mit anderen auskommen können. Was hat das Gehirn damit zu tun? Können Sie gesund werden, ohne das Gehirn zu ändern? Ich denke nicht. Sich besser zu fühlen, erfordert mehr, als sich selbst von Rückenschmerzen oder entzündeten Muskeln zu befreien. Sie müssen überall gesund werden, weil sich die Erinnerung überall befindet. Wir haben dahin tendiert, die Patienten zu fragmentieren und sie stückchenweise zu behandeln. Zu oft nehmen wir eine Migräne und versuchen, die zu bessern, oder hohen Blutdruck und versuchen, den zu bessern, oder eine Phobie und versuchen, die zu bessern. Wir behandeln jedes Symptom, als würde es nicht zu einem ganzen Menschen gehören. Spezialisten werden zu Experten für Symptome und nicht für Ursachen.

Die konventionelle Psychotherapie ist durchdrungen von dem Glauben, dass Sie im Geist gesund werden können – in Ihrem denkenden präfrontal-kortikalen logischen Verstand- dass Sie sich Ihren Weg zur Gesundheit erdenken können. Ich glaube, es ist unmöglich, auf diese Weise gesund zu werden und berufe mich dabei auf folgerichtige neurologische Grundsätze. Wir mögen denken dass wir gesund werden, aber das ist nicht dasselbe wie gesund zu sein. Das Gehirn ist durchaus in der Lage, sich selbst zu täuschen. Was ist „gesund“? Wenn es nur eine Angelegenheit dessen wäre, was wir über uns denken, dann wären all die religiösen Bekehrungen, die Auferstandenen und die göttlichen Erscheinungen genauso gültig wie jede Psychotherapie, und der Anspruch auf Heilung in vielen Sekten käme dem in jeder Psychotherapie gleich.  

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Ein Patient erzählte mir, dass er als kleiner hyperaktiver Junge in der Klasse ständig ausagierte und unfähig war, still zu sitzen und sich zu konzentrieren. Als er acht war, beschlossen seine Eltern, ihn auf ein Internat zu schicken, damit er „Disziplin“ lernen würde. Eines Tages saß er im Direktorat seiner Mutter gegenüber. Er hatte keine Ahnung, was er falsch machte. Er sah in die zornigen Augen seiner Mutter und wusste, dass er von ihr nie wieder Hilfe bekommen würde. Es war die endgültige Ablehnung. Er war sich seiner ständigen Bewegung und seiner Unfähigkeit, still zu sitzen, nicht bewusst. Es hatte fast ganz am Anfang seines Lebens begonnen.

Dann schickte man den Jungen zur Begutachtung zu einem Psychologen. Man legte ihm den Rorschach-Test vor. Nach jedem Bild bat er den Psychologen inständig, er möge ihm sagen, wenn er die richtige Antwort gab. Keine Reaktion. Keine Bestätigung. Er fühlte schreckliche Angst, weil er glaubte, dass es ihm nie erlaubt sei, nach Hause zu gehen, wenn er die falsche Antwort gäbe. Und so war es; jahrelang wurde ihm nicht gestattet, nach Hause zu kommen. Er konnte nicht fragen, ob er nach Hause gehen dürfe, weil er spürte, dass es niemanden gab, den er fragen konnte. Seine Eltern besuchten ihn kaum im Internat.

Später als Erwachsener brauchte er ständige Aufmerksamkeit und Gewissheit. Immer wenn seine Frau das Haus verließ, um Einkäufe zu machen, wurde er ängstlich und fühlte sich abgelehnt. Er war überzeugt, dass sie einen anderen traf. Die Beziehung scheiterte letztendlich. (Der renommierte George Miller-Preis für Psychologie aus Hand der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie wurde 1998 an eine Frau vergeben, die behauptet, dass Kindheitsereignisse, welche die Eltern betreffen, uns nicht ins Erwachsenenalter folgen!)

Komm einfach darüber hinweg !

Warum konnte dieser Mensch nicht einfach „darüber hinweg“ kommen und mit seinem Leben weitermachen? Er brauchte seine Mutter so sehr, dass sich in seiner Seele alles verbog. Verbiegt sich das Gehirn tatsächlich? Ist es umkehrbar? Ja. Was wir früher für ein genetisches Gesetz gehalten haben, kann in Wirklichkeit darauf zurückzuführen sein, was während unserer neun Monate im Mutterleib geschehen war. Unsere Erfahrungen im Mutterleib können für viel mehr verantwortlich sein, als wir uns vorstellen können, angefangen mit Drogensucht und Alkoholismus bis zur Psychose und sexuellen Abweichung. In diesem Buch werde ich eine Reihe von Forschungsergebnissen zitieren, die meinen Standpunkt bekräftigen. Nehmen Sie beispielsweise eine schwangere Frau, die chronisch ängstlich ist, vier Tassen Kaffee

 

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am Tag trinkt, raucht und niemals aufhört, herumzuflitzen. Ihre geschwinde Biologie kann sich auf ihren Fetus auswirken, ihn mit Erregung, Reizung und Impulsen überfluten, die sich anhäufen und die sich neu entwickelnden integrierenden Zentren des Babygehirns bedrohen. Später dann teilt man dem Kind viele Aufgaben zu, es darf keine Rast machen und wird gezwungen, in der Schule sehr gute Noten zu erzielen. Es fühlt sich chronisch überwältigt, nicht nur durch die Aufgaben, sondern auch durch die ganze Überreizung, die es während der Schwangerschaft erfahren hatte; und die hatte das Kind tatsächlich überwältigt, nicht in abstraktem sondern in biologischem Sinne. Diese Faktoren bauten sich auf und versahen es angesichts der kleinsten Aufgaben mit der wahren Empfindung, die Sache sei ihm über den Kopf gewachsen.

Dieser Prozess ist eine physiologische Einprägung tief im Gehirn, welcher der nun gereifte Kortex später lediglich einen Namen verpasst: „über meinen Kopf“. Bis dieser Kortex ins Spiel kommt, sehen wir ein grenzenloses Ausagieren der Empfindung, dass man nicht in der Lage ist, mit etwas Kompliziertem umzugehen. Die Person muss ausagieren, damit sie in ihrem System ein Gleichgewicht – Homöostase - herstellen kann. Das System kann nur ein beschränktes Maß an Eingaben aufnehmen. Diese Art von Mensch steht schon just an der Schwelle, wo ihm die Dinge über den Kopf wachsen. Lassen Sie mich nochmals wiederholen: Ausagieren ist ein Teil des homöostatischen Mechanismuses. Wir sollten uns da nicht einmischen, bis wir wissen, wie beschaffen die zugrunde liegenden Kräfte sind. Zu viele der heutigen Therapien -körperliche und psychologische - sind Pfuschwerk. Sie versuchen, die kompensierenden Mechanismen zu korrigieren anstatt die Kräfte, die Kompensation erforderlich machen.

Neues Beweismaterial aus Ultraschall-Aufnahmen weist darauf hin, dass der Fetus im späteren Teil der Schwangerschaft die unmissverständliche Mimik des Schreiens zeigt. Besonders offensichtlich ist dies bei Müttern, die rauchen. Das Baby leidet – ein lautloser Schrei. Wenn es nach der Geburt wunderlich ist und Koliken hat, so wissen wir jetzt, warum. Es hatte schreckliche neun Monate. Wenn wir gezwungen wären, still zu sitzen, während jemand neun lange Monate Rauch in unser Gesicht bliese, wäre das ein schweres Trauma. Der Organismus hat keine andere Wahl als sich vor dem Angriff des Sauerstoffentzugs zu verschließen. Genau wie bei der Pflanze, über die wir zu Anfang  dieses Buches gesprochen haben, die nur ein gewisses Maß an Sonnenlicht aufnehmen konnte, muss das Niveau der Verdrängung oder Hemmung ansteigen, um der Bedrohung entgegen zu treten.

Selten sagt ein Mann zu sich selbst: „Ich will, dass sich jemand um mich kümmert.“ Vielmehr wird das Bedürfnis sofort ohne volles Bewusstsein ausagiert. Für ihn ist es „einfach ein gutes Gefühl“, dass man sich um ihn kümmern sollte; sein Verhalten entspricht seinem unbewussten Bedürfnis und scheint logisch. Die Vergangenheit ist das Vorspiel. Er sagt: „Bring mir einen Kugelschreiber.“ Sie antwortet: „Hol ihn dir selbst. Ich bin nicht dein Dienstmädchen.“ Jetzt beginnt die Zankerei. 

 

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Sie reagiert darauf, dass ihr ständig von ihrem Vater gesagt wurde, was sie zu tun hatte. Er agiert seine Abhängigkeit aus, weil früh in seinem Leben niemand zu Hause war, der sich um ihn kümmerte. Sein Vater und seine Mutter arbeiteten außer Hause. Seine Bedürfnisse gerieten mit denen seiner Eltern in Konflikt. Es kann mit der Geburt angefangen haben, als seine Mutter krank war und in der Klinik bleiben musste. Er hatte damals niemanden, der sich um ihn kümmerte, noch hatte er jemanden danach. Er braucht es, dass man sich um ihn kümmert, und nur das kann er sehen – das Bedürfnis. Das Teuflische an der Sache ist, wenn wir sagen würden „Du agierst das Bedürfnis aus, dass deine Eltern dir helfen“, so hätte er nicht die leiseste Ahnung, wovon wir sprechen.

Das Bedürfnis ändert sich nicht, nur das Ziel. Das Individuum ist in einer Zeitschleife gefangen und wütend, weil seine Freundin nicht seine Mutter sein will. Das Ausagieren ist so unbewusst und automatisch wie das Bedürfnis.

Etwa im Alter von zwei Jahren ist der Kreis des Fühlens vollständig: Hirnstamm – Limbisches System – Thalamus - orbitofrontaler Kortex. In der bestmöglichen Welt ist dies die Route, die Gefühle nehmen. In den meisten Fällen jedoch reisen die Gefühle nicht auf dieser Strecke. Stattdessen werden sie abgeblockt und widerhallen in einer geschlossenen Neuronenschleife endlos und ein Leben lang; Bettnässen, chronische Angst, Depression und sexuelle Zwänge sind allesamt Wirkungen der Gefühlserfahrung. Das Problem an dem Widerhallen oder Reverbieren ist, dass wir zu allen Zeiten anfällig sind für den Auslöse-Effekt. Der Neuronenkreis wartet nur auf einen Auslöser. In dem soeben diskutierten Fall löste ein Telefonanruf - eine falsche Nummer - eine Depression aus, weil das reverbierende Gefühl lautete: „Niemand ist an mir interessiert.“ Hier konnte seine Depression durch Verknüpfung mit den realen Gefühlen und Szenen der Vergangenheit allmählich gelöst werden. Verknüpfung beendet das Reverbieren und verringert deshalb die Anfälligkeit für Depression. Depression und Angst sind keine eigenen Krankheiten; vielmehr repräsentieren sie die Art, wie das System mit Gefühlen umgeht. Gute Verdrängung entspricht der Depression. Schlechte Verdrängung entspricht der Angst. In beiden Fällen mögen die gleichen Todesgefühle auf der Lauer liegen, aber der Depressive ist von dem Gefühl umklammert und ergibt sich ihm, während die Angst-Person vor ihm davonläuft.

Weil das, worüber ich schreibe, nicht vorherrschenden psychologischen Theorien folgt, ist es wichtig, dass wir allen diesen Dingen gegenüber Aufgeschlossenheit bewahren. Insbesondere deshalb, weil nun die Genetik Einzug in den gegenwärtigen Zeitgeist hält. Wenn wir die neun Monate Leben im Mutterleib, das Geburtstrauma und die ersten Monate des Lebens übersehen, haben wir zweifelsohne keine andere Wahl, als Probleme im Erwachsenenalter den Genen zuzuschreiben. Es läuft darauf hinaus, dass man sagt: „Da können wir nichts tun. Es ist alles vorherbestimmt.“ Ist es nicht! Oder vielleicht doch, aber möglicherweise ist es nicht durch die Gene vorherbestimmt,  sondern durch die Einprägung. Und da können wir etwas tun.  

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In der gegenwärtigen Praxis besteht die einzige Alternative in der Behandlung dieser Störungen darin, das Problem zu diskutieren. Das ist, als würde man

 

 

 

 

Abb. 5.   Möglicher Schaltkreis eines reverbierenden Gefühls

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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evolutionäre Stufen überspringen. Es kommt dem Versuch gleich, eine Hirnstamm-Einprägung durch Gedanken loswerden zu wollen. Das ist eine endlose Aufgabe und der Grund, warum die Analyse Jahre dauert.

Der frühe Schmerz, den dieses Individuum erfuhr, wird zu einem reverbierenden Kreisprozess; das Gefühl ist gefangen und kreist in endloser Schwingung durch das Gehirnsystem. Das geht so, bis es verknüpft wird.  Der UCLA-Professor für Neuropsychologie, Allan Schore, beschreibt, wie Gefühle im Gehirn reverbieren. Was Schore vorschlägt, ist eine mögliche Neuronenschleife für dieses Reverbieren, das uns anhaltend angespannt und ängstlich macht. Es sind diese reverbierenden Kreisprozesse, die im Unbewussten Raum beanspruchen und dazu führen, dass bestimmte Gehirnschaltkreise ständig überaktiv sind.1 (Bitte beachten Sie in dieser Hinsicht die Arbeit von Post.2 )

Der Prozess des Reverbierens ist eine ständige Mahnung, dass wir unerledigte Angelegenheiten mit uns tragen. Ausführliche Forschungsarbeiten zeigen, dass sich wiederholende ähnliche Ereignisse, wie zum Beispiel Vernachlässigung oder fehlende Aufmerksamkeit früh im Leben, bestimmte Bahnen verstärken und so die Mittel schaffen, durch die in späteren Jahren Gefühle über diese Ereignisse ausgelöst werden. Ich habe den reverbierenden Schaltkreis und die Bedeutung der neun Monate Schwangerschaft diskutiert. Wir sehen, warum uns selbst harmlose Vorfälle so leicht provozieren können. Je gestörter der Mensch ist, je mehr die reverbierenden Kreisprozesse mit Schmerz aufgeladen sind, um so weniger braucht es, ihn auszulösen. Und so ist bei der Psychose gar kein Stimulus notwendig. Einer von meinen gestörten Patienten ging an einem Parkplatzkiosk vorbei und war sich sicher, dass der Wächter hinter seinem Rücken über ihn lachte. Er aß gerade ein Sandwich und war überzeugt, dass der Wächter nicht wollte, dass er im Gehen esse.

Lassen Sie uns nun mit dem Leben im Mutterleib weitermachen und sehen, warum es so wichtig ist. Ich werde eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen zitieren, die meine Ansichten untermauern, aber ich muss bekennen, dass ich diese Ansichten schon Jahrzehnte vertrat, ehe die Forschung aufgeschlossen hat. Die Beobachtung von Patienten ist eine gültige Form der Forschung, solange es nur wenige Vorurteile gibt, die Wahrnehmungen verfälschen könnten. Ich notierte einfach, was ich beobachtete, und entwickelte daraus eine Theorie. Ich habe keinesfalls eine Theorie entwickelt und sie dann meinen Beobachtungen übergestülpt.

Anoxie: Eine Prägung fürs Leben

Zur Erläuterung des Sauerstoffmangels bei der Geburt und seiner Auswirkungen auf das Gehirnsystem greife ich zusätzlich auf Gedanken aus meinem früheren Werk Why You Get Sick and How You Get Well zurück.3  

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Das Experiment, das ich hier diskutiere, ist die wichtigste Forschungsarbeit, die wir jemals geleistet haben, um die Existenz der eingeprägten Erinnerung zu verifizieren. Es kann und sollte dazu beitragen, das Erscheinungsbild der Psychotherapie zu verändern, weil es ein schwerwiegender Beweis für die Einprägung der Erinnerung ist und zeigt, wie diese Einprägung unser Leben lenkt.

Die Studie über Blutgase wurde im UCLA Lungenfunktions-Labor in Zusammenarbeit mit dem Direktor Dr. Donald Tashkin und seinen Kollegen, den Lungenforschern Dr. Eric Kleerup und M.B. Dauphinee durchgeführt. Sie wurde gefilmt. Zwei Patienten wurden an Messgeräte angeschlossen, unter anderem zur Bestimmung der Sauerstoff- und Kohlendioxidwerte. Dann ließ man sie ein Wiedererlebnis (Primal) simulieren. Während der Simulation wurde beiden Patienten schwindlig, und sie hatten „klauenförmige“ Hände, typisch für das Hyperventilations-Syndrom.

Mit einem eingeführten Katheder nahmen wir häufige Blutproben während der Wiedererlebnis-Episoden der Versuchspersonen (alle zwei bis drei Minuten in einem Zeitraum von eineinhalb Stunden) und während der freiwilligen Hyperventilation. Wir maßen die Sauerstoff- und Kohlendioxid-Spiegel im Blut und ebenso die Körperkerntemperatur, Herzschlag und Blutdruck. Die Simulation und das Wiedererleben waren einander hinsichtlich der angestrengten körperlichen Aktivität und des tiefen schnellen Atmens ziemlich ähnlich.

Während der Simulation waren die Kohlendioxid- und Sauerstoffwerte im Blut so, wie es zu erwarten war. Nach wenig mehr als zwei Minuten tiefen Atmens gab es klare Anzeichen des Hyperventilations-Syndroms, einschließlich Benom­menheit, kribblige Händen, Steifheit der Extremitäten, bläuliche Lippen, derartigen Energieverlust, dass die Versuchsperson kaum noch eine Anstrengung unternehmen konnte, und beträchtliche Erschöpfung.

Beim Wiedererleben des Sauerstoffentzugs bei der Geburt jedoch trat kein Hyperventilations-Syndrom auf. Trotz tiefer, schneller Lokomotiv-Atmung von 20- bis 30-minütiger Dauer gab es keine Benommenheit, zusammengezogenen Lippen oder kribbligen Hände. Die UCLA-Forscher konnten sich das Fehlen des Hyperventilations-Syndroms nicht erklären: „Hier muss ein anderer Faktor am Werk sein“, schlugen sie vor. Ich glaube, dieser Faktor ist eingeprägte Erinnerung.

Warum verhinderte das Verweilen in der Geburtserinnerung das Hyperventi­lations-Syndrom, und welche Bedeutung hat das für den Ursprung und die Heilung menschlichen Leidens? Wir wissen, dass das lokomotivähnliche Atmen, dessen Zeuge wir in dem Primal wurden, tief im Hirnstamm organisiert wird, höchstwahrscheinlich von der Medulla. Es scheint wahrscheinlich, dass die Lokomotiv-Atmung Teil der eingeprägten Erinnerung der Anoxie oder Hypoxie ist. Es gab ein echtes Bedürfnis und einen echten Impuls zu atmen, auch wenn es während der Geburt nicht möglich war. Wenn diese Erinnerung später im Leben ausgelöst wird, kommt die ursprünglich damit verknüpfte Atmung zum Vorschein.

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In der UCLA-Studie hatten wir beinahe direkten Zugang zur Medulla und zu anderen Strukturen des Hirnstamms, ein Phänomen, das in der psychologischen Literatur noch nie erwähnt worden ist. Diese Art von Zugang wurde von einigen Neurologen als der Heilige Gral bezeichnet. Ein Beweisstück für diesen Zugang zu tieferen Gehirnebenen ist das Fehlen des Hyperventilations-Syndroms. Nur wenn jemand inmitten der Erinnerung steckt, lässt es sich vermeiden.

Wenn tiefes Atmen wie in unserer Simulation als Willensakt vollzogen wird, dann wird es weiter oben im Gehirn, nämlich im Kortex reguliert. Es ist ein Beschluss höherer Ebene und keine Einprägung tieferer Ebene. Es ist die Beteiligung der höheren Gehirnebene, die zur Hyperventilation beiträgt. Aber in der eingeprägten Erinnerung eingeschlossen zu sein, automatisierte das tiefe Atmen und führte nicht zu Erschöpfung. Das Gesamtsystem, Gehirn und Körper, war wieder dort zurück in der Erinnerung. Es war kein Nachdenken über die Erinnerung; es war die totale Versunkenheit in ihr.

Während einer schwierigen Geburt schinden sich die Rücken- und Bauchmuskeln des Fetuses und erzeugen enorme Mengen an Energie und Milchsäure. Wenn man als Erwachsener diese Erfahrung wiedererlebt, involviert das genau die gleichen Muskeln zusammen mit einem enormen Ausstoß an Laktat. Das haben meine Kollegen und ich bei unserer Forschung im UCLA-Lungenlabor herausgefunden. Erinnerung ist in allen Aspekten präzise. Wenn man in einem Gefühlserlebnis Zugang zu ihr hat, so muss sie in allen psychophysiologischen Bereichen präzise sein.4

Heutzutage gibt es  Schulen für tiefes Atmen, wie zum Beispiel Holotropes Atmen, das für sich beansprucht, es könne alle möglichen Probleme durch Tiefatmungs-Übungen lösen. Das ist nichts anderes als der Glaube an Magie. Tiefes Atmen meidet die Frage nach dem „Warum“. Vorübergehend kann es Spannung und Symptom lindern, aber es hat nichts mit Erinnerung zu tun. Das kleine Wörtchen „Warum“ wird vernachlässigt, und wir werden zu falschen und trügerischen Prozeduren gezwungen.

Lassen Sie mich klar Stellung beziehen zum UCLA-Experiment. Das System der Versuchsperson reagiert auf Zellen, die Jahrzehnte zuvor nach Sauerstoff geschrien hatten. Es ist wahrlich der lautlose Schrei, genau wie unser Körper nach Liebe schreit, auch wenn wir eine liebevolle Frau oder einen liebevollen Mann zu Hause haben.

In einem anderen Syndrom wiedererlangter Erinnerung, wenn eine Patientin ein Trauma wie Inzest wiedererlebt, und zwar psychophysiologisch, anstatt das Trauma mit ihrem kortikalen Apparat abzurufen, tauchen alle ursprünglichen Reaktionen unversehrt wieder auf. Dadurch können wir nachprüfen, ob die Erinnerung real ist. Etwas ins Gedächtnis zurückzurufen, bedeutet, sich auf Worte und Gedanken zu stützen - ein kortikales Ereignis. Erinnerung bedeutet, dass man eine tiefsitzende wortlose Verletzung aufdeckt und sie so wiedererlebt, wie sie geschah. 

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Das impliziert dieselbe Freisetzung von Stresshormonen und dieselben Gehirnwellenmuster. Es ist der Unterschied zwischen einem totalen physiologischem Zustand, einer Erfahrung, und einer gedanklichen Übung des präfrontalen Kortexes. Schmerz wird nicht als Gedanke abgespeichert, sondern als Erfahrung.

Inzest kann eine völlig wortlose Erinnerung sein, genau wie Anoxie bei der Geburt oder das Fehlen engen menschlichen Kontakts in den ersten Wochen des Lebens. Im Verlauf einer konventionellen Psychotherapie könnte sich die Patientin vielleicht überhaupt nicht an den Inzest erinnern, bis sie Zugang zu der tief im Gehirn registrierten Verletzung hat und sie freisetzen kann. Ich habe die ineinander verkrallten Hände einer Patientin gesehen – die Handgelenke in einer Position, als wären sie zusammengebunden -, als sie wiedererlebte, wie sie im Alter von elf Jahren vom Freund ihrer Mutter während eines sexuellen Übergriffs festgehalten wurde. Da sie jeden Aspekt des Inzest wieder und wieder erlebte, kam dieselbe Handgelenksposition klar zum Vorschein.

Sauerstoffmangel und lebenslanger Stress

Sauerstoffmangel bei der Geburt nötigt den Fetus, große Mengen an Stresshormonen, Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin), zu produzieren. Diese Hormone bereiten das System bei Gefahr auf Kampf oder Flucht vor. In diesem Fall ist die Gefahr der Tod durch Sauerstoffentzug, und später ist die gleichwertige Gefahr das volle Bewusstsein dieses Ereignisses. Das volle Bewusstsein dieses Ereignisses ist exakt dieselbe Gefahr mit derselben Hormonausschüttung und denselben Werten der Vitalfunktionen. Das Gehirn geht, indem es die Kampf-oder-Flucht-Reaktion in Gang setzt, mit der Gefahr auf dieselbe Weise um, als würde sie jetzt gerade geschehen. Sie geschieht im wahrsten Sinne des Wortes gerade wieder, aber diesmal ist der Patient älter und stärker; das Gehirn wird sich nicht sofort gegen die Gefahr verschließen.

Die Katecholamine beschleunigen den Herzschlag und tragen dazu bei, Blut von den peripheren Organen abzuzweigen und den zentralen Organen wie zum Beispiel Herz und Lungen zuzuführen; das System bereitet sich auf den Kampf vor. Das Immunsystem eilt zu den Waffen und produziert bestimmte Immunzellen, wie beispielsweise natürliche Killerzellen, um gegen das Fühlen anzukämpfen, als sei es ein tödlicher Virus. Die Stresshormone sind nicht nur während der Geburt hilfreich, sondern unterstützen auch die Anpassung nach der Geburt. Die Katecholamine unterstützen die Absorption der Lungenflüssigkeit bei der Geburt und helfen auch dabei, die Alveolen (Luftbläschen) der Lunge zu reinigen, und ermöglichen dadurch, dass sie offen bleiben. Kaiserschnitt-Babys neigen später im Leben weit mehr zu Atmungsproblemen, weil ihnen die notwendige Kompression bei der Geburt fehlt.  

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Einige meiner Patienten, die ihre Geburt wiedererleben, erbrechen eine Tassevoll Flüssigkeit, sobald sie sich in der Sequenz befinden. Ihre Reinigungs­mechanismen waren offensichtlich defekt. Diese Patienten erklären, dass bei ihnen ein innerer Schaltknopf gedrückt worden sei, so dass die Flüssigkeit einfach aus ihnen herausströme, und sie berichten einheitlich, dass sie sich fühlen, als würden sie ertrinken. Jedesmal, wenn sie das Ereignis wiedererleben, erfahren sie den gleichen Erguss. Er ist offensichtlich fester Bestandteil der Erinnerung. Die Produktion von Flüssigkeit ist eine weitere Form der Körpererinnerung; weshalb ich darauf bestehe, dass Erinnerung nicht dasselbe ist wie bewusstes angestrengtes Abrufen. Beim Abrufen fehlt das Erleben.

In unseren Stresshormon-Untersuchungen scheinen neu aufgenommene Patienten noch immer auf ein früh eingeprägtes Trauma zu reagieren. Studien mit Infrarotkameras an unseren Patienten ergaben nach einem Jahr Therapie besseren Blutfluss in den peripheren Gefäßen.

Kürzlich wurde berichtet, dass Hypoxie in Lamm-Föten Neuronen des Hirnstamms (subcaeruleus) aktiviert. Diese Hypoxie beeinträchtigt die Atmungs­funktion dieser Tiere und kann mit späteren Atmungsproblemen in Zusammenhang stehen, Asthma nicht ausgeschlossen.5 Die Implikationen für Menschen sind offensichtlich – Einprägungen im Hirnstamm.

In einer Studie an Schaf-Föten fand man heraus, dass minimale Sauerstoffnot  mit der Zeit geschwächte Gehirnstrukturen einschließlich des Hippocampuses und Kortexes verursachte. Es war kein einmaliger Vorfall unzureichenden Sauerstoffs, sondern vielmehr ein andauernder Entzug, etwas, das auf eine austragende Mutter zutrifft, die viel raucht oder in einer verschmutzten städtischen Atmosphäre lebt. Auch Ratten, die unmittelbar nach der Geburt nicht betreut worden waren, wiesen verminderte Zellentwicklung im Hippocampus auf.6

Das Wachstum des frontalen Kortexes nach der Geburt braucht Zeit. Anoxie behindert die kortikale Entwicklung, und das kann den Katecholamin-Ausstoß behindern, was zu mangelhaft kontrollierten Impulsen und/oder lebenslanger Spannung und Angst führen kann. In der Therapie sehen wir das an Patienten, die eine Intrusion der ersten Ebene (Hirnstamm) erleben; das ist ein Aspekt des Geburtstraumas, der das Wiedererleben einer Kindheitsszene durchdringt. Es kommt zu Husten, Würgen, Krümmen des Rückens und Ausfall der Atmung. Wenn der Patient zu sehr frühen Ereignissen zurückkehrt, zeigen sich nach und nach die defekten Ebenen im Gehirn. Sie können zu schlechter Kontrolle über präverbale Erinnerungen führen.

Alan Schore betont, dass ein geliebtes Kind die kortikale Fähigkeit besitzt, Erregung vom System abzukoppeln und sympathische, stimulierende Impulse in

 

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parasympathischen, verlangsamenden Metabolismus überzuleiten. Es ist in der Lage, Herzbeschleunigung abzubremsen und das System zur Ruhe zu bringen.7 Kurz gesagt hat ein geliebtes Kind das zerebrale Rüstzeug, um innere Agitation aufzuhalten, und es kann Angst unterdrücken und die Herzfrequenz auf angenehmem, gesundem Niveau halten. Der orbitofrontale Kortex ist Teil dieses Entkoppelungsmechanismus.

Ein Artikel im Journal der Amerikanischen Medizinischen Gesellschaft berichtete: „Die Gefahren, mit denen der Fetus konfrontiert wird, erreichen während der Wehen einen Höhepunkt. Die Geburt ist die bedrohlichste Erfahrung, denen die meisten Individuen jemals ausgesetzt sind. Auch unter optimalen kontrollierten Umständen ist der Geburtsprozess für den Fetus ein traumatisches, potentiell verstümmelndes Ereignis.“ 8

Lagercrantz und Slotkin, zwei Erforscher des Geburtsprozesses, weisen darauf hin, dass „beinahe jedes Neugeborene eine Sauerstoffschuld ähnlich der eines Sprinters nach einem Lauf aufweist.“ 9 Katecholamine rüsten das System dafür, Anoxie durch Erleichterung des Atmens zu bekämpfen. Sie beschleunigen den Metabolismus; folglich das hyperaktive Kind, dem der Sauerstoff bei der Geburt entzogen worden war. Wenn das Kind dem Lehrer sagen könnte, warum es nicht auf seinem Platz bleiben kann, so könnte es Folgendes anbieten: „Ich litt während meiner Zeit im Mutterleib an Sauerstoffnot, weil meine Mutter geraucht hat, und ich litt an Sauerstoffnot bei der Geburt, weil man ihr starke Beruhigungsmittel verabreichte. Jetzt leidet mein System noch immer darunter, es gibt Gas, um die Erinnerung abzuwehren, und stößt mich von meinem Platz, damit ich weiterhin vor der Erinnerung davonlaufen kann. Ich werde glücklich stillsitzen, wenn Sie diese Erinnerung wegnehmen.“ Wir waren sehr erfogreich bei kleinen Kindern (bei den wenigen, die wir angenommen haben); nach ihren Primals können sie wirklich stillsitzen. Es braucht nicht viel, um sie von Grund auf zu ändern. Es gibt keine verfestigten Muster, mit denen man sich beschäftigen muss. Sie können leicht in ihre Kindheit gehen, weil sie schon da sind.10

Während einer sauerstoffarmen Geburt steigen die Katecholamin-Werte manchmal so enorm an (200-fach), dass die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls bestünde, wenn das Neugeborene ein Erwachsener wäre.11 Nachdem ich den enormen Druck gesehen habe, den Wiedererlebnisse an den Tag legen, bin ich der Überzeugung, dass die Einprägung von Sauerstoffmangel im Menschen ein wichtiger beisteuernder Faktor für spätere zerebrale Schlaganfälle sein kann. Wenn wir verstehen, dass im Alter von sechzig die Erinnerung an ein niedriges Sauerstoff-Niveau noch immer da ist, noch immer Kraft hat, dann können die Reaktionen des Kleinkinds in der Tat zu Reaktionen eines Sechzigjährigen werden – und zu einem Schlaganfall.

In einer Studie an fünfundsiebzig Neugeborenen entdeckte man, dass Sauerstoffentzug während der Geburt nicht zu Gehirnschaden führte, wenn keine vorausgehende

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Notlage im Mutterleib aufgetreten war.12  Die Not des Fetuses war der wesentliche Faktor, der zu neurologischem Schaden beitrug. So stellt es sich heraus, dass das Geburtstrauma nicht die ganze Geschichte ist. Es gibt den wichtigen Hintergrund der neun Monate fötalen Lebens, der die Grundlage dafür bildet, welche Reaktion auf die Geburt erfolgt. Das zu verleugnen, bedeutet zu verleugnen, dass der Fetus ein Nervensystem hat, das verschlüsseln, speichern und auf Stimuli reagieren kann.

Bei der Geburt brauchen wir Sauerstoff und Nährstoffe, damit wir Axone bilden können, die Verbindungsstäbchen zu anderen Nervenzellen; und wir brauchen Sauerstoff für die Entwicklung von Dendriten, den zweigförmigen Sprossen,

Abb. 6. Frühes Trauma lässt Gehirnverbindungen verkümmern.

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die Input in die Neuronen annehmen. Ein frühes Trauma behindert die neurale Entwicklung, so dass wir buchstäblich weniger Gehirnkraft für die Auseinandersetzung mit dem späteren Leben haben. Wenn wir Anoxie bei der Geburt oder auch später durch eine Überdosis Drogen oder durch einen Selbstmord-Versuch unter Verwendung von Barbituraten erleiden, so tritt der Schaden wahrscheinlich im Hippocampus auf und möglicherweise in anderen limbischen Strukturen. Das Ergebnis ist schlechte Verdrängung und ständiger Schmerz.

Wie schon erörtert, haben erwachsene Patienten mit Migränen nahezu ausnahmslos unter Sauerstoffausfall bei der Geburt gelitten. Wenn sie die Geburt wiedererleben, laufen sie manchmal rot an und ringen verzweifelt nach Luft. Mit der Zeit, wenn sie den Sauerstoffmangel immer wieder erleben, nehmen ihre Migräneanfälle ab oder verschwinden völlig.13 Bei jeder beliebigen Anzahl vaskulärer Probleme können wir unser Augenmerk auf Sauerstoff-Deprivation während oder um die Zeit der Geburt herum richten. Migräne ist vielleicht eines von vielen Beispielen für die weitgestreuten Effekte des primären „Urknalls“.

Der Mangel an Sauerstoff prägt eine Dringlichkeit auf Leben und Tod in das System ein. Später wird sie dann beispielsweise oft in eine Dringlichkeit auf Leben und Tod übersetzt, unbedingt Drogen haben zu müssen.14 Drogen wie Heroin sind exzellente Hirnstamm-Blocker, wirken also dort, wo die Prägung auf Leben und Tod eingraviert ist. So ist es keine Überraschung, dass Heroin abhängig macht. Und es ist keine Überraschung für uns, die wir Süchtige behandelt haben, dass so viele von ihnen schwere, traumatische Hirnstamm-Einprägungen aufweisen. Heroin leistet Ersatz für das Defizit an hemmenden Neurohormonen, das durch das Trauma hervorgerufen wird. Es trägt dazu dabei, das untere Gehirnsystem zu normalisieren.

 

 


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Quellenverweise und Anmerkungen

N. 1         Allan Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self  (New Jersey: Lawrence E. Erlbaum, 1994), s. 297.

N. 2         R. M. Post, “Transduction of Psychosocial Stress into the Neurobiology of Current Affective Disorder,” American Journal of Psychiatry 149 (1992): 999-1010.

N. 3         Arthur Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West Hollywood, Calif.: Dove Books, 1996).

N. 4         R. M. Post, “Transduction of Psychosocial Stress into the Neurobiology of Current Affective Disorder,” American Journal of Psychiatry 149 )1992): 999-1010.

N. 5         S. Breen, Sandra Rees und D. Walker, “Identification of Brainstem Neurons Responding to Hypoxia in Fetal and Newborn Sheep,” Brain Research 748 (1997): 119-20.

N. 6         Siehe A. Barbazanges et al., „Maternal Glucorticoid Secretion Mediates Long-Term Effects of Prenatal Stress,“ Journal of Neuroscience 16 (1996): 3943-49. Siehe auch: T. J. McDonald und P. W. Nathanielsz, „Bilateral Destruction of the Fetal Paraventricular Nuclei Prolongs Gestation in Sheep,“ American Journal of Obstetrics and Gynecology 165 (1991): 764-70.

N. 7         “Ein umweltlich angepasstes präfrontales kortikales System, das Erregung schnell auskoppeln kann, sympath(et)ische (aktivierende) Herzbeschleunigung abschalten und parasympath(et)ische Herzverlangsamung anschalten kann,........agiert als kortikales System, das autonome Reaktionen auf affektive (emotionale) Auslöser reguliert.“ Allan Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self: The Neurobiology of Emotional Development (New Jersey: Lawrence E. Erlbaum and Associates, 1994), s. 225.

N. 8         Abraham Towbin, “Organic Causes of Minimal Brain Dysfunction,” Journal of the American Medical Association 217, no. 9 (30. August 1971): 1213.

N. 9         Hugo Lagercrantz und Theodore Slotkin, “The Stress of Being Born,” Scientific American 254, no. 4 (April 1986): 100.

N. 10       Wir hatten eine Vierjährige, die wiedererlebte, wie sie im Alter von zwei Jahren von ihrer Mutter verlassen wurde.

 

N. 11       Hugo Lagercrantz und Theodore Slotkin, “The Stress of Being Born,” Scientific American 254, no. 4 (April 1986): 100-107.

 

N. 12       Hanns C. Haesslein und Kenneth R. Niswander, „Fetal Distress in Term Pregnancies,“ American Journal of Obstetrics and Gynecology 137 (1980): 245-51.

 

N. 13       Es ist hilfreich, die biologischen Beweise mit diesen statistischen und neurologischen Befunden in Verbindung zu bringen. Wir erkennen das, indem wir uns die Gehirne unserer Patienten anschauen, die intensiv damit beschäftigt sind, Schmerz zu verdrängen. Wenn der Schmerz in unserer Therapie entfernt wird, ist das Gehirn weit weniger geschäftig; die Frequenz ist langsamer und die Amplitude niedriger (siehe mein Buch Why You Get Sick and How You Get Well zur Diskussion der Hirnwellen – Resultate).

N. 14       Siehe A. Barbazanges et al., „Maternal Glucorticoid Secretion Mediates Long-Term Effects of Prenatal Stress,“ Journal of Neuroscience 16 (1996): 3943.

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KAPITEL 11
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LEBEN IM MUTTERLEIB

Vorspiel zum realen Leben

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Die wichtigste Phase der Kindererziehung findet in den neun Monaten der Schwangerschaft statt. Die Ereignisse in dieser Zeit scheinen dauerhafte Auswirkungen zu haben, weil sie in ein naives und verletzliches Nervensystem eingeprägt werden.1 Durch Autopsien an Psychotikern steht uns Forschungsmaterial zur Verfügung, aber so, wie es scheint, führt die Spur jeglicher Art Symptome und abweichenden Verhaltens letztlich auf pränatale Ereignisse zurück. Ich werde einige Zeit für die Erörterung der lebenslangen Auswirkungen des Geburtstraumas aufwenden, ein Thema, über das ich in den letzten dreißig Jahren geschrieben habe. Die aktuelle psychologische Literatur handelt meist von der neuen „Ego-Psychologie.“ Nachdem die Analytiker es aufgegeben haben, sich in die Ereignisse der Kindheit zu vertiefen, weil es so wenig einbrachte, wendeten sie ihre Aufmerksamkeit dem Hier-und-Jetzt zu. Meistens geht es darum, sich gegenwärtiger Symptome anzunehmen und sie isoliert als DAS Problem zu behandeln. Letzte Nacht brachte ein Nachrichtensender im Fernsehen einen Bericht über eine neue Methode namens „Aussetzungs-Therapie“. Leute, die an Zwangsvorstellungen leiden und wirklich glauben, jede Unebenheit, über die sie mit ihrem Wagen fahren, sei eine Leiche, wurden behandelt, indem man sie mit Müllsäcken konfrontierte und sie drüberfahren ließ, während der Therapeut auf dem Beifahrersitz ihnen versicherte, dass da nichts sei, wovor man Angst haben müsste. Es gibt etwas, wovor man Angst haben muss, nur ist es nicht offensichtlich. Es kommt von einem Erlebnis im Alter von sechs Monaten, das durch viele andere spätere Erlebnisse verstärkt wurde. Wenn wir die Geschichte außer Acht lassen, müssen wir uns gezwungenermaßen  solchen Unsinn zu eigen machen und ihn als „Therapie“ bezeichnen. Wenn die Kinder meines Onkels vom Pferd fielen, ließ er sie wieder raufklettern und sagte:

 

 

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 „Schau, du brauchst keine Angst zu haben.“ Der Grund, warum diese Art „Therapie“ toleriert wird und warum sie Einfluss gewinnt, besteht darin, dass sie kein tieferes Nachforschen erfordert. Sie ist schnell, zielt auf den Punkt und kann auch von Eltern verstanden und durchgeführt werden, ohne sie „Aussetzungs-Therapie“ zu nennen. Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass der Grund, warum die Tiefenpsychologen es aufgaben, in der Kindheit zu forschen, darin bestand, dass es so wenig einbrachte. Entscheidend war jedoch nicht das Forschen. Entscheidend war die Tatsache, dass es ein „Reden oder auch Weinen über etwas“ war und kein Wiedererleben. Diese Therapie zog die Neurologie und Evolution nicht in Betracht. Sie maß der Einprägung kein Gewicht bei, erkannte sie nicht einmal. Sie begriff nicht, dass frühe Ereignisse im Gehirn verschlüsselt und gespeichert werden und mit den frontalen Integrationsmechanismen in Verbindung treten müssen. Das alles zu ignorieren, bedeutet, das zu tun, was Patienten gezwungenermaßen tut, wenn sie verdrängen – sich auf die Gegenwart konzentrieren;  glauben, das Problem liege außen anstatt im Inneren. So wird die Aussage: „Mein Mann lässt mir keinen Raum zum Atmen“ für bare Münze genommen, anstatt zu begreifen, dass sie in Anoxie bei der Geburt wurzeln kann. Es mag stimmen, dass der Ehemann ihr keinen Raum zum Atmen lässt, aber für ihren Wunsch nach Scheidung kann eine unerbittliche Kraft aus ihrem Inneren verantwortlich sein. Aber abgesehen davon, wem würde es auch nur im Traum einfallen, dass diese Aussage einer Vierzigjährigen bis zur Geburt zurückreichen könnte oder bis zu einer rauchenden Mutter, als der Fetus weniger als drei Monate alt war? Wenn die geeigneten Werkzeuge fehlen, um das alles zu erkunden, ist es verständlich, dass diese Fakten ignoriert werden. Es ist nichts anderes, als wolle man ohne Einsatz eines Forschungs-U-Boots verstehen, was sich auf dem Meeresgrund befindet. Wir haben jetzt das nötige „Forschungs-U-Boot“.

Liebe beginnt in den neun Monaten im Mutterleib. Gesundheitsbewusste Ernährung, Abstinenz von Zigaretten oder Alkohol und ein ruhiges, ausgeglichenes Leben sind die ersten Schritte zu positiver fetaler Entwicklung.  Es geht nicht nur um die fetale Entwicklung; hier werden die Fundamente für unser ganzes übriges Leben gelegt.

Um herauszufinden, was mit uns im Mutterleib und bei der Geburt geschah, müssen wir die Sprache des Hirnstamms erlernen, wo diese vorgeburtlichen und geburtlichen Aufzeichnungen bewahrt werden. Bildlich gesprochen müssen wir wieder zu einem Salamander werden. Wenn wir Patienten beobachten, die ganz frühe Ereignisse mit einem uralten Gehirnsystem wiedererleben, werden wir Zeuge der Evolution unseres eigenen Gehirns, die sich im Zeitraum von Jahrzehnten vollzieht.

Wichtige Nerventrakte, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns übermitteln, werden zwischen dem zweiten und dritten Schwangerschaftsmonat im Nervensystem verankert. Das geschieht vor der Entwicklung der Bahnen für inhibitorische Neurotransmitter, wie zum Beispiel  des

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Endorphin-Netzes, das etwa im vierten Monat seine Funktionsfähigkeit erreicht.2 K. S. Anand untersucht seit einiger Zeit Schmerz und fetales Leben. Er berichtet: „Nerventrakte, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns übermitteln, sind nach der 35sten bis 37sten Woche nahezu vollständig entwickelt.“

Jean Lauder, die die Entwicklung von Nervenzellen und ihrer Axone erforscht hat, schreibt: „Möglicherweise werden von den Spitzen wachsender Axone Neurotransmitter freigesetzt, die die Morphologie angrenzender Axone und Zielzellen formen.“ 3 Sie erklärt, dass Neurotransmitter während der Entwicklung als morphogenetische (strukturelle) Signale betrachtet werden können, eine Funktion ihrer evolutionären Geschichte. Sie sagen: „Ändere deine Struktur oder stirb.“ Eine Veränderung der Struktur hilft, die Transmitter zu regulieren. Hier wird klar, dass die sich entlang der Nervenbahnen bewegende Nachricht die Struktur der Anschlussaxone verändern kann. Es ist eine weitere Art, wie sich die Gehirnstruktur unter dem Einfluss von Schmerz verändern kann. Die Struktur des Neurons und seiner Tentakeln muss sich ändern, um diese Schmerzbotschaft aufnehmen zu können. Die Veränderung der Struktur ist eine weitere Methode, wie der Schmerz reguliert und kontrolliert wird. Deshalb ist Veränderung lebensrettend und bewahrt in gewisser Weise die Unversehrtheit des gesamten Gehirns. Das ist es, was ‚Dislokation der Funktion’ bedeutet.

Eine Studie zweier finnischer Wissenschaftler, M. Huttunen und P. Niskanen, erforschte Kinder, deren Väter entweder in der Zeit starben, als die Mütter schwanger waren, oder im ersten Lebensjahr des Kindes.4 Die Nachkommen wurden über einen Zeitraum von fünfunddreißig Jahren unter Verwendung urkundlicher Beweise untersucht. Nur diejenigen, die ihre Väter während der Zeit im Mutterleib verloren, hatten ein erhöhtes Risiko für psychische Krankheiten, Alkoholismus oder Kriminalität. Der emotionale Zustand der schwangeren Mutter war eindeutig beeinträchtigt, und das hatte lebenslange schädliche Auswirkungen auf das Kind. Das Ergebnis dieser Studie legt nahe, dass der emotionale Zustand der schwangeren Mutter mehr Langzeiteffekte auf das Kind ausübt als der emotionale Zustand der Mutter im ersten Jahr nach der Geburt.

Jean Lauder betont, dass damit zu rechnen ist, dass alles, was die Neurotransmitterspiegel signifikant erhöht (wie es bei chronischem Stress der Fall ist), bedeutende Auswirkungen auf die spätere Gehirnentwicklung hat.5 Was mit uns im Mutterleib geschieht, ist absolut entscheidend für die Neurotransmitter-Produktion. Es bestimmt, wie sehr wir später im Leben emotional leiden werden. Wenn eine schwangere Mutter in den ersten Monaten der Schwangerschaft von ihrem Partner oder Ehemann verlassen wird und unter Angst oder Depression leidet, kann sich das durch hormonelle Veränderungen auf den Fetus übertragen.  

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Hormonelle Veränderungen bei der Mutter wirken sich auf die Neurotransmitter-Entwicklung im Fetus aus und definieren laut Huttunen und Niskanen „die Organisation der Nervenbahnen.“ 6 Sie stellen fest, dass „Änderungen der mütterlichen, fetalen und neonatalen Biochemie in kritischen (Entwicklungs-) Perioden die Schaltkreise und somit das postnatale Verhalten von Jungtieren irreparabel verändern können.“ 7

Das ist von entscheidender Bedeutung, weil es ein Gradmesser dafür ist, wie effektiv Kinder und  Erwachsene Schmerz ausschalten und mit Hindernissen und Widrigkeiten fertig werden. Es bedeutet, dass ein geschwächtes Verdrängungssystem nicht alle von unten eindringenden und zum Kortex aufwärts drängenden Impulse aussperren kann, und dieses Versagen kann schlechten Schlaf bedeuten und die Unfähigkeit, sich zu sammeln und zu konzentrieren......und ebenso Aufmerksamkeits-Störungen. Wir können uns nicht konzentrieren, wenn alle möglichen alten Erinnerungen hochbranden und die frontalen Prozesse fragmentieren. Studie um Studie demonstriert, dass „ die Berührung Neugeborener physiologische und verhaltensmäßige Veränderungen erzeugt, die bis ins Erwachsenenalter andauern.“ Bei Tieren ist Streicheln eine Möglichkeit, das Tier Liebe spüren zu lassen. In einer Reihe von Studien konnten gestreichelte Ratten späterem Stress besser widerstehen als solche, die nicht gestreichelt wurden.8

Berührung ist Liebe

Wir können aus diesen Studien extrapolieren, dass die Liebkosung neugeborener Kinder nicht nur die Art von Transmitter und Rezeptoren produziert, die nötig sind, um mit späteren Nöten fertig zu werden, sondern in den Kleinen auch als positive Einprägung bleibt. Im Falle eines frühen Traumas und fehlender Liebe befindet sich das Gehirnsystem hinsichtlich seiner Serotoninvorräte ständig im Defizit. Es ist kein Wunder, dass später Beruhigungsmittel notwendig sind, um diese Vorräte künstlich aufzustocken. Das Gehirn muss sich normalisieren, und so ist es nicht überraschend, dass sich jemand nach der Einnahme von Prozac vielleicht zum ersten Mal „normal“ fühlt.

Die Autoren der zitierten Studie weisen auf Folgendes hin: „Andere Gehirnstrukturen, besonders der.........Neokortex, Sitz des rationalen Denkens, müssen sich erst noch voll entwickeln.....(Sie) verfestigen eine Reihe emotionaler Lektionen, die auf dem Einklang und auf den Verstimmungen in den Kontakten zwischen Kleinkind und Pflegeperson gründen.“ Diese Lektionen werden zu „wortlosen Blaupausen für das emotionale Leben.“ 9 Es ist eine Lehre fürs ganze Leben.  

 

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Fehlende Harmonie zwischen den Stimmungen der Mutter und des Kleinkinds zählt als fehlende Liebe und beeinträchtigt die Gehirnentwicklung. Das Kind ist einen Augenblick lang vergnügt, und die Mutter reagiert nicht entsprechend. Das Kind ist traurig, und die Mutter (Denken Sie daran: „Bezugsperson“) ist befremdet und gleichgültig. Das Kind schreit und will beruhigt werden, und die Mutter ist gereizt und wütend. Im Alter von drei Jahren kann sich das Kind nirgendwohin wenden, um seine Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Es ist nicht so, dass die Mutter die Bedürfnisse des Kindes direkt verleugnet; sie ist einfach emotional nicht präsent, um ihr Baby zu unterstützen. Ich diskutiere hier nicht über momentane Stimmungen seitens eines Elternteils. Es ist das chronische, tagtägliche Verhalten, das ausschlaggebend ist.

Wenn eine Mutter während der Schwangerschaft unter Stress steht, kommt es zu einem Anstieg bei den steroiden Stresshormonen (Glukokortikoiden). Das wiederum senkt die Anzahl der Rezeptoren im Hippocampus. Hier sei nur gesagt, dass Stress dem Fühlen nicht dienlich ist. Forschungsarbeiten wie die von Barbazanges deuten darauf hin, dass fortgesetzter Steroid-Ausstoß eine der Hauptursachen für Gehirndefekte bei den Nachkommen ist und den späteren Ausstoß von Stresshormonen im Baby nachteilig beeinflussen kann.10 Geistige Zurückgebliebenheit oder Schlafstörungen können daraus entstehen. Aus Tierversuchen geht hervor, dass diese intrauterinen Veränderungen dem Individuum weit geringere Fähigkeiten lassen, mit Angst und Stress fertig zu werden. Ein herunterregulierter Hippocampus verursacht wahrscheinlich Gedächtnislücken. Sind ihre Kindheitserinnerungen flüchtig oder nicht existent? Haben Sie Probleme, sich daran zu erinnern, wo Sie ihre Brille hingelegt haben, oder sich an ein Telefongespräch zu erinnern, oder tun Sie sich schwer mit räumlicher Vorstellung?  Wichtiger noch, sind Sie schnell von bestimmten Ereignissen überwältigt, neigen zu hysterischen Ausbrüchen oder völligem emotionalen Rückzug? Haben Sie Angst vorm Leben? Oder vor Veränderung? Schauen Sie darauf, was mit Ihnen im Mutterleib geschehen war. Wenn am Lebensanfang die fortgesetzte Freisetzung von Stresshormonen den Hippocampus beeinträchtigt, kann all das oben Genannte daraus hervorgehen.

Geisteskrankheit im Mutterleib

Es hat den Anschein, dass der Ursprung einiger schwerer Geisteskrankheiten im Mutterleib liegt und auf limbische Fehlentwicklungen zurückzuführen ist. Die Alzheimer-Krankheit bei älteren Menschen zum Beispiel beginnt im Hippocampus und weitet sich auf  die entsprechenden frontokortikalen Zellen aus. Eine Studie an Psychotikern kam zu dem Ergebnis, dass die Ursache ernsthafter Geistesstörung im zweiten Drittel der Schwangerschaft liegen kann.  

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In einer autoptischen Studie an Schizophrenen fand man im Limbischen System ungeordnete Neuronen. Die Anordnung der Neuronen war grundlegend unausgewogen. Später kann genau deshalb die geistige Unausgewogenheit oder Verrücktheit aufgetreten sein, weil es im Mutterleib zu schwerer Verrückung (Dislokation) gekommen war. Anders gesagt können traumatische Ereignisse am Anfang der Schwangerschaft die Entwicklung und richtige Anordnung limbischer Zellen stören. Dies wird schließlich die psychische Entwicklung des Individuums verzerren, das mit einem ungeordneten Limbischen System nicht normal funktionieren kann. Bei Psychotikern stehen einige limbische Zellen tatsächlich verkehrt herum. Also wird der Fetus nicht nur durch ein Trauma in den ersten Monaten der Schwangerschaft beeinträchtigt, sondern dieses Trauma zerrüttet auch die neurologische Organisation des Limbischen Systems.

Es gibt einige vorläufige Beweise, dass sich die Rillen der Fingerabdrücke durch verschiedene Ereignisse im Mutterleib verändern. Das fand man bei Homosexuellen und in einer Studie an Babys acht Wochen nach der Geburt heraus.11 Die Rillen der Fingerkuppen beginnen sich nach dem zweiten Schwangerschaftsmonat zu formen. Lesen Sie, was Peter Nathanielsz,* der über das Leben im Mutterleib schreibt, darüber zu sagen hat: „Wenn in der kritischen Entwicklungsphase etwa in der zehnten Lebenswoche (im Mutterleib) die Figerkuppe aus irgendeinem Grund (Trauma) anschwillt, bilden die Rillen ein kreisförmiges Muster (Windungen), und wenn die Spitze dünn und flach ist, sind die Rillen mehr wie Bögen.“ 12 Wir kennen nicht alle Gründe, warum die Fingerkuppen anschwellen, aber wenn wir es mit anderen Informationen (zitiert in Kapitel 18) zusammenfassen, bietet es einen zusätzlichen Beweis für den Zusammenhang zwischen Ereignissen im Mutterleib und späterer Homosexualität. Da ich sie von Zeit zu Zeit umkehren kann, denke ich nicht, dass sie genetisch vorherbestimmt ist. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Ereignisse im Mutterleib - dieselben Ereignisse, die unterschiedliche Fingerrrillen erzeugen können - auch Sexualhormone ändern können und eine gewisse Anfälligkeit hinterlassen. Somit können sich, wenn eine bestimmte Familienkonfiguration gegeben ist - ein kleines Mädchen, deren Mutter nicht da ist - und wenn diese Anfälligkeit hinzukommt, homosexuelle Tendenzen ergeben – das Bedürfnis, von einer Frau geliebt zu werden. Es entspricht der Logik, wenn man daran glaubt, dass Traumatisierung im Mutterleib nicht auf Fingerkuppen beschränkt ist, sondern auch Hormonsysteme einbezieht. Wir wissen mit Sicherheit, dass hohe Stresshormonwerte der schwangeren Mutter die Ausgewogenheit der Sexualhormone im Fetus stören kann. Später werde ich detailliert erörtern, wie Herzkrankheit im späteren Leben zum Geburtstrauma und zum Leben im Mutterleib in Beziehung gesetzt werden kann,  wie Schlaganfälle im Alter von fünfzig Jahren der logische Ausgang von Ereignissen sein kann, die im sechsten Monat der Schwangerschaft stattfanden. Wir werden sehen, wie die Größe der Plazenta zum Zeitpunkt, als Sie geboren wurden, bestimmen kann, wie lange Sie leben, und wie die psychische Haltung der schwangeren Mutter bestimmen kann, ob das Baby später ernsthafte Krankheiten hat. Nathanielsz betont, dass eine sehr große Plazenta mit hohem Blutdruck im späteren Leben korreliert worden ist. 

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Das Wort „Dislokation“ ((Verrückung, Verschiebung)) benutze ich oft. Im Falle der Schizophrenie nahm die Dislokation wortwörtliche Gestalt in den Gehirnzellen an, da Hippocampus-Zellen, wie ich erwähnte, in der Studie oft verkehrt herum aufgefunden wurden.13

Man hat herausgefunden, dass ein hoher Stresshormonspiegel im Blut von Jungtieren die Entwicklung neuer ausgewachsener Gehirnzellen im Hippocampus hemmt.14 Wir können daraus postulieren, dass der gleiche Prozess eventuell im Mutterleib zu beobachten ist, wenn der Stresshormonspiegel des Fetuses hoch ist. Er führt dazu, dass sich Hippocampus-Zellen nicht richtig entwickeln, und dieser Mangel kann später in schlechtem Gedächtnis, schlechter Verdrängung und in Problemen, etwas Neues zu erlernen, resultieren. Kurz gesagt kann das System die limbischen Strukturen, die sich mit Gefühlen befassen, später niemals zügig entwickeln, wenn es ganz früh in der Schwangerschaft übererregt ist. Auf diese Weise kann eine sehr ängstliche Mutter ein sehr ängstliches Baby hervorbringen, eines, das nicht richtig hemmen oder verdrängen kann. Wir schreiben das der Genetik zu, obwohl es tatsächlich auf Ereignisse in der biochemischen Beziehung zwischen Mutter und Baby zurückzuführen sein kann. Die wechselseitige Angleichung der Biochemie ist die Art, wie der Fetus und die Mutter „miteinander auskommen.“

Man hat festgestellt, dass geringe Bauchgröße beim Baby bei der Geburt in hoher Korrelation mit hohem Cholesterinspiegel im späteren Leben steht.15 Peter Nathanielsz erklärt es folgendermaßen: „Babys, die sich in einer suboptimalen Umgebung im Mutterleib entwickeln, entfalten schlaue Tricks, um die Entwicklung ihres Gehirns abzusichern. Wenn die Plazenta nicht angemessen funktioniert oder wenn die Mutter sich schlecht ernährt, wird die Verfügbarkeit von Sauerstoff und essentieller Nährstoffe im Blut des Babys unter dem Optimalwert liegen. In diesem Falle schickt das Baby das Blut vorzugsweise an das Gehirn und drosselt die Blutmenge zum Darm und zur Leber.“ 16 Das Resultat ist eine normale Kopfgröße und ein reduziertes Abdomen, da das System das Wesentliche zu schützen sucht – sein Gehirn.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, muss ich betonen, dass dies keine einmalige Angelegenheit ist; es ist eine dauerhafte, lebenslange Konsequenz, sowohl im physischen Bereich als auch in der emotional-geistigen Sphäre. Entsprechende Studien haben herausgefunden, dass bei geringem Geburtsgewicht das Risiko einer späteren Herzattacke viel größer ist. Ja, die Kindheit zählt, aber die Verwundbarkeiten stellen sich ein, lange bevor wir uns hier auf Erden niederlassen.  Es geht nicht einfach um niedriges Geburtsgewicht; vielmehr kann niedriges Geburtsgewicht ein Indikator für ein Trauma sein, dass letzten Endes das Herz-/Kreislaufsystem beeinträchtigen wird.  

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Es scheint, dass wir die lebenslangen Auswirkungen prä- und perinataler Traumen in Verhaltenstörungen finden, wo auch immer wir hinsehen.17 Es ist jetzt offensichtlich, dass die Zeit im Mutterleib das spätere Erwachsenenleben tiefgreifend und auf vielfältige Weise beeinflusst. Gold und Gordis behaupten, dass die Kette der Ereignisse, die zu Krebs führen, mit dem fetalen Leben beginnen kann.19 Das entspricht auch meiner klinische Beobachtung. Zelldeformation, die später zu Krebs führt, kann durchaus im Mutterleib stattfinden und bis zum Alter von fünfzig Jahren nicht in Erscheinung treten. Aus diesem Grunde ist es manchmal nicht so leicht, den Ursprung katastrophaler Krankheiten zu verstehen, aber es ist äußerst wichtig, wenn wir versuchen wollen, diesen Krankheiten vorzubeugen.

In einer dänischen Studie wurden dreitausend Frauen befragt, ob sie während der Schwangerschaft unter Stress gestanden hatten.19 Siebzig Frauen gaben Stress an und hatten wenig sozialen Rückhalt. Ihre Kinder wurden im Durchschnitt mit geringerem Kopfumfang geboren - ein spezifischer Effekt auf die Gehirnentwicklung. (Geringere Kopfgröße ist mit späterer Geisteskrankheit in Verbindung gebracht worden.) Auch hatten sie ein niedrigeres Geburtsgewicht.

Neuere Studien deuten darauf hin, dass ein Geburtstrauma ein wesentlicher Faktor bei späteren Selbstmordversuchen im Erwachsenenalter ist. Lee Salk hat Geburt und Selbstmord eingehend studiert.  Seine Arbeit an der Medical School der Cornell Universität und die Arbeit von Forschern am Karolinska Medical Center in Stockholm verifiziert die Einflüsse des Geburtstraumas auf möglichen Selbstmord.20 Ein Trauma bei der Geburt, das tief im Nervensystem und im Hirnstamm registriert wird, beeinflusst unser Verhalten solange, bis es uns schließlich Jahrzehnte später in den Selbstmord treibt. Auf diese Art steuert die Einprägung das Verhalten, bis es sich gegen das Überleben richtet.

Wie bringt uns ein Geburtstrauma dazu, dass wir uns später im Leben selbst töten wollen? Es sind die Empfindungen, die eingeprägt werden. Wenn keine noch so große Anstrengung dem Fetus hilft, geboren zu werden, wenn die der Mutter verabreichte Anästhesie Eingang in sein System findet und alle Bemühungen lähmt, prägt das eine Physiologie der Niederlage und Verzweiflung ein. Diese wird später vervollkommnet, wenn das Kind vor unüberwindlichen Hindernissen steht, weil die Eltern streng, unversöhnlich und unnachgiebig sind. Die Verzweiflung verstärkt sich.  Wenn einen Mann später seine Lebensgefährtin verlässt und sich weigert, zurückzukommen, wird er von Verzweiflung und von dem Gefühl beherrscht, dass er an seiner Situation nichts mehr ändern kann. Und dann ist er selbstmordgefährdet. Wie bei der Geburt ist er ohne Hoffnung und sieht keine Alternativen, weil es im ursprünglichen Trauma keine Alternativen gab. Es ist

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Bestandteil der Einprägung. Das ist die Bedeutung suizidaler Depression, bei der sich Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung über alle drei Ebenen der Gehirnfunktion zusammenschließen: frontaler Kortex, Limbisches System und Hirnstamm. Als einer meiner Patientinnen von ihrem Ehemann nicht erlaubt wurde, mit ihren Freundinnen auszugehen, versuchte sie Selbstmord. Es schien kein so dramatisches Ereignis zu sein, aber in der Therapie lernte sie, dass ihre tyrannische, kontrollierende Mutter und ihre Probleme, bei der Geburt „herauszukommen“, zusammenwirkten und sich als tiefe Depression festsetzten. Sie fühlte, dass sie sich „nicht von der Stelle rühren konnte“ – eine Aussage, die auf allen drei Ebenen zum Ausdruck kam.

Der nahende Tod wird in die Physiologie eingeprägt und die spätere Prägung lautet: „Tod als Ende der Qual.“ Selbstmord (Tod) kommt der Person sofort in den Sinn, wenn sie in Schwierigkeiten steckt, weil in der prototypischen Situation der Tod als unmittelbare Option auf der Lauer lag. Das Gefühl. „Du musst sterben“ ist aus der Einprägung „Du wirst gleich sterben“ übertragen worden. Somit wiederum wird die gegenwärtige Situation, die Konfrontation mit einem Angestellten, angsterzeugend, weil der Hippocampus unter Stress auf das ursprüngliche Trauma mit seinen ursprünglichen Konsequenzen....dem lauernden Tod zurückgreift. Ohne dieses Primärfundament könnte die Reaktion vielleicht eine leichte Besorgnis über eine Konfrontation sein.

In der Salk-Studie gehörten Atmungsprobleme bei der Geburt zu den maßgeblichen Traumen, die zu späteren Selbstmordversuchen beitrugen. Sechzig Prozent der untersuchten Personen in der Studie hatten drei Hauptrisikofaktoren: fehlende pränatale Sorgfalt in den ersten zwanzig Wochen der Schwangerschaft, Atmungsprobleme bei der Geburt und chronische Krankheit der Eltern. Wir können uns sicher sein, dass Anoxie ein zentraler Missetäter war.

Selbstmord und Geburt

In einer Studie von P. Lipsitt vom Child Study Center an der Brown Universität stellte sich ein dramatischer Zusammenhang zwischen Selbstmordtendenzen und Problemen bei der Geburt heraus. Es ist beinahe immer die parasympathische, herunterregulierte Einprägung, die als Übeltäter auftritt. Das System ist wahrlich „unten“, keine Energie, alles scheint zu viel, und die Umstände sind so überwältigend, dass man in den Resignationsmodus verfällt. Wie wir sehen werden, ist es die „herunterregulierte“ Prägung bei der Geburt und zuvor, welche die Grundlage für spätere Depression schafft, weil alle diese Gefühle, die ich gerade erwähnte, Teil der ursprünglichen Einprägung sind. Eine Mutter, die trinkt oder Drogen nimmt, überfordert die Anpassungsfähigkeiten des Fetus.  

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Eine Mutter, die unter schweren Beruhigungs- oder Betäubungsmitteln steht, lässt das Baby überwältigt zurück, buchstäblich unfähig, um sein Leben zu kämpfen, was sich später schließlich als „Was hat das für einen Zweck?“ artikuliert.

Bei Müttern, die zwei oder mehr Geburtsprobleme hatten, war das Risiko späteren Selbstmords für die Nachkommen fünfmal so groß. Die zentrale Bedeutung der Lipsitt-Studie ist, dass ein Trauma, wenn es einmal eingeprägt ist, uns das ganze Leben hindurch verfolgt und uns so sehr beeinträchtigen kann, dass wir unser Leben ablehnen.

Es mag scheinen, dass das, was ich sage, darauf hinausläuft, dass wir alle hilflose Opfer früher Einprägungen sind. Gibt es nichts, was wir tun könnten? Es ist der Zweck dieses ganzen Buches, aufzuzeigen, was wir tun können. Die Wahrheit ist, dass es uns schon helfen kann, unsere Einprägungen in gewissem Maße zu bekämpfen, wenn wir zumindest wissen, wie sie beschaffen sind. Wir können sie durch keinen Willensakt auslöschen, aber wir können versuchen, sie unter Kontrolle zu halten, und unser Verhalten ändern. Ich wünschte, ich könnte es anders sagen, aber die Einprägung ist allmächtig. Wenn jemand seit der Geburt einschließlich der Kindheit ein Leben lang resigniert und verzweifelt ist, wird der Beschluss allein, jetzt fröhlicher zu werden, daran nichts ändern. Wir können nicht „darüber hinwegkommen“. Wir können uns nicht einfach über unsere Physiologie oder Gehirnschaltkreise hinwegsetzen. Die Frontalregion des Kortexes, wo Entscheidungen getroffen werden, ist nicht dafür bestimmt, stärker als unsere Überlebensmechanismen weiter unten im Gehirn zu sein. Ist es hoffnungslos? Nein. Wir können alle etwas tun, wenn wir wollen. Wenn wir uns entscheiden, so zu leben, wie wir sind, dann sei dem so. Es ist alles eine Frage der Wahl. Ich biete die Möglichkeit der Wahl. Wir müssen nicht Opfer unserer Kindheit sein.

In der Zwischenzeit können wir Abstand nehmen von Drogen oder Schokoladekuchen. Wir können schmerzstillende und Blutdruck regulierende Medikamente einnehmen. Aber das ist nur Linderung, keine Heilung. Linderung beschreibt den Zustand der heutigen Psychotherapie. Das muss sich ändern.

Eine neuere Forschungsarbeit von A. R. Hollenbeck, einem weiteren Spezialisten für fetales Leben, dokumentiert, wie jedes Medikament, das die schwangere Mutter erhält, die Neurotransmitter-Systeme der Leibesfrucht verän­dert, besonders während der kritischen Periode, wenn sich diese Neurotransmitter-Systeme im Mutterleib bilden.21 Er behauptet, dass die Verabreichung lokaler Betäubungsmittel wie Lidocain (zur Unterstützung des Geburtsprozesses) in sensiblen (kritischen) Perioden der Schwangerschaft dauerhafte Änderungen im Verhalten des Nachwuchses erzeugen kann.22 Gehirnsubstanzen wie Serotonin  und Dopamin können sich dauerhaft ändern, wenn ein Tier den Geburtsprozess durchmacht und dabei auch nur ein lokales Anästhetikum angewandt wird. Das wiederum beeinflusst das Schleusensystem.  

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In einer anderen Studie fand Hollenbeck, dass schwangere Frauen, die einem Anästhetikum ausgesetzt waren, im Gegensatz zu Frauen, die keines erhielten, Babys bekamen, die weniger wogen. Dieses niedrige Geburtsgewicht kann auf Veränderungen in der Physiologie des Babys hindeuten, die wiederum das spätere Verhalten beeinflussen können.23 Die meisten Beweise weisen auf die Tatsache hin, dass lokale Anästhetika die Plazenta-Barriere durchdringen und sich auf das Neugeborene auswirken. Diese Babys sind träger als solche, die nicht medikamentös beeinflusst wurden, und wühlen nicht so bereitwillig nach der Brustwarze. Es kann der Beginn einer allgemein passiven Persönlichkeit sein. Irgendwo hat Neurose ihren Anfang.

Wenn sich das intrauterine Milieu bei Tieren durch die Zuführung von Kokain ändert, dann ändert sich die Neurotransmitter-Produktion beim Neugebo­renen und beeinflusst langfristig das Gehirn. Kevitt, Reinoso und Jones, die die Entwicklung von Gehirnzellen in der fetalen Phase studiert haben, weisen auf Folgendes hin: „Das zelluläre Milieu des sich entwickelnden Nervensystems erfüllt somit pränatal Funktionen, die so entscheidend sind wie in der postnatalen Zeit Umweltreize, die die Entwicklung und Verfeinerung der Synapsen fördern.“24 Die chemische Umwelt während der Schwangerschaft ist genau so wichtig, wie die soziale Umwelt nach der Geburt, in der Tat vielleicht noch wichtiger.

Die Arbeit anderer Wissenschaftler, die fetales Leben erforschen, J. M. Cermak et al., zeigte dasselbe Ergebnis.25 Langzeit-Veränderungen des Verdrängungs- und Hemmungssystems werden verursacht, wenn sich das intrauterine Milieu lediglich durch einen einzigen Baustoff ändert. In diesem Fall war es der Baustoff Cholin, der die Erinnerungsbewahrung bei den Nachkommen permanent steigerte. Cholin ist ein essentielles Element für den Signalisierungspro­zess in Zellen. Es ist für die Gehirnentwicklung wesentlich und fördert den inhibitorischen Prozess von Zellen.

Forschungen in Schweden ergaben, dass die Wahrscheinlichkeit einer späteren Amphetamin-Abhängigkeit des Nachwuchses viel größer war, wenn eine gebärende Mutter bei der Geburt Opiate oder Barbiturate erhielt.26 Was viele der neuen Studien über Abhängigkeit jedoch übersehen, ist die Natur der Geburt, ob sie eine phlegmatische, passive Persönlichkeit einprägt, die später vielleicht ‚Speed’ braucht, oder eine aggressive, erregbare Person, die später ‚Downer’ braucht.27 Die Art der Geburt diktiert in hohem Grade, ob es zu einer Kokainabhängigkeit kommt oder zu einer Abhängigkeit von Schmerztötern. Ob, kurz gesagt, das biologische Bedürfnis darin besteht, das Dopaminsystem zu „frisieren“, oder darin, das hemmende Serotoninsystem zu stützen. Herunterregulierung vor und während der Geburt durch den Gebrauch von Beruhigungsmitteln kann eine Abhängigkeit von Cola oder Kaffee im späteren Leben bestimmen. Der Körper fährt unser ganzes übriges Leben damit fort, das Eindringen von Drogen im Mutterleib zu kompensieren. Es ist, als würden wir ständig versuchen, die abweichenden Sollwerte auf den Ausgangspunkt zurückzubringen.  

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Abhängigkeit von Schlaftabletten oder Quaalud wirkt möglicherweise direkt auf ein überaktives retikuläres Aktivierungssystem ein. Diese Reaktion hängt davon ab, ob die prototypische Persönlichkeit hyper ist (Sympathiker) oder hypo (Parasympathiker). Kurz gesagt kann die frühe Einnahme von Drogen oder Medikamenten durch die schwangere Mutter die Persönlichkeit in bestimmte Bahnen lenken. Ständiger Gebrauch von Beruhigungsmitteln durch die Mutter könnte durchaus zu späterer „Speed“-Abhängigkeit der Nachkommen führen. In diesem Fall sind im Mutterleib die Sollwerte für angemessene Aktivierung niedrig eingestellt worden, so dass die Person später eine gewisse Art von Stimulans braucht. Deshalb kann jemand drei Cokes trinken, bevor sie/er ins Bett geht, und schlafen wie ein Klotz.

Ich habe einige hinsichtlich des Lebens im Mutterleib relevante Forschungsarbeiten diskutiert und außerdem, wie einige unserer biologischen Sollwerte in der Zeit im Mutterleib fixiert werden. Eine gewisse Leblosigkeit kann das Ergebnis schwerer Beruhigungsmittel sein, welche die schwangere Mutter eingenommen hat und die ihren Weg ins fetale System finden. Eine hyperaktive Mutter kann ihr Baby mit diesem Zustand prägen, so dass das Kind später, nach der Geburt und in der Adoleszenz, Downer braucht, um sich „normal“ oder entspannt zu fühlen. Ich werde jetzt diese Diskussion bezüglich der verminderten Sauerstoffversorgung während der Geburt fortführen, ein Phänomen, das oft das Ergebnis schwerer Anästhesie ist, die der gebärenden Mutter verabreicht wird. Gäbe es ein universelles Unbewusstes, so wäre es die Hypoxie und Anoxie, die wir oft während der Geburt erleiden. So oft steckt es hinter Rauchen und Trinken. Meine anoxischen Patienten sind fast immer diejenigen, die stark rauchen. Es ist eine Erfahrung auf Leben und Tod, wenn das Baby zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt; ein Organismus mit einem naiven Gehirn und hoher Verwundbarkeit. Sie wird mit unglaublicher Kraft in das System eingraviert. Wir müssen uns nur das Wiedererlebnis (oft gefilmt) ansehen, wenn der Patient rot anläuft, um Luft ringt und scheinbar stirbt. Das ist keine Theorie, die ich ausgeheckt habe; es ist eine beobachtbare Tatsache, tagein, tagaus. Es ist unmöglich, einem Menschen ein solches Erlebnis einzureden.

Leben im Mutterleib und spätere Krankheit

Das pränatale Leben kann unser übriges Leben auf tiefgreifendste Weise bestimmen. Abweichungen der hypothalamisch-hypophysisch-adrenalen Achse (HPA) können die Funktion des Immunsystems unterdrücken und spätere Immunschwäche verursachen. Laut M. Weinstock, der den HPA-Schaltkreis studiert hat, „weisen pränatal

 

 

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gestresste Kleinkinder bei Menschen die folgenden Langzeitprobleme auf: Aufmerksamkeitsdefizite, Überängstlichkeit, gestörtes Sozialverhalten, beeinträchtigte Anpassung an Stress-Situationen und eine generel­le Fehlregulierung der hypothalamisch-hypophysisch-adrenalen Achse.“ 28

Ich möchte noch einmal die Bedeutung der kritischen Periode betonen, in der Regel die Periode, in der sich das Gehirn und seine Synapsen in schnellem Tempo entwickeln. Wenn wir ein paar Tage lang Kaffeee trinken, fühlen wir uns vielleicht einfach „hyper.“ Aber wenn eine schwangere Mutter über mehrere Tage in der kritischen Periode der Synaptogenesis im Fetus 4 oder 5 Tassen am Tag trinkt, ist die Möglichkeit einer Einprägung gegeben, die die Sollwerte des Babys lebenslang verändert. Die Agitation wird in das fetale System eingeprägt und dauert an.  Aus diesem Grunde glaube ich, dass ein Kind, in dem auf Grund des Geburtsprozesses und seiner Anoxie ein verborgener Strom des Schreckens fließt, anfällig für das Syndrom des plötzlichen Kindstodes sein kann. Die Furcht, mit sechs Monaten im Dunkeln alleine zu sein, kann in Verbindung mit dem archivierten Schrecken, der  im Locus caeruleus steckt, für das kleine Herz des Kindes zu viel sein. Die Babys können einer Herzattacke oder einem Schlaganfall erliegen, weil sie ein solches Maß an Terror nicht verkraften können.

Niedriges Geburtsgewicht steht in hoher Korrelation mit späterer Herzkrankheit.29 David Leon von der London School of Hygiene hat herausgefunden, dass die Möglichkeit von Diabetes im späteren Alter erhöht ist, wenn jemand dünn geboren wird. Es kann sein, dass ein Trauma im Mutterleib die Sollwerte für Insulin und Glukose verändert hat. Die einfache Tatsache einer eitlen Mutter, die während der Schwangerschaft hungert, um ihre Figur zu halten, kann für den Fetus außergewöhnlich schädlich sein. Vielleicht muten all diese Informationen an, als wolle ich, wie die Leute in Frankreich sagen, „den Fisch ersäufen“. Ich konzentriere mich nur darauf, was so sehr vernachlässigt worden ist. Bedürfnisse beginnen im Mutterleib. Jetzt existieren die Techniken, die uns erlauben, in diese Tiefen vorzustoßen.

Es ist möglich, dass Schmerz, der sich in den ersten Monaten der Schwangerschaft festsetzt, eine  grundlegende Fehlregulierung erzeugt, die in der frühen und späteren Kindheit in Form somatischer Leiden (Asthma, Allergien) oder psychischer Merkmale (Trägheit, Aggressivität, ständigem Weinen, Herumzappeln, Hyperaktivität) erscheint. Das neugeborene Baby kann unter Schmerz stehen, ob es das fühlt oder nicht, ob es sich dessen bewusst ist oder nicht oder ob es dafür Worte hat oder nicht.

Während ich das schreibe, wird mir klar, wie hoffnungslos die Lage einigen Lesern scheinen mag. Sind alle Leute neurotisch? Ich denke nicht, aber es ist wahr, dass viele von uns sich dessen völlig unbewusst sind, was in unserem Unbewussten vor sich geht. Müssen wir darüber Bescheid wissen? Nicht, wenn Sie mit ihrem Leben so, wie es ist, zufrieden sind. Von einem objektiven Standpunkt aus muss man davon wissen, weil eine Verwundbarkeit des System für vorzeitige Krankheit und

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vorzeitigen Tod besteht. Es ist wichtig, darüber Bescheid zu wissen, wenn Sie das Verlangen nach Drogen und Schmerztötern beeinträchtigt. Oder wenn Sie Zwänge haben, die außer Kontrolle geraten sind, oder Symptome, die nicht verschwinden wollen. Keine Geburt ist absolut perfekt, noch ist jedes vorgeburtliche Leben ideal. Aber ich betone das, was man übersehen hat. Es geht nicht darum, als Eltern perfekt zu sein. Es geht darum, dass wir wissen, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn Kinder nicht berührt und im Arm gehalten werden. Eine Mutter, die während der Schwangerschaft chronisch deprimiert war, versteht nun zum Teil vielleicht die Auswirkungen der Depression auf das Kind. Das Verhalten und die Symptome des Kindes sind kein solches Geheimnis mehr. Ich bringe Wegweiser an, die markieren, wo man abzweigen sollte. Nach meiner Erfahrung hat das Kind eine gute Chance im Leben, wenn die Eltern liebevolle Seelen sind, auch wenn sie viele Fehler mit dem Kind machen, es zum Beispiel anschreien, wenn es sich daneben benimmt. Wenn wir weiterhin denken, dass die Zeit der Gravität nur unwesentliche Wirkungen auf das Kind habe, denken wir vielleicht auch, es sei gut und schön, während der Schwangerschaft zu rauchen und trinken. Auch könnte sich für die Ärzte und Therapeuten, die sich eigenartigen Symptomen seitens Ihrer Patienten gegenüber sehen, eine konkrete Vorstellung von den Ursachen ergeben.

Die Saat für Herzdysfunktion, Herzklopfen, unregelmäßigen Herzschlag, Atherosklerose, hohen Blutdruck, Krebs, Autoimmunstörungen, Depression, Phobien, Panik und Angststörungen kann schon gestreut sein, ehe wir auch nur zu einem einzigen Wort fähig sind. Es hat sich herausgestellt, dass chronisch hohe Kortisolwerte zu Atherosklerose im Erwachsenenalter führen. In der Tat sind die Schmerzen, die wir ohne Worte speichern, mit größter Wahrscheinlichkeit diejenigen, die später den größten Schaden anrichten. Katastrophaler Schmerz vermittelt spätere katastrophale Krankheit. Es ist kontraproduktiv, Patienten dahin bringen zu wollen, dass sie über eine Gefühlserfahrung der Vergangenheit diskutieren, die keine Worte hat. Das vertreibt das Gefühl eher.

Die Decke zurückschlagen

Wir müssen die Decke bis zum Leben im Mutterleib zurückschlagen, wenn wir alle möglichen späteren Störungen verstehen wollen. Gerade als einige von uns begriffen haben, dass das Geburtstrauma uns ein Leben lang beeinflusst, müssen wir jetzt in Betracht ziehen, dass vorgeburtliche Ereignisse für die Prägung unseres Lebens sogar noch wichtiger sind. Wir „kommen nicht darüber hinweg, noch wachsen wir aus der Sache heraus.“  

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In Tierexperimenten mit Föten beeinträchtigte eine in den letzten ein oder zwei Wochen vor der Geburt gestresste Mutter den Serotoninausstoß ihres Nachwuchses. Die Langzeitfolgen frühen Stresses auf die spätere Entwicklung sind von David Peters von der Ottawa-Universität in Kanada zusammen mit Ross Ader, S.M. Barlow und R. Chapman dokumentiert worden.30 Peters fand heraus, dass Stress die spätere Entwicklung von inhibitorischen Schlüsselhormonen beeinträchtigte und die synaptischen Verknüpfungen störte. Er schreibt: „Studien haben gezeigt, dass das Verhalten erwachsener Nagetiere durch pränatale Ereignisse signifikant beeinflusst werden kann.“ 31 Zum großen Teil bedeutet das, dass frühe Traumatisierung der Mutter zu Veränderungen beim Nachwuchs führen kann. Diese Veränderungen sind zuallererst eine Reduktion der neurochemischen Hemmsubstanzen, die Schmerz und Angst bekämpfen. So viele Beweise demonstrieren nun, dass eine Mutter, die in der späten Schwangerschaft leidet, Nachwuchs bekommt, der nicht „kampfbereit“ ist. Er wird zu dem angstgeplagten Kind, das sich leicht ablenken lässt und deshalb nicht richtig lernen und studieren kann.

Hemmung/Verdrängung beginnt im Mutterleib; bereits wenige Wochen (ungefähr zwölf) nach der Empfängnis finden wir die Anfänge der Produktion hemmender Neurohormone. Wie könnten wir je Zugang zu diesen frühen Erinnerungen erlangen? Wir können zuerst das Medium der Gefühle benutzen und dann das der Empfindungen unterhalb dieser Gefühle, um zu ihrem Endpunkt im Hirnstamm zu gelangen. Wie wissen wir, dass wir dort angekommen sind? Jetzt gleich wissen wir es nicht, weil die Empfindungen undeutlich, höchstwahrscheinlich amorph und ohne zugehörige Begriffe oder Szenen sind. Aber wir wissen es empirisch durch die klinische Beobachtung.

Im Mutterleib überwältigt

Eine schwangere Mutter, die voller Angst ist, weil ihr Mann seinen Job verloren hat, kann übermäßig aufgeregt sein. Sie trinkt drei Tassen Kaffee am Tag, raucht fürchterlich und ist allgemein nervös. Sie überreizt den Fetus, dessen Umgebung jetzt mit  Aufregung durchsetzt ist. Um es zu wiederholen, wenn dieser Fetus zu einem Erwachsenen wird, kann er oder sie sich schon unter dem leichtesten Druck überwältigt fühlen. Schon das Anziehen für eine Abendgesellschaft kann Leute veranlassen, immer wieder die Kleider zu wechseln, weil sie sich nicht entscheiden können, was sie anziehen sollen.

Er: Kannst du bitte damit aufhören, Kleider anzuprobieren, und deinen Koffer packen, damit wir hier wegkommen?  

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Sie: Hör auf, mich zu drängen. Du bringst mich so weit, dass ich am liebsten aufgeben und zu Hause bleiben möchte.

Er: Ich dräng’ dich nicht. Das Flugzeug startet in einer Stunde.

Sie: (weint) Ich schaff’ es nicht. Es ist alles zu viel für mich. Lass’ mich einfach zu Hause bleiben.

Er: Himmel nein! Geh’ zu deinem Psychiater.

Der Therapeut: Es ist nichts so Überwältigendes beim Anziehen. Lassen Sie uns das Schritt für Schritt durchgehen. (Nun....sich für eine Party zu kleiden, kann einfach ein Auslöser für das alte intrauterine Trauma sein, das im Unbewussten verborgen liegt. Es als Überreaktion oder auch nur als neurotisch zu bezeichnen, bedeutet, den wesentlichen Punkt nicht zu begreifen.)

Sie: Er versteht mich nicht. Ich fühle mich von allem so überwältigt. Ich bin es alles so leid.

Er: (zu seinem Arzt) Sie versteht mich nicht. Sie tut nichts, wenn ich sie nicht dränge. Und wenn ich es tue, dann macht sie auch nichts, weil sie sich dann unter Druck gesetzt fühlt.

Der Arzt: Betrachten wir es auf diese Weise. Vielleicht können Sie ein bißchen geduldiger sein.

Beide reden sie in der Gegenwart über ein Problem aus der Vergangenheit. Der Kortex versucht, den Dialog mit dem Hirnstamm aufzunehmen, aber der spricht kein Englisch und auch sonst keine Sprache. Erst später im Leben ist die Frau in der Lage, dieses Empfindungs-Gefühl als etwas ganz Bestimmtes in ihrer Geschichte zu bezeichnen: Überwältigung durch zuviel Eingaben. Physiologisch unterscheidet sich das nicht davon, wenn man durch zu viele Forderungen in der Kindheit unter Druck gesetzt wird. Im ersten Fall ist der Input neurophysiologisch; im zweiten ist es sozialer Input durch die Eltern. Der soziale, emotionale Input baut auf der neurophysiologischen Erfahrung der Geburt und der Zeit zuvor auf und produziert dadurch ein noch viel schwereres Gefühl. Die Empfindung, durch Eingaben im Mutterleib überwältigt zu werden, ist das Substrat ihrer Qual. Als Erwachsene kann sie der Sache einen Namen geben, sie diagnostizieren, aber auch ohne Namen hat sie eine Realität. Das Anziehen ist lediglich der Brennpunkt für ihr Gefühl, nicht aber das Kernproblem. „Überwältigt“ macht sie mit ihrem alltäglichen Leben weiter.

In einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung beginnt sie, ein Problem in Angriff zu nehmen, und will dann sogleich aufgeben. Das Gefühl der Niederlage kam zustande, als ihre Mutter bei der Geburt massive Anästhesie erhielt ( die in den Fetus eindrang). Sie musste aufgeben. Es gab keine Alternative. Die Vergangenheit lässt sie jetzt in der Gegenwart genauso fühlen. Dieses Gefühl verstärkte sich dann, als ihre Eltern sie mit Hausarbeit, Hausaufgaben und einem Übermaß an

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Forderungen überlasteten. Wie behandeln wir das? Wir beginnen in der Gegenwart und reden über den Koffer und die Kleider. Schließlich gehen wir dahin zurück (nicht in einer einzigen Sitzung), wie sie sich fühlte, als ihre Mutter ständig Forderungen stellte, und dann wird sie Wochen oder Monate später in einen Geburtszyklus fallen. Der schwierige Teil ist die zeitliche Abstimmung. Wann ist sie bereit, tiefer zu gehen? Wir suchen nach Hinweisen und lassen ihren Körper entscheiden.

Chronische Erschöpfung im Mutterleib

Manchmal kommt der Patient herein und ist erschöpft. Zu schwer ist der Lebenskampf. Bei einer Frau war das Syndrom der chronischen Erschöpfung diagnostiziert worden. Sie erlebte den wirklichen Kampf wieder, der für sie bei der Geburt zu schwer gewesen war, und ein Großteil ihrer Müdigkeit verschwand. Sie kämpfte ständig gegen überwältigende Umstände in ihrem Gehirn. Vielleicht hört es sich bei mir an, als ob eine Patientin hereinkommt, ein Gefühlserlebnis hat und geheilt ihrer Wege geht. Mitnichten. In ihrem Fall dauerte das Wiedererleben des ursprünglichen Kampfes viele Monate.

Eine Patientin von mir hatte folgendes Gefühl: „Papi, lass’ mich in Ruhe. Gib mir bitte Zeit!“ Sie fühlte sich durch ihren angespannten, ungeduldigen und fordernden Vater überwältigt. Nachdem sie dieses Gefühl eine Stunde lang erlebt hatte, glitt sie in die reine, wortlose Empfindung, wie sie bei der Geburt anästhetisiert worden war. Nachdem das Gefühl zur Verknüpfung gelangte, gehörte es endgültig der Vergangenheit an. Was wir wirklich nicht wollten, war,  sie dazu zu bringen, dass sie über ihre Gefühle redet, denn das würde sie sicherlich von ihren Gefühlen wegführen (wenngleich Worte oft den Zugang ermöglichen). Der Therapeut wäre mit der kortikalen Ebene beschäftigt, während die Empfindung tief unten im Gehirn der Patientin liegt. Es wäre ein Dialog, der dem Versuch gleichkommt, Millionen Jahre der Evolution zu überbrücken.

Eines der Zeichen, dass frühes präverbales Material zum Vorschein kommt, ist der Albtraum: Das Limbische System absorbiert die Energie und den Terror aus dem Hirnstamm und fügt der Mischung seinen Teil in Form von Bildern hinzu, um einen wirklich fürchterlichen Traum zu erzeugen.......zum Beispiel von einer düsteren fremden Gestalt erdrückt oder erstickt zu werden. Noch später macht sich genau diese Kraft auf den Weg zum frontalen Kortex, der sich durch verzerrte Vorstellungen auf die Einprägung einstellt. „Alles scheint so verwirrend, so völlig durcheinander.“ Oft ist Verwirrung die Reaktion, wenn jemand in tiefe, abgelegene Ereignisse versunken ist, weil zu der Zeit nur ein sehr kleiner Teil des frontalen Kortexes betriebsbereit war, der die Dinge hätte klären können. Verwirrung kann prototypisch werden; Angesichts komplizierter Instruktionen, zum Beispiel eine unbekannte Straße finden oder eine Telefonnummer wiederholen zu müssen, blendet sich der kortikale Verstand aus, und es herrscht Verwirrung. Wenn Patienten zurückgehen und Ereignisse im Alter von einem Jahr wiedererleben, bevor es Sätze gab, dann gibt es beim Wiedererleben sicher keine Sätze. Das Gehirn ist unerbittlich in seiner Weisheit.

 

 

 

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Quellenverweise und Anmerkungen

 

N.1          E. G. Jones, « Scientists Link Faulty Distribution of Certain Cells to Schizophrenia,” Los Angeles Times, 16. Mai 1996, s. B2.

 

N.2          K. S. Anand, “Growing Sensitive to Infant Pain,” Insight (8. Februar 1998): s. 52-53 beziehen sich auf K. S. Anand.

 

N. 3         J. M. Lauder, „Neurotransmitters as Morphogens,“ Progress in Brain Research (Amsterdam,

Niederlande) 73 (1988): 365-88.

N. 4         M. Huttunen und P. Niskanen, „Prenatal Loss of Father and Psychiatric Disorders,“ Archives of General Psychiatry 35 (1978): 429-31.

N. 5         J. M. Lauder, „Neurotransmitters as Morphogens.“

N. 6         Ibid., s. 171.

N. 7         Ibid.

N. 8         J. W. Smythe et al., « The Interaction between Prenatal Stress and Neonatal Handling on

Nociception Response Latencies in Male and Female Rats, » Physiology and Behavior 55, no. 5 (Mai 1994): 971-74.

N. 9         Ibid.

N. 10       A. Barbazanges et al., « Maternal Glucocorticoid Secretion Mediates Lomg-Term Effects of Prenatal Stress, » Journal of Neuroscience 16 (15. Juni 1996): 3943-49.

N. 11       Siehe:       Peter W. Nathanielsz, Life in the Womb Ithaca, N. Y.: Promethean Press, 1999), s. 14. ((Peter W. Nathanielsz, Leben im Mutterleib, München, List, 1995))

N. 12       Ibid.

N. 13       Schizophrenie ist ein kompliziertes Thema. Es ist nicht möglich, ihm hier gerecht zu werden , und man kann nur auf einige ins Auge springende Punkte hinweisen. Zum Beispiel stellte sich in einer Studie an Psychotikern heraus, dass die linke Hemisphäre weniger dicht war als die rechte Seite. Man glaubte, dass bei Schizophrenie eine Funktionsstörung der linken Hemisphäre besteht. Siehe: E. Cantor-Graae et al., „Link between Pregnancy Complications and Minor Physical Anomalies in Monozygotic Twins Discordant for Schizophrenia,” American Journal of Psychiatry 151, no. 8 (August 1994): 1188-93.

N. 14       G. Kempermann und F. H. Gage, „New Nerve Cells for the Adult Brain,“ Scientific American 280, no. 5 (Mai 1999): 52.

N. 15       Siehe bitte alle Forschungsarbeiten und Schriften von David Barker, einschließlich Mothers, Babies and Health in Later Life (Churchill Livingstone, 1998).

N. 16       Peter W. Nathanielsz, Life in the Womb, s. 11-12.

N. 17       Ich beziehe mich auf eine sehr große Studie von B. Pasamanick hinsichtlich Verhaltensstörungen (siehe B. Pasamanick, „A Child is Being Beaten,“ American Journal of Orthopsychiatry 41, no. 4 [Juli 1971]: 540-56; idem, „Letter: Maternal Nutrition and Low Birth Weight,“ Lancet 2, no. 7937 [11. Oktober 1975]: 704-705; idem, „Letter: Ill-Health and Child Abuse,“ Lancet 2, no. 7934 [20. September 1975]: 550), bei Krebs (siehe “Brain Tumors Among Those Children of Mothers Who Took Barbiturates during Pregnancy,” die Arbeit von E. Gold und L. Gordis), Lymphoma und Diabetes. G. T. Livezey et al., « Prenatal Diazepam : Chronic Anxiety and Deficits in Brain Receptors in One-Year-Old Rats,” Brain Research 334 (1985): 361-67.

N. 18       E. Gold und L. Gordis, „ Increased Risk of Brain Tumors in Children Exposed to Barbiturates,“ Journal of the Natinal Cancer Institute 61 (1978): 1031-34.

N. 19       H. C. Lou et al., « Prenatal Stressors of Human Life Affect Fetal Brain Development, » Developmental Medicine and Child Neurology 36, no. 9 (September 1994): 826-32.

N. 20       Lee Salk, wie in der Lancet vom 16. März 1985 berichtet.

N. 21       A. R. Hollenbeck et al., „Anesthesia Exposure to unborn Suggests Future Health problems,“ Science 16, no. 2 (1985): 126-34.

               N. 22       Ibid.

N. 23       Îbid.

 

N. 24       P. Levitt, B. Reinoso und L. Jones, “The Critical Impact of early Cellular Environment on Neuronal Development,” Preventive Medicine 27, no. 2 (März-April 1998): 180-83.

N. 25       J. M. Cermak et al., «  Prenatal Availability of Choline Modifies Development of the Hippocampal Cholinergic System, » Faseb Journal 12, no. 3 (März 1998): 349-57.

N. 26       K. Nyberg, “Opiate Addiction in Adult Offspring through Possible Imprinting after Obstetric Treatment,” Acta Obstetrica et Gynecologia Scandinavica 301 (1990): 1067-70. Lesen Sie mehr zu diesem Thema: B. Jacobson et al., „Obstetric Pain Medication and Eventual Adult Amphetamine Addiction in Offspring,“ Acta Obstetrica et Gynecologia Scandinavica 67 (1988): 677-78.

N. 27       Ich erörtere das in Kapitel 5 über das sympath(et) ische und parasympath(et)ische Nervensystem.

 

N. 28       M. Weinstock, „Does Prenatal Stress Impair Coping and regulation of the Hypothalamic-Pituitary-Adrenal Axis?”, Abstract, UCLA Louise M. Darling Library Biomedical Neuroscience and Behavioral Reviews 21, no. 1 (Januar 1997): 1-10.

 

N. 29       Siehe die Arbeit von David Barker, Southampton University, England, der dies eingehend studiert hat.

 

N. 30       D. Peters at al., “Effects of Maternal Stress during Different getsational Periods on the Serotonergic System in the Adult Rat Offspring,” Pharmacology, Biochemistry and Behavior 31 (1989): 839-43.

 

N. 31       A. J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter Programming of Postnatal receptor Functions,“ Progress in Brain Research (Amsterdam, Niederlande) 73 (1988): 518.

 

 

KAPITEL 12
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DAS GEBURTSTRAUMA
Wie es unser Leben bestimmt

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Die Vorstellung eines Geburtstraumas mag Außenstehenden völlig bizarr, wunderlich oder mystisch erscheinen; auch ich tat mich zuerst schwer, daran zu glauben. Vor Jahren mahnte ich einen Patienten, dass ich ihn entlassen werde, wenn er noch einmal erwähne, dass er die Geburt wiedererlebe. Ich habe es zwei Jahre lang an Patienten beobachtet, bevor ich es endlich akzeptierte, hauptsächlich weil ich es mit Neurologen besprochen hatte, die mir sagten, so etwas sei unmöglich.

Das Geburtstrauma ist eine wahre und messbare Erfahrung. Aufgrund seiner hohen Schmerzvalenz ist es in ungeübten Händen auch ein höchst gefährliches Ereignis. Rebirther, aufgepasst! Wenn man sich über die Evolution der Gehirnfunktion hinwegsetzt und versucht, ein uraltes Gehirn zu sondieren, lange bevor die Person bereit ist, erhält man  Schmerzen außerhalb der natürlichen Reihenfolge, die aus der Tiefe des Gehirns an die Oberfläche drängen und den Kortex überlasten, der dann sonderbare Gedanken und mysteriöse Symptome erzeugt. Das Resultat für den Patienten ist unvermeidlich Verwirrung.

Am anderen Extrem liegt die traditionelle Einsichtstherapie, die das zerebrale Mobiliar neu arrangiert und oft im Untergrund einen siedenden und schäumenden Kessel qualvoller Gefühle und Empfindungen zurücklässt, die nie ans Tageslicht gelangen. Wir könnten argumentieren, dass Patienten in der Psychoanalyse häufig offen weinen; gewiss war das der Fall, als ich psychoanalytische Therapie praktizierte. Aber es ist das kortikale, erwachsene Gehirn, das „über etwas weint“, und nicht das Babygehirn, das wie ein kleines Kind weint. Aber dieses Babygehirn muss unbedingt beteiligt sein, und letztendlich auch das fetale Gehirn. Der Grund: Sie brauchen das Erlebnis der Vergangenheit, nicht nur die intellektuelle Erinnerung. Noch einmal, Heilung kann nur dort einsetzen, wo die Wunde liegt. Wenn die Wunde im Alter von einem Jahr liegt, muss genau jenes Gehirn beteiligt sein. 

 

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Wenn jemand durch eine Geburtssequenz geht und auch nur wie ein Kleinkind weint, ist es sicherlich eine vorgetäuschte Erfahrung. Patienten aus ungefähr vierundzwanzig Ländern sind durch diese Erfahrung gegangen, und ich habe von keinem von ihnen jemals ein Wort gehört; keiner konnte von Armen und Beinen Gebrauch machen. Wir reden das Geburtserlebnis nie einem Menschen ein, noch steht es auf dem Therapieplan. Es geschieht, wenn der Patient bereit ist. Das Weinen eines Zehnjährigen hört sich anders an als das Weinen eines neugeborenen Kindes. Beide Arten werden eindeutig in unterschiedlichen Arealen des Gehirns organisiert. Durch die speziellen Laute des Weinens, die der Patient nach der Sitzung niemals wiederholen kann, wissen wir, dass wir zu Erinnerungen aus der Kleinkindzeit vorgestoßen sind. Wie wir sehen werden, ist Verknüpfung aus guten neurologischen Gründen eine sine qua non.

Ist das Unbewusste gefährlich ?

Unglücklicherweise besagt der theoretische Zeitgeist, dass es gefährlich sei, in das Unbewusste einzutauchen. Das ist ein Auswuchs religiöser Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, die für den Glauben eintritt, dass wir alle von Dämonen bewohnt seien, die man niemals freilassen darf. Es gibt keine Dämonen! In uns wohnen Bedürfnisse und Schmerzen, die aus deren Nichterfüllung resultieren. Sie sind erfahrbar. Am Anfang des Lebens besteht ein Bedürfnis nach Sauerstoff.

Je tiefer, je weiter hinab wir ins Gehirn gelangen, umso weniger verformbar wird es, weil wir es mit Überlebens-Grundfunktionen zu tun haben. Umgekehrt, je höher wir im Gehirn steigen, umso flexibler wird es. Das ist der Grund, warum Gedanken „verrückt werden“ können (das heißt, höchst sonderbare Ansichten fabrizieren können). Es ist nicht unsere Aufgabe, Gedanken zur Norm zurück zu bringen, sondern vielmehr, die überwältigenden Gefühle zu normalisieren, die diese Gedanken zum Beispiel in paranoide Kanäle lenken. Natürlich machen das die meisten psychiatrischen Praktiker, ohne es anzuerkennen. Sie benutzen Beruhigungsmittel, um Gefühle zu normalisieren, reden dann mit den Patienten und helfen ihnen, die Gedanken durchzugehen. „Im Grunde“, könnte der Doktor sagen, „wissen Sie, dass niemand Botschaften von Europa durch den Fernseher schickt, um Ihre Brüste abzuschneiden.“ Das war die Wahnvorstellung einer Patientin von mir. Sie glaubte aufrichtigen Herzens, dass sie solche Botschaften erhalte, und niemand konnte sie von dieser Vorstellung abbringen. In unseren Sitzungen haben wir diese Vorstellung

 

 

 

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 nie angesprochen. Stattdessen beschäftigten wir uns mit ihren Gefühlen. „Sie wollen mich entstellen, damit ich mich hässlich fühle,“ sagte sie. Dieser Wahnvorstellung lag zugrunde: „Ich fühle, dass sie mich nicht mögen.. Ich muss so hässlich sein, dass sie mich überhaupt nicht mögen.“ Die Botschaft, der Gedanke wurde geschickt, damit sie sich hässlich fühlte und deshalb unerwünscht, oder unerwünscht und deshalb hässlich. Das bezog sich darauf, wie ihre Eltern sie behandelt hatten.

Die Grundlage dieser Wahnidee war das Gefühl, nicht geliebt zu sein. Wenn jemand immer wieder zu erkennen gibt, dass er nicht bei uns sein will, ergibt sich der offensichtliche Schluss, dass er oder sie uns nicht mag; und so fühlen wir uns ungeliebt. Wenn diese Person für uns der einzige Mensch auf Erden ist und unser Leben, von ihm abhängt - Unterhalt, Obhut, Schutz und Liebe-, dann ist die geringste Zurückweisung katastrophal. Wir können unser Gehirn nicht aus eigener Kraft entwickeln. Wir brauchen den Input der Pflegeperson. Seine oder ihre Liebe bestimmt über unser Gehirn. Seine oder ihre Zurückweisung deformiert unser Gehirn.

Wir folgten der Spur des Gefühls (unerwünscht zu sein) bei der gerade erwähnten Patientin zurück zur Geburt, wo sie in Gefahr war, durch Ersticken zu sterben. Das wurde im Lichte des späteren Verhaltens ihrer Mutter interpretiert als: „Sie wollte nicht, dass ich lebe.“ Natürlich erzeugten erst jahrelange Erfahrung elterlicher Kälte und Gleichgültigkeit das voll entwickelte Gefühl. Der Anstoß und die Kraft jedoch, die Kraft, die den frontalen Kortex bis an die Grenzen und darüber hinaus beanspruchte, war die Geburt. Wir müssen darüber keine Vermutungen anstellen. Wir messen die Gehirnwellen und Vitalfunktionen der Patienten, die dem Geburtstrauma nahe kommen, und finden sprunghaft ansteigende Messwerte. Die Erfahrung des Geburtstraumas ist, was sie ist, aber spätere Erlebnisse werden dann anders interpretiert. Seine Kraft wird in das spezielle Trauma eingeschleust, das einem später widerfährt.  Hier wurde es zu einem Bestandteil von: „ Sie will nicht, dass ich lebe.“

Gedanken können kompliziert werden, Gefühle jedoch nicht; somit sind sie viel einfacher zu behandeln. Nehmen Sie Krebsforscher, die rauchen, oder Ärzte, die zu viel trinken. Ungeachtet der Vorstellungen, die der frontale Kortex hegt, haben die Gefühle und Bedürfnisse Vorrang. Zuerst muss die Person einen Weg finden, um zu eigenem Wohlbefinden zu gelangen. Dann kann sie mit ihrem Leben vorankommen. Das Unterbewusste birgt Motive, von denen der Kortex nichts weiß. Weil Gedanken flexibel und grenzenlos sind, ist der konventionelle Therapeut gezwungen, ein endloses Labyrinth aus Glaubensüberzeugungen zu betreten. Er ist dann in der Position eines Entprogrammierers, der versucht, die Person von ihren Ideen abzubringen. Das ist alles unnötig und unwirksam. 

 

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Müssen Individuen in Qual versinken, die sie bereits erlebt haben? Warum den Patienten unter Schmerz setzen? Der Schmerz wurde niemals voll erlebt. Das Gehirn ließ es nicht zu. Es weigerte sich, auf den Mangel an Liebe zu reagieren, so dass die Reaktivität blockiert war. Das Ereignis wurde nur zum Teil erlebt. Der andere Teil blieb im Dunkeln unter Verwahrung. Hier liegt der Schlüssel zum Fühlen – Reaktivität. Es ist die Reaktion auf überwältigendes Fühlen, die unterdrückt worden ist. Es gibt einen internen Verwalter, der die Reaktivität aus zwei Gründen einschränkt: (1) um zu verhindern, dass die Vitalwerte und Vitalfunktionen, Blut­druck und Herzschlag, auf ein gefährliches Niveau klettern, und (2) um den inneren Druck vom Kortex fern zu halten, so dass er nicht überlastet wird und nicht auseinanderbricht. Wir sehen, was Rebirther in ihrer Therapie freisetzen, und wie es die Person oft verrückt macht. Traurigerweise ist sich die Person oft dessen nicht bewusst. Vielmehr glaubt sie, sie habe eine göttliche Erscheinung gehabt und das kosmische Bewusstsein erreicht. Auch das Halluzinogen LSD setzt tiefe Schmerzen frei und vermindert die kortikalen Integrationsfähigkeiten. Und wiederum sehen wir bizarre Gedankenbildung, die irrtümlich für eine bestimmte Art mystischer Erfahrung gehalten wird

Wie in vielen Aspekten menschlichen Verhaltens ist der Eingang zugleich der Ausgang. Um aus dem Schmerz herauszukommen, müssen Sie in ihn hineingehen. Dennoch versuchen viele aktuelle Methoden, von der Akupunktur zur Massage, von der Traumanalyse zur Bioenergetik, von der Verhaltenstherapie und Vitaminberatung bis zum „Pflaster“ (fürs Rauchen), Symptome ohne Schmerz zu lösen.

Wer wünschte keinen schmerzlosen Ausweg aus dem Leiden? Damit aber ignorieren wir biologische Gesetze. Es gibt keine Magie. Wir hatten Erlebnisse, die unsere Neurobiologie veränderten, und wir müssen uns mit diesen Erlebnissen befassen, wenn wir normal werden wollen. An anderer Stelle diskutiere ich die Speichelkortisol-Messungen, die wir an unseren Patienten vornahmen. Nach mehreren Monaten Therapie kam es zu einem signifikanten Absinken dieser Werte. Dies bedeutet, dass die Person unter weniger Stress steht und von weniger Spannung angetrieben wird. Das ist ein Aspekt der Normalisierung.

Sollten wir „schlafende Hunde nicht wecken“? Das geht nicht, weil wir sie auf einer Ebene des Gehirns die ganze Zeit fühlen. Auf dieser Ebene schläft nichts. Deshalb sind die Stresshormon-Spiegel so chronisch hoch. Mittlerweile suchen wir den einen Doktor wegen dieser Symptome auf: hoher Blutdruck, Allergien, Schilddrüsen-Überfunktion, Kolitis, Spielsucht; und den anderen Doktor wegen Phobien, Zwangsvorstellungen, Perversionen und Alkoholismus. Dennoch gibt es oft eine einzige Pille, ein Beruhigungsmittel, das sie allesamt behandeln kann. Schmerz ist das gemeinsame Substrat in vielen dieser Fälle. Natürlich gibt es genetische

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Tendenzen, Umwelteinflüsse und so weiter, aber man darf den Schmerz nicht übersehen, besonders eingeprägten Schmerz;  vor allem nicht den Schmerz, bevor wir unseren Eltern offiziell begegneten. Es ist eine Erleichterung, nicht alle drei Tage eine Migräne zu haben, sich nicht überessen zu müssen oder nicht von sexuellen Impulsen kontrolliert zu werden. Es ist eine Erleichterung, nicht ständig Angstattacken zu erleiden, nicht mit Blutdruckmedikamenten oder Beruhigungs­mitteln und Pillen gegen Depression leben zu müssen. Das alles wird kurzum durch ein außergewöhnliches Wohlgefühl ersetzt. Der Mensch wird endlich lebendig, nachdem er seine Leblosigkeit gefühlt hat, eben weil er fühlt. Fühlen ist ein kleiner Preis für diese Freiheit. Wenn die Schmerzen schließlich abtreten, kommt es zu diesem wunderbaren Gefühl von Lebendigkeit – „lebendig“, weil wir fähig sind, zu reagieren. Das ist keine utopische Vorstellung. Es ist eine beobachtbare Tatsache.

Zu oft fühlen wir, dass wir dem Leben nichts abgewinnen können, eben weil wir nicht voll reagieren können. Die Verdrängung hat in unserem Innern alles abgestumpft. Wir schauen uns Kinder an, die so lebendig sind, und wir fragen uns vielleicht, wo wir diese Fähigkeit verloren haben. Wir wachsen aus diesem Enthusiasmus, dieser Lebensfreude nicht heraus. Wir verlieren sie mit den Jahren, weil uns unsere eigenen Gefühle fremd werden.

Je entfernter der Schmerz, umso tiefer die Verdrängung und umso größer die Befreiung, wenn er gefühlt wird. Durch die Art, wie ein Patient atmet, wissen wir, dass er die Empfindungen des Geburtstraumas wiedererlebt. Seine Äußerungen haben einen anderen Tonus, eine andere Energie, einen anderen Rhythmus. Wir stellen das in Dierdres Geburtsgefühlen fest.

In der folgenden Fallgeschichte werden wir sehen, wie Dierdre durch das Gefühl ihrer Hoffnungslosigkeit außer Gefecht gesetzt wurde. Sie war so unbeweglich, dass sie sich nicht mehr zu helfen wusste, weil das die ursprüngliche Einprägung war, wo sie sich nicht selbst helfen und nicht reagieren konnte. Sie hatte das alte, vertraute von der Geburt stammende Gefühl, „festzustecken.“ Wir bemerken ihr Fortschreiten vom Weinen über ihre Probleme in der Gegenwart hin zur Intrusion von Hirnstamm-Einprägungen – Husten und Würgen. Von da fiel sie in ein „bewusstes Koma“, wie viele Patienten es beschreiben – „Ich bin im Raum, aber ich bin nicht im Raum.“ Sie weinte darüber, dass sie ihre Mutter vermisste, und sie weinte wegen des Bedürfnisses nach Körperkontakt. Dann glitt sie in einen lautlosen Zustand delphinartiger Bewegungen. Das Atmen fiel ihr schwer, und ihr war, als würde sie sterben. Sie kam aus dem Erlebnis mit der Einsicht heraus, dass sie tat, was sie konnte, und dass sie die Hoffnung auf Wärme und Hilfe verlor. Sie fühlte den Ursprung ihres Feststeckens und ihrer Einstellung, dass sie sich nicht selbst helfen könne. Sie verstand allmählich, dass sie das Drama ihrer Hoffnungslosigkeit in ihrem Leben aufführte, wo sie Re-Akteur war anstatt Akteur. Bei der Geburt, als der Tod nahte, hatte sie keine Gelegenheit zu kämpfen.  

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Dierdre

Was hat es dir gebracht, Primärgefühle wiederzuerleben?

Warum gehst du durch den ganzen Prozess? Nehmen Sie einfach ein Beispiel aus meinem Leben, seit ich in Primärtherapie bin. Seit den letzten sieben Jahren bin ich Pflegemutter für zwei Kinder, und ich wurde zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen, wo der Richter entscheiden sollte, ob die Kinder ihre biologischen Eltern besuchen müssen oder zu ihnen zurückgehen müssen. Ich fühlte mich sehr schlecht. Mein Kopf raste, ich war voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Mir war, als würde ich zu etwas gezwungen, das ich nicht zulassen wollte. Meine Gedanken liefen jeden Tag auf die Hoffnung hinaus, diese ganze Situation durch Selbstmord beenden zu können.

Ich ging zu einer Primärgruppe. Ich sagte der Therapeutin, wie hoffnungslos und verzweifelt ich war und dass ich mich in dieser Situation total allein gelassen fühlte und dass es für mich keine Hilfe gab. Mein Herz war gebrochen. Ich glaubte, dass ich alles verlieren würde, was ich in meinem Leben jemals besaß, und dass ich nichts dagegen tun könnte. Ich spürte auch Wut: Wut gegen den Richter und die Jugendbehörden.

Niemand konnte mir helfen, ich konnte mir selbst nicht mehr helfen – ich fühlte, dass ich total feststeckte, wusste nicht, was ich tun sollte und verstand nicht mehr, was vor sich ging. Ich schrie jeden an. Wie können sie es wagen, es auch nur in Betracht zu ziehen, dass diese Eltern, die meinen Pflegekindern schreckliche Dinge angetan haben, die Kinder besuchen oder sie sogar zurückhaben dürfen? Ich fing zu weinen an. Ich war hilflos und geschlagen. Mein Körper fühlte sich immer schwächer an. Ich fühlte mich hilflos. Ich spürte die Angst, die Kinder zu verlieren. Ich spürte, dass alles, was ich je für sie getan habe und alles, was ich je in meinem ganzen Leben tat, wertlos war. Während mein Weinen lauter und tiefer wurde, fing ich zu husten an. Mein Weinen hörte sich anders an und kam mehr aus der Tiefe meines Inneren. Ich fühlte, dass mein ganzer Körper in purem Schmerz versunken war. Das Husten wurde stärker und ich fühlte ein Bedürfnis hochkommen, das Bedürfnis, dass mir jemand hilft. Ich bat sie immer lauter, mir zu helfen, und meine Stimme veränderte sich. Sie wurde höher.  

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Dann verlor ich die Verbindung zu den Therapeuten und zu dem Raum, in dem ich mich befand, und innerlich fühlte ich mich ganz klein, als sei ich wieder ein Kind, und plötzlich erkannte ich, dass all meine Hoffnung auf Hilfe auf meine Mutter zentriert war. Ich wollte, dass sie mich hielt und tröstete. Ich folgte meinem Impuls, gehalten zu werden, indem ich mich in die Arme meiner Therapeutin flüchtete; aber ich vermisste meine Mama, und ich weinte ganz tief, und es hörte sich an, als würde ein Kind weinen. Und während ich weinte, begriff ich, dass meine Mutter nicht da war, damals, als ich ein Kind war, und ich spürte, wie eine Riesenwut in mir hochkam, zusammen mit einem ungeheuer großen Bedürfnis nach ihr. Ich verlangte danach, dass sie mir half und meine Schmerzen linderte, aber sie kam nicht, und während ich sie noch immer anflehte, für mich da zu sein, erkannte ich, dass ich meine Hoffnung verlor, sie werde jemals zu mir kommen. Ich gab auf.

Erinnerungen an Situationen in meiner Kindheit überschwemmten mich, wo ich meine Mutter brauchte, wo mir aber die Erfüllung meines Bedürfnis wieder und wieder versagt blieb. Mein Feeling wurde größer; mein ganzer Körper war darin verstrickt. Ich hustete wieder, dieses Mal viel stärker. Ein ganz starkes Bewusstsein, dass sie mir nicht halfen, kam in mir hoch, und ich fand mich wieder in totaler Wut, die mein ganzer Körper zum Ausdruck brachte. Zusammen mit dieser Wut spürte ich das reine Bedürfnis, getröstet zu werden, Körperkontakt und Berührung von meiner Mutter zu bekommen, und ich wollte sie bei mir haben. Spontane Schmerzensschreie drangen mit einer Kraft aus  meinem Mund, die ich mir nie hätte vorstellen können. Gleichzeitig begriff ich, dass diese Kraft immer da war, aber nie zum Ausdruck kam. Mein Mund stand weit offen, und ich konnte meinen Körper überhaupt nicht bewegen, und kein Ton kam mehr aus meinem Mund. Und lautlos begann sich mein Körper wieder zu bewegen, aber mit Wut. Ich musste aus dieser unerträglichen Situation herauskommen, in der ich den Trost und die Unterstützung, die ich verzweifelt brauchte, nicht mehr bekam.

Ich gehorchte dem Druck und tat etwas, das ich in diesem Moment nicht tun wollte aber tun musste, um zu überleben. Ich verlor völlig die Kontrolle über mich und über das, was ich ursprünglich wollte (weiterhin unter dem Trost und der Wärme meiner Mutter zu bleiben). Ich fühlte den Druck, dass mich etwas zurückhielt und mich nicht mehr atmen ließ, und mit intensiver Kraft bewegte ich mich wie ein Delphin; ich wusste, ich musste gegen den Tod kämpfen. Meine Lungen schmerzten, mein ganzer Körper fühlte sich wund an. Ich fühlte mich total allein. Es schien, als würde ich auf etwas warten, lange Zeit warten. Aber nichts geschah. Ich verlor die Hoffnung auf Hilfe, Trost und Wärme. Und ich verfiel wieder in Agonie, weil ich alles verloren hatte.

 

 

 

 

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Und noch während ich dieses Gefühl wiedererlebte, erkannte ich mit Erleichterung: dass es dasselbe mächtige Gefühl ist, das meine Realität beeinträch­tigt. Mein Fühlen und mein Verstand begannen sich in dieser Situation zu verknüpfen, und ich verstand, dass es meine Geburt war und die unmittelbar folgen­de Zeit, wo ich tat, was ich konnte, um zu überleben. Ich wollte leben, aber ich fühlte, dass ich deswegen alles verlor – mit meiner Mutter zusammen zu sein, die Hoffnung auf Beistand.

Ich hörte auf, um Hilfe zu bitten. Für den Rest meines Lebens lebte ich alleine. Und ich begriff, dass ich zurückgehen und diesen alten Schmerz fühlen musste, dass ich die Wärme meiner Mutter für immer verloren hatte, um zu verstehen, warum ich mir nicht holen konnte, was ich brauchte. Dieses Gefühl wurde größer, weil mich meine Mutter in der Kindheit in Situationen nicht unterstützte, in denen ich ihre Hilfe brauchte. Ich entwickelte das Verhalten einer völlig unabhängigen Person.

Diese Gefühle haben mich mein ganzes Leben in schwierigen Situationen gelenkt und mich zu falschen Entscheidungen geführt, durch die ich alles verlor, weil ich immer meine Hilflosigkeit ausagierte – dass ich nicht bekam, was ich brauchte, und aufhörte, auf irgendwas zu hoffen, nachdem ich alles getan hatte, um geboren zu werden. Jetzt bin ich in der Lage, in dieser Situation etwas zu tun. Ich möchte für das kämpfen, was ich für richtig halte. Ich gebe nicht einfach nach. Ich bitte um Hilfe, wenn ich es nicht alleine machen kann. Nachdem ich dieses Primärgefühl hatte, war ich überhaupt nicht mehr suizidal. Ich spürte, dass etwas in meinem Inneren mir die Kraft gab, mich auf meine Probleme zu konzentrieren und nicht auf alte Gefühle aus der Vergangenheit.

Lange Zeit später begann ich, darüber zu reden, wie sehr dieses Gefühl nach der Geburt dem Gefühl ähnelt, das ich in der Gegenwart hatte, als ich über diese Gerichtsverhandlung informiert wurde; dass ich befürchten müsse, die Kinder zu verlieren; und Dinge tun müsse, die ich nicht tun will. Es war so sehr ein und dasselbe. Ich war suizidal, weil meine Geburt lebensbedrohlich war und auch, weil ich fühlte,  dass mein Bedürfnis im Sterben lag, und als es starb, starb ich mit ihm. Und als ich das erzählte, weinte ich wieder wie eine Erwachsene, aber mit Erleichterung, da ich wusste, dass es jetzt Hilfe gab. Ich kann meine Freunde fragen, ich kann Anwälte und Angestellte der Jugendbehörden fragen, und ich muss nicht mehr in Agonie versinken. Ich kann jetzt etwas tun.

Ich habe mich sehr verändert. Ich habe Freunde, und ich will meine Freundschaften halten. Was ich tue, betrachte ich jetzt mit anderen Augen, und allmählich werde ich mit mir selbst zufriedener denn je. Ich stehe am Anfang einer neuen Beziehung und ich bin offen für die Freundlichkeit meines Partners. Ich fange an, mich selbst wichtig genug zu nehmen, um wählen zu dürfen, was ich wirklich machen will, und um mir selbst genug Zeit zu geben, bevor ich in schwierigen Situationen Entscheidungen treffe. Ich gebe nicht gleich auf, wenn ich nicht geradewegs bekomme, was ich will, und ich bin offen für Ratschläge anderer Leute. Ich blicke vertrauensvoll in meine Zukunft, weil ich weiß, dass ich nicht mehr im Griff des Geburts- und Kindheitstraumas bin. Ich kann wählen, und ich kann meiner Natur trauen – Ich bin eine aktive Person, die sich auch ausruhen kann. Ich freue mich darauf, dem Selbst zu begegnen, das ich sein werde, weil ich einen Weg fand, wie ich meine Vergangenheit daran hindern konnte, mich zu etwas zu machen, das ich nicht war.

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KAPITEL 13
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DER STRESS - FAKTOR
Ein anderes Gehirn wird aufgebaut
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Erwachsene Ratten, denen als Jungtiere kräftiges Lecken und Striegeln zuteil wurde, waren erkundungsfreudiger und neugieriger als solche, die nicht geleckt und gestriegelt worden waren.1 Sie besaßen auch eine „Fülle von Gehirnre­zeptoren für eine Klasse angstreduzierender, schmerzstillender Substanzen , die Benzodiazepine genannt werden.“ 2 Es gibt noch andere beteiligte Rezeptoren, einschließlich derer für die Neuropeptide Oxytozin und Vasopressin. (Ausführlich erörtert im Kapitel 17 über Oxytozin). Diese sind wichtig für das Bindungsverhalten der Eltern zum Kind und umgekehrt. Der entscheidende Punkt, den ich wegen seiner Bedeutung immer wieder anführen werde, ist, dass Berührung ganz am Anfang wesentlich für die Entwicklung eines gesunden Gehirns ist.3 Ungeachtet der beteiligten Neurosäfte ist klar, dass fehlende Liebe die chemischen Substanzen im Gehirn verändert und schließlich die Struktur dieses Gehirns verändern kann. Wie der kleine Baum, der in seiner Kindheit krumm gewachsen ist, weicht das „verkrümmte“ Gehirn danach vom Normalzustand ab.

Pränatal gestresste Ratten zeigten im Verhalten nach der Geburt große Angst. Wenn sie im Mutterleib gestresst wurden, wiesen sie nach der Geburt ein Stress-Syndrom auf. Diese scheinbar harmlosen Fakten haben immense Bedeutung, weil sie darauf hindeuten, dass intrauterine Ereignisse später im Leben dauerhafte Auswirkungen haben. Aber einige dieser Wirkungen lassen sich möglicherweise durch Ereignisse gleich nach der Geburt aufheben. Ratten, die direkt nach der Geburt gestreichelt wurden, zeigten einen verminderten Ausstoß des Stresshormons Kortikosteron.4 In einer Reihe von Studien ist das Hormon Glukokortikoid

 

 

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als wichtiger Faktor mit der Vermittlung des Stress-Syndroms in Zusammenhang gebracht worden. Es stellte sich heraus, dass Stress bei Tieren wie der Baumspitzmaus die Serotoninrezeptoren reduziert,5 ein Ergebnis, das sich in zahlreichen Tierstudien fand. Diese Studien enthüllen, dass die Abwesenheit einer Mutter gleich nach der Geburt zu erhöhten Stresshormonwerten mit Schädigung gewisser kortikaler Zellen und bestimmter Hippocampus- Orte führt. Diese Nachricht ist gut und schlecht. Je früher wir Liebe erfahren, umso stärker ist unsere Serotonin-Endorphin-Sekretion und umso besser fühlen und verhalten wir uns später. Im Gegensatz dazu schwächt fehlende Liebe am Lebensanfang das Verdrängungssystem und mindert unsere physiologische Fähigkeit, später im Leben mit Stress fertig zu werden.

Nach erfolgter Deprivation bleibt das System kontinuierlich unter Stress, weil es im Innern ein elektrochemisches Signal gibt, das regelmäßig „ungeliebt“ aufleuchten lässt. Dieses Signal gibt eine Reihe von Anweisungen: Scheide diese Substanz ab, stoppe die andere, reduziere dieses Hormon, erhöhe das Insulin, ändere die Bluttplättchen, ändere die natürlichen Killerzellen des Immunsystems.6 Diese Abweichungen sind die Kompensationsmechanismen für fremdes Eindringen. Liebe entspricht der natürlichen Ordnung der Dinge. Mangel an Liebe ist eine fremde Macht. Sie ist unerfülltes Bedürfnis, das den Alarm auslöst.

Forscher haben das fetale Stress-Syndrom beschrieben. Es unterscheidet sich nicht vom Stress-Syndrom in Kampfhandlungen. Ein Baby, das nicht gut schläft, unglücklich ist und sich unwohl fühlt, weist alle Anzeichen des posttraumatischen Stress-Syndroms auf (PTSS). Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir den Ursprung des Baby-Stresses im Gegensatz zu den Kampfstrapazen nicht „sehen“ können.  Das Baby war ganz für sich in einen Kampf verwickelt, als es versuchte, der Strangulierung durch die Nabelschnur zum Trotz geboren zu werden. Es hat noch keine Worte, um jemanden von seiner Tortur zu erzählen. Es kann zittern und eine schwere Schreckreaktion zeigen, aber wenige Erwachsene können diese Zeichen richtig deuten. Auch für den Fetus, der am Rauch, den die Mutter inhaliert, würgt und fast erstickt, ist es ein Kampf ums Überleben. Und es ist einem Fetus nicht möglich, „Normalität“ und Wohlbefinden zu wahren, wenn die Mutter Alkohol zu sich nimmt, der das Gehirn des Fetuses verändert

Der hohe Stress-Spiegel bei einer schwangeren Mutter ist nicht nur von Kortisol-Sekretion begleitet, sondern der anhaltende Kortisol–Ausstoß schädigt auch den Baby-Hippocampus, dessen Aufgabe es ist, neue Erinnerung zu verankern. Als Ergebnis kann der Erwachsene seine Gefühle nicht artikulieren oder sich nicht recht gut erinnern.7 Wenn Hoffnungslosigkeit früh einsetzt, wenn man zum Beispiel versucht, geboren zu werden, und nichts tun kann, um herauszukommen, kommt es zu entsprechend hohen Kortisolwerten, die Verwüstung anrichten und Gehirnzellen zerstören.


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QUELLENVERWEISE UND ANMERKUNGEN

 

N. 1         „Child Sex Abuse Leaves Mark on Brain,“ Science News 147 (3 Juni 1995): 340.

 

N. 2         Ibid., s. 167.

 

N. 3         Siehe: C. S. Carter, „The Integrative Neurobiology of Affiliation,“ Annals of the New York Academy of Sciences 8070 (15. Januar 1997): xiii-xviii.

 

N. 4         Monique Vallee et al., « Prenatal Stress Includes High Anxiety and Postnatal Handling Includes Low Anxiety in Adult Offspring, » Journal of Neuroscience 17, no. 7       (1. April 1997): 2626-36.

 

N. 5         G. Flugge, “Dynamics of Central Nervous 5HTIA Receptors Under Psychosocial Stress,” Journal of Neuroscience 15, no. 11 (November 1995): 7132-40.

 

N. 6         Siehe auch: T. R. Insel, „A Neurobiological Basis of Social Attachement,“ American Journal of Psychiatry 154, no. 6 (Juni 1997): 726-35.

 

N. 7         Siehe M. A. Smith et al., „Stress and Glucocorticoids Affect the Expression of Brain-Derived Neurotrophic Factor and Neurotrophin-3 mRNAs in the Hippocampus,” Journal of Neuroscience                    15 (1995): 1768-72.

   

 

KAPITEL 14
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DIE SCHLEUSENTHEORIE
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Unser Schleusensystem verkehrt das Fühlen großen frühen Schmerzes in sein Gegenteil: nichts fühlen. Um zu verstehen, wie das vor sich geht, müssen wir uns die Arbeit der Drs. Ronald Melzack, Autor von The Puzzle of Pain1 und Patrick Wall, der die Theorie der Schmerzschleusung entwickelte, ansehen.

Melzack und Wall benutzten transkutane Elektroneurostimulation (TENS), um ihre Theorie zu untermauern, dass im Mittelhirn ein Schleusensystem existiert. Sie implantierten eine Elektrode hoch oben im Rückenmark. Der Patient konnte dann auf einem Sender einen Knopf drücken und den Bereich mit elektrischen Impulsen fluten, um großen Schmerz wie bei Krebs abzuschalten. Diese Impulse sind neutral, dennoch senden sie Informationen an das Schleusensystem, die zur Hemmung und Verdrängung von Schmerzsignalen führen. Kurz gesagt kann Überreizung durch eine starke elektrische Kraft zur Abschaltung oder Schleusung führen. Die Kraft muss keinen Inhalt haben. Sie muss eine bestimmte Stärke erreichen, über die hinaus die Neuronen nicht mehr reagieren. Genau das passiert mit elektrischen Eingaben, die einen emotionalen Inhalt haben: „Sie lieben mich nicht.“ Wenn die dem Inhalt innewohnende Bedeutung/Gefühl außergewöhnlich schmerzvoll ist, kommt es zu automatischer Abschaltung. Die Überflutung mit elektrischen Impulsen ruft das Schleusensystem auf den Plan. Es kommt dann zu einer effektiven Unterbrechung zwischen dem Schmerz auf tieferer Ebene und der Bewertung dieses Schmerzes auf höherer Ebene. Da emotionaler Schmerz mit den Jahren immer qualvoller wird, sorgt ein eingebauter Antileidens-Mechanismus dafür, dass wir nicht übermäßig leiden müssen – die Schleusen.  

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Wenn sich jedoch mit der Zeit zu viel Schmerz anhäuft, zerfällt das Schleusensystem und wir brauchen dann Hilfe von außen. „Zerfallen“ bedeutet, dass es keine ausreichenden chemischen/neurohormonellen Vorräte gibt, um ein frühes Trauma vom Bewusstsein fernzuhalten. Die Abwehr funktioniert nicht. Der Mensch ist dann zum Beispiel in Angst, Schrecken oder Wut aufgelöst, so dass es zu unzulänglicher Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung kommt. Elektroschock-Therapie kann die Schleusung und Verdrängung unterstützen, weil das System nicht genug Serotonin (und andere innerlich hergestellte Schmerztöter) produziert, um den Schmerz unten zu halten. Schocktherapie mit elektrischem Input direkt in die Schläfen und somit ins Gehirn erzeugt einen massiven Input, der im System bleibt. Sie erzeugt auch höhere Spiegel bei einigen hemmenden Substanzen, so dass Gefühle an Ort und Stelle gehalten werden. Ich war Zeuge, als Patienten ihre Schocktherapie  genauso wiedererlebt haben, wie sie sich abgespielt hatte. Wenn man während einer Sitzung im Mund dieser Patienten einen

 

  Abb. 7    Gefühle werden auf dem Weg zum frontalen Kortex blockiert.  

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Gummischlauch platziert, verbeißen sie sich darin und verziehen das Gesicht, als würden sie gerade den Schock erhalten. (Wir haben das gefilmt.) Was hineingeht, muss schließlich wieder herauskommen, ob es sich um elektrische Impulse aus einer Maschine handelt oder aus einem emotionalen Trauma. Schock macht die Person ahistorisch; ein Mensch, der von der Vergangenheit abgeschnitten ist. Es ist der gleiche Schock und Gedächtnisverlust, der als Ergebnis eines Autounfalls oder eines Inzests eintritt, der einem Kind in den allerersten Lebensjahren angetan wird.

Die Schleusenkontroll-Theorie ist kürzlich von Melzack modifiziert worden. Es geht jetzt dabei um Neuromodule, aber meine Beobachtungen in der Primärtherapie erhärten die Theorie noch immer. Patienten, die in meinen Sitzungen eine Geburtssequenz wiedererlebten, wiesen Zangenmale auf der Stirn auf. Diese Male hatten sich zuvor niemals manifestiert, weil sie die Schleuse nicht passieren konnten und als Erinnerung gespeichert worden waren. Ich habe gesehen und gehört, wie das Wimmern eines Babys, das später vorsätzlich nicht nachge­macht werden kann, aus Vierzigjährigen kam, die ein frühes Trauma wiedererleb­ten. Während eines Gefühlserlebnisses können Patienten die fetale Position bis zu einer Stunde beibehalten. Die Spannung, die unseren Körper erfüllt, ensteht, weil wir massive Mengen an Primärenergie mittels Schleuse wegsperren. Meine Patienten nennen diese Energie „Primärtreibstoff“.

Um es klar zu sagen, es gibt keine kleinen Schleusentore im Gehirn. Abschalten nimmt viele Formen an: Sekretion von Serotonin/Endorphin, stillgelegte Neuronen, die die Nachricht nicht weiterleiten, und andere. Aber wie auch immer die Form beschaffen sein mag, es besteht das Äquivalent eines Tores, das sich vor Gefühlen verschließt. Das Ergebnis ist, dass wir keinen Zugang haben. Durch keinen Willensakt können wir das Tor noch öffnen. Aber wir können in den Raum schlüpfen, in dem die Gefühle verborgen sind, und nach den Zugangsschlüsseln stöbern. Einer der Schlüssel ist der Hippocampus, der unsere Geschichte abzutasten scheint und uns den Zugang zu Teilbereichen anbietet.

Wenn Mutter oder Vater in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, wenn jemand Schwester oder Bruder durch einen Unfall verliert, in jungen Jahren zu Pflegeeltern oder auf die Knabenschule geschickt wird, Inzest oder andere Traumen erleidet, wird das Gehirn mit elektrischen Impulsen überflutet, die auf einen Schock hinauslaufen. Es ist Informationsüberlastung. Das kann sich auch in der tagtäglichen Sterilität eines Haushaltes ereignen, in dem Eltern wie abwesend sind und ihr Kind niemals in den Arm nehmen oder mit ihm reden. Diese Informationsüberlastung ist kumulativ. Ich habe schon früher erwähnt, dass dieser Mechanismus bis ins pflanzliche Leben zurückreicht. Er ist buchstäblich viele Hundertmillionen Jahre alt.

Information muss nicht in Worte gefasst sein, besonders wenn das Trauma oder das Fehlen von Liebe schon lange geschehen war, ehe wir die Fähigkeit besaßen,

 

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Worte zu benutzen. Information kann in Form chemischer Substanzen auftreten, die das System in genau derselben Weise überlasten, wie ständiges Quasseln der Eltern oder zu viel körperliches Schubsen und Drängeln das Kind überlastet. Das ist Überreizung. Eine der beteiligten Substanzen ist das Stresshormon Kortisol.

Morphium ist ein Beispiel dafür, dass eine höhere Schleusungsaktion abläuft. Eine Person, die die Höllenqualen einer Herzattacke erleidet, bekommt eine Morphiumspritze und fühlt sich plötzlich wohl. Wenn sich die Wirkung der Droge verliert, kommt der Schmerz zurück. Wir produzieren dasselbe Morphium in unserem Gehirn, um es uns „behaglich“ zu machen, auch wenn der Schmerz und seine Ursache noch immer tief in unserem Gehirn verborgen liegt. Morpheus, der griechische Gott der Träume und des Schlafes, hat unsere Sinne stumpf und unser Leben farblos gemacht. Indem wir uns selbst gegenüber unsensibel werden, werden wir anderen gegenüber unsensibel. Wir sehen ihren Schmerz nicht; wir können uns nicht in sie einfühlen.

Die Schleusen bewahren unsere innere Wirklichkeit in reiner Form. Sie sind gütig, Teil unseres Überlebensmechanismus. Deshalb verlieren wir diese Realität niemals, wir verlieren nur den Kontakt mit ihr. Je mehr wir mit diesen Emotionen in Berührung kommen, umso sensibler und menschlicher werden wir, weil Menschen fühlende Geschöpfe sind. Wenn wir einen Teil unserer Gefühlsfähig- keit  verlieren, verlieren wir einen Teil unserer Menschlichkeit.

 

Abb. 8.   Ein allgemeiner Überblick über Schlüsselstrukturen im Gehirn, die am Gefühlsprozess beteiligt sind.

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Jeder Aspekt des Schleusensystems scheint eine spezifische Toleranz zu haben. Die Schleuse des Hirnstamms (den ich als „erste Linie“ bezeichne) - die Rezeptoren, die sich mit dem Trauma befassen – können beispielsweise eine Kapazität von zehn haben. Andere Schleusen können eine Kapazität von fünf oder sechs haben (das bedeutet, die Dichte an Neuroinhibitoren ist in diesen Bereichen geringer). Ein Trauma, wie zum Beispiel Mutter oder Vater in jungen Jahren zu verlieren, kann mit einer Valenz von sieben oder acht die Schleuse überwältigen. Das untere Schleusensystem scheint eindeutig auf viel stärkere Eingaben eingestellt zu sein. Oder – andere Möglichkeit - die Anhäufung von Schmerz im Laufe der Zeit schwächt vielleicht letztendlich das Schleusensystem, was zu chronischer Angst oder Spannung führt.

Was wir manchmal bei unseren Patienten sehen, ist ein brüchiges Schleusensystem auf Grund von Schmerz, der sich aus den ganzen Erfahrungen der Kindheit zusammensetzt. Das ist die Art von Person, die Gefühle nicht voneinander trennen kann. Sie kommt in die Therapie und hat ein Gefühlserlebnis über die Kindheit, das sich bald mit allen möglichen Geburtstraumen vermischt. Dieser zusammengesetzte Schmerz erzeugt eine Melange, die verhindert, dass die Person ein einzelnes integriertes Gefühlserlebnis hat. Beruhigungsmittel oder Schmerztöter sind an diesem Punkt erforderlich, die Schmerz von hoher Valenz unterdrücken und die Schleusen gegen Hirnstammreize  stärken, so dass der Mensch Gefühle integrieren kann, die weniger weit enfernt und mit weniger Schmerz beladen sind: jedes Gefühl zu seiner Zeit. Wir benutzen Medikamente als Mittel, um den Gefühlsprozess zu unterstützen, um dem Patienten zu ermöglichen, sich mit Schmerz von geringerer Valenz weiter oben im Nervensystem zu befassen; sie sind nicht das Endziel der Therapie. Medikamente ohne ein dynamisches Verständnis der Funktion des Gehirns zu benutzen, bedeutet, an Magie zu glauben. Der Glaube, dass Medikation irgendwie emotionale Probleme lösen kann – dass Medikamente tatsächlich jemanden davon heilen können, dass er nicht geliebt wurde und die meiste Zeit in seiner Kindheit vernachlässigt wurde, dass Medikamente jemanden heilen können, der in einem kalten Pflegeheim aufwuchs oder einen gewalttätigen betrunkenen Vater hatte – bedeutet, in die Abgründe des Mystizismus zu fallen. Medikamente bewirken nichts anderes, als dass wir uns weiterhin der Realität nicht bewusst sind. Das ist und kann nicht das Endziel an sich sein. 

Die Angst vor dem Tod

Ein Patient von mir wurde die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens von der Angst gequält, der Tod stehe ihm unmittelbar bevor. Er hatte ein schreckliches

 

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Geburtserlebnis, in dem er im Geburtskanal steckenblieb. Dann hatte er gleichgültige Eltern; eine Mutter, die psychotisch war. Das Ergebnis war, dass er nie fähig war, eine Abwehr oder ein Schleusensystem aufzubauen. In jedem seiner Urerlebnisse brandete das „Todes“-Gefühl empor und stellte ihn innerhalb von Sekunden buchstäblich kerzengerade auf. Er rang nach Luft, lief rot an und fasste sich an die Brust, als hätte er eine Herzattacke. Er spürte, dass er am Ertrinken war und dass eine zähe Flüssigkeit seine Lungen füllte, die sich auf die Matte ergoss. Anfangs benutzten wir geringe Mengen Zoloft (und manchmal Clonidin), um ihn in die Gefühlszone zu bringen; Clonidin unterdrückt die Aktivierung von Hirnstamm-Einprägungen, während Zoloft den Serotoninspiegel erhöht und dadurch die Schleusen verstärkt 2 (ausführlich erklärt im folgenden Kapitel). Als er dieses Gefühl in unseren Sitzungen immer wieder erlebte, begann seine Angst nachzulassen. Die „Todes“-Erinnerung befand sich fast sein ganzes Leben lang unterhalb des  Bewusstseins. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, was wir mit den Medikamenten, die wir verschreiben, unterdrücken.

Viele, die auf zahlreichen LSD-Trips waren, kommen in meine Sitzungen mit „gesprengten Schleusen“, wie ich es nenne. Begünstigt durch das Halluzinogen öffneten sich ihre Schleusensysteme, konnten sich aber nie wieder vollständig schließen. Ein Patient sagte mir, dass er einer Todeserfahrung bei der Geburt nahe gekommen sei, nachdem er Acid genommen hatte. Bald danach trat er einem Kult bei. In vielen dieser Kults lautet die erste Geschäftsregel, sich vor dem Tod in Acht zu nehmen; ein Grund dafür ist, dass das Halluzinogen ganz frühe Todesgefühle freigesetzt hat. Diese Leute suchen nach Vorstellungen, die ihre gesprengten Schleusen wieder herstellen sollen. In den meisten Kulten wird der Tod entweder verleugnet oder willkommen geheißen, weil er zu einem besseren „Leben“ führt. Nach vielen Monaten Therapie kann der Patient anfangen, das zu fühlen, was LSD entfesselt hat – die Erfahrung der Todesnähe bei der Geburt. Der Unterschied besteht darin, dass sie nun integriert werden kann; es ist ein funktionsfähiger frontaler Kortex vorhanden, der dabei hilft.

Eine Patientin, die Opfer von Inzest war, erkannte diese Tatsache erst bewusst, als sie zwei Jahre in Primärtherapie war. Sie hatte angefangen, auf der Straße mit sich selbst zu reden, und fühlte, dass sie „es verlor“. Sie fühlte auch, dass sie gleich sterben werde. In ihrem Unbewussten war das Gefühl zu fühlen gleichbedeutend mit dem Tod. Denken Sie daran, ein traumatisches Feeling, das dem Bewusstsein nahe ist, lässt die Werte der Vitalfunktionen in gefährliche Bereiche klettern. Diese Frau kam zur Therapie und hatte keine Ahnung, was nicht stimmte. Über viele Monate erlebte sie Aspekte des Inzests wieder, bis sie ihm eines Tages in entsetzlicher Qual direkt ins Auge sah. Auch die einzelnen Bestandteile der Erinnerung waren durch die Schleusen abgeblockt worden, so dass sie sich zuerst nur an die harmlosesten Aspekte erinnern konnte: Angst vor der Dunkelheit als Kind, Furcht, als sie Schritte den Flur entlang kommen hörte. In späteren Primals sah sie einen

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bedrohlichen Schatten im Zimmer; noch später hatte sie die Empfindung von etwas Großem und Scharfem zwischen ihren Beinen. Schließlich, fast ein Jahr später: Papi!!

  Abb. 9    Das dreigeteilte Gehirn: Hirnstamm (Erste Linie), Limbisches System (Zweite Linie), Frontaler Kortex (Dritte Linie).

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Die Rolle des Serotonins im Schleusungsprozess

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich Forscher auf Rezeptoren wie Serotonin konzentriert, ohne zu verstehen, dass sich Schmerzrezeptoren angesichts eines Traumas vermehren oder vermindern. Wir haben uns nur eine Seite der Gleichung angeschaut und haben die Frage vernachlässigt, warum Serotonin sekretiert oder vermindert wird. Serotonin hilft, eingeprägte Impulse in Schach zu halten, es sei denn, sie sind zu stark. Es gibt mindestens vierzehn verschiedene Arten von Serotonin-Rezeptoren. Dieser Neurotransmitter datiert etwa fünfhundert Millionen Jahre zurück und findet sich in den primitivsten Spezies.3 Schwere Deprivation während und gleich nach der Geburt schädigt dieses System und erzeugt hyperaktive, impulsive Kinder, die Lernprobleme haben.4

Forscher, die alle möglichen Krankheiten untersuchen, finden eine Veränderung bei Serotonin und nehmen an, dass eine genetische Änderung des Serotoninspiegels die „Ursache“ der Krankheit sei. Bestimmte Typen von Medikamenten gegen Migräne haben Serotoninrezeptoren zum Ziel.  Aber die Ursache ist nicht immer genetisch; wir haben das Leben im Mutterleib übersehen.

Abb. 10     Gefühle werden blockiert und durch den Hypothalamus in verschiedene Organsysteme umgeleitet.

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Kürzlich wurde berichtet, dass Bulimie eventuell durch genetische Defekte in L-Tryptophan, der Aminosäure-Vorstufe des Serotonins, verursacht werden kann.5 Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass herabgesetzte Serotoninfunk­tion des Gehirns einige der klinischen Charakteristika der Bulimia nervosa in Individuen auslöst, die für diese Störung anfällig sind.6 Aber ausgelassen wurde in dieser Gleichung die Möglichkeit, dass die Einprägung permanent die Serotonin-Funktion reduziert und dass dies zu späteren Symptomen führen kann. Bei Bulimie ist die Einprägung ein Schmerz, der vielleicht durch Essen unterdrückt werden muss. Wir müssen darauf achten, dass wir nicht der Genetik zuschreiben, was seine Wurzeln in unserem Leben hat, auch wenn es ganz am Anfang des Lebens geschah.

Endorphine, Serotonin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) dienen letzten Endes alle als Neuroinhibitoren. GABA ist ein echter Inhibitor, wogegen Serotonin andere Funktionen hat, einschließlich der Vermittlung von  Wohlbefinden. Auf die eine oder andere Weise helfen sie dem Kortex, erregende Botschaften zu hemmen, die aus dem Limbischen System eintreffen. Wenn Schmerz, gleich welcher Art, andauert, scheinen die GABA-Vorräte zu Ende zu gehen und zuzulassen, dass Schmerz ins kortikale Bewusstsein drängt. Medikamente wie Gabatril straffen die Zügel und helfen, den Schmerz wieder wegzusperren. Wie Dr. Frank Wood, mein Berater, betont, „ist das Empfinden von Zufriedenheit im Leben nicht einfach auf die Unterdrückung des Unangenehmen zurückzuführen, sondern auch auf die Aktivierung guter Gefühle.“ 7 Andererseits, wenn meine Patienten Beruhigungsmittel oder sogar direkte Schmerztöter verwenden, um Schmerz zu unterdrücken, fühlen sie sich besser.

Dr. Laurence Tecott von der Universität von Kalifornien, San Francisco, der Serotonin erforscht, setzte bei Mäusen den Rezeptor für den Serotonin-Vorläufer außer Funktion. Die Tiere waren von Angst gepeinigt, drängten sich an die Wände eines Labyrinths; sie waren zu verschreckt, um neue Objekte zu erkunden.8 In dieser Studie wie in so vielen anderen repräsentieren Tiere, die ihre Furcht auf Grund unzureichenden Serotoninausstoßes nicht verdrängen können, das Äqivalent zu Menschen in Angstzuständen. Furcht scheint Lähmung und Vorsicht zu verursachen, dämpft die Neugierde, blockiert Spontanität und kann bei Menschen zu Bulimie und/oder Anorexie führen.

Ein Beispiel, wie Untersuchungen an Tieren die Erforschung des Menschen unterstützen, war eine Studie von J. Altman und G. D. Das vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).9 Sie beschrieben, wie man neue neuronale Entwicklung (Neurogenesis) im Hippocampus erwachsener Ratten ausfindig machte. Später wurde sie dann auf Grund dieser Forschungsergebnisse im gleichen Bereich bei Menschen lokalisiert.Tierforschung kann uns etwas über Menschen beibringen. Wir müssen Tiere

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studieren, um Hinweise auf menschliches Verhalten zu bekommen, und wir müssen Menschen untersuchen, um diese Hinweise zu erhalten.10  Etwas ist nicht einfach wahr, weil eine Forschungsstudie es  so sagt, wie Sie an den Schlussfolgerungen über Bulimie in der Studie weiter oben sehen können. Wir müssen keine Vermutungen über Kindheitsschmerz oder das Geburtstrauma anstellen. Mit den richtigen Geräten können wir es unter klinisch relevanten Bedingungen sehen und messen. Nachdem ich Tausende Wiedererleb­nis-Episoden über frühen Kindheitsschmerz gesehen habe, könnte mich niemand überzeugen, dass er nicht existiere.

Auszudrücken, wie wir uns fühlen, - traurig, wütend, glücklich, ekstatisch – ist die natürlichste Sache der Welt: Es ist wichtig, all diese Gefühle auszudrücken. Es gibt auch Statistiken, die anderes zeigen. Statistiken können verdreht werden, so dass sie der natürlichsten menschlichen Neigung widersprechen. Es gibt eine neue Therapie, die behauptet, dass Sie einen Zauberstab (Ich mache keine Scherze) vor den Augen des Patienten nach rechts und links schwenken und damit Angst vertreiben können. Diese Therapie hat einen Berg von Statistiken angehäuft, um ihre Sache zu „beweisen.“ Einige bekannte Wissenschaftler sind Anhänger. Zu glauben, man könne ein ganzes Leben voller Vernachlässigung mit einem Zauberstab vertreiben, ein ganzes Leben, in dem man ohne Liebe allein gelassen wurde, ist für mich völlig mystisch und irreführend. Dennoch gibt es die Statistiken.

Eine Studie von Steven Locke untersuchte, wie eine Gruppe von Individuen mit Problemen umging. Diejenigen, die gut zurecht kamen, wiesen hohe Spiegel natürlicher Killerzellen auf; bei denjenigen, die schlecht zurecht kamen, war das nicht der Fall.11,12 Normalerweise verhindern die Serotonin-Schleusenwächter, dass die Botschaft der Hoffnungslosigkeit zu schnell und zu leicht zu den frontalen Zentren aufsteigt. Aber ihre Truppen werden dezimiert, wenn die Schlacht über eine lange Zeitperiode andauert. Die Nachricht wird sozusagen zu Hause gelassen, so dass die „Nachbarn“ (die nahegelegenen Neuronen) nichts davon mitbekommen.

Ich habe gerade einige der chemischen Botenstoffe erörtert, welche die Vermittlung von Schmerzinformation an höhere Zentren erschweren. Die Folge davon ist, dass Schmerz nicht bewusst wahrgenommen wird. Deswegen fühlen sich so viele von uns „wunderbar,“ während wir gleichzeitig eine unerträgliche Schmerzlast mit uns herumtragen. Das menschliche Gehirn ist dazu bestimmt, uns unbewusst zu halten, so dass wir mit unserem Leben weitermachen können. Das wäre nicht gewährleistet, wenn wir uns die ganze Zeit in Höllenqualen auf dem Boden wälzen würden. Das passiert meinen Patienten, die endlich Zugang zu ihrem Unbewussten haben. Wir stellen sicher, dass sie während der Sitzung unter Schmerz stehen und nicht danach. Wir wollen, dass sie nach der Sitzung wieder Struktur annehmen, damit sie die Sitzung nicht in Stücken verlassen. In diesen Pseudo-Primärtherapien reagiert der Patient zu oft ab und geht ‚kaputt’ seiner Wege. Zu oft werden wir dann dafür verantwortlich gemacht.  

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Jetzt werden wir sehen, dass Verdrängung universell ist und zu den frühesten Zeiten in der phylogenetischen Geschichte zurückreicht; es scheint, dass auch Fische verdrängen können. Sie weisen bezüglich Drogen die gleiche Besonderheit wie Säugetiere auf, so dass die Fähigkeit, schädliche Stimuli zu unterdrücken, anscheinend eine sehr lange Geschichte hat.

Die Gründung der neuralen Truppen

Die Geschichte der Schleusung und Verdrängung reicht zu mikroskopischen Protozoen zurück und sogar zum  noch früheren Pflanzenleben. Die Evolution hat über Millionen Jahre die Benutzung dessen begünstigt, was uns zum Überleben verhalf. Es überrascht ein bisschen, dass wir Pflanzenderivate wie das des Mohns (Heroin) benutzen, um unseren Schmerz zu dämpfen. Solomon Snyder und andere haben beobachtet, dass es in primitiven Fischen und Haien genauso viel Opiatbindung gibt wie in Affen und Menschen.13 Der Opiatrezeptor dieser primitiven Fische zeigte die gleiche spezifische Reaktion auf Drogen wie die Opiatrezeptoren von Säugetieren, was darauf hindeutet, dass im Verlauf der Vertebraten-Evolution in der chemischen Struktur des Rezeptors wenige oder gar keine Veränderungen stattgefunden hatten.14

Im Verlauf der Evolution hat das Gehirn Rezeptoren für unterschiedliche Arten von intern produzierten Schmerztötern oder Opiaten geschaffen. Repressoren oder Inhibitoren binden sich an diese Rezeptoren und helfen dadurch, Schmerz und Gefühle zu schleusen oder zu blockieren. Wenn  ganz früh ein Trauma einsetzt, werden nicht benötigte Rezeptoren eliminiert, während andere an Zahl zunehmen, und Verbindungen von einem Gehirnschaltkreis zum anderen werden abgekoppelt und neu verknüpft. Das Gehirn wird zu einer hageren, armseligen Kampfmaschine, die ihre Mittel jeder möglichen gegenwärtigen Bedrohung entgegensetzt.

Somit sind Gehirnzellen, wie ich früher dargelegt habe, am Darwinschen Überlebenskampf der am besten Angepassten beteiligt. Die stärksten Neuronen überlebten, genau wie die wirksamsten innerlich produzierten Schmerztöter. Rezeptoren werden mit der Zeit immer raffinierter. Sie wirken auch vor der Geburt, zumal sie sogar in der Plazenta zu finden sind.

Alpha-Sprouting: Ein anderes Gehirn entsteht

1996 ging ich wegen chronisch intensiven Halsschmerzes aufgrund mehrerer operativer Eingriffe in die Schmerzklinik des Johns Hospital in Baltimore, Maryland. 

 

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Die Ärzte erklärten, er könnte von „sympathisch aufrechterhaltenem Schmerz“ verursacht sein. Wenn es zu Gewebeschaden kommt, beginnen die damit in Zusammenhang stehenden Nervenzellen mit einem Prozess, der „Alpha-Sprouting“ genannt wird, eine starke Vermehrung mikroskopischer Schmerzrezeptoren, die sich mit exzessivem Schmerz befassen. Die Rezeptoren sind Teil eines schützenden Überlebensmechanismuses. Wenn der Körper verletzt wird, aktiviert das sympathische Nervensystem Neurohormone wie Noradrenalin, das an den Rezeptoren andockt, damit die Schmerzempfindung andauert. Der Schmerz wiederum aktiviert das System, weist es an, sich selbst zu schützen, und bildet somit eine Rückkoppelungsschleife, in der Schmerzrepressoren sekretiert werden. Manchmal ist der Schmerz stärker als die Verdrängung.

Das Prinzip des Alpha-Sprouting ist von entscheidender Bedeutung. Wenn es zu ernsthafter physischer Schädigung kommt, produziert das System mehr Alpha-Rezeptoren oder andere Typen von Schmerzrezeptoren, um mit dem Exzess fertig zu werden. Meine Vermutung geht dahin, dass ein Geburtstrauma oder schwere Vernachlässigung am Lebensanfang die gleiche Art von Sprouting erzeugt. Wir wissen zum Beispiel, dass adrenergische Alpha-2-Rezeptoren bei Depression und Schizophrenie erhöht sind.15 Die mobilisierenden Substanzen (Katecholamine) beeinflussen letztlich die Anzahl und Reaktionsbereitschaft der Alpha-Rezeptoren. Was beruhigt diese Schmerzrezeptoren? Medikation, die auf Grundlage der Unterdrückung der Hirnstamm-Stimulierung funktioniert.

Es ist das sympathische Nervensystem, das ein Trauma verarbeitet, uns auf der Hut sein lässt und den Schmerzzustand aufrecht erhält. Und umgekehrt ist es Schmerz, der uns wachsam macht, oft zu wachsam, so dass wir uns nicht entspannen können. Wenn gespeicherter und eingeprägter Schmerz zu vollem Bewusstsein gebracht wird, werden die durch übermäßigen Schmerz neu entstandenen Rezeptoren überflüssig. Angstgefühle signalisieren keine Wachsamkeit mehr, weil die Schleusen geöffnet sind und der Schmerz, seiner Macht beraubt, zu einer einfachen Erinnerung wird.

Schmerz reverbiert um das Limbische System und den Hirmstamm, und versucht ständig, einen Ausgang zu finden. Ist er einmal draußen, kann der Körper zur Ruhe kommen. Aus diesem Grund fallen die Werte des Speichelkortisols (Stresshormon) bei unseren Patienten nach einem Jahr Primärtherapie beträchtlich. Indem wir ermöglichen, dass das Ereignis oder Gefühl voll bewusst wird, können wir voll darauf reagieren, und dann kann das System ausruhen.

Wie ich früher dargelegt habe, ist der Spalt zwischen Neuronen mit chemischen Substanzen gefüllt, welche die Nachricht entweder behindern oder beschleunigen. Die Nachricht wird erst in Worte gefasst, wenn sie den frontalen Kortex auf der höchsten Ebene erreicht. Dies geschieht erst viele Monate nach der Geburt, wenn der

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Kortex reifer ist. Wenn der Schmerzimpuls zu groß ist, füllen die Neuronen den Spalt mit einem hemmenden Neurotransmitter, der die Botschaft aufhält. Das Nervensystem „weiß bereits Bescheid,“ wenn  andere Nerven nichts mehr aufnehmen können.  Der wichtige Punkt ist, dass der Schmerz des Kleinkinds im Alter von zwei Wochen oder weniger verdrängt werden kann.

Physiologisch betrachtet scheinen Schmerzrezeptoren dem Ausmaß der Traumatisierung des Körpergewebes entsprechend zuzunehmen.16 Unsere evolutionären Vorfahren entwickelten die Fähigkeit, auf Gefahr schnell zu reagieren, um zu überleben. Als Ergebnis ist unsere heutige Fähigkeit von entscheidender Bedeutung, Schmerz abzuschalten, um uns mit der Welt befassen zu können, Und wir werden wachsam für die Möglichkeit einer Verletzung. Wir können etwas vorausahnen. Zu oft ahnen wir ein Verhängnis voraus, das bereits stattgefunden hat, nur dass wir ohne Zugang glauben, es komme von außen.

Wenn eine eingeprägte Empfindung sehr stark ist, wandert ihre Energie zum frontalen Kortex, aber auf Grund der Verdrängung kann sie ihr Ziel nicht erreichen und bewegt sich stattdessen zu Arealen, die mit Fühlen assoziiert sind. Das kann einen Menschen zu dem Ausruf veranlassen: „Ich muss aus diesem Haus oder aus dieser Ehe raus.“ Er muss einfach „raus“, Punkt. Ironischerweise kann die Empfindung wegen der Gewalt des Schmerzes, die es bedeuten würde, nicht zur Verknüpfung gelangen. „Niemand will mir helfen“ und „Sie wollen mich nur verletzen“ können ihren Antrieb von der Geburt haben. Später dann, wenn die Eltern der Person wirklich nicht helfen wollen, verstärkt sich das Gefühl. Jahrzehnte später dann, wenn der Ehemann keine Hilfe beim Tragen der Lebensmittel anbietet, ist der Ärger der Frau übertrieben: “Nie willst du mir helfen!“

Wenn wir vom plötzlichen, unerwarteten Tod eines Freundes erfahren, können wir es nicht integrieren. Es kann nicht durchdringen. Das Schleusensystem erlaubt jeweils nur einer bestimmte Menge schmerzvoller Information, das volle Bewusstsein zu erreichen. Später beginnen wir, den Verlust mehr und mehr zu akzeptieren. Auf ein Kleinkind trifft das doppelt zu. Es hat nicht die intellektuelle Ausstattung, um auch nur ansatzweise zu verstehen, was in seiner Familie vor sich geht.

Schleusung kann für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern, sagen wir zwei Jungen, verantwortlich sein. Beide werden von ihren Eltern umarmt und geküsst, aber einer hat vielleicht ganz früh massiven Schmerz erfahren – zum Beispiel eine Periode elterlicher Vernachlässigung – und verdrängt  deshalb massiv. Dieser Bruder kann distanzierter und unnahbarer sein, während das Geschwister vertrauensvoller und offener ist und sich von anderen mehr akzeptiert fühlt.  Oder noch wahrscheinlicher ist, dass das Geburtstrauma für beide ganz unterschiedlich ist, und das resultiert in unterschiedlichen Prototypen. Einer kann ‚ausgangsfreudiger’ sein (wortwörtlich bei der Geburt) und wird schneller umarmt und geküsst.  

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Eine Methode, wie wir die Schleusung messen können, besteht darin, die Ergebnisse an einem Patienten zu beobachten, der unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln steht. Wie viele benötigt man für die Person, damit sie sich entspannt und wohl fühlt, und wie stark müssen sie sein? Wenn starke Sedativa wie Alkohol oder Stimulanzien jemanden ungerührt lassen, sind die Schleusen wahrscheinlich so stark, dass nichts durchkommt, nicht einmal Koffein. Es ist merkwürdig aber verständlich, dass jemand starken Kaffee trinken kann und dann einschläft. Das kann eine parasympathische, herunterregulierte Person sein oder jemand, der so gut abgewehrt ist, dass Kaffee nicht tun kann, was er soll, nämlich uns wach zu halten. Für diejenigen, die aufgrund eines unterregulierten Systems Stimulierung brauchen, kann Kaffee ein normalisierender Faktor sein.

Jemand, der „ganz schön viel vertragen kann“, ist ein anderes Beispiel. Auch ein starkes Anästhetikum wie Alkohol kann die Person nicht betrunken geschweige denn schläfrig machen, weil sehr wenig Information im Bewusstsein ankommt.

Aus diesem Grund konnten einige meiner früheren suizidalen Patienten eine Menge an Schmerztötern einnehmen, die ein Pferd getötet hätten, und nicht einmal in Schlaf fallen. Das Gehirn war durch Schmerz so aktiviert, dass es eine enorme Dosis gebraucht hätte, die Person auch nur zu beruhigen. Wir sehen diese Aktivierung in unserer Hirnwellenforschung.17 Vielleicht können wir allmählich ein Phänomen verstehen, dass in der Medizin als „paradoxe Reaktion“ bekannt ist, wobei Sie das Gegenteil dessen erhalten, was sie mit einem bestimmten Medikament beabsichtigten. Gegenwärtig ist ein größeres Gerichtsverfahren gegen eine pharmazeutische Firma im Gange, weil behauptet wird, dass ihre Tranquilizer jemanden dazu gebracht haben, sich selbst umzubringen. Die Argumentation geht dahin, dass  dieser Tranquilizer gefährlich ist und selbstzerstörerisches Verhalten provozieren kann. Es ist nicht das Medikament. Es ist die Reaktion darauf, und diese Reaktion hängt von der persönlichen Geschichte ab. Was Medikamente wie Prozac in einigen Fällen vielleicht bewirken, ist, dass sie die Person in die Primärzone hinunterbringen, wo sie fühlen kann. Die alte Traurigkeit und die alte Verletzung beginnen mit all ihrer Hoffnungslosigkeit hochzukommen; die Person hat keine Ahnung, was los ist; ihre Kindheit wird zu ihrem gegenwärtigen Leben, weil sie zwischen beiden nicht mehr unterscheiden kann, und sie wird suizidal. Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir dieses oder jenes Medikament als „schlecht“ bezeichnen, ohne dass wir den Wirtskörper näher in Betracht ziehen, in den die Droge eindringt.

Wir kommen jetzt zu Samanthas Geschichte. Was sie vor allem aufzeigt, ist die große Erleichterung, die sich aus der Gewissheit ergibt, dass sie das ‚Warum’ ergründen kann, wenn sie ängstlich ist. Ihre Angstzustände sind kein Geheimnis mehr.  

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Es gibt jetzt einen Weg herauszufinden, was nicht stimmt. Allein der Sache das Geheimnisvolle zu nehmen, ist ein so gutes Gefühl; nicht länger von einem unbekannten Dämon angegriffen zu werden, der uns ohne erkennbaren Grund aufwühlt. Nicht länger in eine Depression versunken zu sein, die aus dem Nichts zu kommen scheint, weshalb Psychologen sie als „endogene“ Depression bezeichnen, was „etwas von innen“ bedeutet. Das ist keine allzu große Hilfe. Was von innen ist es?!

Samantha

Ich kam zur Primärtherapie, weil ich extrem ängstlich war, immer das Gefühl hatte, dass mit mir etwas nicht stimmt, aber nicht wusste, was es war. Immer wenn ich in der Arbeit etwas Neues oder Schwieriges machen musste, war ich sehr angespannt und hatte irrationale Ängste, dass etwas Furchtbares mit mir geschehen werde. Ich fühlte mich völlig hilflos und wurde sehr von meinem Mann abhängig; ich wollte seine Hilfe und seinen Rat, hatte aber nie das Gefühl, dass ich die Sicherheit bekommen konnte, die ich brauchte. Gewöhnlich lag ich nachts auch wach, grübelte und sorgte mich über etwas, das ich am nächsten Tag in der Arbeit machen musste.

Meine Gefühle schienen immer für die Situation zu extrem. Oft hatte ich das starke Gefühl, dass mir der Untergang bevorsteht. Allmählich wurde mir auch klar, dass ich nie in der Lage gewesen war, mich mit der Realität des Todes meiner Schwester Gloria abzufinden. Im Alter von zwölf Jahren war ich in einen grauenvollen Autounfall verwickelt, bei dem sie ums Leben kam. Meine Schwester und ich, wir waren uns sehr nahe und die meiste Zeit unseres Lebens teilten wir uns ein Zimmer. Plötzlich war ich total alleine gelassen. Es war so ein schockierendes Erlebnis, dass ich unfähig war, die volle Wucht dessen, was mir passiert war, wirklich zu fühlen und um meine Schwester zu trauern. Schon bevor ich in die Therapie kam, begann es mir zu dämmern, dass etwas mit der Art, wie ich reagiert hatte, ganz und gar nicht stimmte. Ich hatte das Gefühl, dass in meinem Inneren eine kleine Zeitbombe vor sich hin tickte.

Seit ich mit der Therapie begonnen habe, kann ich weinen und wirklich über Glorias Tod trauern. Ich habe das Entsetzen wiedererlebt, alleine zu sein, nachdem sie starb, und akzeptierte endlich die Realität ihres Todes. Den Schmerz zu fühlen, brachte mir Erleichterung – er war ein weggeschlossenes Geheimnis. Zuvor hatte ich niemanden, mit dem ich wirklich hätte reden können. Die einzige Möglichkeit, an meiner Schwester festzuhalten, bestand darin, alles für mich zu behalten. 

 

 

 

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Weil ich nicht darüber reden konnte, was geschah und wie ich mich fühlte,  war es, als würde sie nicht wirklich existieren. Diese Erkenntnis traf mich, als ich eines Tages versuchte, in der Gruppe über Gloria zu reden. Ich fühlte mich von allen eingeschüchtert und wollte sie an nichts teilhaben lassen. Mein Gefühl war, dass sie ganz mein war, wenn ich sie nur in meinem Inneren bewahren würde. Schließlich begann ich zu reden und zu weinen und mir wurde klar, dass ich sie nicht gehen lassen wollte.

Hinterher hatte ich eine Sitzung, in der ich mich erinnerte, wie meine Mutter nachts immer in mein Zimmer kam, nachdem Gloria gestorben war. Sie redete und weinte mit mir über Gloria, aber ich fand es immer beschwerlich. Ich fühlte mich unwohl und schuldig, weil ich spürte, dass es um ihre Bedürfnisse ging. Ich fühlte, dass es falsch war, und hörte zu weinen auf. Nach einiger Zeit tat ich so, als würde ich schlafen, damit sie nicht hereinkommen würde. Ich erinnere mich, wie ich voller Entsetzen unter der Bettdecke lag und tiefes Atmen vortäuschte, wenn ich meine Mutter an der Tür stehen hörte. Die einzige Möglichkeit, wie ich meine Schwester für mich behalten konnte, bestand darin, meine Tränen zu unterdrücken und völlig allein zu sein.

Ich war auch in der Lage, das Entsetzen wiederzuerleben, das ich fühlte, als ich nach dem Unfall auf dem Rücksitz des Autos wieder zu mir kam. Zur Zeit dieses Ereignisses war ich völlig erstarrt und reaktionsunfähig. Aber in einer einzelnen Sitzung konnte ich die volle Wirklichkeit und das ganze Grauen an die Oberfläche bringen, in einem zertrümmerten Auto inmitten zersplittertem Glas eingeschlossen zu sein. Meine Mutter schrie hysterisch, und mir wurde klar, dass mit meiner Schwester etwas nicht stimmte. Schließlich war ich in der Lage, mich zu bewegen und zu schreien und die schreckliche Realität zu fühlen, die ich zu jener Zeit gespürt hatte – dass ich sie verloren hatte. Großen Anteil an dem Schrecken und der Einsamkeit, die ich nach Glorias Tod fühlte, hatten ähnliche Gefühle, die von meiner Geburt stammten. Gefühle wie „Ich kann das nicht“ und „Ich sterbe“ lähmten mein ganzes Leben

Diese Gefühle ergaben in Bezug auf meine gegenwärtige Realität keinen Sinn. Die Primärtherapie hat es geschafft, dass ich ihre Quelle ausfindig machen und Erleichterung finden kann. Jetzt verstehe ich, was mit mir los ist. Meine Eltern sagten mir, dass ich eine gute Geburt hatte. Ich wurde natürlich geboren, ohne Medikamente, und die Wehen dauerten etwa acht Stunden. Mit der Zeit war ich in der Lage, die Realität zu fühlen, dass ich bei der Geburt steckenblieb, und das Entsetzen, völlig allein zu sein. Ich kämpfte und drängte, um herauszukommen, und bekam keine Hilfe von meiner Mutter. Ich habe die Hoffnungslosigkeit des Gefühls wiedererlebt, dass ich nie rauskommen werde, und die Panik, als ich herausfinde, dass ich nicht richtig atmen kann. Oft ging ich in Sitzungen und äußerte „Ich kann das nicht“ oder „Ich weiß nicht, was ich tun soll“ als Reaktion auf Probleme in Beziehungen und im täglichen Leben. Jetzt, da ich meine Geburt wiedererlebt

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habe, weiß ich, woher diese Gefühle kommen und wie sie mein Leben beeinträchtigen. Diesen Schmerz zu fühlen hat mir beträchtliche Erleichterung gebracht und mir den Raum verschafft, den ich brauche, um mit dem täglichen Leben leichter fertig zu werden. Ich fühle mich jetzt viel handlungsfähiger. Ich liege nachts nicht mehr voller Sorge wach, wie ich durch den nächsten Tag kommen soll. Ich begreife mich selbst und meine Wünsche jetzt besser. Ich weiß, dass ich es selber schaffen kann. Der größte Unterschied ist für mich jetzt, dass ich weiß, wenn ich mich schlecht fühle, muss ich in das Gefühl versinken und herausfinden, woher es kommt – das bringt mir Erleichterung und ich fühle mich besser.

Wenn die Schleusen der Abwehr durchdrungen werden

Die Plazenta ist nicht einfach eine „Barriere“; sie ist eine Schleuse, die neuen Elementen den Durchlass erlaubt, so dass sie die Entwicklung des Fetuses ändern können. Die Einnahme von Beruhigungsmitteln durch die schwangere Mutter kann die Fähigkeiten der Rezeptoren im Fetus verändern. Später erfolgt der Ausdruck der Gene in Übereinstimmung mit diesen frühen Eingaben. Beide, das Kind und der Erwachsene, können Schwierigkeiten beim Verdrängen haben; das Ergebnis kann chronische Angst sein, Schlaflosigkeit und die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren und zu funktionieren. Das geschieht, weil der Fetus mit Tranquilizern überschwemmt wird, mit einer Dosis, die für so einen kleinen Körper viel zu schwer ist, und weil die Umgebung dem kleinen System gebietet, keine eigenen Beruhigungsmittel zu produzieren. Das Ergebnis kann ein lebenslanges Defizit sein, da die Sollwerte im Mutterleib für das ganze Leben geändert worden sind. Und was dann? Dem jetzt Erwachsenen fehlt es an angeborenen und endogenen Drogen, und er muss externe Beruhigungsmittel aufspüren. All das hängt von der kritischen Periode ab, wenn die Sollwerte für Serotonin und andere Hemmsubstanzen/Repressoren eingerichtet werden.

Levitt schreibt: „Experimentelle Studien an Tier-Modellen zeigen auf, das frühe Umwelteinflüsse in utero die Wahl des Zellschicksals und das neuronale Wachstum modulieren können. Die Modifizierung der Determinanten kann langanhaltende Folgen haben.“18 Pränatal „erfüllt (die Umgebung der Zellen) Funktionen, die so entscheidend sind wie postnatal Umwelteinflüsse, die das synaptische Wachstum fördern.“19 Wie intakt das fühlende Gehirn sein wird, hängt von Faktoren ab, die während des Lebens im Mutterleib existierten.20  

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Gib einem Kind eine gute Geburt (nach Möglichkeit keine Medikamente für die Mutter) 21 und gute erste drei Lebensjahre, vor allem gute erste drei Monate, und ein Großteil der Aufgabe der Kindererziehung ist erledigt. Warum? Weil die Gehirnsubstanzen vorhanden sind, die dem Kind helfen, mit Widrigkeiten fertig zu werden.

Unglücklicherweise werden diese Eltern, die nicht liebevoll oder fürsorglich genug sind, um dem Fetus die bestmögliche Lebenschance zu geben, den Schmerz Jahr für Jahr weiterhin verschlimmern, so dass das Kind nie die chemische Ausrüstung entwickelt, um mit dem Mangel an Liebe zu Rande zu kommen. Als Erwachsener leidet es. Manchmal ist es jedoch einfach fehlende Aufklärung, die dazu führt, dass Eltern ungesunde Bedingungen für ihr Baby schaffen. Das Baby ist dem heftigen Angriff einer rauchenden Mutter ausgesetzt, die sich einer verrückten Diät unterzieht, um schlank und attraktiv auszusehen, und damit bewirkt, dass sich das Baby unsicher fühlt. Ihre uterine Umwelt ist unsicher, und das wird das Baby ein Leben lang spüren, wenn auch unbewusst.

Der/die Erwachsene wird diese Grundschicht an Angst haben, die in vielfacher Form in Erscheinung tritt, von Phobien bis zur Angst davor, etwas Neues auszuprobieren. Eine trinkende Mutter erzeugt eine unsichere Umwelt für ihr Baby; unartikuliert; sie artikuliert sich später in der Reaktion auf Y2K*, wenn es zu einer unangemessenen kataklystischen Reaktion darauf kommt. Dieses Ereignis kann die aus dem Mutterleib stammenden „Unsichere-Welt“-Gefühle auslösen. Von dieser Erinnerung her kommt das Gefühl drohenden Verhängnisses; ein Verhängnis, das in den tieferen Zonen des Gehirns eingeschlossen ist und an die Oberfläche steigt, um den Kortex glauben zu machen, dass das Verhängnis bevorstehe; und es steht bevor, es kommt aus der Tiefe und wird jetzt auf die Außenwelt projiziert.

Die Welt als „unsicher“ rührt vom Mutterleib her, wo die Welt des Fetus unsicher war. Das verschlimmert sich dann durch eine chaotische Kindheit, in der sich das Kind niemals sicher und geschützt fühlt. Der erwachsene Mensch wird jetzt von rätselhaften tiefsitzenden Ängsten gebeutelt, am allermeisten von der nahezu ständigen Angst vor dem Tod; alles erscheint einer Person, die diese Art Lebensanfang durchgemacht hat, wie das Ende der Welt. Einer meiner früheren psychotischen Patienten vernagelte in seinem Appartement die Türen in unmittelbarer Nähe zum Nachbarn, weil er sich so bedroht, so unsicher fühlte. Seine Kindheit war schrecklich: Ein Elternteil ging, der andere war die ganze Zeit betrunken. Das steigerte die Unsicherheit in ihm und schließlich seine Wahnidee, dass überall Gefahr lauere. Man könnte fragen: „Wie kommt es, dass ein Kind mit der Scheidung und mit dem trunksüchtigen Elternteil fertig wird und das andere nicht?“ Die Antwort kann in der Substruktur der Angst liegen, die tief im Nervensystem verborgen liegt und eine gewisse Zerbrechlichkeit erzeugt. Die einfache Tatsache, dass die Mutter während einer Schwangerschaft Beruhigungsmittel nahm, und in einer anderen nicht, kann den ganzen Unterschied in der Persönlichkeitsentwicklung bewirken

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*  Anm. d. Ü.:   Y2K :  „Year 2 Kilo“, „Jahr-2000-Fehler“ : Computertechnischer Begriff, der sich auf die Probleme bezieht, die durch den Jahrtausendwechsel tatsächlich oder vermeintlich entstanden sind. Einige haben anscheinend ein katastrophenähnliches Szenario erwartet.

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Eine gute Geburt erfordert, dass die Mutter Anästhetika während der Geburt vermeidet, ein Entbindungszimmer hat, das weder kalt noch mit grellem Licht geflutet ist, und vor allem, dass das Baby sofort auf den Bauch der Mutter gelegt und die Nabelschnur nicht vorzeitig durchgeschnitten wird (Es ist noch viel Sauerstoff in dieser pulsierenden Nabelschnur). Es betritt einen neuen Planeten mit neuen Anblicken und Klängen und alles, was es zu diesem Zeitpunkt kennt, ist die beruhigende Berührung durch die Mutter. Sie ist für ihn die ganze Welt, genau wie ihr Schoß früher die „ganze Welt“ für ihn war. Sie setzt sein Leben in Gang, indem sie während der Schwangerschaft gut auf sich selbst aufpasst, sie fährt dann fort mit sanften Liebkosungen und sie hält es nahe bei sich. Das muss Monate oder Jahre fortdauern, um dem Baby zu helfen, dass es sich sicher und geliebt fühlt. Es bedeutet auch, ein gesundes Hirn zu schaffen. Körperliche Nähe und Berührung sind die sine qua non.

Wenn Versicherungsgesellschaften und Gesundheitsorganisationen viel Geld sparen und menschliches Leiden beenden wollten, würden sie eine Kampagne für die Leboyer-Geburt starten. So viele spätere kostspielige Krankheiten könnten durch die richtige Geburtsprozedur vermieden werden, ganz zu schweigen von der Vermeidung vieler psychisch-geistiger Krankheiten und der Kosten für Krankenhaus und Psychotherapie.

Die Einteilung des Gehirns in drei Abschnitte ist wichtig für die Methode, wie wir Patienten diagnostizieren, die nichts damit zu tun hat, wie sie in der konventionellen Therapiewelt diagnostiziert werden. Zu oft nehmen Therapeuten ein Verhalten, geben ihm einen besonderen Namen und machen daraus eine Diagnose. Betrachten Sie zum Beispiel die Zwangsstörung. Die Patientin sagt: „Ständig muss ich nachschauen, ob die Türen abgesperrt sind“, und  der Therapeut sagt ihr, es handle sich um eine „obsessive Zwangsstörung“. Was sich abspielt, ist, dass alltägliche Beschreibungen in psychologischen Fachjargon übersetzt werden ohne irgendeinen Fortschritt in der Diagnose. Es ist viel besser, in Begriffen der Gehirnfunktionen und tiefer, generierender Ursachen zu diagostizieren, weil das einen Unterschied in der Art der Behandlung macht. Die übliche analytische Diagnose ändert an der Therapie wenig, ausgenommen die Art von Medikament, die bei dem Patienten angewandt wird.

Die Fallgeschichte von Rita ist aufschlussreich über die Beziehung zwischen Messwerten der Vitalfunktionen und psychischen Zuständen.  

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Über Rita

Heute morgen sah ich eine Patientin, die mit einer Körpertemperatur von 95,3°F ((35,2°C)) in die Sitzung kam. Ich war sicher, dass unser Messgerät defekt war und so probierten wir ein anderes aus und fanden die gleiche Temperatur. Diese Tatsache allein verschaffte mir einen Bezugsrahmen für die kommende Sitzung, der meiner Meinung nach tiefe Hoffnungslosigkeit, einen parasympathisch dominanten Zustand, involvierte. Rita begann die Sitzung in tiefer Verzweiflung und fühlte, wie hoffnungslos ihr Leben gewesen war; monatelang nach der Geburt keine Mutter, ein Vater, der zornig und distanziert war, und Bruder und Schwester, die sie dafür hassten, dass sie auf die Welt gekommen war. Vor kurzem hatte sie zwei Autounfälle und fühlte, dass Weitermachen  keinen Sinn mehr hatte. Die Hoffnungslosig- keit, jemals geliebt zu werden, zog sich wie ein roter Faden durch ihr ganzes Leben. Sie fühlte: „Wer könnte sich je für mich interessieren? Ich bin so wenig liebenswert.“ Wir suggerierten ihr zu keinem Zeitpunkt, was für ein Gefühl das sein könnte, aber ich habe selten einen tief deprimierten Patienten am Rande der Hoffnungslosigkeit gesehen, der eine hohe Körpertemperatur hatte. Diese Patientin ging nach zwei Stunden mit einer Temperatur von 97,5°F ((36,4°C)).  Warum der Anstieg? Weil sie die Hoffnungslosigkeit als kleines Kind fühlte. Ursprünglich war sie physiologisch; später sollte sie in einen Begriff übersetzt werden – Hoffnungslosigkeit. Dieses eingeprägte Gefühl trug sie die ganze Zeit mit sich herum. Es zu erfahren bewirkte, dass sie in diesem Gefühl nicht mehr so tief versunken war. Die Dialektik: hoffnungslos sein, um hoffnungsvoll zu sein. Warum? „Weil“, sagte sie hinterher, „ich es in den Zusammenhang brachte, als ich sehr klein war. Es ist nicht mehr mein gegenwärtiger Seinszustand.“ Ihre Gefühle erledigten das für sie. Ihre gegenwärtige Verzweiflung führte sie in ihre Kleinkindzeit zurück, als sie sich in ihrem Kinderbettchen in einem dunklen Raum alleine fühlte und niemand kam; der Vater schrie sie augenblicklich an, sobald sie weinte, und es gab niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Sie konnte nichts dagegen tun. Bis in die Gegenwart funktionierte sie kaum, die Schule, jeder Job, den sie hatte, und jede zerbrochene Beziehung – alles schien hoffnungslos. Es war nicht allein die frühe Prägung; es war die Tatsache, dass sie sich Jahr um Jahr verschlimmerte.

Mit einem im Rektum platzierten elektronischen Thermistor (Thermometer) maßen (und filmten) wir frühe Hoffnungslosigkeit bei einem Patienten während einer Sitzung, in der die Körpertemperatur innerhalb zirka zwanzig Minuten von 98,6°F ((37,0°C)) auf 94,8°F ((34,9°C)) herunterging. Und das, owohl der Patient körperlich aktiv war. Wenn ich sage, dass Wiedererleben ein unverfälschtes Ereignis ist, meine ich genau das damit. Zum einen ist kein Willensakt hinsichtlich der Körpertemperatur möglich, zum anderen ist sich der Patient auch nicht bewusst, dass die Temperatur sinkt. Niemand wüsste, wie dieses Absinken der Werte zu bewerkstelligen wäre. In keinem Fall erfolgt die Besprechung dieser Temperatur mit dem Patienten vor Ablauf der Sitzung.  

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Angst oder Entsetzen in einem Inzesttrauma erhöht das Adrenalin, lässt das Herz hämmern und den Blutdruck ansteigen und bewirkt die Freisetzung größerer Mengen Kortisol. Das verursacht dann ein Ungleichgewicht im Gehirn, größtenteils im Hippocampus, wo sich dann Gedächtnislücken, Angst und die Unfähigkeit einstellen, emotionale Ausbrüche zu kontrollieren. Das kann zu Aufmerksamkeitsstörungen führen, bei der die frontale Verdrängung unzulänglich ist, so dass störende Schmerzimpulse aus der frühen Kindheit nicht ausgesondert werden können. In einem Artikel über traumatisierte Kinder von Martin Teicher von der psychiatrischen Abteilung der Havard Medical School bemerkt dieser, dass in diesen Fällen weniger Nervenzellenverbindungen in der linken Hemisphäre existierten.........und deshalb gab es weniger Verdrängung und Kontrolle durch Neuronen des linken Kortexes. Wenn man diesen Kindern ein Medikament gab, das die Hirnstammaktivierung blockierte, ging es ihnen viel besser. Kurz gesagt war weniger Hemmungsarbeit zu erledigen. Die Implikation von Teichers Arbeit ist die, dass ein frühes Trauma linkskortikale Prozesse auf physiologische Weise beeinträchtigen kann, so dass wir weniger Linkshirnverknüpfungen haben, um Impulse zu kontrollieren.

Empfindungen der ersten Linie sind die am wenigsten zugänglichen und die qualvollsten, und deshalb sind sie am wenigsten glaubhaft. Wenn wir eine Empfindung verspüren, als würden wir erwürgt oder - im Brustbereich - als würden wir erdrückt, können wir auf die geschleusten Ur-Empfindungen zurückschauen, die mit dem frühen Trauma der ersten Linie assoziiert sind. Da es die Ebene ist, auf der Erinnerungen am schwierigsten wiederzugewinnen sind, ist es im Allgemeinen die Ebene, die der Patient in der Therapie als letzte erreicht. Wir können es am Muster des Weinens, am sporadischen Schluchzen und am Ausfall der Atmung ersehen, wenn Hirnstamm-Einprägungen beteiligt sind. Das lässt uns wissen, ob die emotionale Szene, die wiedererlebt wird, von der ersten Linie gesteuert wird, oder ob es sich um eine Intrusion der ersten Linie (Hirnstamm) handelt. Wir wissen auch durch die Körpersprache Bescheid: Krümmen des Rückens, fetale Position und das Erscheinen eines „fetalen Gesichts.“

Der Körper ist gut geeignet, um mit dem Geburtstrauma fertig zu werden, falls in der Tat ein Trauma existiert. Nach dem fünften Tag auf Erden erfolgt wieder die Rückkehr zu niedrigeren Opiatspiegeln. Die Geburt kann enorm traumatisch sein, wenn sie nicht gut verläuft, wovon die massive Freisetzung von Schmerztötern zeugt, während sie im Gange ist. Es ist das Wiedererleben der ersten Linie, das den Hormonausstoß stabilisieren kann. Wir wissen, dass die Produktion von Thyroxin

 

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(wird von der Schilddrüse hergestellt) um die zwanzigste Woche der Fötalphase beginnt.22 Stress kann von der Mutter auf den Fötus übertragen werden und leichte Änderungen der Thyroxin-Sollwerte bewirken. Später in der Kindheit oder im Erwachsenenalter kann man einsetzende Tendenzen entweder in Richtung Übersekretion oder zur Untersekretion hin sehen. Patienten, die hypothyreoid waren, lustlos und energielos und zu leicht an Gewicht zunahmen, sind nach dem Wiedererleben und Verknüpfen von Traumen der ersten Linie oft weit weniger hypothyreoid. Kleine Mengen an Schilddrüsenhormon scheinen auch bei meinen „normalen“ Patienten (am unteren Ende von normal) zur emotionalen Stabilität beizutragen. Das Schilddrüsenhormon agiert im Gehirn als Neurohormon und wird im Locus caeruleus des Hirnstamms in seine Aktivform umgewandelt. Je mehr Epinephrin sekretiert wird, desto umfassender ist die Umwandlung zu aktivem Schilddrüsenhormon. In der Depression, bei der wenig Norepinephrin vorhanden ist, ist auch der Ausstoß an Schilddrüsenhormon gering. Die entsprechenden Symptome sind Lethargie, niedrige Körpertemperatur und Resignation. Die Schilddrüse hat in jeder Hinsicht mit der Körpertemperatur zu tun. Was wir lernen, ist, dass das Noradrenalinsystem eng mit der Schilddrüse verbunden ist. Sie teilen einander Information mit, so dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass eingeprägter Schmerz, falls vorhanden, direkt das Schilddrüsensystem beeinflusst. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum in Fällen von Depression die Verabreichung von Schilddrüsenhormon manchmal hilft, das Syptom zu lindern.

Für die Durchschnittsperson mag die Vorstellung einer ersten Ebene des Gehirns wie der Glaube an die Zahnfee scheinen. Es ist jedoch ein physiologisches und messbares Ereignis. Jahrlang stand ich morgens auf und ging zum Kaffeetrinken außer Haus, anscheinend eine normale Handlung. Aber in meinem eigenen Geburtsprimal fühlte ich die dringende Notwendigkeit herauszukommen, und ich erkannte die vage Angst, die ich jeden Morgen hatte und die nur durch „Herauskommen“ erleichtert wurde.

Eine andere Sache, die in meinem Primal aufgelöst wurde, war, dass ich es immer hasste, „zurückzugehen“, wenn ich meine Schlüssel vergaß oder etwas liegen ließ. Umkehren war eine große Anstrengung. Das Gefühl war: „Wenn ich zu dieser Höllenqual zurückgehe, werde ich sterben.“ Das stammte aus der Einprägung von Anoxie bei der Geburt. Einer der Gründe, dass Impulse dominieren, liegt darin, dass das Kontrollsystem gegen Gefühle defekt ist. Geburtsanoxie kann die Verbindungen vom Kortex zur Medulla unterbrechen und die Atmung beeinträchtigen. Ich lege Nachdruck auf Annoxie, weil bei vielen Geburten  die Mutter schwer anästhetisiert ist; das bedeutet letzten Endes partiellen Sauerstoffausfall für das Neugeborene. Aus diesem Grund plädiere ich dafür, nach Möglichkeit auf Anästhesie bei der Geburt zu verzichten.  

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Bei der Geburt unter Medikamenten wird der Mutter ein Anästhetikum berabreicht, um die Wehenschmerzen zu lindern. Die Droge passiert die plazentale Barriere in einer Dosis, die für das Baby mehrere Hunderte Male zu stark ist, so dass weder die Mutter noch das Baby normal reagieren können, um den Geburtsprozess zu erleichtern.

Medikamente für die Mutter und Schaden für das Baby

Nach der Verabreichung von Medikamenten werden die uterinen Kontraktionen weniger und schwächer. Schlimmer noch, die Medikamente blockieren wichtige neurale Informationen, so dass sich auch die Sequenz der Kontraktionen von hinten nach vorne ändert. Das bedeutet, dass das Baby nicht mehr so leicht und zügig vorwärts getrieben wird. In den meisten Fällen wird es durch die asynchronen Kontraktionen gequetscht und zusammengedrückt – ein wenig so, als würde es durch eine Kompaktiermaschine gehen. Der Uterus funktioniert demgemäß wie eine Kontraktionskammer, deren Bewegungen stark genug sind, um starken Druck auszuüben, aber nicht rhythmisch oder kräftig genug, um das Baby zügig nach unten und außen zu treiben.

Als nächstes kann sich der Kopf des Babys am vorderen Teil des  Kanals nicht richtig ausrichten. Das bedeutet, dass die amniotische Flüssigkeit, die durch kraftvolle Kontraktionen nach vorne getrieben wird, in Mund, Lungen, Luftröhre und Magen des Babys gepresst wird. Es wird zerquetscht, es erstickt, und – ganz wesentlich – es ertrinkt. Da auch das Baby betäubt ist, ist sein Atmungssystem geschwächt (Anästhetika beeinträchtigen die Atmung schwer), und es hat nicht die Muskelkraft, sich dorthin zu bewegen, wo es weniger weh tut – nämlich in die richtige Geburtsposition.

Wäre das Baby nicht so schwer betäubt, könnte es instinktiv handeln, um bei seiner eigenen Geburt mitzuhelfen. Es könnte seine Muskeln anspannen, um sich nach außen voranzukämpfen; es könnte eine torpedoähnliche, gut ‚zusammengepackte’ Position annehmen, um maximalen Vortrieb zu erreichen; und es könnte seinen Körper zu einer einzigen Einheit machen – Brust und Bauch eins. Unter der Einwirkung des Medikaments befindet sich der Körper in einer „losen“ und fragmentierten Position, so dass zum Beispiel die Hände und Arme gefangen sind. Und während der Körper gefangen ist, geht ihm der Sauerstoff aus. Es ist dieser Sauerstoffmangel, den wir so oft bei unseren Patienten sehen. Der Patient, den ich jetzt sehe, läuft während des Anoxie-Primals länger als eine halbe Stunde lang knallrot an. Bei Anoxie kann das Herz des Babys kurz aussetzen, der Blutdruck kann auf radikale Weise steigen oder fallen, und in manchen Fällen kommte es zu einem milden Schlaganfall, von dem sich das Baby schnell erholt, der aber gewisse neurale Defizite zurücklassen kann, die vielleicht zu einem späteren Schlaganfall führen.  

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Föten schlucken im plazentalen Sack amniotische Flüssigkeit. Sie wird vom Darm resorbiert. Wenn dieser Prozess gestört wird – wenn die Mutter zum Beispiel Beruhigungsmittel oder Schmerztöter nimmt – kann es zum Ertrinken kommen. Ich habe so viele Patienten gesehen, die die Geburt wiedererleben und zu ertrinken scheinen.

Ken

Ich kam zur Primärtherapie, weil ich den ständigen Schmerz, den ich jeden Tag meines Lebens erfuhr, nicht aushalten konnte. Ein Überblick über mein frühes Leben enthüllt die Ursachen meiner inneren Qual.

Ich habe eine Menge von dem üblichen Zeug: eine beschissene Geburt; Trennung von meiner Mutter sofort nach der Geburt und mehrere Wochen in einem Inkubator; Entzug der Mutterbrust nach nur zwei Wochen; Kinderkrankheiten, einschließlich Allergien; schwere Medikation von Anfang an; Schläge mit dem Gürtel; und absolut keinen Körperkontakt mit meinem Vater nach dem ersten Monat. Das Meiste davon nagte an meinem Inneren, obgleich ich mir dessen weitgehend unbewusst war. Es wallte auf in Form von Überintellektualisierung, Tagträumen, Depression, Angst und gelegentlichen Selbstmordgedanken.

Meine ersten sieben Jahre verbrachte ich mit meinem Vater, meiner Mutter und mit meiner kleinen Schwester. Dem oberflächlichen Schein nach waren wir die typische amerikanische Kernfamilie. Mein Papa war Bauarbeiter, und wir zogen so einmal im Jahr um und folgten den Bauprojekten der Firma. Er war äußerst reizbar, ehrgeizig, aggressiv und zornig. Im Gegensatz dazu war meine Mutter eine sanfte, apathische, energielose Person, die uns überhaupt keinen Ansporn geben konnte. Ihre Persönlichkeiten waren stark polarisiert. Beide fügten mir schweren Schaden zu: mein Vater durch Misshandlung und meine Mutter durch Vernachlässigung.

Mein Vater verließ meine Mutter, als ich ungefähr sieben war. Er ging zum Arbeiten nach Übersee, und zehn Jahre sah ich nicht viel von ihm. Seine Abreise war jedoch eine große Erleichterung. Alles, was ich je von ihm bekam, war Kritik, Kälte und Hiebe mit dem Gürtel. Obwohl meine Mutter gleichgültig war, fügte sie mir wenigstens nicht bewusst und überlegt Schmerz zu. Sie überließ mich mir selbst, ohne mir Pflichten aufzuerlegen. Obwohl ich nicht viel vom Leben hatte, kennzeichnet der Abschied meines Vaters meinen Aufstieg von der Hölle zur Vorhölle.  

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Der Schmerz, dessen ich mir eher bewusst war, betrifft Leute wie Lehrer und Klassenkameraden, mit denen ich zu tun hatte, nachdem sich meine Eltern entzweit hatten und meine Mam’ mit uns in die Stadt zog, wo ich meine übrige Kindheit verbrachte. In der zweiten Klasse hatte ich eine Lehrerin, die mich absolut hasste. Ich hatte Aufmerksamkeitsprobleme. Die Klasse langweilte mich und ich verbrachte den Schultag größtenteils in geistiger Abwesenheit und tagträumend. Vielleicht fühlte sich meine Lehrerin durch mein offensichtliches Desinteresse ignoriert oder gekränkt. Ich weiß es nicht. Was ich gewiss weiß, ist, dass sie mich aussuchte und mich mit sehr barscher Kritik bedachte; sie schrie mich an und brachte mich in Verlegenheit. Ich glaube, ich wurde als hoffnungslos schlechter Schüler eingestuft oder einfach als dumm und faul. In jedem Fall war meine Lehrerin in der zweiten Klasse meine Einführung ins staatliche Schulsystem, wie ich es kennenlernen sollte. Ich war scheu, introvertiert und unfähig, für mich selbst einzutreten. Ich wusste nicht, wie ich mich wehren sollte - also nahm ich alles einfach hin. Die Mehrheit der Klasse (die guten Mädchen und Jungs) wollten mit mir nichts zu tun haben. Abgesehen von den anderen Ausgestoßenen war ich allein. Dieses Stigma blieb mein ganzes übriges Leben an mir haften. Die Leute behandelten mich wie einen wertlosen Wurm, und genauso fühlte ich mich innerlich.

Meine Lehrer schalten und erniedrigten mich. Die anderen Kinder hackten auf mir herum und schickanierten mich, falls sie überhaupt mit mir etwas zu tun haben wollten. Ich fühlte mich von Natur aus inakzeptabel, unvollkommen, unwürdig. Es war nicht okay, so zu sein, wie ich war. Übersetzung: ICH WAR SCHLECHT.

Mit dieser Scheiße in mir ging ich durch die Adoleszenz. Obwohl allgemein anerkannt wurde, dass ich ein kluger Junge war, konnte ich keine guten Noten nach Hause bringen. Ich war faul. Ich bemühte mich nicht. Ich hatte eine schlechte Einstellung. Ich wurde meinem Potential nicht gerecht. Ich war auf dem Weg zum Versager. Ich hörte das alles. Ich glaubte das alles. Es war keine Überraschung, dass ich nach der neunten Klasse die Highschool abbrach.

Als ich sechzehn war, hatte ich eine göttliche Erleuchtung. Mir wurde mit einem Male klar, dass mit allem etwas schrecklich verkehrt war – nicht nur mit mir. Meine Mam’ trennte sich von ihrem zweiten Mann, weil er ein Trunkenbold war, wie mein Vater. Jeder Mann, den ich gekannt hatte, war ein Alkoholiker. Ich dachte, der Geruch von Alkohol sei halt die Art, wie Männer rochen! Es wurde ganz klar, dass Mama einen schweren Fehler machte, der mehrere Jahre ihres und meines Lebens versaute. Bevor sie die Beziehung abbrach, hatte ich ihrem Urteil immer getraut. Rückblickend kam mir in den Sinn, dass ich ihrem Urteil niemals hätte trauen sollen.

 

 

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Ich begann mich zu fragen, was sie sonst noch vermasselt hatte. Plötzlich waren die Lichter an, und ich war hellwach. Über Nacht stand meine Welt Kopf.

Ich folgte einer Fährte von Bibliographien in Psychologiebüchern, die mich zum Neuen Urschrei führte. Auf halber Strecke des Buches wusste ich, dass ich auf die eine oder andere Art an diese Primärtherapie kommen würde. Ich hatte aus eigener Initiative eine ganze Menge über Psychologie gelesen. Einiges von dem, was ich gelesen hatte, war fesselnd; einiges war langweilig. Aber dieses Buch ging mir direkt an die Kehle. Es ließ alles andere wie totalen Scheißdreck klingen. Fünf Jahre später, im Alter von zweiundzwanzig, hatte ich genug gespart  und zog nach Venice, Kalifornien, um mit meiner Therapie zu beginnen.

Was das Fühlen der Gefühle mir gebracht hat

Eines der ersten Feelings, die ich in meinem Intensiv hatte, kam heraus, als ich sagte: „Ich bin ein schlechter Junge.“ Bevor ich diese Worte tatsächlich laut aussprach, war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich an sie glaubte. Es war ein Gefühl, das ich mein ganzes Leben von meinem Bewusstsein abgeblockt hatte. Fühlen, dass ich „schlecht“ war, bedeutete zu fühlen, dass ich wertlos und nicht liebenswert war. Ich fühlte mich nicht liebenswert, weil ich nicht geliebt wurde – und es TAT WEH!

Ich weinte, als ich fühlte: „Papa liebt mich nicht und ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Dieses Gefühl erreichte seinen Höhepunkt, als ich vor kurzem in einer Sitzung hinausschrie, wie sehr ich meinen Vater hasste für das, was er mir antat. Immer wieder brüllte ich: „Du hast mir so weh getan!“, bis meine Stimme versagte. Es erforderte alles, was ich hatte, um es alles rauszukriegen. Am Ende war ich völlig erschöpft. Aber es war tief lösend für mich. Ich spürte solche Erleichterung! Die Einsicht, die sich daraus ergab, war, dass ich keinen Papa hatte. Gewiß, sein Blut fließt in mir; aber das ist alles, was er mir gab, und das nur ungern. Er hat nichts von dem getan, was Väter mit ihren Söhnen machen. Er wollte mich nicht. Jetzt kann ich den Kampf aufgeben, die Liebe meines Vaters zu bekommen. Ich muss nicht darum kämpfen, dass er mich liebt. In der Tat kann ich den Kampf aufgeben, einen Vater zu BEKOMMEN. Ich muss nicht mit meinen Bossen oder anderen ausagieren, dass ich keinen Vater habe. Meine Realität ist, dass ich keinen Vater hatte und niemals einen haben werde. Es ist eine beschissene Wahrheit, aber es ist meine Wahrheit, und ich weiß, sie gehört zu mir.

Ich habe auch einiges darüber gefühlt, wie fad und langweilig meine Kindheit mit meiner Mutter war. Es ist sehr schwer, den Schmerz ihrer Vernachlässigung zu fühlen. Wenn dich jemand schlägt oder misshandelt, kannst du leicht erkennen, was nicht stimmt, aber wenn dein Leben fad und ohne Ansporn ist, und so ist es immer gewesen,  dann begreifst du nicht, was du versäumst. Es ist schwer, etwas genau zu bestimmen, das so verallgemeinert ist. Wenn niemals Wasser im Brunnen war, wie kannst du es vermissen?  

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Ich kam hierher und hatte den Kopf voll mit Primärbüchern, Primärtheorie, Primär-dies und Primär-das, und so fort. Wenn ich zurückblicke, war „Primärtheorie“ meine Religion. Es hielt meine Hoffnung am Leben, bis ich hierher kam. Dafür bin ich dankbar. Die Hoffnung, die mir die Primärtherapie gab, bewahrte mich vor dem Auseinanderfallen. Jetzt aber habe ich diese „Religion“ verloren. Religion ist Hoffnung, und Hoffnung ist für mich nicht so groß, wie sie einst war. Hoffnung ist für mich, dem Tag entgegenzusehen, an dem ich nicht mehr leiden muss. Mein Leiden ist nicht mehr, was es gewöhnlich war. Ich habe gute Tage, und ich habe wirklich beschissene Tage. Wenn mein Schmerz hochkommt und ich anfange, mich verrückt zu fühlen, kann ich es fühlen und weitermachen oder wenigstens etwas Erleichterung finden. Alles, was ich vorher tun konnte, war leiden. Jetzt bedeutet mir Primärtheorie nichts. Meine Gefühle bedeuten mir etwas. Sie sind Primärtherapie. Primärtherapie ist nur eine Bezeichnung. Sie bedeutet für mich einfach das: leben mit der Bindung an meine eigenen Gefühle. Und dabei hilft mir die Primärtherapie. Ich mache mir keine Gedanken mehr um den Tag, an dem mein Leiden ausgemerzt oder „geheilt“ ist. Ich glaube, es ist am besten für mich, für den Augenblick zu leben und sich nicht um den magischen Tag zu sorgen, an dem ich „geheilt“ sein werde. Was sagt dieses Wort „geheilt“ überhaupt über mich aus? Es sagt: Es stimmt was nicht mit mir, und das muss festgestellt werden; etwas an mir ist fehlerhaft; dass ich schlecht bin. Die Wahrheit ist, es war von Anfang an nichts verkehrt mit mir. Ich VERDIENTE es, geliebt, akzeptiert, genährt und angehört zu werden und SEIN zu dürfen. Für mich gibt es keine Suche nach Heilung mehr. Ich will einfach FÜHLEN, mich verbessern und jeden Tag meine Lebens wachsen. Ich will mein Leben mit Leidenschaft, Kreativität und genug Mut leben, um meinem Schmerz geradewegs ins Auge sehen. Ich fühle, so hätte  es immer für mich sein sollen. Vielleicht war ich tatsächlich auf diesem Pfad, als ich ganz klein war, ich bin mir nicht sicher. Wenn ja, dann habe ich den Weg verloren. Meinem Schmerz ins Auge zu sehen, bedeutet, dass ich mir gestatte, mit dem Kampf gegen meine Gefühle (mich selbst) aufzuhören, und dass ich einen Führer finde, der mich dorthin zurück geleitet, wo ich vom Weg abkam.

„Mut“ ist ein wichtiges Wort. Diese Therapie war für mich manchmal so leicht wie Atmen. Ein anderes Mal war es eines der schwersten, erschreckendsten, frustrierendsten, erschöpfendsten und körperlich beanspruchendsten Unternehmungen meines Lebens. Ich erinnere mich an Zeiten, als ich in der Gruppensitzung am

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Boden lag,  mich krümmte, und würgend und erstickend nach dem ersten Atem meines Lebens schnappte. Einige Male wurde es so ernst, dass ich befürchtete, ich könnte wirklich an den Flüssigkeiten ersticken, die mein Körper produzierte. Für die meisten von uns bedeutet das Eintauchen in die dunklen Abgründe unserer frühesten Einnerungen, den vollständigen und äußersten Schrecken des Todes wiederzuerleben. Und Sie ahnen es kaum, genau dort findet die größte Abrechnung statt. Es scheint unfair, dass ich zweimal in meinem Leben da durch muss.

Es IST unfair. Aber unglücklicherweise ist es der einzige mir bekannte Weg, die Verdrängung zu bezwingen und alles, was sie mit sich bringt, einschließlich der Verewigung ungelösten, unbewussten Schmerzes. Bevor ich die Therapie begann, redete ich mit meinen Freunden unaufhörlich über die Primärtherapie. Einige fragten: „ Warum solltest du dir das antun? Gibt’s da nicht Sachen, von denen du besser die Finger lässt?“ Es ist ein Haufen Höllenqual, durch die ich im Namen des Fühlen gehen werde. Ich vermute, ich habe lediglich die Spitze des Leidensberges berührt, auf den ich stoßen werde. Vieles, über das ich geschrieben habe, damit es jemand verstehen kann, dem diese Art der Erfahrung fehlt, ist schwerlich in Worte zu fassen. Allzu oft geraten Gefühle ins Reich der Wortlosigkeit. Also werde ich es bei Folgendem belassen: Gefühle zu fühlen, ungefühlte Schmerzen zu fühlen, unerfüllten Bedürfnissen und lange verleugneten Wahrheiten gegenüberzutreten, ist machmal unbeschreiblich qualvoll. Es enthüllt mein wahres Selbst an den verwundbarsten Stellen. Ich muss Dingen ins Auge sehen, die mir eine Scheißangst einjagen. Ich muss Geheimnisse über mich selbst preisgeben, über die ich mich zutiefst schäme. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein wunderbares Gefühl es ist, wenn ich es trotzdem tue! Es ist nicht immer so, aber jede Träne bringt mich mir selbst ein wenig näher. Warum all den Schmerz und die Agonie durchmachen? Bin ich ein Masochist? Nein, bin ich nicht. All diese Scheiße, durch die ich mich wühle, befreit mich. ICH LEBE! ICH LEBE! ICH WACHSE ALS MENSCHLICHES WESEN! Vor zwei Jahren war ich innerlich tot. Viel schlimmer noch, mir war nur vage bewusst, wie sehr ich nicht lebte. Und so kann ich triumphierend verkünden: Ich war innerlich tot, aber jetzt kann ich fühlen! Das ist es, was wirklich zählt.

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Quellenverweise und Anmerkungen

 

N. 1         Ronald Melzack, The Puzzle of Pain (New York: Basic Books, 1973).

N. 2         Clonidin ist ein altes Medikament gegen hohen Blutdruck. Wenn wir die Beziehung zwischen Hirnstamm-Stimulierung und Blutdruck sehen wollen, ist sie hier zu sehen.

N. 3         Siehe: T. J. Sejnowski, „A High Point for Evolution,“ Science 283, no. 19, (Februar 1999): 1121.

N. 4         Obwohl es jetzt Forschungsarbeiten gibt, die die Genetik z. B. in bestimmte Formen von Dyslexie und Lesestörungen einbeziehen.

N. 5         „Study links Bulimia to Chemical Malfunction in the Brain,” New York Times, Science section, 16. Februar 1999, s. D8.

N. 6         Ibid.

N. 7         Persönliche Kommunikation, November 1998.

N. 8         „Of Mice and Menace,“ Los Angeles Times, 11. Februar 1999, Science File, s. B2.

N. 9         Siehe G. Kempermann und Fred Gage, „New Nerve Cells for the Adult Brain,“ Scientific American 280, no. 5 (Mai 1999): 49.

N. 10       Ibid., s. 48.

N. 11       Steven Locke, Science News, 11. März 1978: 151.

N. 12       Die Forschung wurde mit dem St. Bartholomew’s Hospital und der Open University, Milton Keynes, England, durchgeführt.

N. 13       Solomon Snyder, „Opiate Receptors and Internal Opiates,“ Scientific American 236, no. 3 (März 1977): 44-67.

N. 14       Ibid., s. 49.

N. 15       N. Ghanshyam Pandey et al., « Increased sup-3H-clonidin Binding in the Platelets of Patients with Depressive and Schizophrenic Disorders, » Psychiatric Research 28 (April 1989): 73-88.

N. 16       S. M. Pearl, S. D. Glick und I. M. Maisonneuve, „Evidence for Roles of Kappa-Opioid and NMDA Receptors in the Mechanism of Action of Ibogaine,“ Brain Research 749, no. 2, 28. Februar 1997: 340-43. Es gibt viele andere verwandte Studien von Pearls an der UCLA Biomed Library.

N. 17       Siehe Arthur Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West Hollywood, Kalif.: Dove Books, 1996) zur ausführlichen Diskussion unserer Gehirnforschung.

N. 18       P. Levitt, B. Reinoso und L. Jones, “The Critical Impact of Early Cellular Environment on Neuronal Development,” Preventive Medicine 27, no. 2 (März-April 1998): 180-83.

N. 19       Ibid.

N. 20       Ibid.

N. 21       Siehe die Arbeiten der Drs. Frederic Leboyer und Michel Odent über den angemessenen Geburtsprozess.

N. 22       Siehe Peter W. Nathanielsz, Life in the Womb: The Origin of Health and Disease (Ithaca, N. Y.: Promethean Press, 1999)
   

 

 
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