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DR. ARTHUR JANOV: DIE BIOLOGIE DER LIEBE TEIL II LEBEN IM MUTTERLEIB, ERINNERUNG UND EINPRÄGUNG
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KAPITEL 8
DIE EINPRÄGUNG DER
ERINNERUNG
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Ich verwende in diesem
gesamten Werk den Begriff Einprägung, um zu beschreiben, wie
Ereignisse dauerhaft in das Nervensystem eingraviert werden und wie die
Auswirkungen überall im übrigen Körper zu spüren sind. Aktivierende
Substanzen wie die Katecholamine, einschließlich Dopamin, liefern den
„Klebstoff“ für die Einprägung. Strukturen des Limbischen Systems und
des Hirnstamms, in die frühe Traumen eingeprägt werden, sind reich an
Dopamin, besonders wenn sich die rechte Hemisphäre mit tiefer gelegenen
Strukturen verbindet. Der Locus caeruleus, eine Struktur des Hirnstamms, ist
eine dieser Strukturen. Das Gehirn benötigt Dopamin für synaptisches
Wachstum. Ein Mangel an diesem Hormon bewirkt, dass das Gehirn weniger fähig
ist, gewisse Aufgaben wie Erinnerung, motorische Fertigkeiten und Koordination
zu bewältigen. Großer Stress über einen längeren Zeitraum scheint
Dopaminzellen „ausbrennen“ zu lassen.
Die Einprägung kann jederzeit nach den ersten paar Monaten der Schwangerschaft stattfinden, wenn das Nervensystem des Fetuses noch ziemlich unversehrt ist. Es geschieht primär während der kritischen Periode, wenn sich die Nervenzellen des Gehirns in hohem Tempo entwickeln und bestimmte Bedürfnisse erfüllt werden müssen.1 Die Einprägung verursacht tiefgreifende Veränderungen in vielen Vitalsystemen, von der Herzfrequenz bis zum Blutdruck, von der Körpertemperatur bis zur Sekretion schmerzstillender Gehirnsubstanzen wie Serotonin. Es ist möglich, dass man im Mutterleib unter Schmerz steht, und dass dieser Schmerz für immer als separate Erinnerung deponiert wird. Der Fetus macht Bewegungen, als wolle er schreien, er kann zucken und im Falle eines Angriffs das Gesicht verziehen.
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Die zentrale, am Lebensanfang
eingeprägte Erfahrung strahlt aus und umfasst alle Arten von Reaktionen -
viszerale, muskuläre, vaskuläre, und so fort. Die Einprägung ist das Ergebnis
des „Urknalls“, der vielleicht um die Zeit der Geburt oder vorher geschah.
Im Alter von vierzig können wir die Nackenspannung und den Spiegel von
Stresshormonen messen, und wir finden die Auswirkungen jener schmerzhaften
Explosion. Wir sehen die Resultate Jahre später bei Blutgefäß–Problemen
oder viszeralen Reaktionen, wie zum Beispiel bei der Sekretion von Magensäure.
Wir können die weitgestreuten Begleiterscheinungen der Explosion behandeln; zum
Beispiel physische Manipulation von Kieferspannung, aber diese Folgen zu
behandeln bedeutet, dass der Körper ein anderes Ventil finden wird, da sich die
explosive Kraft noch immer im Kern des Systems befindet. Wenn man den frühen
Urknall (das Haupttrauma) wiedererlebt, kommt es oft zu einem dauerhaften Rückgang
bei physiologischen Werten wie dem Kortisolspiegel. Daher wissen wir, dass der
Urknall ein Leben lang andauert und dass er die Ursache von Spannung und Stress
ist, die Jahrzehnte später auftreten. Die Einprägung ist verantwortlich für eine Veränderung in der Anzahl synaptischer Verknüpfungen, für eine Verdickung bestimmter Neuronen und für eine Zunahme der Dendriten (die Nachrichten von anderen Nervenzellen empfangen. In einem komplizierten Prozess begründet all das die Entwicklung einer Erinnerungsspur, wobei die Einprägung ihre Tentakeln durch das ganze Gehirn ausbreitet. Die Kraft oder Valenz des Traumas wird zur Kraft der Einprägung. Diese Energie ist ihr Motor und verteilt sich auf viele Orte des Gehirns. Das Ereignis wird nun bestimmten Neuronen eingeprägt, die sich mit anderen verwandten Neuronen verbinden und ausgeformte Bahnen bilden. Sie haben dann eine „Komplizenschaft“; sie verstehen einander und reagieren aufeinander mehr als auf andere Neuronen. Wenn sie zusammen feuern, dann verdrahten sie sich miteinander. Sie verstehen den Kode, der sie bindet, und wenn später ähnliche Ereignisse geschehen, ein angewiderter Blick eines anderen oder eine kalte, abweisende Reaktion eines Freundes, dann reagieren die kodierten Neuronen erneut und erzeugen Furcht und Angst. Diese Kodes sind die internen Repräsentanten, die ausgelöst werden, wenn ähnliche Gefühle wachgerufen werden. Sie erzeugen die Überreaktivität bei sogenannten übertriebenen Reaktionen auf Dinge, die eigentlich eine Kleinigkeit sind. Die Arbeit des Psychiaters William Gray vom Newton Center in Massachusetts, die sich mit Kodierung auseinandersetzt, wird im Brain-Mind Bulletin diskutiert: „In der Kindheit erfahren wir ein grundlegendes Sortiment globaler Gefühle wie Zufriedenheit, Zurückweisung, Zorn und Furcht. Genau wie die Farben Rot, Gelb und Blau in Millionen Farbtönen ineinander übergehen, differenzieren sich diese primären Emotionen durch die Erfahrung in Myriaden von Gefühlstönen.“ 2 Diese Emotionen bilden eine Verknüpfung und verschlüsseln alle Elemente und ähnlichen Szenen miteinander. Seite 157 |
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Sie werden als neuroelektrische
Wellenformen verschlüsselt, die durch vergleichbare Frequenzen neuer
Erfahrungen hervorgerufen werden. Neue Erlebnisse, welche dieselbe Art von Gefühl
oder Empfindung an sich haben, lösen die gesamte Traumenkette bis hinab zur
Geburt und zuvor aus. Das ist eine Möglichkeit, wie Erinnerungsspuren ausgelöst
und rückübertragen werden. Die Gefühlstöne, so sagen sie, „werden im
Limbischen System ausgebrütet.“ Auf diese Weise werden Myriaden verschiedener
Erfahrungen unter derselben Rubrik zusammengefasst. Wir haben einen Weg
gefunden, den Kode abzuhören. Die Einprägung
geht einher mit starkem Blutfluss, hohem Stresshormon–Spiegel und
Dopaminausstoß und hoher metabolischer Aktivität des präfrontalen Kortexes.
Alle Systeme beteiligen sich daran, das Gefühl zu einer lebenslangen
Lernerfahrung einzuprägen. Eines schönen Tages spürt das Kind, dass es nicht
geliebt wird, und so wird es in der Tat betrachtet; als jemand, den man meidet.
Das Gefühl wird eingeprägt, ohne dass notwendigerweise Gedanken artikuliert
werden müssten. Das Kind darf kein Geräusch von sich geben oder Forderungen an
Eltern stellen, die wirklich keine Kinder wollen. Es muss nicht einmal darüber
nachdenken, wie es handeln soll; die Einprägung erledigt das. Auf diese Weise fühlt
es sich unerwünscht, ungeliebt. Ein Kind fühlt, dass es nicht
geliebt wird. All das kann durch elterliches Verhalten ausgelöst werden: durch
den Mangel an Wärme, wenn sie sich dem Kind zuwenden, durch Ungeduld,
Gereiztheit und Mangel an Augenkontakt. Die Eltern können genauso unbewusst
sein wie das Kind. Das Gehirn fühlt die Zurückweisung ohne offensichtliche
volle Bewusstwerdung. Im Alter von drei Jahren weiß es bereits, wie es
reagieren muss, vielleicht nicht mit dem Verstand, aber auf Grundlage der ursprünglichen
Reaktion, besonders wenn diese Reaktion lebensrettend war. Schlimmer noch, das
Gehirn wird allmählich in seinem Wachstum und seiner Funktion geschwächt, und
das alles wegen des Gefühls, nicht geliebt zu werden. Die lange Geschichte der Erinnerung Einprägen bedeutet, eine
Erinnerung in jeden Aspekt unseres Seins einzuschleusen: in die Blutgefäße,
Muskeln, Nervenzellen und Hormone. Jedes Subsystem graviert die Erinnerung auf
seine Weise ein – eine Veränderung in den Blutplättchen, weniger Zellen, die
Serotonin produzieren, und so fort. Die Auffassung eingravierter Erinnerung zu
akzeptieren bedeutet, dass sich Psychotherapie von einer Therapie der Erscheinungen
(Phänotyp) zu einer Therapie der Ursachen (Genotyp) wandeln wird. Deshalb würde
sich fast jede Technik ändern, wenn diese Konzeption erst einmal der
therapeutischen Psyche einverleibt ist. Es bedeutet, dass Erinnerung andauert,
eine bleibende Wirkung auf unsere Neurobiologie hat und die Struktur dieser
Neurobiologie und unser späteres Verhalten ändern kann. Der Ansatz der Medizin
würde ebenso radikaler Veränderung unterliegen. Wir würden nicht nur auf
gegenwärtigen Stress schauen, um eine Herzattacke zu erklären, sondern auch in
die Kindheit. Seite 158 |
Es ist die frühe Einprägung,
die Wahrnehmung entstellt und spätere Erfahrungen im Erwachsenenalter
kanalisiert. Einige Ehemänner sehen in ihren Frauen nach der Geburt ihres
Kindes eher Mütter als Frauen und Geliebte. Die Ehefrauen könnten durch diese
veränderte Wahrnehmung frustriert werden und beschließen zu gehen, und der
Mann steht wieder ohne „Mutter“ da, wie damals, bevor er heiratete. Jemand,
der sich in der Öffentlichkeit entblößt, bis er festgenommen wird, macht das,
weil er eine emotionale Reaktion sucht, die er als Kind von seinen Eltern nicht
erhalten hat. „Schau mich an!“ „Reagiere auf mich!“ „Zeig etwas Gefühl!“
– und Schock zeigt Gefühl. Er benimmt sich auf diese Weise, weil er in der
Vergangenheit lebt und von seiner Geschichte und Erinnerung gezwungen wird, frühe
kindliche Bedürfnisse auszuagieren. Seine Einprägung dominiert. Einprägungen
dominieren die meisten von uns und unser Verhalten. Das ist ein wichtiger Punkt,
wenn wir unsere Symptome verstehen wollen. Ohne die Konzeption der Einprägung
sind wir gezwungen, uns mit dem gegenwärtigen Symptom so zu beschäftigen,
als sei es die Krankheit; meistens ist das nicht der Fall. Zwei der
Hormone, die den Zugang zur Einprägung und ihren verdrängten Gefühlen
blockieren, sind Adrenalin und Noradrenalin (die Katecholamine). Sie wirken sich
auf den denkenden, integrierenden Kortex aus und helfen, das Niveau der
Aufmerksamkeit oder Wachsamkeit zu regulieren, die der frontale Kortex ausübt.
Wenn die Eingaben zu stark sind, macht der Kortex Überstunden, um sie zurückzudrängen.
Die hydraulische Analogie von Sigmund Freud (hier drückst du, und dort
kommt’s heraus) wurde in den ersten Jahren der Psychoanalyse kritisiert, aber
es stellt sich heraus, dass sie gar nicht so ‚daneben’ ist. Der Druck
aufgrund der Einprägung ist die ganze Zeit da und muss einen Ausgang finden.
Die Energie marschiert in den frontalen Kortex und führt dort zur Bildung von
Zwangsvorstellungen, und sie macht sich auf den Weg in den Körper via
Hypothalamus, wo sie Herzrasen verursacht. Das Ergebnis: eine mystische,
hyperaktive Person, die an Herzsymptomen leidet. Wenn genug Energie
„somatisiert“ werden kann, steht weniger für Denkstörungen zur Verfügung.
Der Mensch geht zum Kardiologen wegen des Herzrasens und zum Psychologen wegen
der obessiv–zwanghaften Gedankenbildung – und beide Symptome können mit
genau der gleichen Medizin behandelt werden.......Schmerztötern. Beide
erfordern Beruhigung und den Aufbau von Abwehr. Das sind Linderungsmittel, aber
sie können funktionieren, weil sie ein mangelhaft verdrängendes
Schleusensystem normalisieren, das für beide Leiden verantwortlich ist.
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Neulich stand eine Geschichte
in der Zeitung über einen auf Bewährung entlassenen Sexualstraftäter, der
klagte, weil der Staat sich weigerte, ihm seine Beruhigungsmittel zur Kontrolle
seines Hangs zu jungen Mädchen zu genehmigen. Der Staat empfahl diese
Medikamente zur Kontrolle sexueller Impulse. Warum? Hier geht man
stillschweigend davon aus, dass Schmerz die Ursache ist. Stelle den Schmerz
ruhig und du blockierst oder kontrollierst den Impuls. Dennoch wird selten
anerkannt, dass Schmerz einen zum Ausagieren treibt. Der Staat ist noch nicht so
weit zu begreifen, dass es notwendig ist, den Schmerz zu entfernen und nicht nur
einfach zu kontrollieren. Es ist ein kleiner aber dennoch sehr großer Schritt.
Eine meiner
Patientinnen nahm Pillen gegen hohen Blutdruck und Schmerztöter; sie senkten
ihren Blutdruck, aber am nächsten Tag hatte sie eine Migräne. Es ist die
„Verabredung in Sumatra“. (Es gibt eine alte Sage über jemanden, der
flieht, um den Besuch des Sensenmannes zu vermeiden. Er beschließt nach Sumatra
zu gehen, nur um zu entdecken, dass der Tod seine Pläne geändert hat und
beschlossen hat, nach Sumatra zu gehen.) Wohin auch immer wir uns wenden, der
Schmerz wartet auf uns. Wir unterdrücken ihn hier, und dort taucht er auf. Wir
reisen nach Amerika, um „von all dem loszukommen“, und dort ist er wiederum.
Wir gehen in die Berge, um uns selbst zu finden und was finden wir? Schmerz.
Korrektur. Wenn unser Abwehrsystem noch funktioniert, finden wir keinen Schmerz,
sondern mystische Ansichten, mit denen wir ihn ersticken. Wir glauben, wir hätten
gerade einen magischen Augenblick erlebt; weil es funktioniert, fühlen wir uns
besser. Es gibt drei kritische
Faktoren, wenn eine Einprägung erzeugt wird: die Menge des Inputs, die Reaktion
auf den Input und seine zeitliche Steuerung. Alle drei Faktoren konvergieren und
schaffen eine dauerhafte Erinnerung, die unsere Neurophysiologie verändert. Wir
müssen daran denken, dass ein Teil der Einprägung die Reaktion darauf ist,
welche ebenfalls andauert. Der Schmerz und seine Reaktion bilden eine
dialektische Einheit. Sie bestimmt die Hartnäckigkeit späteren Verhaltens: zum
Beispiel andauernd ein Thema zu diskutieren, das abgetan und erledigt sein
sollte. Andere Beispiele beinhalten Paranoia oder schwere Eifersucht mit
zwanghaftem Verhalten, das keine Grenzen kennt, die Unfähigkeit den Schmerz der
Zurückweisung hinzunehmen und das Bedürfnis, immer und immer wieder um
Akzeptanz und/oder Liebe zu kämpfen. Das am weitesten verbreitete Beispiel ist
natürlich die Unfähigkeit, einzugestehen, dass wir Unrecht haben. Wenn ein Trauma ganz früh eingeprägt wird, auch schon vor der Geburt, dann ist es der Hirnstamm, der sich damit beschäftigt. Er aktiviert und motiviert auf genau die Art und Weise, wie die Einprägung abgelegt worden war: wie zum Beispiel das Winden und Drehen, das mit der Steißgeburt einhergeht. Mit der weiteren Seite 160 |
Entwicklung des Gehirns bricht
diese präzise Erinnerung – unzureichend geschleust aufgrund ihrer schweren
Schmerzlast – in limbische Strukturen durch, wo sie symbolische Verkleidung
annimmt. Nun fängt die Person an, Albträume zu erleben, in denen sie in einer
Waschmaschine hin- und hergedreht wird (tatsächlich ein wiederkehrender
Albtraum eines meiner Patienten, bis er seinen Ursprung fühlte). Die
anatomische und viszerale Einprägung ist nun in Bilder übersetzt worden. Es
ist dieselbe Erinnerung mit derselben Kraft wie die Hirnstamm – Einprägung,
die im Gehirn nach oben auf höhere Bewusstseinsebenen gewandert ist; deshalb
hat der Traum oder Albtraum so enorme Wucht. Er ist einfach eine Verkleidung für
eine frühe Begebenheit. Grundsätzlich gilt, wenn ein wiederkehrender Traum
oder Gedanke eine Empfindung beinhaltet – Drücken, Quetschen, Ersticken oder
Ähnliches -, dann können wir sicher sein, dass der Hirnstamm beteiligt ist. Der Grund, warum eingeprägte
Reaktionen auf frühen Liebesmangel fortbestehen, liegt darin, dass sie eine
Schablone erstellen für zukünftiges Verhalten, besonders für die Reaktion auf
Stress. Ein Patient von mir, ein hart arbeitender Mann, scheiterte vor dem
Stadtrat mit seinem Antrag, einen Sport- und Saunakomplex zu errichten. Anstatt
einzusehen, dass weiterzumachen sinnlos war, blieb er dabei, Appell um Appell,
alles ohne Nutzen und mit großen Kosten für ihn selbst. Seine Reaktionen
entstammten der Vergangenheit, und er erkannte die Lage nicht, weil er den
Zusammenhang nicht sehen konnte. Alles, was er wusste und erwartete, war, dass
ständiger Kampf sein Leben retten würde. Seine frühe Erfahrung bei der Geburt
hatte zu bleibenden Veränderungen in seinem Wahrnehmungsapparat und seinem
Neurotransmitter–System geführt. Er hätte innehalten sollen, über seine
Situation nachdenken und die Folgen seiner Handlungen abwägen sollen, aber er
konnte nichts dergleichen tun wegen seiner fixierten Schablone, die bei der
Geburt errichtet worden war und ihm sagte: „Halt drauf, wenn du leben willst.
Mach weiter, egal welche Hindernisse kommen, weil der Tod auf dich lauert.“ Das ist die Formel, die hinter seinem
Antrieb steckte. Aufhören und Aufgeben hätte buchstäblich den Tod bedeutet.
Die Einprägung trieb ihn an. Bevor ich das Geburtstrauma vollständig erklärt
habe, wird es schwer sein, diese Vorstellungen zu akzeptieren; deshalb bitte ich
um Geduld. Wenn Einprägung stattfindet,
verkümmern andere nicht einbezogene Areale des Gehirns und degenerieren mit der
Zeit. Die Einprägung steuert die Gehirnentwicklung, um Ressourcen bereit zu
stellen, wo sie benötigt werden; mehr Synapsen in bestimmten Bereichen und
weniger in anderen. Im Wesentlichen wird ein neues Gehirn aufbebaut. Beim
Wiedererleben früher Szenen ist der Patient „dort zurück“. Seine
Gehirnwellen sind so beschaffen, dass wir nicht sagen können, ob das Ereignis
jetzt geschieht oder einfach eine Erinnerung ist.
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Erwachsene können durch die
Einprägung der Hypoxie (niedriger Sauerstoff–Status) bei der Geburt permanent
beeinflusst werden. Wachsam und auf der Hut zu sein ist ein natürlich-adaptiver
Zustand für angemessenes Funktionieren, viel mehr, als energielos zu sein.
Das Problem ist, dass viele von uns wegen des hohen Grades innerer Bedrohung zu
wachsam und zu sehr auf der Hut sind. Wir sehen Gefahr, wo gar keine ist, oder
wir übertreiben die Gefahr, weil wir bereits in einem überwachsamen, angsterfüllten
Zustand sind.
Wenn ein größeres Trauma
existiert, ist der Hypothalamus beteiligt. Er ist als „gemeinsame Endbahn“
zu den inneren Organen bekannt und übersetzt fehlende Liebe in körperliche
Symptome. Er unterstützt den Prozess der Einprägung durch die Freisetzung von
Kortikotropin. Dieses Stresshormon aktiviert das sympathische Nervensystem.
Diese Aktivierung hilft, die Einprägung zu besiegeln. Es sind die aktivierenden
Hormone, die den Klebstoff für fortdauernde Erinnerung liefern. Sie sorgen für
die nötige Energie, um ein Gefühl in den Gehirnsystemen zu verankern. Sie
liefern den „Schock“ für das System, zwingen es zur Aufmerksamkeit und
schließen die Erinnerung ein. In dialektischer Manier veranlassen die
Stresshormone auch die Sekretion einer morphinähnlichen Substanz, um uns vom
vollen Bewusstsein des Gefühls abzuschirmen („Sie werden mich niemals
lieben“). So setzen wir Stresshormone frei, die alarmieren und mobilisieren,
und Opiate, die dieselbe Mobilisierung regulieren und unterdrücken, alles im
gleichen Augenblick. Würde dies nicht geschehen, so hätten wir eine
unverminderte Fluchtaktivierung. Hier sei nur gesagt, dass wir
Sicherheitssysteme haben, um die Sicherheitssysteme zu sichern, und das alles,
um das physiologische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, wie zum Beispiel die Körpertemperatur,
Blutdruck und geistige Prozesse. Wir müssen Sicherheitssysteme haben, um zu gewährleisten,
dass unsere übermäßigen Reaktionen nicht unser Leben bedrohen.
Ganz
allgemein kann die Einprägung jemanden dazu bewegen, eine gefühlskalte Frau zu
finden und darum zu kämpfen, sie fürsorglich und warmherzig zu machen. Wenn
sie der mütterliche Typ ist, haben wir Glück; wenn nicht, so ist die Scheidung
abzusehen. Dieser ganze Prozess spielt sich unbewusst ab, weil das Bedürfnis
und die Einprägung unbewusst sind. Wir haben die Einprägung betrachtet und ihre lebenslangen Auswirkungen. Nun werden wir unsere Aufmerksamkeit jener Art universeller Traumen zuwenden, denen die Tendenz zur Einprägung eigen ist. Angesichts der Vorgehensweise bei der Geburt, wie sie überall in der westlichen Welt praktiziert wird, ist der Mangel an Sauerstoff bei der Geburt ein solches Trauma. Es ist zweifelsohne sonderbar, einen Mangel an Sauerstoff als einen Mangel an Liebe aufzufassen, aber es ist so. Vielleicht ist es das wichtigste frühe Bedürfnis im Sinne der Gehirnentwicklung. Ein Kind mag zirka einen Tag ohne Wasser aushalten, aber es steht nur wenige Seite 162 |
Minuten ohne
Sauerstoff durch. Es ist möglich, diesen Sauerstoffmangel wiederzuerleben, und
dieses Wiedererleben hat ungemein radikale Wirkung, vom Ende der Migräne bis
zur Senkung des Blutdrucks und Einschränkung der Drogensucht. Die Bedeutung der kritischen
Periode und der Einprägung liegt
in ihrer Unabänderlichkeit. Wenn etwas einmal während der kritischen
Periode verankert worden ist, so ist es für immer da, in dem Sinne, dass wir
nicht ausgleichen können, was mit uns während jener Zeit geschah; es sei denn,
es gäbe einen Weg, seine Kraft und einige seiner Wirkungen ungeschehen zu
machen. Die kritische Perioden und die Einprägungen sind wahrlich das Leitmotiv dieses Buches. Es bedeutet, dass
das, was mit uns im späteren Leben geschieht, hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung
weniger wichtig ist als das, was in der kritischen Periode geschah, als sich das
Gehirn formte. Wir übersehen es auf unsere eigene Gefahr; denn ohne das Verständnis
der kritischen Periode und der Einprägung können wir das Einsetzen von
Herzattacken, Schlaganfällen, Alzheimer und anderer ernsthafter Leiden niemals
voll begreifen. Diese Einprägungen sind die verborgenen generierenden Quellen
so vieler späterer Probleme. Frühe Traumen verdrehen und verkrümmen unsere
Biologie, so dass sie permanent abweicht; zu viel Stresshormon, nicht genug
Schilddrüsenhormon, zu wenig Serotonin, und so weiter. Die kritische Periode ist eine
Straße mit Gegenspur. Wenn eine Mutter keine Gelegenheit hat, in dieser Zeit
„Mutter“ zu sein, wird sie Schwierigkeiten haben, später eine Mutter zu
sein. Wenn ein Ziegenkitz von seiner Mutter getrennt wird, ehe es geleckt wird,
und es ihr dann später zurückgegeben wird, scheint die Mutter nicht mehr ein
noch aus zu wissen und hat „keinerlei verhaltensmäßigen Ressourcen mehr
ihrem Neugeborenen gegenüber.“ 3 Michel Odent diskutiert weitere Forschungsarbeiten, um diesen Punkt zu betonen: Wenn ein Lamm bei der Geburt von seiner Mutter getrennt wird und die Trennung länger als vier Stunden dauert, dann kümmert sich die Hälfte der Mütter hinterher nicht um ihre Jungen. Wenn aber die Trennung erst nach einem Tag stattfand, bestand das Problem nicht. Die kritische Periode unmittelbar nach der Geburt war vorüber. Wenn diese Mütter epidurale Injektionen mit Betäubungsmittel erhielten, um die Geburt zu erleichtern, so kümmerten sie sich nachher nicht um ihre Jungen. Mütter brauchen ihre Babys genauso während der kritischen Periode. Wenn sie in der kritischen Periode nicht lieben können, scheinen sie einiges an späterer Liebesfähigkeit zu verlieren. Kurz gesagt kann auch Müttern die Fähigkeit, zu lieben oder nicht zu lieben, eingeprägt sein. Falls sie keine Mütter sein können, wenn sie es sein sollten, so gibt es einen biologischen Mechanismus, der sie daran hindert, später gute Mütter zu sein. Hierin liegt vielleicht eine wichtige Lektion. Seite 163 |
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Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1
B. Bolon und St. Omer, „Biochemical Correlates for Behavioral Deficits
Induced by Secalonic Acid D in Developing Mice,“ Neuroscience and
Biobehavioral Reviews 16
(1992): 171-75.
N. 2
William Gray, “New Theory: Feelings Code, Organize Feeling,”
Brain-Mind Bulletin (8. März 1982): 1. N. 3 Michel Odent, The Scientification of Love (London, Free Association Books, 1999), Seite 7. Deutsche Ausgabe: Michel Odent, Die Wurzeln der Liebe – Wie unsere wichtigste Emotion entsteht, Düsseldorf, Walter Verlag, 2001
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KAPITEL 9 WIE DER KODE DER ERINNERUNG
ENTSCHLÜSSELT WIRD
Die Fähigkeit des Gehirns, Schmerz wahrzunehmen und zu verschlüsseln, beginnt gleich nach dem dritten Monat der Schwangerschaft, wenn bereits ein primitives Nervensystem existiert. Der Unterschied zwischen dem Zugang zu der kodierten Einprägung und dem verbalen Erinnern eines Ereignisses besteht darin, dass jemand sich in genau dem neurophysiologischen Zustand befindet, in dem er oder sie ursprünglich war, wenn er oder sie die Einprägung erlebt. Diese Art von Erinnerung kann nicht vorgetäuscht werden. Der Kode der Erinnerung kann in elektrischen Frequenzen und in der chemischen Zusammensetzung liegen. Neuronen in verschiedenen Teilen des Gehirns beteiligen sich an dem Kode und reagieren als Ganzheit, als Nervennetzwerk. Jene Aspekte des Gehirns, die für die Reaktion auf das Trauma nicht notwendig sind, verblassen oder verkümmern. Die Erinnerung wird „eingekerbt“, so dass die Gesamtheit der Reaktionen wieder erscheinen kann, wann immer auch nur ein oberflächliches emotionales Ereignis geschieht. Das kommt daher, dass die meisten–wenn nicht alle–unserer gegenwärtigen Gefühle Weiterentwicklungen der grundlegenden Empfindungen sind, welche tief im Gehirn organisiert werden. Einprägung bedeutet nicht nur die Schaffung neuer Synapsen, sondern auch die Beseitigung von solchen, die nutzlos ge worden sind. Die ständige Benutzung einer Bahn oder eines Schaltkreises erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er immer wieder verwendet wird, und so wird es wahrscheinlicher, dass wir ein Verhalten wiederholen. Die Persönlichkeit bildet sich um diese stetigen Reaktionen herum. Es ist meine klinische Beobachtung, dass Leute, die schon ganz am Anfang an fehlender Liebe litten, vielleicht weil sie Wochen in einer Anstalt verbrachten, geschwächte soziale Fähigkeiten haben und Bindungen nicht leicht eingehen können. Seite 166 |
Das kann sich schon lange ereignet haben, bevor das Kind die Sprache gebrauchen kann. Es kann ein brillanter Psychiater werden und dennoch nicht fähig sein, mit anderen Beziehungen einzugehen. Es kann als Erwachsener durchaus zu anderen gravitieren, die auch nicht fühlen und nicht lieben können. In Patienten, die frühe Szenen wiedererleben, erwacht das
gesamte Spektrum der Erinnerung wieder zum Leben: die Gerüche, die Bilder,
Stimmen und Worte. Alles das steigt gemeinsam auf und gelangt zur Verknüpfung.
Es ist total, nicht nur zerebral; es ist diese Totalität der Erfahrung, die zu
tiefgreifender Veränderung führt. In einem Urerlebnis wird das
ganze Gemälde der Erinnerung wieder lebendig und verknüpft sich schließlich
mit dem frontalen Kortex. Manchmal ist nur ein Aspekt der Erinnerung
offensichtlich – schneller Herzschlag. Ein Mensch kann an einem zusätzlichen
Herzschlag (Extrasystole) leiden oder an plötzlichem Herzklopfen. Es schlägt
zu, wenn die Abwehr geschwächt ist. Aber diese Reaktions-Bruchstücke sind
immer noch Teil einer Gesamterinnerung. Auf Grund der Spaltung und Verdrängung
kommen nur Aspekte der Erinnerung durch: die primitivsten Überlebensreaktionen
wie Herzschlag und Blutdruck. Das sind grundlegende, unverfeinerte Aspekte der
Erinnerung. Der hohe Spiegel an Katecholaminen,
der den „Urknall“ (die ursprünglichen Traumen auf Leben und Tod) wie zum
Beispiel das Geburtstrauma begleitet, hilft dabei, die Informationen auf weit
gestreute Bereiche des Gehirns – einschließlich des Hirnstamms – zu
verteilen, so dass ein großer Teil des Gehirns in seine eigene Verteidigung
verwickelt sein kann. Der Angreifer ist die Erinnerung und ihre
Leidenskomponente. Abwehr blockiert die Bewusstheit von Leiden. Wenn wir uns in
der Gegenwart gekränkt fühlen, greift das gesamte Gehirn in den Kampf ein,
weil unterschiedliche Aspekte der Erinnerung vom zentralen Nervensystem
zusammengeführt werden. Die versammelten Neuronen verschlüsseln, speichern und
reagieren auf Eingaben im Mutterleib. Deswegen können wir aus einem leicht verärgerten
Blick von jemanden in der Gegenwart eine Migräne entwickeln. Oder wenn das
ursprüngliche Hirnstammtrauma äußerste Hilflosigkeit angesichts überwältigender
Umstände bei der Geburt (massive Anästhesie) war, dann taucht die
unartikulierte Hilflosigkeit wieder auf, wenn jemand wieder in eine ähnlich
hilflose Situation versetzt wird, zum Beispiel wenn er von starren
Regierungsverordnungen eingeschränkt wird, ein Ereignis, das normalerweise
nicht so schrecklich ist. Begleitet wird sie vielleicht von Herzklopfen oder
Migräne. Die „Kränkung“ ist in Strukturen des Hirnstamms verankert. Wenn
die Verletzung die Schmerzkette hinabwandert, ruft sie alle ursprünglich mit
dem ersten großen Trauma in Bezug stehenden Reaktionen hervor.....in diesem
Fall das Zusammenziehen und Erweitern von Blutgefäßen, das durch
Geburts-Anoxie verursacht worden war. Seite 167 |
Demzufolge behandelt ein
Doktor eine Migräne bei einem Patienten von vierzig Jahren, während die ganz
frühe Ursache vierzig Jahre alt ist. Es ist kein Wunder, dass Ursachen so
schwer zu finden sind. Wenn ein anderer sich aufmacht, um die Ursache zu finden,
so wird man sie niemals finden; nur die leidende Person selbst kann sie finden.
Und sie kann es niemals vorsätzlich. Es wird widersprüchlich, wenn man
versucht, unterhalb des Kortexes zu gelangen, indem man den Kortex benutzt. Wenn Ärzte ein analytisches
Bluttestverfahren an einem Fetus durchführen, indem sie eine Nadel durch die
Haut einführen, steigen die Katecholaminwerte als Reaktion auf den Schmerz beträchtlich
an. Erleidet ein Fetus Schmerz, wenn er reagiert, es jedoch nicht in Worte
fassen kann ? Natürlich. Sein Stresshormon-Spiegel steigt um etwa 600 Prozent
als Reaktion auf die Nadelpunktur.1 Und er reagiert!.......für
immer. Die Antwort auf den Stress wird nun kodiert und dauerhaft gespeichert.
Die Katecholamine katalysieren die Einprägung, bevor das Baby geboren wird.
Deshalb ist es möglich, fürs Leben gezeichnet zu sein, noch ehe wir unsere
Eltern zum ersten Mal sehen. Unsere Reaktionen auf unsere Eltern können
abgestumpft sein, nicht wegen ihres Verhaltens, sondern aufgrund der Zeit im
Mutterleib. Wie die
Neurobiologin Lise Eliot herausgefunden hat, besteht eine höhere
Wahrscheinlichkeit, dass die Leibesfrucht einer Mutter, die unter Stress steht
und hohe Katecholaminwerte hat, an Wolfsrachen leidet. Katecholamine schränken
den Blutstrom zum Fetus ein und senken dadurch seinen Sauerstoffpegel. Es ist
auch möglich, dass chronisch hohe mütterliche Katecholaminwerte vielleicht die
Sollwerte deregulieren, so dass das Baby selbst sein ganzes Leben lang einen
anderen Pegel aufweist. Zum Beispiel kann es tatsächlich leichter erregbar
sein; es kann eine niedrigere Frustrationstoleranz haben, reizbarer und
ungeduldiger sein. Weil das Endokrinsystem, wie ich gezeigt habe, ein System
ist, können höhere Kortisol- und Katecholaminwerte die Testosteronwerte des
Babys verändern. Wir wissen, dass Stress den Wert bei Männern senkt, aber ich
glaube, dass eine gestresste Mutter den Wert in ihrem männlichen Nachkommen
senkt. Das Ergebnis kann ein leicht feminines männliches Kind sein. Fügen Sie
nun eine distanzierte, unnahbare Mutter hinzu, und das Resultat ist
vorhersehbar. (In Kapitel 18 erörtere ich diesen Punkt ausführlich). Lise Eliot hat aufgezeigt,
dass die Katecholamine in Erwachsenen und Babys unterschiedlich reagieren: „Während
Katecholamine einen Erwachsenen zum Kampf mobilisieren, indem sie den Herzschlag
erhöhen und den Blutfluss zu den Muskeln verstärken, haben sie auf kleine
Babys entgegengesetzte Wirkung, indem sie ihren Herzschlag senken, die
Atmungsaktivität verlangsamen, ja sogar bestimmte Bewegungen lähmen.“ 2 Kaiserschnitt–Babys erhalten
nicht den Katecholaminschub, den vaginal entbundene Babys bekommen, und das
macht einen Unterschied hinsichtlich der Frage, ob später Atmungsprobleme
auftauchen oder nicht. Eliot berichtet, dass die Vaginalgeburt beim Baby ein größeres
Wohlgefühl hinterlässt, vielleicht aufgrund der höheren Stoffwechselrate. Seite 168 |
Ein jüngst erschienener
Bericht über die Langzeiteffekte früher Traumen von Forschern an der School of
Medicine der Washington Universität zusammen mit dem British Columbia
Children’s Hospital und Arkansas Children’s Hospital 3
besagt auszugsweise: „Es zeigte sich, dass Schmerz und Stress in Neugeborenen
physiologische und verhaltensbezogene Reaktionen induzieren, auch bei Frühgeburten.“
Fran Lang Porter, Forschungsleiter, fährt fort: „Es gibt Beweise, dass diese
Ereignisse nicht nur Veränderungen herbeiführen, sondern dass daraus
bleibende strukturelle und funktionale Veränderungen resultieren können.“
(Betonung von mir) Es hat etwa dreißig Jahre gedauert, bis die Forschung
mit unseren klinischen Beobachtungen gleichgezogen hat, aber immer mehr
Informationen führen zu dem Schluss, dass es in der Tat infolge frühen Traumas
andauernde Veränderungen in unseren Systemen gibt, einschließlich dem
Gehirnsystem. Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass Kleinkinder und Föten
Schmerz wahrnehmen können und dass jene Kleinkinder, die beschnitten werden
(etwas, das ich in der Kleinkindphase ablehne, wenn das Baby aus ihm nicht
ersichtlichen Gründen verletzt wird), schmerzstillende Mittel brauchen. Frühgeborene
Kinder, so berichten sie, die während der Schwangerschaft und Geburt
verschiedenen Traumen ausgesetzt waren, waren als Babys im Alter von 18 Monaten
weniger reaktionsfähig. Beschnittene Jungen reagierten später stärker auf den
Schmerz einer Schutzimpfung als nicht beschnittene. Und was sie finden, ist
etwas, das ich nachdrücklich betont habe: „Es gibt Beweise, dass die
Erinnerung an den Schmerz auf einer biologischen Ebene aufgezeichnet werden
kann.“ 4 All dies bedeutet, dass
Ereignisse auf der physiologischen Ebene registriert werden, bevor intellektuell
abrufbares Gedächtnis möglich ist. Das wiederum erklärt, wie gewisse Anfälligkeiten im Mutterleib
geschaffen werden, die einige von uns stark auf Stimuli und andere überhaupt
nicht reagieren lassen. Eine gewisse Art von Leblosigkeit kann bei der Geburt
eingeprägt werden, so dass alle späteren Reaktionen abgestumpft sind. In stark
depressiven Patienten sehen wir diese Abstumpfung, verminderter Affekt genannt.
Es ist nicht so, dass die Person keine Gefühle hätte; vielmehr sind diese Gefühle
verdrängt. In Hinsicht auf Stress bei Kleinkindern sagt der UCLA-Professor für Neuropsychologie, Allan Schore: „Dieser psychoneurologische Mechanismus kann die Effekte vermitteln, durch die Situationen, in denen ein Kleinkind emotionalen Traumata ausgesetzt ist, in sensorisch-affektiven, motorischen und emotional-instinktiven Aufzeichnungen der Erfahrung resultieren, die sich in die Neurotransmitter-Muster des Limbischen Systems eingeprägen. Dies kann zu permanenten Defiziten darin führen, die Emotionen von anderen zu lesen.“ 5
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Anders gesagt kann man
die Erinnerung an ein Trauma anhand der Veränderungen in den
Neurotransmitter-Systemen des Gehirns beobachten. Die Einprägung - oder das frühe
Trauma - verändert die Neurotransmitter, die Boten, die den Fluss wichtiger
Informationen - wie Schmerz - zu kortikalen Orten der obersten Ebene, die uns
unserer Gefühle bewusst machen, entweder erleichtern oder behindern. Ein weiteres Ergebnis ist ein
unterregulierter Kortex und später, als Resultat, manische Phasen. Beides,
Depression und manische Phasen beinhalten ein hohes Energieniveau. Letztlich
erfordert die Depression Anstrengung, um das Verdrängungssystem intakt zu
halten. Manische Aktivität bedeutet, dass die Schleusen löchrig sind. Es ist
nicht so, als seien Manie und Depression zwei unterschiedliche Krankheiten. Oft
befassen sich beide mit derselben Einprägung. Nur herrscht im Falle der
Depression effektive Verdrängung. In manischen Phasen ist das Verdrängungssystem
defekt oder „leck“ und treibt den Menschen zu frenetischer Aktivität. Sie
wechseln sich oft ab in ein und derselben Person. Wenn die Verdrängung einer
explodierenden Kraft Platz macht, dann schreibt das manische Individuum Bände
über rein gar nichts, kauft ein ohne Grenzen und redet wie ein Wasserfall.
Diese explodierende Kraft kann Anoxie bei der Geburt sein. Wir können
diesen Zuständen alle möglichen phantasievollen Diagnosen verpassen, wie
bipolares Leiden, aber es ist dennoch Schmerz und Trauma. Viel besser ist es,
nachzuforschen, wie wirksam das Schleusensystem ist. Kriminelle, wie ich später
erörtere, haben undichte Schleusen, was für ihre Impulsivität und ihr
Ausagieren verantwortlich ist. Ihre kriminellen Ausschweifungen können manchmal
als von Manie induziert betrachtet werden. Aber Manie ist keine Krankheit; es
ist eine Art, wie wir auf zentrale Probleme reagieren. Wir haben zu viele
manische Individuen behandelt, als dass wir anders denken könnten. Wenn die Last ihres Schmerzes weniger wird, nimmt auch die Impulsivität und die manische Aktivität ab. Die Effektivität der Schleusen, wie ich im Kapitel über die Schleusung (Kapitel 14) erörtern werde, hängt weitgehend vom Geburtsprozess ab. Eine Kämpfen-und-Scheitern-Geburt, bei der massive Anästhesie (Betäubungsmittel) das System des Neugeborenen still legt, wird mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Depression führen („Ich gebe auf. Ich kann nicht mehr.“). Der Manische mag eine Geburt gehabt haben, bei der massiver Kampf nötig war um herauszukommen, und er war erfolgreich. Aktivität wird als Überlebensmechanismus eingraviert. Das ursprüngliche Trauma setzt diese Aktivität in Bewegung. Er läuft vor der Einprägung davon, und er läuft wegen der Einprägung. Diese Schleusen sind vielleicht bei der Geburt errichtet worden, als ein Trauma die Entwicklung der sich neu formierenden präfrontalen Gehirnzellen störte, oder im Mutterleib. Das kann geschehen, wenn eine Mutter Missbrauch mit Valium oder mit anderen Schmerztötern betrieben hat. Wie ich aufgezeigt habe, „beschließt“ die fetale Physiologie, Seite 170 |
wenn sie in ihr System eingeführte Schmerztöter entdeckt, keine
eigenen zu produzieren. Das Resultat kann die permanent mangelhafte Fähigkeit
sein, Schmerz zu stillen. Wenn die Stresshormon-Reaktion erhöht ist, kann sie andere Hormonsysteme permanent ändern. Männer, die über chronische Angst klagen, haben eine bis zu 600 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, den plötzlichen Herztod zu erleiden als diejenigen ohne Angst-Vorgeschichte. Wer deprimiert ist, stirbt mit dreifach erhöhter Wahrscheinlichkeit, wenn er oder sie eine Herzattacke erleidet. 6 Wir werden gleich sehen, wie früh diese Reaktionen beginnen. Hier sei nur gesagt, dass dieselbe Einprägung, die Angst erzeugt, später auch Herzstillstand verursachen kann. Herz- und Eingeweide-Reaktionen (Schmetterlinge im Bauch) werden als Gesamtheit kodiert. Es sind keine separaten Krankheiten sondern Teile desselben Syndroms. Es ist schwer vorstellbar, ängstlich zu sein, ohne dass das Herz dabei über Gebühr arbeiten müsste. Die
Forschung hat angezeigt, wie diese Verschlüsselung vonstatten gehen kann. Eine
Studie von B.J. Young und anderen, die untersuchte, wie Erinnerung verschlüsselt
wird, inspizierte einzelne Neuronen in der Parahippocampus-Region von
Laborratten, nachdem die Ratten bestimmten
Gerüchen ausgesetzt worden waren. In der Gegenwart eines jeden einzelnen
Geruchs feuerten alle zugeordneten Neuronen gleichzeitig, und die Erinnerung
wurde verschlüsselt und in der Parahippocampus-Region aufbewahrt. Die Forscher
hypothetisierten, dass dieses Areal Erinnerung vielleicht auf eine andere Weise
kodiert, als es im Hippocampus selbst der Fall ist.7 Es
scheint, dass jedes Neuron ein Stück des Kodes in sich trägt. Im Alter von
dreißig Jahren von einem Lebensgefährten verlassen zu werden, kann ein altes
Gefühl der Verlassenheit im Alter von sechs Monaten auslösen. Die Tatsache,
verlassen worden zu sein, kann die alte Furcht und ein vages Unwohlsein auslösen.
Es kann eine Depression folgen, deren Wurzeln ein Geheimnis sind. Es gibt neue
Beweise für die Bedeutung des Cerebellums (Kleinhirn) bei der kodierten
Erinnerung. Vor vielen Jahrzehnten versuchte ein Neurophysiologe namens Karl
Lashley, das „Engramm“ oder die Erinnerungsspur im Gehirn zu finden. Er war
nicht allzu erfolgreich in seinen Bemühungen. Aber nun scheint es, als liege
ein wichtiger Teil dieser Erinnerungsspur vielleicht im rückwärtigen unteren
Bereich des Gehirns, etwas, das aussieht wie ein Miniaturgehirn, das Cerebellum. Wenn ich betone, dass unsere Patienten sich im „Dort-und-Damals“ befinden und nicht im „Hier-und-Jetzt“, so meine ich, dass Vergangenheit und Gegenwart nicht zu unterscheiden sind in Hinsicht darauf, wie das Gehirn reagiert. Manchmal erzeugt die Reizung des Kleinhirns die gleichen Muster, als würde nun ein altes traumatisches Ereignis stattfinden. Eindeutig wird die Erinnerung zum Teil im Kleinhirn aufbewahrt. Paul MacLean vom National Institute of Mental Health schlug vor Seite 171 |
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(in einer privaten Kommunikation), wir sollten diese Struktur als
Schlüssel ins Auge fassen. In jedem Fall ist Erinnerung die beste Waffe gegen
eingeprägten Schmerz. Die Erinnerung wiederzuerleben, trennt die Vergangenheit
von der Gegenwart, so dass man seine Geschichte nicht mehr im täglichen Leben
ausagiert. Ist das
Erwachsenenalter einmal erreicht, kann der Prozess der Einprägung nicht vollständig
umgekehrt werden, weil zu viele Jahre spezifischer abweichender Verhaltensweisen
vergangen sind, welche nun im System eingebettet sind. Es ist, als hätten Sie
anfangs im Tennis die falschen Schläge gelernt und würden nun unter
Schwierigkeiten versuchen, sie zu korrigieren. Der Kode durchforscht weiterhin
dieselbe Anhäufung von Zellgruppen, um dasselbe abweichende Verhalten
(unkorrekte Schläge) zu produzieren, egal, wie sonst der Handlungswille sein
mag. Die Einprägung schmiedet
bestimmte Nervenbahnen, die von Dauer sind. Wie Schore betont: „Es hat sich
herausgestellt, dass die Einprägung von Erfahrungen elektrophysiologische
Langzeitwirkungen auf die spontane Nervenaktivität verschiedener Regionen des
Gehirns hat.“ 8 Wie die biologischen Sollwerte wieder in Ordnung gebracht werden
Die Einprägung kann auch neue
Langzeit-Sollwerte grundlegender biologischer Prozesse einrichten: zum Beispiel
die Menge an abgesondertem Endorphin und Serotonin und die Höhe der
Stoffwechselrate. Erhöhte Stresshormonwerte sind zum Beispiel Teil des Kodes,
der noch immer auf die Erinnerung reagiert als sei sie
gegenwärtig. Die
Erinnerung hält diese Sollwerte fixiert, und die biologischen Prozesse
versiegeln die Erinnerung. Anders ausgedrückt sind diese Veränderungen die Art
und Weise, wie Erinnerung fixiert wird. Wenn wir es schaffen, eingeprägte
Erinnerung zu ändern, dann können wir den Energiefluss aufhalten, der gewisse
Sollwerte verschiebt. Und wir schaffen es. In meiner Praxis erfahren unsere
Hochdruck-Patienten ein permanentes Absinken ihrer Blutdruckwerte um
durchschnittlich 24 Skalenpunkte nach etwa 8 Monaten Therapie. Die
durchschnittliche Körpertemperatur meiner Patienten beträgt 97,5° F
((36,4°C)). Das ist
keine unbedeutende Differenz, zumal die Forschung darauf hinweist, dass bei
einem Absinken der Körpertemperatur pro ein Grad mit einer Lebensverlängerung
von 10 Jahren zu rechnen ist. Wieso
geschieht das? Die Erinnerung wird letztlich mit den frontalen Zentren verknüpft
und integriert. Warum ging die Körpertemperatur nach oben? Erinnerung. Der Körper
arbeitet härter, um zu verdrängen und erzeugt Hitze. Er reagiert ständig auf
innere Gefahr. Wenn die Gefahr gefühlt wird, muss das System nicht länger
darauf reagieren. Daher ein systematisches Absinken bei vielen vitalen Körperfunktionen.
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Wenn die Gefühle
im Inneren bleiben, wird dies schließlich seinen Tribut von der Gesundheit
eines Menschen fordern. Verdrängung ist eine konstante Kraft, die das System
zermürbt, und das führt möglicherweise zu einer verkürzten Lebensspanne.
Nach meinen Beobachtungen kann tiefe Verdrängung frühen katastrophalen
Schmerzes zu katastrophaler Krankheit führen, nicht zuletzt zu Krebs. Es gibt
ein paar vorläufige Beweise, dass ein Trauma im Mutterleib zu einigen Arten von
Krebs bei den Nachkommen führen kann. Mütter, die übermäßig trinken, haben
ein größeres Risiko, in ihren Nachkommen Krebs zu erzeugen. Je früher die
Einprägung, umso wahrscheinlicher das verheerende Resultat Jahre später. Ein Artikel in der New York Times hat Anteil am
ständigen Zuwachs neuer Informationen, die spätere Krankheit mit dem Trauma im
Mutterleib in Verbindung bringen. „Die Beweise häufen sich, obwohl die
Forschung noch im Anfangsstadium ist, dass die Perioden vor und gleich nach der
Geburt, die Kindheit und frühes Jugendalter viel bedeutender für das
Brustkrebsrisiko sind als man vermutet hatte“, stellte Dr. Karin B. Michels,
Epidemiologin von der Harvard Medical School fest.9 Darüber hinaus behauptet der Artikel,
dass ein Baby, das bald nach der Geburt schädlichen Substanzen ausgesetzt ist,
gefährdet ist, einer späteren Krankheit zum Opfer zu fallen. Nachdem ich gerade erklärt habe, warum Gefühle
Ausdruck brauchen, fällt mir ein Artikel in der London Sunday Times auf.10
Darin werden Statistiken zitiert, um zu erklären, warum es am besten ist, Gefühle
nicht auszudrücken. (Das scheint alles so typisch Englisch). Sie
behaupten, dass die Forschung zeige, dass „Ihrer schlechten Laune Luft zu
machen,“ Sie noch angespannter zurücklässt. Natürlich, wenn Sie nur
abreagieren oder einfach die Energie der Gefühle ablassen. Das ist es nicht,
was Gefühle ausdrücken bedeutet. Das ist Freisetzung ihrer Energie. Die
Autoren stellen fest, dass es besser ist, Zorn zu kontrollieren, indem man
stattdessen etwas Ruhiges tut. Die Los Angeles Times betete in einem
Hauptartikel dieselbe Meinung nach. Der Los Angeles Times – Artikel
betrachtet Zorn als „selbstzerstörerische Gewohnheit.“ 11
Sie sehen es als süchtig machend an, wie es jede Droge ist. Sie berichteten von
einer Blutdruckstudie, in der der Ausdruck von Wut einen Anstieg des Blutdrucks
verursachte. Dasselbe fanden wir in unserer eigenen Forschung, wenn Wut ein überlegter,
bewusster Akt ist ohne Zusammenhang und ohne Hinabsteigen in ein primitiveres
Gehirn. Wenn unsere Patienten auf die Wände unserer gepolsterten Räume im
Zusammenhang einschlugen, wiesen sie einheitlich eine Senkung des Blutdrucks und
der Herzfrequenz auf. Wir wissen aufgrund des sporadischen Steigens und Fallens
der wichtigsten vitalen Körperfunktionen, wann es eine Abreaktion ist. Natürlich
ist es kein Zufall, dass die Serotonin-Spiegel in aggressiven Persönlichkeiten
niedriger sind.12 (Weil
sie weniger wirkungsvoll verdrängen). Seite 173 |
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Damienne: Füll mich voll
Diese
Aussage „Füll mich voll“ war eine meiner Lebensgeschichten; für mich ist
die doppelte Bedeutung ziemlich tiefgreifend, sowohl was meinen Alkoholismus
anbelangt als auch die Entbehrung, nie zu bekommen, was ich brauchte. Im Alter von fünfzehn wurde
ich offiziell als Alkoholikerin gebrandmarkt, obwohl ich schon mit dreizehn von
einer katholischen Mädchenschule suspendiert worden war, weil ich in der Klasse
ständig betrunken war und die Schule schwänzte, um in Bars rumzuhängen.
Einmal hatte ich mir eine ganze Woche schulfrei genommen, als meine Mutter nicht
in der Stadt war, um mit den Jungs herumzuhängen, die nebenan wohnten. Wir
tranken die ganze Woche. Das folgende Jahr (im Alter von vierzehn) forderte man
mich auf zu gehen, nachdem man mich auf einem Schulball beim Trinken und Rauchen
erwischt hatte. In meinem fünfzehnten Lebensjahr schickte man mich auf ein
Adventisten-Internat (laut meiner Mutter war ich unkontrollierbar). Nachts
schlich ich mich davon, um mit den älteren Jungs von nebenan zu trinken, und
besuchte Partys, nachdem ich meine Mutter über meinen Aufenthalt angelogen
hatte. Ich sagte gewöhnlich, ich gehe ins Kino, wenn ich tatsächlich mit
meinen Freunden in Nachtklubs ging. Meine Mutter war der Meinung, ich bräuchte
„Disziplin.“ Ihre „Ich-treib’s-dir aus“-Methoden hatten nicht
funktioniert, ihre ständigen Drohungen, mich an meinen „Scheiß-Vater“
abzuschieben, der mich schon zurechtprügeln würde, hatten nicht funktioniert,
und ihre Versuche, mich wochenlang festzunageln, waren völlig wirkungslos. In diesem Jahr machte ich mir
keine Freunde, ich war eines von jenen schlechten Kids, eine
„Unruhestifterin.“ Ich verfluchte alles (einschließlich der Kirche). Ich
hielt Alkoholflaschen und Zigarettenpäckchen in meiner Matratze und an anderen
Orten versteckt, damit die Heimaufsichten sie während der wöchentlichen
Zimmerinspektionen nicht finden würden. Ich bekam einen Teilzeitjob bei den
Pferdeställen unten an der Straße, aber das bedeutete, dass ich am Samstag
morgens arbeiten musste. Die Schule zwang mich nach drei Wochen zu kündigen,
weil ich den Sabbat (Samstag) heilig zu halten hatte. Ich war am Boden zerstört.
Es war das Einzige, das mich gut fühlen ließ. Zum Ende des ersten Semesters
wurde ich suspendiert, weil ich auf der Heimfahrt in die Ferien im Zug getrunken
und geraucht hatte. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter in der Küche
stand und mich anbrüllte, ich sei nichts als ein „nutzloses besoffenes
kleines Miststück“, während sie mich gleichzeitig ohrfeigte. Das war nichts
Neues, mit diesen Worten war ich aufgewachsen, und dass sie mich verabscheute,
war nur zu offensichtlich, so weit ich auch nur zurückdenken kann. Als ich zum zweiten Semester in der Schule zurück war, wurde ich von der Polizei erwischt, als ich Graffitis über die Schule auf die Wände öffentlicher Toiletten auf Seite 174 |
dem Stadtplatz sprühte.
Ich hatte auch begonnen, mir das Motorrad von der Schulfarm zu nehmen und
Freitag und Samstag nachts in die Stadt auszubüchsen, um in Pubs und Klubs zu
gehen. Die anderen Kids hielten mein Verhalten für obszön. Was die Sache
verschlimmerte: Alles, worüber ich redete, war, wie gemein und grausam meine
Mutter war. Einmal ging ich zur Heimleiterin, nachdem mir meine Mutter in meinem
Zimmer eine Tracht Prügel verpasst hatte (ein Überraschungsbesuch), nur um
gesagt zu bekommen, dass ich es wirklich verdient habe. Zu meinem Unglück
passte ich einfach nicht in die Schablone eines „guten christlichen Mädchens“
Ich hatte mich wirklich schwer bemüht-manchmal- aber es war mir nie gelungen. In einer fünftägigen
Semesterpause fuhr ich nach Hause. Zuhause sagte ich zu, dem Ehemann der besten
Freundin meiner Mutter bei der Reinigung seiner Yacht zu helfen. In jener Nacht
waren wir beide wirklich betrunken, und er vergewaltigte mich. Ich schrieb einen
Brief an eines der Mädchen in der Schule, in dem ich ihr meine Angst mitteilte,
dass ich nun schwanger sein könnte. Ich schickte den Brief niemals los, und ich
kehrte zur Schule zurück, ohne irgendjemanden was gesagt zu haben; ich schämte
mich zu sehr. Ein Monat später bat mich meine Mutter an einem Wochenende nach
Hause. Ich war so aufgeregt, weil meine Mutter mich sehen wollte. Meine Mutter
nahm mich zum Essen mit in eines ihrer Lieblingscafés, aber als wir an den
Tisch gingen, saßen die Freundin meiner Mutter und mein Stiefvater bereits da.
Sie hatten mir eine Falle gestellt; meine Mutter hatte den Brief gefunden, den
ich, wie ich dachte, in meiner Schublade vergraben hatte. Sie fragten mich aus
und machten mich dann für das verantwortlich, was dieser vierzig Jahre alte
Mann mir angetan hatte: Ich hätte getrunken und ihn dann verführt; ich war fünfzehn.
Ich ging zur Schule zurück und wurde dann am Ende des zweiten Semesters
hinausgeworfen, nur dieses Mal wegen versuchten Selbstmords. Ich konnte die
Einsamkeit und Kränkung, die ich verspürte, nicht länger aushalten. Niemand
mochte mich, niemand verstand mich, niemand wollte zuhören. Und wenn, dann
glaubten sie mir nicht. Ich wollte nicht sterben, ich wollte jemanden, der sich
sorgte und mir helfen würde. Niemand tat das. Der Doktor konnte es nicht
glauben, dass meine Mutter nicht ins Krankenhaus kommen wollte und ihm sagte,
ich suche nur nach Aufmerksamkeit. Aus der Klinik kehrte ich auf
das Adventisten-Internat zurück, nur um vom Direktor gesagt zu bekommen, dass
die Schule mein störerisches Verhalten nicht länger hinnehmen werde und dass
ich ein „nach Aufmerksamkeit trachtendes kleines Miststück“ sei. Auch er
wusste nicht, was meine Mutter mit mir machen sollte. Sein Rat war, „sie in
ein Mädchenheim zu stecken.“ Ich ging zu meiner Mutter nach
Hause, die meinen Anblick hasste. Sie hatte einen neuen Mann in ihrem Leben,
einen von vielen seit der Scheidung meiner Eltern vor drei Jahren. Meine
Trunksucht verschlimmerte sich ständig. Nun war ich nicht mehr in der Schule,
sondern die ganze Zeit bei meiner Mutter zu Hause, und es war nicht auszuhalten. Seite 175 |
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Mit sechzehn warf mich meine
Mutter aus dem Haus, weil ich trank und rauchte und weil sie auch die Pille in
meiner Schublade fand. Nach der Vergewaltigung hatte ich die Antibabypille
genommen und war sexuell sehr aktiv geworden. Eine Freundin von mir nahm mich
auf, und ich blieb bei ihr und ihrem alkoholkranken Vater, während ich die
lokale High School besuchte. Zu dieser Zeit kam mein Vater und fragte, ob ich
mit ihm leben und weiter versuchen wolle, auf der Schule zu bleiben. Ich zog bei meinem Vater ein
und begann, auf das lokale College zu gehen (meine vierte High School), aber
jeden Tag nahm ich eine Thermoskanne mit zur Schule, voll mit Gin und Tonic,
Southern Comfort und Limonade, oder was ich gerade in die Finger kriegen konnte.
Zur Mittagszeit war ich gewöhnlich ziemlich betrunken. Ich lebte jetzt bei
meinem Vater, und mein Leben war ein Alptraum. (Er war schwerer Alkoholiker, wie
Mami sagte.) Jedes Wochenende ging ich zum lokalen Rugbyverein und sah den
Spielen zu. Hinterher betrank ich mich und hatte Sex mit jedem Spieler, der
gerade Lust hatte. Die Aufmerksamkeit fühlte sich so gut an.
Nachdem ich wegen Trinkens und
Mitnahme von Alkohol schon wieder von einer Schule geflogen war und nachdem mein
Vater von meiner extremen Promiskuität gehört hatte, bekam ich eine schwere
Tracht Prügel. Der Doktor dachte, mein Schädel sei gebrochen. Gott sei Dank
war das nicht der Fall. Ich lief von Zuhause weg und beschloss zu versuchen,
einen Job zu bekommen und auf eigenen Füßen zu stehen. Jetzt war ich völlig
auf mich alleine gestellt und niemandem rechenschaftspflichtig. Ich war alleine.
Ich bekam und verlor in den nächsten acht Monaten drei verschiedene Jobs,
entweder weil ich verkatert war, zu spät kam oder erst gar nicht antrat. Woran ich Sie jetzt teilhaben lasse, ist für mich das
Verheerendste im Hinblick auf den Preis, den ich für meine Alkoholsucht zahlte. Mit siebzehn wurde ich
schwanger, was mir zu der Zeit sehr wenig bedeutete. Der Vater und ich, wir
trafen uns jeden Tag nach der Arbeit in unserer lokalen Bar und tranken bis zur
Sperrstunde. Gewöhnlich wachte ich am Morgen auf und trank ein Bier zum Frühstück,
um mich besser zu fühlen (Katerfrühstück, sozusagen), und ging dann zur
Mittagszeit in die Bar auf einen Drink. Ich rauchte auch fünfzig bis sechzig
Zigaretten am Tag und Marihuana, wenn ich es bekommen konnte. Der Vater warf
mich raus, als ich im fünften Monat schwanger war, und ich machte mit dem
Trinken weiter bis zwei Wochen vor der Geburt. Ich war achtzehn und hatte einen
neugeborenen Sohn, um den ich mich jetzt kümmern sollte, obgleich meine Mutter
mehrere „reiche“ Leute in Aussicht hatte, die kommen wollten, um mein Baby
zu adoptieren, sogar ein Paar aus Australien. Ich weigerte mich, ihn aufzugeben. Seite 176 |
Zu der Zeit, als mein Sohn
drei Monate alt war, trank ich wieder schwer; und das in solchem Maße, dass ich
eines Nachts auf eine Party ging und mich so betrank, dass ich ihn bei meiner Rückkehr
schreien hörte, und so nahm ich ihn auf, um ihn zu füttern (ich gab ihm noch
die Brust); ich ging quer durchs Wohnzimmer, und auf halber Strecke ließ ich
ihn aus Brusthöhe fallen. Ich stieg über ihn, setzte mich in einen Sessel und
ließ ihn auf dem Boden schreien. Ich hatte total vergessen, was ich gerade
getan hatte. Gott sei Dank war er körperlich unverletzt. Nachdem ich unmittelbar vor
der Geburt in das Haus meiner Mutter zurückgekehrt war, zog ich wieder aus, als
mein Sohn sieben Monate alt war. Meine Mutter hatte unserem Hausarzt erzählt,
welch „inakzeptable Person“ ich doch sei, während ich ihn wegen meiner
Depression aufsuchte und wegen meiner Trinkerei; ich erzählte ihm von der
Misshandlung, die mir zu Hause widerfuhr. Ich durfte nicht ausgehen. Zuhause
kochte und putzte ich und erledigte die ganze Wäsche für die Familie, während
ich gleichzeitig versuchte, mich um mein Baby zu kümmern. Ich zahlte 100 Dollar
die Woche für Kost und Logis, damit ich überhaupt zuhause bleiben durfte. Ich
glaube, mir erging es schlechter, als es Cinderella jemals ergangen war. Die Heilsarmee nahm mich in
ein Haus für misshandelte Frauen auf. Dort ließ ich meinen Sohn gewöhnlich
bei den anderen Müttern zurück und ging zum Trinken. Als er zwölf Monate alt
war, war ich erneut schwanger. Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich um das Kind
nicht kümmern, das ich bereits hatte und eigentlich nicht wollte. Was zur Hölle
sollte ich mit einem zweiten? Mit
neunzehn beschloss ich, eine Abtreibung zu machen. Sobald ich meine Entscheidung
getroffen und den Termin vereinbart hatte, machte es mir nichts mehr aus. Auch
als der Arzt nach dem Eingriff zu mir kam und mir ziemlich wütend erklärte,
dass ich über der Zwölf-Wochen-Frist gewesen sei und dass er „es“ in Stücken
herausziehen musste, spürte ich nichts. In jener Nacht ging ich geradewegs in
den Klub und betrank mich. Als mein Sohn älter wurde,
nahm mein selbstzerstörerisches Verhalten immer größere Ausmaße an. Nachts
ließ ich ihn alleine zu Hause und ging zum Trinken. Am Morgen wachte ich
entweder nicht auf oder kam nicht aus dem Bett, um mich um ihn zu kümmern.
Viele Stunden lang lag er in nassen und schmutzigen Windeln. Wenn er sie selbst
herunter bekam, krabbelte er im Schmutz herum. Zusammen mit
meiner Trunksucht litt ich an unkontrollierbarer Wut und Tobsuchtsanfällen. Zu
der Zeit, als mein Sohn vier Jahre alt war, hatte ich ihn bereits ernsthaft körperlich
und seelisch misshandelt. Eines Tages, nachdem ich die ganze Nacht getrunken
hatte, konnte ich das unaufhörliche Flehen meines Sohnes nicht länger
ertragen. Ich schlug ihn mit einem Baseballschläger aus Plastik. Schließlich
griff ich zum Telefon und bat um Hilfe. Seite 177 |
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In den nächsten Jahren hatte
ich „intensive Psychotherapie“. Einmal die Woche sah ich einen
Psychotherapeuten, der mir beizubringen versuchte, meine diversen Erinnerungen
in einem imaginären Bücherregal abzulegen, weil sie kein Ich bemühte mich wirklich
sehr, mit dem Trinken aufzuhören. Manchmal schaffte ich es mehrere Monate lang.
Ich dachte es gehe mir besser. Ich nahm immer noch ein paar Gläser mehrere Nächte
pro Woche zu mir, aber ich war nicht mehr obszön betrunken. Das Problem war,
dass ich nach Monaten der Abstinenz (oder was es für meine Verhältnisse war)
heftiger als jemals zuvor zur Flasche griff. Mein Sohn musste in Pflegeobhut, während
ich vierundzwanzig Stunden am Tag trank, sieben Tage die Woche und manchmal für
die Dauer von bis zu sechs Monaten. Die Therapie verschlimmerte meinen Zustand.
Nachdem ich drei Jahren versucht hatte, „meine Vergangenheit hinter mich zu
bringen“, und immer wieder gescheitert war, explodierte ich buchstäblich. Ich
schlug meinen Sohn so übel, dass ich eine Ambulanz rufen musste. Ich dachte,
ich hätte ihn getötet. Als die Polizei eintraf, spielte er mit den Sanitätern,
grün und blau geschlagen und arg mitgenommen, aber nichts gebrochen. Ich tobte
immer noch, aber nun ließ ich es an den Leuten aus, die zu helfen versuchten.
Ich hatte keine Ahnung, was mit mir geschah. Mein Sohn kehrte in Pflegeobhut zurück,
und ich kehrte zur Flasche zurück. Alle meine
Beziehungen waren voller Falschheit und scheiterten am Ende. Ich kann mich an
die ganzen Sex-Abenteuer, auf die ich mich eingelassen hatte, nicht mehr
erinnern. Ich suchte einfach die ganze Zeit nach Aufmerksamkeit. Tatsächlich brüstete
ich mich damit, dass ich sogar die erfahrensten Säufer unter den Tisch trinken
könne, wodurch ich eine Menge Aufmerksamkeit erhielt. Am vierzehnten Mai 1996 traf
ich den Mann, mit dem ich nun verheiratet bin. Er machte mich mit der Primärtherapie
vertraut. Ich las den „Urschrei“ in zwei Tagen vom Anfang bis zum Schluss
und überflog in dieser Woche noch zwei weitere Bücher von Dr. Janov. Ich
wollte diese Primärtherapie machen. Seit beinahe
zwei Jahren bin ich nun in Primärtherapie, und bis zum heutigen Tag habe ich
seit zehn Monaten überhaupt nichts getrunken, und auch damals war’s nur eine
Nacht, und vor der hatte ich sechs Monate nichts getrunken. Seite 178 |
Zwei Monate vor Beginn der
Therapie begann ich Antidepressiva zu nehmen, weil ich es nicht aushalten
konnte, machte aber mit dem Trinken weiter. Ich spürte keine Wirkung von den
Medikamenten. Dann landete ich in einer Klinik mit einem Zustand, der
Pseudo-Tumor Cerebri genannt wird (eine Überproduktion von Rückenmarksflüssigkeit
erzeugt immensen Druck auf das Gehirn). Nicht nur, dass ich emotional nicht zu
Rande kam; mein Körper reagierte nun auf ein ganzes Leben aufgetürmten
Schmerzes. Alles war zu viel. Der Neurologe erklärte mir,
ich könne mit der Therapie frühesten in drei bis vier Monaten beginnen, wenn
nicht erst in sechs. Ich war am Boden zerstört. Ich war eine halbe Welt von
meiner Heimat entfernt, suchte verzweifelt nach Hilfe, und die sagen mir, dass
ich sie nicht bekommen kann. Ich war auf Medikation wegen meiner Krankheit und
auch wegen meines emotionalen Zustandes, ich war mit der strikten Verordnung von
Lumbalpunktionen konfrontiert und fühlte mich hoffnungslos und hilflos bis zum
Äußersten. Ich musste meinen Sohn per Flugzeug nach Hause schicken, weil ich
weder körperlich noch anderweitig fähig war, mich um ihn zu kümmern, und mein
Mann begann gerade seine dreiwöchige Intensivphase im Institut. Während dieser drei Wochen
meines Mannes musste er so viel Zeit wie möglich in Isolation verbringen, was
bedeutete, dass auch ich isoliert war. In dieser Zeit war mir, als würde ich
gleich verrückt werden. Jeden Tag rief ich im Institut an, und sie redeten mit
mir, manchmal stundenlang, so dass ich mich nicht so alleine fühlte. Sie hatten
meine Medikation wieder geändert und die Dosis erhöht, aber wenn ich nachts
allein im Motelzimmer saß, trank ich eine dreiviertel Flasche Gin zur
Erleichterung. Gott sei Dank konnte ich im folgenden Monat mit der Therapie
beginnen. In den ersten zwölf Monaten
der Therapie war ich ernsthaft überlastet und funktionierte nicht auf der Basis
tagtäglicher Sitzungen. Ich hatte kein Schleusensystem und keine
Abwehrmechanismen, um die Flut von Schmerz, die mich überwältigte, zurückzuhalten.
Anfangs benötigte ich viel Unterstützung durch Medikamente, weil ich die Gefühle
nicht abstellen konnte. Auch machte man mir klar, dass man mich in eine Anstalt
einweisen müsse, wenn ich mit dem Trinken weitermachen würde. Durch die
Mischung von Drogen und Alkohol bestand die Möglichkeit eines Gehirnschadens.
Einmal war ich auf einer Kombination von Haliperidol, Valium, Temapezam
(Schlafmittel) und Clonidin, und manchmal musste ich noch zusätzlich trinken.
(Laut meinem Therapeuten bräuchte es weniger Beruhigungsmittel, um einen
Elefanten ins Land der Träume zu schicken). Nur durch die ständige Therapie
und riesige Unterstützung seitens des Primal Centers war ich schließlich in
der Lage, zu begreifen und mein Leben zu ändern. Die Einsichten kamen zustande durch das Wiedererleben vieler unterschiedlicher Erinnerungen, die sich um meine Mutter drehen, und wie sie mich in meiner ganzen
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Kindheit behandelte, sowie um
die Ereignisse zur Zeit meiner
Geburt. Die Geburt war der Anfang meines höllischen Lebens. Meine Mutter
hatte einen Kaiserschnitt nach sechsunddreißigstündigen Wehen, während derer
ich von der Nabelschnur stranguliert wurde und mich in Steißposition befand.
Ich wurde sofort von meiner Mutter entfernt und in die Intensivstation verlegt,
weil ich Atmungsprobleme hatte, und meine Mutter hatte eine heftige allergische
Reaktion auf das Betäubungsmittel während des Kaiserschnitts; sie wurde zur
Genesung ebenfalls auf die Intensivstation gebracht.
Ich erinnere mich, wie ich eines
Tages zu einer weiteren Sitzung im Primal Center ankam. Ich fühlte mich nervös,
gehetzt, reizbar und einfach unbehaglich. Mein Therapeut maß die Werte meiner
Vitalfunktionen, die wirklich hoch waren: Blutdruck 160/110, Temperatur 99,3° F
((37,4°C)). Im Therapieraum begann ich darüber zu reden,
wie heiß mir war und wie schrecklich mir zumute war angesichts meiner Angst,
dass ich es niemals schaffen würde in L.A. zu leben. Ich konnte nicht arbeiten
oder angemessen funktionieren, weil ich immer entweder am Heulen oder Toben war.
Auch musste ich versuchen, mich um meinen Sohn zu kümmern, wenn doch mein
einziger Wunsch darin bestand, ihn an die Wand zu schmeißen. Der Therapeut
fragte nach meinem Sohn. Ich war so wütend, weil ich mich um ihn kümmern
musste und kaum in der Lage war, mich um mich selbst zu kümmern. Niemand hatte
sich je um mich gekümmert. Warum musste ich mich um ihn kümmern? Es war nicht
fair und machte mich stocksauer. Der Therapeut fragte mich, was ich mit ihm tun
würde, wenn er hier wäre. Ich fing an, mit den Fäusten auf die Wand
einzuschlagen, brüllte und heulte gleichzeitig. „Ich hasse dich, ich hasse
dich, ich hasse dich.“ Und dann begann ich unkontrolliert zu weinen, und ich verspürte körperlichen Schmerz in
meinem Magen und hatte gleichzeitig das Gefühl, als würde mich etwas
peitschen. Ich beginne mich an die
Wände zu krallen und versuche, an ihnen hochzuklettern; schreiend vor Entsetzen
versuche ich, von meiner Mutter wegzukommen. Ich bin zurück im Damals und höre,
wie sie mich anbrüllt: „Du verfluchtes kleines Miststück.“ Ich kann fühlen,
wie das alkaline Rohrleitungsstück die Rückseite meiner Schenkel verbrennt und
mir die Haut abzieht, als sie wieder und wieder auf mich einschlägt. Ich
schreie und schreie und will durch die Wand, und ganz plötzlich kann ich nicht
mehr atmen und beginne, in Panik zu geraten. Der Therapeut ermutigt mich
„dabei zu bleiben“. Ich fange an, ein Stück meiner Geburt zu fühlen. Ich
kann nicht atmen, und mein Körper krümmt sich nach hinten. Mein Nacken dehnt
sich weiter, als würde er nach hinten gezogen. Das bringt mich um! Ich breche
aus und gehe geradewegs in die Szene zurück, in der ich von meiner Mutter
terrorisiert werde. Der Therapeut berührt mich an der Schulter und sagt, dass
es nun gut ist. Um mir Gewissheit zu geben, dass ich nicht noch in der
Vergangenheit bin, sagt er zu mir: “Sie kann dich jetzt nicht verletzen.“
Ich setze mich auf und beginne, ihm von der Erinnerung zu erzählen, die ich
hatte. Als ich das mache, erkenne ich allmählich, wie sich das Gefühl durch
mein ganzes Leben knüpft. Seite 180 |
Die Verknüpfungen
(Einsichten) ergeben sich als Reaktion auf den gesamten therapeutischen Prozess.
Es beginnt damit, dass ich in der Gegenwart emotional so wütend auf meinen Sohn
bin, weil er bedürftig ist und von mir fordert, dass ich für ihn sorge und
mich um ihn kümmere. Das lässt sich auch an meinem Körper anhand solcher erhöhter
körperlicher Messwerte sehen. Meine erhöhten Werte sind ein Hinweis auf den
Kampf, der sich in meinem System zwischen dem Fühlen abspielt, das nach
Ausdruck verlangt, und der Abwehr gegen diesen Ausdruck. Der erfahrene Therapeut
weiß, dass unter der Wut, die ich in der Gegenwart äußere, irgendwo in der
Vergangenheit eine bestimmte Erinnerung an ein unerfülltes Bedürfnis begraben
liegt, welche jetzt mein Überreagieren verursacht. Indem er mich ermutigt und,
was äußerst wichtig ist, mir erlaubt, diese Überreaktion voll auszudrücken,
kann ich zu dem Zeitpunkt zurückreisen, als das Bedürfnis nicht erfüllt
wurde. Während meiner Sitzung erkannte ich, dass ich Hilfe brauchte, um meine
Mutter davon abzuhalten, mich nochmals zu verletzen; aber ich war völlig
alleine und musste ihre ständigen Misshandlungen überleben. Ich kämpfte um
mein Leben, gerade als ich doch Hilfe und Schutz brauchte und nicht bekam. Wenn ich mich auf diese
Zeitreise zurück begebe, geht das Gefühl sogar tiefer bis zu meiner Geburt.
Wieder bin ich in Schwierigkeiten. Ich kann nicht atmen, und die Empfindung,
dass mich etwas stranguliert, ist entsetzlich. Ich benötigte Hilfe, aber ich
war völlig alleine und fühlte mich, als würde ich sterben. Der Schmerz von
all dem ist zuviel, ich kämpfe um mein Leben. Das Endergebnis ist die
Erkenntnis, dass das Bedürfnis meines Sohnes nach Hilfe und Fürsorge das
Spiegelbild von dem ist, was ich brauchte und niemals bekam.
Primärtherapie
funktioniert wie eine Leitung, die meine schmerzvolle Vergangenheit mit meinen
gegenwärtigen Handlungen und Gefühlen verbindet. Es geschieht durch diese
Verknüpfung ins Bewusstsein, dass ich gesund werden kann; die Verknüpfung
bedeutet, dass ich das Gefühl empfunden habe, so dass es nicht länger in
meinem System gefangen ist. Das kann man auch am Ende meiner Sitzung sehen. Als
der Therapeut wieder meine Werte nahm, waren die Ergebnisse 130/85, Temperatur
98° F ((36,7° C)) – ein
wesentliches Absinken der Vitalfunktionen, das zeigt, dass der Druck auf mein Körpersystem
nachgelassen hatte. Hierin liegt der Hauptunterschied zwischen Primärtherapie
und allen anderen Praktiken. Ein Primärgefühl ist durch das gesamte System
hindurch verknüpft. Weinen, Leiden und Wut sind die emotionalen Komponenten;
die physischen Schmerzempfindungen sind solche, wie ich sie in meinem Magen
verspürte, und die Erinnerung meines Körpers an die Prügel, zusammen mit
meiner Geburt. Diese Erinnerungen werden dann in mein Bewusstsein transportiert.
Der Schlüssel dafür ist die Erkenntnis, dass „Fühlen“ ein
neurobiologischer Zustand ist.
Seite 181 |
|
Die Primärtherapie hat mein
Leben vollkommen verändert. Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass ich
jetzt die Fähigkeit besitze, den Schmerz und den Es ist schwierig, die Wucht
eines Gefühlserlebnisses zu beschreiben. Nachdem ich Dr. Janovs Bücher gelesen
hatte, glaubte ich, ich wüsste es. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, bis ich
mit der Therapie begann. Meine Gefühle sind in meiner Psyche, meinem Körper,
meiner Persönlichkeit, in meinem ganzen Sein enthalten, und deswegen ist es
nicht genug, über alles zu weinen und zu reden, wie andere Therapien mich
glauben machten. Ich habe mein Leben damit verbracht, auf meine Vergangenheit zu
reagieren. Ich habe geglaubt, ich sei eine schreckliche Person und niemand könne
jemals dieses hartgesottene Miststück lieben, das immer zum Angriff bereit war.
Ich erkannte nicht, dass ich in Wirklichkeit noch immer das verängstigte kleine
Mädchen war, das einfach versuchte sich selbst zu schützen und nicht zulassen
wollte, dass man es noch einmal verletzte. Ich laufe nicht mehr herum wie ein
tollwütiger Hund, der versucht, alle auf Distanz zu halten und der in
Situationen überreagiert, die ihn erschrecken. Ich kann unterscheiden zwischen
der Realität, dass jemand etwas sagt, das verletzend ist, und dem Gefühl, das
von meiner Mutter herrührt, dass man mich halb totschlagen will. Das bedeutet,
ich beginne ein Leben zu gründen, das darauf aufbaut, dass ich eine erwachsene
Frau bin, und ich lasse nicht meine persönliche Geschichte bestimmen, wie ich
dieses Leben führe.
Ich habe nun auch die Fähigkeit,
auf die Bedürfnisse meines Sohnes zu sehen und zu hören; ich kann ihm zuhören
und ich kann geben, wozu ich vor der Primärerfahrung niemals im Stande war. Er
war für mich der Sündenbock und Lückenbüßer. Jetzt sein Lachen zu hören
und es zu genießen, ihn zu halten, wenn er Angst hat, ohne ihm zu sagen, er
solle erwachsen werden, weil ich damit nicht umgehen kann, oder ihn weinen zu
lassen, wenn er traurig ist, ohne ihm zu sagen, er solle ruhig sein, weil ich es
nicht hören will, das ist für mich beinahe schon ein übernatürliches
Meisterstück.
Jetzt kann ich „FÜHLEN“,
was vor so langer Zeit schief gelaufen war, und kann von innen heraus gesund
werden. Es gibt keinen anderen Weg, das zu |
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 „Fetal
Plasma Cortisol and B-Endorphin Response to Intrauterine Needling,“ Lancet 344
(9. Juli 1994): 77-81.
N. 2 Lise
Eliot, What’s Going on in There? New York, Bantam Books, 1999), s. 99.
Ich empfehle dieses Buch besonders.
N. 3 „Infant
Pain May Have Long-Term Effects“, Medical News and Alerts (16. August 1999).
N. 4 Ibid.,
s. 3
N. 5 Allan
Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self (New Jersey: Lawrence E.
Erlbaum, 1994). N. 6
Siehe diesbezüglich die Arbeit von Ichiro Kawachi von der Harvard School
of Public Health.
N. 7 B.
J. Young et al., „Memory Representation within the Parahippocampal Region,“
Journal of Neuroscience 17, no. 13 (1. Juli 1997): 5183-95.
N. 8 Allan
Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self (New Jersey: Lawrence E.
Erlbaum, 1994), s. 180.
N. 9 Jane
Brody, “Risk for Cancer Can Start in the Womb,” New York Times, 21.
Dezember 1999, s. D1.
N. 10 S. Farrar
und Y. Membery, „Bottling Up Emotions Is the Healthiest Option,“ London
Sunday Times, 9. Mai 1999, s. 5.
N. 11 “It’s a
Mad, Mad, Mad, Men’s World,” Los Angeles Times, 7. Juni 1999, s. S1. N. 12 R. A. Clarke, D. L. Murphy und J. N. Constantino, “Serotonin and Externalizing Behavior in Young Children,” Psychiatry Research 86, no. 1 (19. April 1999): 29-40.
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KAPITEL 10 DER AUSLÖSE-EFFEKT Ein Patient von mir, Joe,
wurde um 7 Uhr durch einen Telefonanruf aufgeweckt. Die Person am anderen Ende
sagte „Oh, Verzeihung. Falsche Nummer“, und legte auf. Mein Patient
verfiel darauf in eine Depression. Zuerst wusste er nicht, warum. In unseren
Sitzungen ließ ich ihn diese Depression erleben, ein Prozess, den ich ein
Gefühl fühlen nenne. Mein Patient fühlte: „Niemand ist an mir
interessiert.“ Seiner Vorstellung nach wusste die Anruferin sofort, dass er
nicht der war, den sie wollte. Das brachte ihn in seine Kindheit zurück, wo
Unglück und finanzielle Sorgen seiner Familie Vorrang vor seinen Bedürfnissen
gewannen und in ihm das Gefühl zurückließen, er werde völlig übergangen.
Seine Eltern waren voll damit beschäftigt, über die Runden zu kommen und den
Tod eines Familienmitglieds zu bewältigen. Er entdeckte, dass er aus ein und
demselben Grund die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens deprimiert war. Als er den Anruf der Person
erhielt, die sich verwählt hatte, löste das jenes verborgene Gefühl aus.
Mein Patient wurde nicht abgelehnt, aber er glaubte das. Das Gefühl war in
seinem Gehirn lebendig geworden und änderte seine Wahrnehmung. Glücklicherweise
war er in der Lage, sich damit zu befassen, indem er es fühlte, es mit dem
frontalen Kortex verknüpfte und einen Teil davon auflöste. Aber wie werden
diese Gefühle in unser System eingeprägt? Warum leben sie fort, und wo? In unseren Sitzungen offenbarte Joe, dass er eine Frau wollte, die ihm unter Ausschluss aller anderen ihre totale Aufmerksamkeit schenken würde – ein Bedürfnis, das unmöglich zu erfüllen ist. Das half, die Serie seiner misslungenen Beziehungen zu erklären.
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Er wollte eine aufmerksame „Mutter“, damit er sich nie wieder übergangen
fühlen würde, eine Rolle, die niemand je erfüllen könnte außer seiner
eigenen mittlerweile verstorbenen Mutter. Sie hätte das Bedürfnis nur während
der kritischen Periode erfüllen können. Wenn sie jetzt zurückkäme
und ihn völlig liebte, so wäre es zu spät. Es könnte die Einprägung
abschwächen, jedoch nicht umkehren. Dieser Patient musste als Erwachsener fühlen,
was er als Kind nie wirklich fühlte: dass niemand an ihm interessiert war.
Sie kümmerten sich nur um sich selbst und ihre Probleme. Er muss zeitlich zu
einem primitiveren Gehirn zurückgehen und mit diesem Gehirn erfahren, was er
zu jener Zeit nicht erfahren oder fühlen konnte. Das Ausagieren dieses
Patienten bestand darin, eine Mutter/Frau zu finden. Und als jemand abrupt den
Hörer auflegte, wurde er in die realen Gefühle gestürzt, die er sein Leben
lang verborgen hatte: Niemand will mich. Anstatt jedoch sich selbst zu
erlauben, das Gefühl zu fühlen (meine Mutter will mich nicht haben), verdrängte
er es und bekam deshalb eine Depression. Er hatte die Hilfe vieler körpereigener
Substanzen, die dieses einfache und dennoch qualvolle Gefühl von seinem
Bewusstsein fern hielten. Wenn wir bestimmte
Prinzipien der Gehirnfunktion untersuchen, kann uns das begreifen helfen,
warum wir Depressionen bekommen, warum wir ängstlich sind, warum wir nicht
schlafen oder mit anderen auskommen können. Was hat das Gehirn damit zu tun?
Können Sie gesund werden, ohne das Gehirn zu ändern? Ich denke nicht. Sich
besser zu fühlen, erfordert mehr, als sich selbst von Rückenschmerzen oder
entzündeten Muskeln zu befreien. Sie müssen überall gesund werden, weil
sich die Erinnerung überall befindet. Wir haben dahin tendiert, die Patienten
zu fragmentieren und sie stückchenweise zu behandeln. Zu oft nehmen wir eine
Migräne und versuchen, die zu bessern, oder hohen Blutdruck und
versuchen, den zu bessern, oder eine Phobie und versuchen, die
zu bessern. Wir behandeln jedes Symptom, als würde es nicht zu einem ganzen
Menschen gehören. Spezialisten werden zu Experten für Symptome und nicht für
Ursachen. Die konventionelle
Psychotherapie ist durchdrungen von dem Glauben, dass Sie im Geist gesund
werden können – in Ihrem denkenden präfrontal-kortikalen logischen
Verstand- dass Sie sich Ihren Weg zur Gesundheit erdenken können. Ich
glaube, es ist unmöglich, auf diese Weise gesund zu werden und berufe mich
dabei auf folgerichtige neurologische Grundsätze. Wir mögen denken
dass wir gesund werden, aber das ist nicht dasselbe wie gesund zu sein.
Das Gehirn ist durchaus in der Lage, sich selbst zu täuschen. Was ist
„gesund“? Wenn es nur eine Angelegenheit dessen wäre, was wir über uns
denken, dann wären all die religiösen Seite
185 |
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Ein Patient erzählte mir,
dass er als kleiner hyperaktiver Junge in der Klasse ständig ausagierte und unfähig
war, still zu sitzen und sich zu konzentrieren. Als er acht war, beschlossen
seine Eltern, ihn auf ein Internat zu schicken, damit er „Disziplin“ lernen
würde. Eines Tages saß er im Direktorat seiner Mutter gegenüber. Er hatte
keine Ahnung, was er falsch machte. Er sah in die zornigen Augen seiner Mutter
und wusste, dass er von ihr nie wieder Hilfe bekommen würde. Es war die endgültige
Ablehnung. Er war sich seiner ständigen Bewegung und seiner Unfähigkeit, still
zu sitzen, nicht bewusst. Es hatte fast ganz am Anfang seines Lebens begonnen. Dann schickte man den Jungen
zur Begutachtung zu einem Psychologen. Man legte ihm den Rorschach-Test vor.
Nach jedem Bild bat er den Psychologen inständig, er möge ihm sagen, wenn er
die richtige Antwort gab. Keine Reaktion. Keine Bestätigung. Er fühlte
schreckliche Angst, weil er glaubte, dass es ihm nie erlaubt sei, nach Hause zu
gehen, wenn er die falsche Antwort gäbe. Und so war es; jahrelang wurde ihm
nicht gestattet, nach Hause zu kommen. Er konnte nicht fragen, ob er nach Hause
gehen dürfe, weil er spürte, dass es niemanden gab, den er fragen konnte.
Seine Eltern besuchten ihn kaum im Internat. Später als
Erwachsener brauchte er ständige Aufmerksamkeit und Gewissheit. Immer wenn
seine Frau das Haus verließ, um Einkäufe zu machen, wurde er ängstlich und fühlte
sich abgelehnt. Er war überzeugt, dass sie einen anderen traf. Die Beziehung
scheiterte letztendlich. (Der renommierte George Miller-Preis für Psychologie
aus Hand der Amerikanischen Gesellschaft für Psychologie wurde 1998 an eine
Frau vergeben, die behauptet, dass Kindheitsereignisse, welche die Eltern
betreffen, uns nicht ins Erwachsenenalter folgen!) Komm einfach darüber hinweg ! Warum konnte dieser Mensch nicht einfach „darüber hinweg“ kommen und mit seinem Leben weitermachen? Er brauchte seine Mutter so sehr, dass sich in seiner Seele alles verbog. Verbiegt sich das Gehirn tatsächlich? Ist es umkehrbar? Ja. Was wir früher für ein genetisches Gesetz gehalten haben, kann in Wirklichkeit darauf zurückzuführen sein, was während unserer neun Monate im Mutterleib geschehen war. Unsere Erfahrungen im Mutterleib können für viel mehr verantwortlich sein, als wir uns vorstellen können, angefangen mit Drogensucht und Alkoholismus bis zur Psychose und sexuellen Abweichung. In diesem Buch werde ich eine Reihe von Forschungsergebnissen zitieren, die meinen Standpunkt bekräftigen. Nehmen Sie beispielsweise eine schwangere Frau, die chronisch ängstlich ist, vier Tassen Kaffee
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186 |
am Tag trinkt,
raucht und niemals aufhört, herumzuflitzen. Ihre geschwinde Biologie kann sich
auf ihren Fetus auswirken, ihn mit Erregung, Reizung und Impulsen überfluten,
die sich anhäufen und die sich neu entwickelnden integrierenden Zentren des
Babygehirns bedrohen. Später dann teilt man dem Kind viele Aufgaben zu, es darf
keine Rast machen und wird gezwungen, in der Schule sehr gute Noten zu erzielen.
Es fühlt sich chronisch überwältigt, nicht nur durch die Aufgaben, sondern
auch durch die ganze Überreizung, die es während der Schwangerschaft erfahren
hatte; und die hatte das Kind tatsächlich überwältigt, nicht in abstraktem
sondern in biologischem Sinne. Diese Faktoren bauten sich auf und versahen es
angesichts der kleinsten Aufgaben mit der wahren Empfindung, die Sache sei ihm
über den Kopf gewachsen. Dieser
Prozess ist eine physiologische Einprägung tief im Gehirn, welcher der nun
gereifte Kortex später lediglich einen Namen verpasst: „über meinen Kopf“.
Bis dieser Kortex ins Spiel kommt, sehen wir ein grenzenloses Ausagieren der
Empfindung, dass man nicht in der Lage ist, mit etwas Kompliziertem umzugehen.
Die Person muss ausagieren, damit sie in ihrem System ein Gleichgewicht – Homöostase
- herstellen kann. Das System kann nur ein beschränktes Maß an Eingaben
aufnehmen. Diese Art von Mensch steht schon just an der Schwelle, wo ihm die
Dinge über den Kopf wachsen. Lassen Sie mich nochmals wiederholen: Ausagieren
ist ein Teil des homöostatischen Mechanismuses. Wir sollten uns da nicht
einmischen, bis wir wissen, wie beschaffen die zugrunde liegenden Kräfte sind.
Zu viele der heutigen Therapien -körperliche und psychologische - sind
Pfuschwerk. Sie versuchen, die kompensierenden Mechanismen zu korrigieren
anstatt die Kräfte, die Kompensation erforderlich machen. Neues Beweismaterial aus
Ultraschall-Aufnahmen weist darauf hin, dass der Fetus im späteren Teil der
Schwangerschaft die unmissverständliche Mimik des Schreiens zeigt. Besonders
offensichtlich ist dies bei Müttern, die rauchen. Das Baby leidet – ein
lautloser Schrei. Wenn es nach der Geburt wunderlich ist und Koliken hat, so
wissen wir jetzt, warum. Es hatte schreckliche neun Monate. Wenn wir gezwungen wären,
still zu sitzen, während jemand neun lange Monate Rauch in unser Gesicht
bliese, wäre das ein schweres Trauma. Der Organismus hat keine andere Wahl als
sich vor dem Angriff des Sauerstoffentzugs zu verschließen. Genau wie bei der
Pflanze, über die wir zu Anfang dieses Buches gesprochen haben, die nur ein gewisses Maß an
Sonnenlicht aufnehmen konnte, muss das Niveau der Verdrängung oder Hemmung
ansteigen, um der Bedrohung entgegen zu treten. Selten sagt ein Mann zu sich selbst: „Ich will, dass sich jemand um mich kümmert.“ Vielmehr wird das Bedürfnis sofort ohne volles Bewusstsein ausagiert. Für ihn ist es „einfach ein gutes Gefühl“, dass man sich um ihn kümmern sollte; sein Verhalten entspricht seinem unbewussten Bedürfnis und scheint logisch. Die Vergangenheit ist das Vorspiel. Er sagt: „Bring mir einen Kugelschreiber.“ Sie antwortet: „Hol ihn dir selbst. Ich bin nicht dein Dienstmädchen.“ Jetzt beginnt die Zankerei.
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|
Sie reagiert darauf, dass ihr ständig von ihrem Vater gesagt wurde, was sie zu tun hatte. Er agiert seine Abhängigkeit aus, weil früh in seinem Leben niemand zu Hause war, der sich um ihn kümmerte. Sein Vater und seine Mutter arbeiteten außer Hause. Seine Bedürfnisse gerieten mit denen seiner Eltern in Konflikt. Es kann mit der Geburt angefangen haben, als seine Mutter krank war und in der Klinik bleiben musste. Er hatte damals niemanden, der sich um ihn kümmerte, noch hatte er jemanden danach. Er braucht es, dass man sich um ihn kümmert, und nur das kann er sehen – das Bedürfnis. Das Teuflische an der Sache ist, wenn wir sagen würden „Du agierst das Bedürfnis aus, dass deine Eltern dir helfen“, so hätte er nicht die leiseste Ahnung, wovon wir sprechen. Das Bedürfnis ändert sich
nicht, nur das Ziel. Das Individuum ist in einer Zeitschleife gefangen und wütend,
weil seine Freundin nicht seine Mutter sein will. Das Ausagieren ist so
unbewusst und automatisch wie das Bedürfnis. Etwa im
Alter von zwei Jahren ist der Kreis des Fühlens vollständig: Hirnstamm –
Limbisches System – Thalamus - orbitofrontaler Kortex. In der bestmöglichen
Welt ist dies die Route, die Gefühle nehmen. In den meisten Fällen jedoch
reisen die Gefühle nicht auf dieser Strecke. Stattdessen werden sie abgeblockt
und widerhallen in einer geschlossenen Neuronenschleife endlos und ein Leben
lang; Bettnässen, chronische Angst, Depression und sexuelle Zwänge sind
allesamt Wirkungen der Gefühlserfahrung. Das Problem an dem Widerhallen oder
Reverbieren ist, dass wir zu allen Zeiten anfällig sind für den Auslöse-Effekt.
Der Neuronenkreis wartet nur auf einen Auslöser. In dem soeben diskutierten
Fall löste ein Telefonanruf - eine falsche Nummer - eine Depression aus, weil
das reverbierende Gefühl lautete: „Niemand ist an mir interessiert.“ Hier
konnte seine Depression durch Verknüpfung mit den realen Gefühlen und Szenen
der Vergangenheit allmählich gelöst werden. Verknüpfung beendet das
Reverbieren und verringert deshalb die Anfälligkeit für Depression. Depression
und Angst sind keine eigenen Krankheiten; vielmehr repräsentieren sie die Art,
wie das System mit Gefühlen umgeht. Gute Verdrängung entspricht der
Depression. Schlechte Verdrängung entspricht der Angst. In beiden Fällen mögen
die gleichen Todesgefühle auf der Lauer liegen, aber der Depressive ist von dem
Gefühl umklammert und ergibt sich ihm, während die Angst-Person vor ihm davonläuft. Weil das, worüber ich
schreibe, nicht vorherrschenden psychologischen Theorien folgt, ist es wichtig,
dass wir allen diesen Dingen gegenüber Aufgeschlossenheit bewahren.
Insbesondere deshalb, weil nun die Genetik Einzug in den gegenwärtigen
Zeitgeist hält. Wenn wir die neun Monate Leben im Mutterleib, das Geburtstrauma
und die ersten Monate des Lebens übersehen, haben wir zweifelsohne keine andere
Wahl, als Probleme im Erwachsenenalter den Genen zuzuschreiben. Es
läuft darauf hinaus, dass man sagt: „Da können wir nichts tun. Es ist alles
vorherbestimmt.“ Ist es nicht! Oder vielleicht doch, aber möglicherweise ist
es nicht durch die Gene vorherbestimmt, sondern
durch die Einprägung. Und da können wir etwas tun.
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In der
gegenwärtigen Praxis besteht die einzige Alternative in der Behandlung dieser
Störungen darin, das Problem zu diskutieren. Das ist, als würde
Abb. 5. Möglicher
Schaltkreis eines reverbierenden Gefühls
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|
evolutionäre
Stufen überspringen. Es kommt dem Versuch gleich, eine Hirnstamm-Einprägung
durch Gedanken loswerden zu wollen. Das ist eine endlose Aufgabe und der Grund,
warum die Analyse Jahre dauert. Der frühe
Schmerz, den dieses Individuum erfuhr, wird zu einem reverbierenden
Kreisprozess; das Gefühl ist gefangen und kreist in endloser Schwingung durch
das Gehirnsystem. Das geht so, bis es verknüpft wird. Der UCLA-Professor für Neuropsychologie, Allan Schore,
beschreibt, wie Gefühle im Gehirn reverbieren. Was Schore vorschlägt, ist eine
mögliche Neuronenschleife für dieses Reverbieren, das uns anhaltend angespannt
und ängstlich macht. Es sind diese reverbierenden Kreisprozesse, die im
Unbewussten Raum beanspruchen und dazu führen, dass bestimmte
Gehirnschaltkreise ständig überaktiv sind.1 (Bitte beachten
Sie in dieser Hinsicht die Arbeit von Post.2 ) Der Prozess
des Reverbierens ist eine ständige Mahnung, dass wir unerledigte
Angelegenheiten mit uns tragen. Ausführliche Forschungsarbeiten zeigen, dass
sich wiederholende ähnliche Ereignisse, wie zum Beispiel Vernachlässigung oder
fehlende Aufmerksamkeit früh im Leben, bestimmte Bahnen verstärken und so die
Mittel schaffen, durch die in späteren Jahren Gefühle über diese Ereignisse
ausgelöst werden. Ich habe den reverbierenden Schaltkreis und die Bedeutung der
neun Monate Schwangerschaft diskutiert. Wir sehen, warum uns selbst harmlose
Vorfälle so leicht provozieren können. Je gestörter der Mensch ist, je mehr
die reverbierenden Kreisprozesse mit Schmerz aufgeladen sind, um so weniger
braucht es, ihn auszulösen. Und so ist bei der Psychose gar kein Stimulus
notwendig. Einer von meinen gestörten Patienten ging an einem Parkplatzkiosk
vorbei und war sich sicher, dass der Wächter hinter seinem Rücken über ihn
lachte. Er aß gerade ein Sandwich und war überzeugt, dass der Wächter nicht
wollte, dass er im Gehen esse. Lassen Sie
uns nun mit dem Leben im Mutterleib weitermachen und sehen, warum es so wichtig
ist. Ich werde eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen zitieren, die meine
Ansichten untermauern, aber ich muss bekennen, dass ich diese Ansichten schon
Jahrzehnte vertrat, ehe die Forschung aufgeschlossen hat. Die Beobachtung von
Patienten ist eine gültige Form der Forschung, solange es nur wenige Vorurteile
gibt, die Wahrnehmungen verfälschen könnten. Ich notierte einfach, was ich
beobachtete, und entwickelte daraus eine Theorie. Ich habe keinesfalls eine
Theorie entwickelt und sie dann meinen Beobachtungen übergestülpt. Anoxie: Eine Prägung fürs Leben Zur Erläuterung des
Sauerstoffmangels bei der Geburt und seiner Auswirkungen auf das Gehirnsystem
greife ich zusätzlich auf Gedanken aus meinem früheren Seite 190 |
Das Experiment, das ich hier diskutiere, ist die wichtigste
Forschungsarbeit, die wir jemals geleistet haben, um die Existenz der
eingeprägten Erinnerung zu verifizieren. Es kann und sollte dazu
beitragen, das Erscheinungsbild der Psychotherapie zu verändern, weil es
ein schwerwiegender Beweis für die Einprägung der Erinnerung ist und
zeigt, wie diese Einprägung unser Leben lenkt.
Die Studie über Blutgase wurde im UCLA Lungenfunktions-Labor in
Zusammenarbeit mit dem Direktor Dr. Donald Tashkin und seinen Kollegen,
den Lungenforschern Dr. Eric Kleerup und M.B. Dauphinee durchgeführt. Sie
wurde gefilmt. Zwei Patienten wurden an Messgeräte angeschlossen, unter
anderem zur Bestimmung der Sauerstoff- und Kohlendioxidwerte. Dann ließ
man sie ein Wiedererlebnis (Primal) simulieren. Während der Simulation
wurde beiden Patienten schwindlig, und sie hatten „klauenförmige“ Hände,
typisch für das Hyperventilations-Syndrom.
Mit einem eingeführten Katheder nahmen wir häufige Blutproben während der
Wiedererlebnis-Episoden der Versuchspersonen (alle zwei bis drei Minuten
in einem Zeitraum von eineinhalb Stunden) und während der freiwilligen
Hyperventilation. Wir maßen die Sauerstoff- und Kohlendioxid-Spiegel im
Blut und ebenso die Körperkerntemperatur, Herzschlag und Blutdruck. Die
Simulation und das Wiedererleben waren einander hinsichtlich der
angestrengten körperlichen Aktivität und des tiefen schnellen Atmens
ziemlich ähnlich.
Während der Simulation waren die Kohlendioxid- und Sauerstoffwerte im Blut
so, wie es zu erwarten war. Nach wenig mehr als zwei Minuten tiefen Atmens
gab es klare Anzeichen des Hyperventilations-Syndroms, einschließlich
Benommenheit, kribblige Händen, Steifheit der Extremitäten, bläuliche
Lippen, derartigen Energieverlust, dass die Versuchsperson kaum noch eine
Anstrengung unternehmen konnte, und beträchtliche Erschöpfung.
Beim Wiedererleben des Sauerstoffentzugs bei der Geburt jedoch trat kein
Hyperventilations-Syndrom auf. Trotz tiefer, schneller Lokomotiv-Atmung
von 20- bis 30-minütiger Dauer gab es keine Benommenheit,
zusammengezogenen Lippen oder kribbligen Hände. Die UCLA-Forscher konnten
sich das Fehlen des Hyperventilations-Syndroms nicht erklären: „Hier muss
ein anderer Faktor am Werk sein“, schlugen sie vor. Ich glaube, dieser
Faktor ist eingeprägte Erinnerung.
Warum verhinderte das Verweilen in der Geburtserinnerung das
Hyperventilations-Syndrom, und welche Bedeutung hat das für den Ursprung
und die Heilung menschlichen Leidens? Wir wissen, dass das
lokomotivähnliche Atmen, dessen Zeuge wir in dem Primal wurden, tief im
Hirnstamm organisiert wird, höchstwahrscheinlich von der Medulla. Es
scheint wahrscheinlich, dass die Lokomotiv-Atmung Teil der eingeprägten
Erinnerung der Anoxie oder Hypoxie ist. Es gab ein echtes Bedürfnis und
einen echten Impuls zu atmen, auch wenn es während der Geburt nicht
möglich war. Wenn diese Erinnerung später im Leben ausgelöst wird, Seite 191 |
|
In der UCLA-Studie hatten wir
beinahe direkten Zugang zur Medulla und zu anderen Strukturen des Hirnstamms,
ein Phänomen, das in der psychologischen Literatur noch nie erwähnt worden
ist. Diese Art von Zugang wurde von einigen Neurologen als der Heilige Gral bezeichnet.
Ein Beweisstück für diesen Zugang zu tieferen Gehirnebenen ist das Fehlen des
Hyperventilations-Syndroms. Nur wenn jemand inmitten der Erinnerung steckt, lässt
es sich vermeiden. Wenn tiefes Atmen wie in
unserer Simulation als Willensakt vollzogen wird, dann wird es weiter oben im
Gehirn, nämlich im Kortex reguliert. Es ist ein Beschluss höherer Ebene
und keine Einprägung tieferer Ebene. Es ist die Beteiligung der höheren
Gehirnebene, die zur Hyperventilation beiträgt. Aber in der eingeprägten
Erinnerung eingeschlossen zu sein, automatisierte das tiefe Atmen und führte
nicht zu Erschöpfung. Das Gesamtsystem, Gehirn und Körper, war wieder dort zurück
in der Erinnerung. Es war kein Nachdenken über die Erinnerung; es war die
totale Versunkenheit in ihr. Während einer schwierigen
Geburt schinden sich die Rücken- und Bauchmuskeln des Fetuses und erzeugen
enorme Mengen an Energie und Milchsäure. Wenn man als Erwachsener diese
Erfahrung wiedererlebt, involviert das genau die gleichen Muskeln zusammen mit
einem enormen Ausstoß an Laktat. Das haben meine Kollegen und ich bei unserer
Forschung im UCLA-Lungenlabor herausgefunden. Erinnerung ist in allen Aspekten
präzise. Wenn man in einem Gefühlserlebnis Zugang zu ihr hat, so muss sie in
allen psychophysiologischen Bereichen präzise sein.4 Heutzutage gibt es Schulen für tiefes Atmen, wie zum
Beispiel Holotropes Atmen, das für sich beansprucht, es könne alle möglichen
Probleme durch Tiefatmungs-Übungen lösen. Das ist nichts anderes als der
Glaube an Magie. Tiefes Atmen meidet die Frage nach dem „Warum“. Vorübergehend
kann es Spannung und Symptom lindern, aber es hat nichts mit Erinnerung zu tun.
Das kleine Wörtchen „Warum“ wird vernachlässigt, und wir werden zu
falschen und trügerischen Prozeduren gezwungen.
Lassen Sie mich klar Stellung
beziehen zum UCLA-Experiment. Das System der Versuchsperson reagiert auf Zellen,
die Jahrzehnte zuvor nach Sauerstoff geschrien hatten. Es ist wahrlich der
lautlose Schrei, genau wie unser Körper nach Liebe schreit, auch wenn
wir eine liebevolle Frau oder einen liebevollen Mann zu Hause haben. In einem anderen Syndrom wiedererlangter Erinnerung, wenn eine Patientin ein Trauma wie Inzest wiedererlebt, und zwar psychophysiologisch, anstatt das Trauma mit ihrem kortikalen Apparat abzurufen, tauchen alle ursprünglichen Reaktionen unversehrt wieder auf. Dadurch können wir nachprüfen, ob die Erinnerung real ist. Etwas ins Gedächtnis zurückzurufen, bedeutet, sich auf Worte und Gedanken zu stützen - ein kortikales Ereignis. Erinnerung bedeutet, dass man eine tiefsitzende wortlose Verletzung aufdeckt und sie so wiedererlebt, wie sie geschah. Seite 192 |
Das impliziert dieselbe Freisetzung von
Stresshormonen und dieselben Gehirnwellenmuster. Es ist der Unterschied zwischen
einem totalen physiologischem Zustand, einer Erfahrung, und einer gedanklichen
Übung des präfrontalen Kortexes. Schmerz wird nicht als Gedanke abgespeichert,
sondern als Erfahrung. Inzest kann eine völlig
wortlose Erinnerung sein, genau wie Anoxie bei der Geburt oder das Fehlen engen
menschlichen Kontakts in den ersten Wochen des Lebens. Im Verlauf einer
konventionellen Psychotherapie könnte sich die Patientin vielleicht überhaupt
nicht an den Inzest erinnern, bis sie Zugang zu der tief im Gehirn registrierten
Verletzung hat und sie freisetzen kann. Ich habe die ineinander verkrallten Hände
einer Patientin gesehen – die Handgelenke in einer Position, als wären sie
zusammengebunden -, als sie wiedererlebte, wie sie im Alter von elf Jahren vom
Freund ihrer Mutter während eines sexuellen Übergriffs festgehalten wurde. Da
sie jeden Aspekt des Inzest wieder und wieder erlebte, kam dieselbe
Handgelenksposition klar zum Vorschein. Sauerstoffmangel und lebenslanger Stress Sauerstoffmangel
bei der Geburt nötigt den Fetus, große Mengen an Stresshormonen,
Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin), zu produzieren. Diese Hormone
bereiten das System bei Gefahr auf Kampf oder Flucht vor. In diesem Fall ist die
Gefahr der Tod durch Sauerstoffentzug, und später ist die gleichwertige Gefahr
das volle Bewusstsein dieses Ereignisses. Das volle Bewusstsein dieses
Ereignisses ist exakt dieselbe Gefahr mit derselben Hormonausschüttung und
denselben Werten der Vitalfunktionen. Das Gehirn geht, indem es die
Kampf-oder-Flucht-Reaktion in Gang setzt, mit der Gefahr auf dieselbe Weise um,
als würde sie jetzt gerade geschehen. Sie geschieht im wahrsten Sinne des
Wortes gerade wieder, aber diesmal ist der Patient älter und stärker; das
Gehirn wird sich nicht sofort gegen die Gefahr verschließen. Die
Katecholamine beschleunigen den Herzschlag und tragen dazu bei, Blut von den
peripheren Organen abzuzweigen und den zentralen Organen wie zum Beispiel Herz
und Lungen zuzuführen; das System bereitet sich auf den Kampf vor. Das
Immunsystem eilt zu den Waffen und produziert bestimmte Immunzellen, wie
beispielsweise natürliche Killerzellen, um gegen das Fühlen anzukämpfen, als
sei es ein tödlicher Virus. Die Stresshormone sind nicht nur während der
Geburt hilfreich, sondern unterstützen auch die Anpassung nach der Geburt. Die
Katecholamine unterstützen die Absorption der Lungenflüssigkeit bei der Geburt
und helfen auch dabei, die Alveolen (Luftbläschen) der Lunge zu reinigen, und
ermöglichen dadurch, dass sie offen bleiben. Kaiserschnitt-Babys neigen später
im Leben weit mehr zu Atmungsproblemen, weil ihnen die notwendige Kompression
bei der Geburt fehlt.
Seite 193 |
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Einige meiner Patienten, die ihre Geburt
wiedererleben, erbrechen eine Tassevoll Flüssigkeit, sobald sie sich in
der Sequenz befinden. Ihre Reinigungsmechanismen waren offensichtlich
defekt. Diese Patienten erklären, dass bei ihnen ein innerer Schaltknopf
gedrückt worden sei, so dass die Flüssigkeit einfach aus ihnen
herausströme, und sie berichten einheitlich, dass sie sich fühlen, als
würden sie ertrinken. Jedesmal, wenn sie das Ereignis wiedererleben,
erfahren sie den gleichen Erguss. Er ist offensichtlich fester Bestandteil
der Erinnerung. Die Produktion von Flüssigkeit ist eine weitere Form der
Körpererinnerung; weshalb ich darauf bestehe, dass Erinnerung nicht
dasselbe ist wie bewusstes angestrengtes Abrufen. Beim Abrufen fehlt das
Erleben. In unseren Stresshormon-Untersuchungen
scheinen neu aufgenommene Patienten noch immer auf ein früh eingeprägtes
Trauma zu reagieren. Studien mit Infrarotkameras an unseren Patienten
ergaben nach einem Jahr Therapie besseren Blutfluss in den peripheren
Gefäßen. Kürzlich wurde berichtet, dass Hypoxie in
Lamm-Föten Neuronen des Hirnstamms (subcaeruleus) aktiviert. Diese Hypoxie
beeinträchtigt die Atmungsfunktion dieser Tiere und kann mit späteren
Atmungsproblemen in Zusammenhang stehen, Asthma nicht ausgeschlossen.5 Die
Implikationen für Menschen sind offensichtlich – Einprägungen im
Hirnstamm. In einer Studie an Schaf-Föten fand man
heraus, dass minimale Sauerstoffnot mit der Zeit geschwächte
Gehirnstrukturen einschließlich des Hippocampuses und Kortexes
verursachte. Es war kein einmaliger Vorfall unzureichenden Sauerstoffs,
sondern vielmehr ein andauernder Entzug, etwas, das auf eine austragende
Mutter zutrifft, die viel raucht oder in einer verschmutzten städtischen
Atmosphäre lebt. Auch Ratten, die unmittelbar nach der Geburt nicht
betreut worden waren, wiesen verminderte Zellentwicklung im Hippocampus
auf.6 Das Wachstum des frontalen Kortexes nach der
Geburt braucht Zeit. Anoxie behindert die kortikale Entwicklung, und das
kann den Katecholamin-Ausstoß behindern, was zu mangelhaft kontrollierten
Impulsen und/oder lebenslanger Spannung und Angst führen kann. In der
Therapie sehen wir das an Patienten, die eine Intrusion der ersten Ebene
(Hirnstamm) erleben; das ist ein Aspekt des Geburtstraumas, der das
Wiedererleben einer Kindheitsszene durchdringt. Es kommt zu Husten,
Würgen, Krümmen des Rückens und Ausfall der Atmung. Wenn der Patient zu
sehr frühen Ereignissen zurückkehrt, zeigen sich nach und nach die
defekten Ebenen im Gehirn. Sie können zu schlechter Kontrolle über
präverbale Erinnerungen führen. Alan Schore betont, dass ein geliebtes Kind die kortikale Fähigkeit besitzt, Erregung vom System abzukoppeln und sympathische, stimulierende Impulse in
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parasympathischen, verlangsamenden
Metabolismus überzuleiten. Es ist in der Lage, Herzbeschleunigung
abzubremsen und das System zur Ruhe zu bringen.7 Kurz gesagt hat ein
geliebtes Kind das zerebrale Rüstzeug, um innere Agitation aufzuhalten,
und es kann Angst unterdrücken und die Herzfrequenz auf angenehmem,
gesundem Niveau halten. Der orbitofrontale Kortex ist Teil dieses
Entkoppelungsmechanismus. Ein Artikel im Journal der Amerikanischen
Medizinischen Gesellschaft berichtete: „Die Gefahren, mit denen der Fetus
konfrontiert wird, erreichen während der Wehen einen Höhepunkt. Die Geburt
ist die bedrohlichste Erfahrung, denen die meisten Individuen jemals
ausgesetzt sind. Auch unter optimalen kontrollierten Umständen ist der
Geburtsprozess für den Fetus ein traumatisches, potentiell verstümmelndes
Ereignis.“ 8 Lagercrantz und Slotkin, zwei Erforscher des
Geburtsprozesses, weisen darauf hin, dass „beinahe jedes Neugeborene eine
Sauerstoffschuld ähnlich der eines Sprinters nach einem Lauf aufweist.“ 9
Katecholamine rüsten das System dafür, Anoxie durch Erleichterung des
Atmens zu bekämpfen. Sie beschleunigen den Metabolismus; folglich das
hyperaktive Kind, dem der Sauerstoff bei der Geburt entzogen worden war.
Wenn das Kind dem Lehrer sagen könnte, warum es nicht auf seinem Platz
bleiben kann, so könnte es Folgendes anbieten: „Ich litt während meiner
Zeit im Mutterleib an Sauerstoffnot, weil meine Mutter geraucht hat, und
ich litt an Sauerstoffnot bei der Geburt, weil man ihr starke
Beruhigungsmittel verabreichte. Jetzt leidet mein System noch immer
darunter, es gibt Gas, um die Erinnerung abzuwehren, und stößt mich von
meinem Platz, damit ich weiterhin vor der Erinnerung davonlaufen kann. Ich
werde glücklich stillsitzen, wenn Sie diese Erinnerung wegnehmen.“ Wir
waren sehr erfogreich bei kleinen Kindern (bei den wenigen, die wir
angenommen haben); nach ihren Primals können sie wirklich stillsitzen. Es
braucht nicht viel, um sie von Grund auf zu ändern. Es gibt keine
verfestigten Muster, mit denen man sich beschäftigen muss. Sie können
leicht in ihre Kindheit gehen, weil sie schon da sind.10 Während einer sauerstoffarmen Geburt steigen
die Katecholamin-Werte manchmal so enorm an (200-fach), dass die
Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls bestünde, wenn das Neugeborene ein
Erwachsener wäre.11 Nachdem ich den enormen Druck gesehen habe, den
Wiedererlebnisse an den Tag legen, bin ich der Überzeugung, dass die
Einprägung von Sauerstoffmangel im Menschen ein wichtiger beisteuernder
Faktor für spätere zerebrale Schlaganfälle sein kann. Wenn wir verstehen,
dass im Alter von sechzig die Erinnerung an ein niedriges
Sauerstoff-Niveau noch immer da ist, noch immer Kraft hat, dann können die
Reaktionen des Kleinkinds in der Tat zu Reaktionen eines Sechzigjährigen
werden – und zu einem Schlaganfall. In einer Studie an fünfundsiebzig Neugeborenen entdeckte man, dass Sauerstoffentzug während der Geburt nicht zu Gehirnschaden führte, wenn keine vorausgehende Seite 195 |
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Notlage im Mutterleib aufgetreten war.12
Die Not des Fetuses war der wesentliche Faktor, der zu neurologischem
Schaden beitrug. So stellt es sich heraus, dass das Geburtstrauma nicht
die ganze Geschichte ist. Es gibt den wichtigen Hintergrund der neun
Monate fötalen Lebens, der die Grundlage dafür bildet, welche Reaktion auf
die Geburt erfolgt. Das zu verleugnen, bedeutet zu verleugnen, dass der
Fetus ein Nervensystem hat, das verschlüsseln, speichern und auf Stimuli
reagieren kann. Bei der Geburt brauchen wir Sauerstoff und
Nährstoffe, damit wir Axone bilden können, die Verbindungsstäbchen zu
anderen Nervenzellen; und wir brauchen Sauerstoff für die Entwicklung von
Dendriten, den zweigförmigen Sprossen,
Abb. 6. Frühes Trauma lässt
Gehirnverbindungen verkümmern. Seite 196 |
die Input in
die Neuronen annehmen. Ein frühes Trauma behindert die neurale Entwicklung, so
dass wir buchstäblich weniger Gehirnkraft für die Auseinandersetzung mit dem
späteren Leben haben. Wenn wir Anoxie bei der Geburt oder auch später durch
eine Überdosis Drogen oder durch einen Selbstmord-Versuch unter Verwendung von
Barbituraten erleiden, so tritt der Schaden wahrscheinlich im Hippocampus auf
und möglicherweise in anderen limbischen Strukturen. Das Ergebnis ist schlechte
Verdrängung und ständiger Schmerz. Wie schon erörtert,
haben erwachsene Patienten mit Migränen nahezu ausnahmslos unter
Sauerstoffausfall bei der Geburt gelitten. Wenn sie die Geburt wiedererleben,
laufen sie manchmal rot an und ringen verzweifelt nach Luft. Mit der Zeit, wenn
sie den Sauerstoffmangel immer wieder erleben, nehmen ihre Migräneanfälle ab
oder verschwinden völlig.13 Bei jeder beliebigen Anzahl
vaskulärer Probleme können wir unser Augenmerk auf Sauerstoff-Deprivation während
oder um die Zeit der Geburt herum richten. Migräne ist vielleicht eines von
vielen Beispielen für die weitgestreuten Effekte des primären „Urknalls“. Der Mangel an Sauerstoff prägt eine Dringlichkeit auf Leben und Tod in das System ein. Später wird sie dann beispielsweise oft in eine Dringlichkeit auf Leben und Tod übersetzt, unbedingt Drogen haben zu müssen.14 Drogen wie Heroin sind exzellente Hirnstamm-Blocker, wirken also dort, wo die Prägung auf Leben und Tod eingraviert ist. So ist es keine Überraschung, dass Heroin abhängig macht. Und es ist keine Überraschung für uns, die wir Süchtige behandelt haben, dass so viele von ihnen schwere, traumatische Hirnstamm-Einprägungen aufweisen. Heroin leistet Ersatz für das Defizit an hemmenden Neurohormonen, das durch das Trauma hervorgerufen wird. Es trägt dazu dabei, das untere Gehirnsystem zu normalisieren.
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Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 Allan
Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self (New Jersey: Lawrence E. Erlbaum, 1994),
s. 297.
N. 2 R.
M. Post, “Transduction of Psychosocial Stress into the Neurobiology of Current
Affective Disorder,” American Journal of Psychiatry 149 (1992): 999-1010.
N. 3 Arthur
Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West Hollywood, Calif.: Dove
Books, 1996).
N. 4 R.
M. Post, “Transduction of Psychosocial Stress into the Neurobiology of Current
Affective Disorder,” American Journal of Psychiatry 149 )1992): 999-1010.
N. 5 S.
Breen, Sandra Rees und D. Walker, “Identification of Brainstem Neurons
Responding to Hypoxia in Fetal and Newborn Sheep,” Brain Research 748 (1997):
119-20.
N. 6 Siehe
A. Barbazanges et al., „Maternal Glucorticoid Secretion Mediates Long-Term
Effects of Prenatal Stress,“ Journal of Neuroscience 16 (1996): 3943-49. Siehe
auch: T. J. McDonald und P. W. Nathanielsz, „Bilateral Destruction of the
Fetal Paraventricular Nuclei Prolongs Gestation in Sheep,“ American Journal of
Obstetrics and Gynecology 165 (1991): 764-70.
N. 7
“Ein umweltlich angepasstes präfrontales kortikales System, das
Erregung schnell auskoppeln kann, sympath(et)ische (aktivierende)
Herzbeschleunigung abschalten und parasympath(et)ische Herzverlangsamung
anschalten kann,........agiert als kortikales System, das autonome Reaktionen
auf affektive (emotionale) Auslöser reguliert.“
Allan Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self: The
Neurobiology of Emotional Development (New Jersey: Lawrence E. Erlbaum and
Associates, 1994), s. 225.
N. 8 Abraham
Towbin, “Organic Causes of Minimal Brain Dysfunction,” Journal of the
American Medical Association 217, no. 9 (30. August 1971): 1213.
N. 9 Hugo
Lagercrantz und Theodore Slotkin, “The Stress of Being Born,” Scientific
American 254, no. 4 (April 1986): 100. N. 10
Wir hatten eine Vierjährige, die wiedererlebte, wie sie im Alter von
zwei Jahren von ihrer Mutter verlassen wurde.
N. 11 Hugo
Lagercrantz und Theodore Slotkin, “The Stress of Being Born,” Scientific
American 254, no. 4 (April 1986): 100-107.
N. 12 Hanns C.
Haesslein und Kenneth R. Niswander, „Fetal Distress in Term Pregnancies,“
American Journal of Obstetrics and Gynecology 137 (1980): 245-51. N. 13
Es ist hilfreich, die biologischen Beweise mit diesen statistischen und
neurologischen Befunden in Verbindung zu bringen. Wir erkennen das, indem wir
uns die Gehirne unserer Patienten anschauen, die intensiv damit beschäftigt
sind, Schmerz zu verdrängen. Wenn der Schmerz in unserer Therapie entfernt
wird, ist das Gehirn weit weniger geschäftig; die Frequenz ist langsamer und
die Amplitude niedriger (siehe mein Buch Why You Get Sick and How You Get
Well zur Diskussion der Hirnwellen – Resultate). N. 14 Siehe A. Barbazanges et al., „Maternal Glucorticoid Secretion Mediates Long-Term Effects of Prenatal Stress,“ Journal of Neuroscience 16 (1996): 3943.
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KAPITEL 11 LEBEN IM MUTTERLEIB Vorspiel zum realen Leben __________________________
Die wichtigste Phase der Kindererziehung findet in den
neun Monaten der Schwangerschaft statt. Die Ereignisse in dieser Zeit scheinen
dauerhafte Auswirkungen zu haben, weil sie in ein naives und verletzliches
Nervensystem eingeprägt werden.1 Durch Autopsien an
Psychotikern steht uns Forschungsmaterial zur Verfügung, aber so, wie es
scheint, führt die Spur jeglicher Art Symptome und abweichenden Verhaltens
letztlich auf pränatale Ereignisse zurück. Ich werde einige Zeit für die Erörterung
der lebenslangen Auswirkungen des Geburtstraumas aufwenden, ein Thema, über
das ich in den letzten dreißig Jahren geschrieben habe. Die aktuelle
psychologische Literatur handelt meist von der neuen „Ego-Psychologie.“
Nachdem die Analytiker es aufgegeben haben, sich in die Ereignisse der
Kindheit zu vertiefen, weil es so wenig einbrachte, wendeten sie ihre
Aufmerksamkeit dem Hier-und-Jetzt zu. Meistens geht es darum, sich gegenwärtiger
Symptome anzunehmen und sie isoliert als DAS Problem zu behandeln. Letzte
Nacht brachte ein Nachrichtensender im Fernsehen einen Bericht über eine neue
Methode namens „Aussetzungs-Therapie“. Leute, die an Zwangsvorstellungen
leiden und wirklich glauben, jede Unebenheit, über die sie mit ihrem Wagen
fahren, sei eine Leiche, wurden behandelt, indem man sie mit Müllsäcken
konfrontierte und sie drüberfahren ließ, während der Therapeut auf dem
Beifahrersitz ihnen versicherte, dass da nichts sei, wovor man Angst haben müsste.
Es gibt etwas, wovor man Angst haben muss, nur ist es nicht
offensichtlich. Es kommt von einem Erlebnis im Alter von sechs Monaten, das
durch viele andere spätere Erlebnisse verstärkt wurde. Wenn wir die
Geschichte außer Acht lassen, müssen wir uns gezwungenermaßen solchen Unsinn zu eigen machen und ihn
als „Therapie“ bezeichnen. Wenn die Kinder meines Onkels vom
Seite 199 |
„Schau, du brauchst keine Angst
zu haben.“ Der Grund, warum diese Art „Therapie“ toleriert wird und
warum sie Einfluss gewinnt, besteht darin, dass sie kein tieferes Nachforschen
erfordert. Sie ist schnell, zielt auf den Punkt und kann auch von Eltern
verstanden und durchgeführt werden, ohne sie „Aussetzungs-Therapie“ zu
nennen. Ich habe gerade darauf hingewiesen, dass der Grund, warum die
Tiefenpsychologen es aufgaben, in der Kindheit zu forschen, darin bestand,
dass es so wenig einbrachte. Entscheidend war jedoch nicht das Forschen.
Entscheidend war die Tatsache, dass es ein „Reden oder auch Weinen über
etwas“ war und kein Wiedererleben. Diese Therapie zog die Neurologie und
Evolution nicht in Betracht. Sie maß der Einprägung kein Gewicht bei,
erkannte sie nicht einmal. Sie begriff nicht, dass frühe Ereignisse im Gehirn
verschlüsselt und gespeichert werden und mit den frontalen
Integrationsmechanismen in Verbindung treten müssen. Das alles zu ignorieren,
bedeutet, das zu tun, was Patienten gezwungenermaßen tut, wenn sie
verdrängen – sich auf die Gegenwart konzentrieren; glauben, das Problem liege außen anstatt im Inneren. So wird
die Aussage: „Mein Mann lässt mir keinen Raum zum Atmen“ für bare Münze
genommen, anstatt zu begreifen, dass sie in Anoxie bei der Geburt wurzeln
kann. Es mag stimmen, dass der Ehemann ihr keinen Raum zum Atmen lässt, aber
für ihren Wunsch nach Scheidung kann eine unerbittliche Kraft aus ihrem
Inneren verantwortlich sein. Aber abgesehen davon, wem würde es auch nur im
Traum einfallen, dass diese Aussage einer Vierzigjährigen bis zur Geburt
zurückreichen könnte oder bis zu einer rauchenden Mutter, als der Fetus
weniger als drei Monate alt war? Wenn die geeigneten Werkzeuge fehlen, um das
alles zu erkunden, ist es verständlich, dass diese Fakten ignoriert werden.
Es ist nichts anderes, als wolle man ohne Einsatz eines Forschungs-U-Boots
verstehen, was sich auf dem Meeresgrund befindet. Wir haben jetzt das nötige
„Forschungs-U-Boot“. Liebe beginnt in den neun
Monaten im Mutterleib. Gesundheitsbewusste Ernährung, Abstinenz von Zigaretten
oder Alkohol und ein ruhiges, ausgeglichenes Leben sind die ersten Schritte zu
positiver fetaler Entwicklung. Es
geht nicht nur um die fetale Entwicklung; hier werden die Fundamente für unser
ganzes übriges Leben gelegt. Um herauszufinden, was mit uns
im Mutterleib und bei der Geburt geschah, müssen wir die Sprache des Hirnstamms
erlernen, wo diese vorgeburtlichen und geburtlichen Aufzeichnungen bewahrt
werden. Bildlich gesprochen müssen wir wieder zu einem Salamander werden. Wenn
wir Patienten beobachten, die ganz frühe Ereignisse mit einem uralten
Gehirnsystem wiedererleben, werden wir Zeuge der Evolution unseres eigenen
Gehirns, die sich im Zeitraum von Jahrzehnten vollzieht. Wichtige Nerventrakte, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren Zentren des Gehirns übermitteln, werden zwischen dem zweiten und dritten Schwangerschaftsmonat im Nervensystem verankert. Das geschieht vor der Entwicklung der Bahnen für inhibitorische Neurotransmitter, wie zum Beispiel des Seite 200 |
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Endorphin-Netzes, das etwa im vierten Monat seine Funktionsfähigkeit erreicht.2
K. S. Anand untersucht seit einiger Zeit Schmerz und fetales Leben. Er
berichtet: „Nerventrakte, die Schmerzsignale vom Rückenmark zu den unteren
Zentren des Gehirns übermitteln, sind nach der 35sten bis 37sten Woche nahezu
vollständig entwickelt.“ Jean Lauder, die die Entwicklung von Nervenzellen und
ihrer Axone erforscht hat, schreibt: „Möglicherweise werden von den Spitzen
wachsender Axone Neurotransmitter freigesetzt, die die Morphologie angrenzender
Axone und Zielzellen formen.“ 3 Sie erklärt, dass
Neurotransmitter während der Entwicklung als morphogenetische (strukturelle)
Signale betrachtet werden können, eine Funktion ihrer evolutionären
Geschichte. Sie sagen: „Ändere deine Struktur oder stirb.“ Eine Veränderung
der Struktur hilft, die Transmitter zu regulieren. Hier wird klar, dass die sich
entlang der Nervenbahnen bewegende Nachricht die Struktur der Anschlussaxone verändern
kann. Es ist eine weitere Art, wie sich die Gehirnstruktur unter dem Einfluss
von Schmerz verändern kann. Die Struktur des Neurons und seiner Tentakeln muss
sich ändern, um diese Schmerzbotschaft aufnehmen zu können. Die Veränderung
der Struktur ist eine weitere Methode, wie der Schmerz reguliert und
kontrolliert wird. Deshalb ist Veränderung lebensrettend und bewahrt in
gewisser Weise die Unversehrtheit des gesamten Gehirns. Das ist es, was
‚Dislokation der Funktion’ bedeutet. Eine Studie
zweier finnischer Wissenschaftler, M. Huttunen und P. Niskanen, erforschte
Kinder, deren Väter entweder in der Zeit starben, als die Mütter schwanger
waren, oder im ersten Lebensjahr des Kindes.4 Die Nachkommen
wurden über einen Zeitraum von fünfunddreißig Jahren unter Verwendung
urkundlicher Beweise untersucht. Nur diejenigen, die ihre Väter während der
Zeit im Mutterleib verloren, hatten ein erhöhtes Risiko für psychische
Krankheiten, Alkoholismus oder Kriminalität. Der emotionale Zustand der
schwangeren Mutter war eindeutig beeinträchtigt, und das hatte lebenslange schädliche
Auswirkungen auf das Kind. Das Ergebnis dieser Studie legt nahe, dass der
emotionale Zustand der schwangeren Mutter mehr Langzeiteffekte auf das Kind ausübt
als der emotionale Zustand der Mutter im ersten Jahr nach der Geburt. Jean Lauder betont, dass damit
zu rechnen ist, dass alles, was die Neurotransmitterspiegel signifikant erhöht
(wie es bei chronischem Stress der Fall ist), bedeutende Auswirkungen auf die spätere
Gehirnentwicklung hat.5 Was mit uns im Mutterleib geschieht,
ist absolut entscheidend für die Neurotransmitter-Produktion. Es bestimmt, wie
sehr wir später im Leben emotional leiden werden. Wenn eine schwangere Mutter
in den ersten Monaten der Schwangerschaft von ihrem Partner oder Ehemann
verlassen wird und unter Angst oder Depression leidet, kann sich das durch
hormonelle Veränderungen auf den Fetus übertragen. Seite 201 |
Hormonelle
Veränderungen bei der Mutter wirken sich auf die Neurotransmitter-Entwicklung
im Fetus aus und definieren laut Huttunen und Niskanen „die Organisation der
Nervenbahnen.“ 6 Sie stellen fest, dass „Änderungen der mütterlichen,
fetalen und neonatalen Biochemie in kritischen (Entwicklungs-) Perioden die
Schaltkreise und somit das postnatale Verhalten von Jungtieren irreparabel verändern
können.“ 7 Das ist von
entscheidender Bedeutung, weil es ein Gradmesser dafür ist, wie effektiv Kinder
und Erwachsene Schmerz ausschalten
und mit Hindernissen und Widrigkeiten fertig werden. Es bedeutet, dass ein
geschwächtes Verdrängungssystem nicht alle von unten eindringenden und zum
Kortex aufwärts drängenden Impulse aussperren kann, und dieses Versagen kann
schlechten Schlaf bedeuten und die Unfähigkeit, sich zu sammeln und zu
konzentrieren......und ebenso Aufmerksamkeits-Störungen. Wir können uns nicht
konzentrieren, wenn alle möglichen alten Erinnerungen hochbranden und die
frontalen Prozesse fragmentieren. Studie um Studie demonstriert, dass „ die
Berührung Neugeborener physiologische und verhaltensmäßige Veränderungen
erzeugt, die bis ins Erwachsenenalter andauern.“ Bei Tieren ist Streicheln
eine Möglichkeit, das Tier Liebe spüren zu lassen. In einer Reihe von Studien
konnten gestreichelte Ratten späterem Stress besser widerstehen als solche, die
nicht gestreichelt wurden.8 Berührung ist Liebe Wir können aus diesen Studien
extrapolieren, dass die Liebkosung neugeborener Kinder nicht nur die Art von
Transmitter und Rezeptoren produziert, die nötig sind, um mit späteren Nöten
fertig zu werden, sondern in den Kleinen auch als positive Einprägung bleibt.
Im Falle eines frühen Traumas und fehlender Liebe befindet sich das
Gehirnsystem hinsichtlich seiner Serotoninvorräte ständig im Defizit. Es ist
kein Wunder, dass später Beruhigungsmittel notwendig sind, um diese Vorräte künstlich
aufzustocken. Das Gehirn muss sich normalisieren, und so ist es nicht überraschend,
dass sich jemand nach der Einnahme von Prozac vielleicht zum ersten Mal
„normal“ fühlt. Die Autoren
der zitierten Studie weisen auf Folgendes hin: „Andere Gehirnstrukturen,
besonders der.........Neokortex, Sitz des rationalen Denkens, müssen sich erst
noch voll entwickeln.....(Sie) verfestigen eine Reihe emotionaler Lektionen, die
auf dem Einklang und auf den Verstimmungen in den Kontakten zwischen Kleinkind
und Pflegeperson gründen.“ Diese Lektionen werden zu „wortlosen Blaupausen
für das emotionale Leben.“ 9 Es ist eine Lehre fürs ganze
Leben.
Seite 202 |
Fehlende
Harmonie zwischen den Stimmungen der Mutter und des Kleinkinds zählt als
fehlende Liebe und beeinträchtigt die Gehirnentwicklung. Das Kind ist einen
Augenblick lang vergnügt, und die Mutter reagiert nicht entsprechend. Das Kind
ist traurig, und die Mutter (Denken Sie daran: „Bezugsperson“) ist befremdet
und gleichgültig. Das Kind schreit und will beruhigt werden, und die Mutter ist
gereizt und wütend. Im Alter von drei Jahren kann sich das Kind nirgendwohin
wenden, um seine Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Es ist nicht so, dass
die Mutter die Bedürfnisse des Kindes direkt verleugnet; sie ist einfach
emotional nicht präsent, um ihr Baby zu unterstützen. Ich diskutiere hier
nicht über momentane Stimmungen seitens eines Elternteils. Es ist das
chronische, tagtägliche Verhalten, das ausschlaggebend ist. Wenn eine
Mutter während der Schwangerschaft unter Stress steht, kommt es zu einem
Anstieg bei den steroiden Stresshormonen (Glukokortikoiden). Das wiederum senkt
die Anzahl der Rezeptoren im Hippocampus. Hier sei nur gesagt, dass Stress dem Fühlen
nicht dienlich ist. Forschungsarbeiten wie die von Barbazanges deuten darauf
hin, dass fortgesetzter Steroid-Ausstoß eine der Hauptursachen für
Gehirndefekte bei den Nachkommen ist und den späteren Ausstoß von
Stresshormonen im Baby nachteilig beeinflussen kann.10
Geistige Zurückgebliebenheit oder Schlafstörungen können daraus entstehen.
Aus Tierversuchen geht hervor, dass diese intrauterinen Veränderungen dem
Individuum weit geringere Fähigkeiten lassen, mit Angst und Stress fertig zu
werden. Ein herunterregulierter Hippocampus verursacht wahrscheinlich Gedächtnislücken.
Sind ihre Kindheitserinnerungen flüchtig oder nicht existent? Haben Sie
Probleme, sich daran zu erinnern, wo Sie ihre Brille hingelegt haben, oder sich
an ein Telefongespräch zu erinnern, oder tun Sie sich schwer mit räumlicher
Vorstellung? Wichtiger noch, sind
Sie schnell von bestimmten Ereignissen überwältigt, neigen zu hysterischen
Ausbrüchen oder völligem emotionalen Rückzug? Haben Sie Angst vorm Leben?
Oder vor Veränderung? Schauen Sie darauf, was mit Ihnen im Mutterleib geschehen
war. Wenn am Lebensanfang die fortgesetzte Freisetzung von Stresshormonen den
Hippocampus beeinträchtigt, kann all das oben Genannte daraus hervorgehen. Geisteskrankheit im Mutterleib Es hat den Anschein, dass der
Ursprung einiger schwerer Geisteskrankheiten im Mutterleib liegt und auf
limbische Fehlentwicklungen zurückzuführen ist. Die Alzheimer-Krankheit bei älteren
Menschen zum Beispiel beginnt im Hippocampus und weitet sich auf die entsprechenden frontokortikalen
Zellen aus. Eine Studie an Psychotikern kam zu dem Ergebnis, dass die Ursache
ernsthafter Geistesstörung im zweiten Drittel der Schwangerschaft liegen kann.
Seite 203 |
In einer
autoptischen Studie an Schizophrenen fand man im Limbischen System ungeordnete
Neuronen. Die Anordnung der Neuronen war grundlegend unausgewogen. Später kann
genau deshalb die geistige Unausgewogenheit oder Verrücktheit aufgetreten sein,
weil es im Mutterleib zu schwerer Verrückung (Dislokation) gekommen war. Anders
gesagt können traumatische Ereignisse am Anfang der Schwangerschaft die
Entwicklung und richtige Anordnung limbischer Zellen stören. Dies wird schließlich
die psychische Entwicklung des Individuums verzerren, das mit einem ungeordneten
Limbischen System nicht normal funktionieren kann. Bei Psychotikern stehen
einige limbische Zellen tatsächlich verkehrt herum. Also wird der Fetus nicht
nur durch ein Trauma in den ersten Monaten der Schwangerschaft beeinträchtigt,
sondern dieses Trauma zerrüttet auch die neurologische Organisation des
Limbischen Systems. Es gibt einige vorläufige Beweise, dass sich die Rillen der Fingerabdrücke durch verschiedene Ereignisse im Mutterleib verändern. Das fand man bei Homosexuellen und in einer Studie an Babys acht Wochen nach der Geburt heraus.11 Die Rillen der Fingerkuppen beginnen sich nach dem zweiten Schwangerschaftsmonat zu formen. Lesen Sie, was Peter Nathanielsz,* der über das Leben im Mutterleib schreibt, darüber zu sagen hat: „Wenn in der kritischen Entwicklungsphase etwa in der zehnten Lebenswoche (im Mutterleib) die Figerkuppe aus irgendeinem Grund (Trauma) anschwillt, bilden die Rillen ein kreisförmiges Muster (Windungen), und wenn die Spitze dünn und flach ist, sind die Rillen mehr wie Bögen.“ 12 Wir kennen nicht alle Gründe, warum die Fingerkuppen anschwellen, aber wenn wir es mit anderen Informationen (zitiert in Kapitel 18) zusammenfassen, bietet es einen zusätzlichen Beweis für den Zusammenhang zwischen Ereignissen im Mutterleib und späterer Homosexualität. Da ich sie von Zeit zu Zeit umkehren kann, denke ich nicht, dass sie genetisch vorherbestimmt ist. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Ereignisse im Mutterleib - dieselben Ereignisse, die unterschiedliche Fingerrrillen erzeugen können - auch Sexualhormone ändern können und eine gewisse Anfälligkeit hinterlassen. Somit können sich, wenn eine bestimmte Familienkonfiguration gegeben ist - ein kleines Mädchen, deren Mutter nicht da ist - und wenn diese Anfälligkeit hinzukommt, homosexuelle Tendenzen ergeben – das Bedürfnis, von einer Frau geliebt zu werden. Es entspricht der Logik, wenn man daran glaubt, dass Traumatisierung im Mutterleib nicht auf Fingerkuppen beschränkt ist, sondern auch Hormonsysteme einbezieht. Wir wissen mit Sicherheit, dass hohe Stresshormonwerte der schwangeren Mutter die Ausgewogenheit der Sexualhormone im Fetus stören kann. Später werde ich detailliert erörtern, wie Herzkrankheit im späteren Leben zum Geburtstrauma und zum Leben im Mutterleib in Beziehung gesetzt werden kann, wie Schlaganfälle im Alter von fünfzig Jahren der logische Ausgang von Ereignissen sein kann, die im sechsten Monat der Schwangerschaft stattfanden. Wir werden sehen, wie die Größe der Plazenta zum Zeitpunkt, als Sie geboren wurden, bestimmen kann, wie lange Sie leben, und wie die psychische Haltung der schwangeren Mutter bestimmen kann, ob das Baby später ernsthafte Krankheiten hat. Nathanielsz betont, dass eine sehr große Plazenta mit hohem Blutdruck im späteren Leben korreliert worden ist. Seite 204 |
Das Wort
„Dislokation“
((Verrückung, Verschiebung)) benutze ich oft. Im Falle
der Schizophrenie nahm die Dislokation wortwörtliche Gestalt in den
Gehirnzellen an, da Hippocampus-Zellen, wie ich erwähnte, in der Studie oft
verkehrt herum aufgefunden wurden.13 Man hat
herausgefunden, dass ein hoher Stresshormonspiegel im Blut von Jungtieren die
Entwicklung neuer ausgewachsener Gehirnzellen im Hippocampus hemmt.14
Wir können daraus postulieren, dass der gleiche Prozess eventuell im Mutterleib
zu beobachten ist, wenn der Stresshormonspiegel des Fetuses hoch ist. Er führt
dazu, dass sich Hippocampus-Zellen nicht richtig entwickeln, und dieser Mangel
kann später in schlechtem Gedächtnis, schlechter Verdrängung und in
Problemen, etwas Neues zu erlernen, resultieren. Kurz gesagt kann das System die
limbischen Strukturen, die sich mit Gefühlen befassen, später niemals zügig
entwickeln, wenn es ganz früh in der Schwangerschaft übererregt ist. Auf diese
Weise kann eine sehr ängstliche Mutter ein sehr ängstliches Baby
hervorbringen, eines, das nicht richtig hemmen oder verdrängen kann. Wir
schreiben das der Genetik zu, obwohl es tatsächlich auf Ereignisse in der
biochemischen Beziehung zwischen Mutter und Baby zurückzuführen sein kann. Die
wechselseitige Angleichung der Biochemie ist die Art, wie der Fetus und die
Mutter „miteinander auskommen.“ Man hat festgestellt, dass
geringe Bauchgröße beim Baby bei der Geburt in hoher Korrelation mit hohem
Cholesterinspiegel im späteren Leben steht.15 Peter
Nathanielsz erklärt es folgendermaßen: „Babys, die sich in einer
suboptimalen Umgebung im Mutterleib entwickeln, entfalten schlaue Tricks, um die
Entwicklung ihres Gehirns abzusichern. Wenn die Plazenta nicht angemessen
funktioniert oder wenn die Mutter sich schlecht ernährt, wird die Verfügbarkeit
von Sauerstoff und essentieller Nährstoffe im Blut des Babys unter dem
Optimalwert liegen. In diesem Falle schickt das Baby das Blut vorzugsweise an
das Gehirn und drosselt die Blutmenge zum Darm und zur Leber.“ 16
Das Resultat ist eine normale Kopfgröße und ein reduziertes Abdomen, da
das System das Wesentliche zu schützen sucht – sein Gehirn. Auch auf die Gefahr hin, dass
ich mich wiederhole, muss ich betonen, dass dies keine einmalige Angelegenheit
ist; es ist eine dauerhafte, lebenslange Konsequenz, sowohl im physischen
Bereich als auch in der emotional-geistigen Sphäre. Entsprechende Studien haben
herausgefunden, dass bei geringem Geburtsgewicht das Risiko einer späteren
Herzattacke viel größer ist. Ja, die Kindheit zählt, aber die
Verwundbarkeiten stellen sich ein, lange bevor wir uns hier auf Erden
niederlassen. Es geht nicht einfach
um niedriges Geburtsgewicht; vielmehr kann niedriges Geburtsgewicht ein
Indikator für ein Trauma sein, dass letzten Endes das Herz-/Kreislaufsystem
beeinträchtigen wird. Seite 205 |
Es scheint,
dass wir die lebenslangen Auswirkungen prä- und perinataler Traumen in
Verhaltenstörungen finden, wo auch immer wir hinsehen.17 Es
ist jetzt offensichtlich, dass die Zeit im Mutterleib das spätere
Erwachsenenleben tiefgreifend und auf vielfältige Weise beeinflusst. Gold und
Gordis behaupten, dass die Kette der Ereignisse, die zu Krebs führen, mit dem
fetalen Leben beginnen kann.19 Das entspricht auch meiner
klinische Beobachtung. Zelldeformation, die später zu Krebs führt, kann
durchaus im Mutterleib stattfinden und bis zum Alter von fünfzig Jahren nicht
in Erscheinung treten. Aus diesem Grunde ist es manchmal nicht so leicht, den
Ursprung katastrophaler Krankheiten zu verstehen, aber es ist äußerst wichtig,
wenn wir versuchen wollen, diesen Krankheiten vorzubeugen. In einer dänischen Studie
wurden dreitausend Frauen befragt, ob sie während der Schwangerschaft unter
Stress gestanden hatten.19 Siebzig Frauen gaben Stress an und
hatten wenig sozialen Rückhalt. Ihre Kinder wurden im Durchschnitt mit
geringerem Kopfumfang geboren - ein spezifischer Effekt auf die
Gehirnentwicklung. (Geringere Kopfgröße ist mit späterer Geisteskrankheit in
Verbindung gebracht worden.) Auch hatten sie ein niedrigeres Geburtsgewicht. Neuere
Studien deuten darauf hin, dass ein Geburtstrauma ein wesentlicher Faktor bei späteren
Selbstmordversuchen im Erwachsenenalter ist. Lee Salk hat Geburt und Selbstmord
eingehend studiert. Seine Arbeit an
der Medical School der Cornell Universität und die Arbeit von Forschern am
Karolinska Medical Center in Stockholm verifiziert die Einflüsse des
Geburtstraumas auf möglichen Selbstmord.20 Ein Trauma bei der
Geburt, das tief im Nervensystem und im Hirnstamm registriert wird, beeinflusst
unser Verhalten solange, bis es uns schließlich Jahrzehnte später in den
Selbstmord treibt. Auf diese Art steuert die Einprägung das Verhalten, bis es
sich gegen das Überleben richtet. Wie bringt uns ein Geburtstrauma dazu, dass wir uns später im Leben selbst töten wollen? Es sind die Empfindungen, die eingeprägt werden. Wenn keine noch so große Anstrengung dem Fetus hilft, geboren zu werden, wenn die der Mutter verabreichte Anästhesie Eingang in sein System findet und alle Bemühungen lähmt, prägt das eine Physiologie der Niederlage und Verzweiflung ein. Diese wird später vervollkommnet, wenn das Kind vor unüberwindlichen Hindernissen steht, weil die Eltern streng, unversöhnlich und unnachgiebig sind. Die Verzweiflung verstärkt sich. Wenn einen Mann später seine Lebensgefährtin verlässt und sich weigert, zurückzukommen, wird er von Verzweiflung und von dem Gefühl beherrscht, dass er an seiner Situation nichts mehr ändern kann. Und dann ist er selbstmordgefährdet. Wie bei der Geburt ist er ohne Hoffnung und sieht keine Alternativen, weil es im ursprünglichen Trauma keine Alternativen gab. Es ist Seite 206 |
Bestandteil der Einprägung. Das ist die
Bedeutung suizidaler Depression, bei der sich Hoffnungslosigkeit und
Verzweiflung über alle drei Ebenen der Gehirnfunktion zusammenschließen:
frontaler Kortex, Limbisches System und Hirnstamm. Als einer meiner Patientinnen
von ihrem Ehemann nicht erlaubt wurde, mit ihren Freundinnen auszugehen,
versuchte sie Selbstmord. Es schien kein so dramatisches Ereignis zu sein, aber
in der Therapie lernte sie, dass ihre tyrannische, kontrollierende Mutter und
ihre Probleme, bei der Geburt „herauszukommen“, zusammenwirkten und sich als
tiefe Depression festsetzten. Sie fühlte, dass sie sich „nicht von der Stelle
rühren konnte“ – eine Aussage, die auf allen drei Ebenen zum Ausdruck kam. Der nahende
Tod wird in die Physiologie eingeprägt und die spätere Prägung lautet: „Tod
als Ende der Qual.“ Selbstmord (Tod) kommt der Person sofort in den Sinn, wenn
sie in Schwierigkeiten steckt, weil in der prototypischen Situation der Tod als
unmittelbare Option auf der Lauer lag. Das Gefühl. „Du musst sterben“ ist
aus der Einprägung „Du wirst gleich sterben“ übertragen worden. Somit
wiederum wird die gegenwärtige Situation, die Konfrontation mit einem
Angestellten, angsterzeugend, weil der Hippocampus unter Stress auf das ursprüngliche
Trauma mit seinen ursprünglichen Konsequenzen....dem lauernden Tod zurückgreift.
Ohne dieses Primärfundament könnte die Reaktion vielleicht eine leichte
Besorgnis über eine Konfrontation sein. In der
Salk-Studie gehörten Atmungsprobleme bei der Geburt zu den maßgeblichen
Traumen, die zu späteren Selbstmordversuchen beitrugen. Sechzig Prozent der
untersuchten Personen in der Studie hatten drei Hauptrisikofaktoren: fehlende pränatale
Sorgfalt in den ersten zwanzig Wochen der Schwangerschaft, Atmungsprobleme bei
der Geburt und chronische Krankheit der Eltern. Wir können uns sicher sein,
dass Anoxie ein zentraler Missetäter war. Selbstmord und Geburt In einer Studie von P. Lipsitt vom
Child Study Center an der Brown Universität stellte sich ein dramatischer
Zusammenhang zwischen Selbstmordtendenzen und Problemen bei der Geburt heraus.
Es ist beinahe immer die parasympathische, herunterregulierte Einprägung, die
als Übeltäter auftritt. Das System ist wahrlich „unten“, keine Energie,
alles scheint zu viel, und die Umstände sind so überwältigend, dass man in
den Resignationsmodus verfällt. Wie wir sehen werden, ist es die
„herunterregulierte“ Prägung bei der Geburt und zuvor, welche die Grundlage
für spätere Depression schafft, weil alle diese Gefühle, die ich gerade erwähnte,
Teil der ursprünglichen Einprägung sind. Eine Mutter, die trinkt oder Drogen
nimmt, überfordert die Anpassungsfähigkeiten des Fetus.
Seite 207 |
Eine Mutter,
die unter schweren Beruhigungs- oder Betäubungsmitteln steht, lässt das Baby
überwältigt zurück, buchstäblich unfähig, um sein Leben zu kämpfen, was
sich später schließlich als „Was hat das für einen Zweck?“ artikuliert. Bei Müttern,
die zwei oder mehr Geburtsprobleme hatten, war das Risiko späteren Selbstmords
für die Nachkommen fünfmal so groß. Die zentrale Bedeutung der Lipsitt-Studie
ist, dass ein Trauma, wenn es einmal eingeprägt ist, uns das ganze Leben
hindurch verfolgt und uns so sehr beeinträchtigen kann, dass wir unser Leben
ablehnen. Es mag
scheinen, dass das, was ich sage, darauf hinausläuft, dass wir alle hilflose
Opfer früher Einprägungen sind. Gibt es nichts, was wir tun könnten? Es ist
der Zweck dieses ganzen Buches, aufzuzeigen, was wir tun können. Die Wahrheit
ist, dass es uns schon helfen kann, unsere Einprägungen in gewissem Maße zu
bekämpfen, wenn wir zumindest wissen, wie sie beschaffen sind. Wir können sie
durch keinen Willensakt auslöschen, aber wir können versuchen, sie unter
Kontrolle zu halten, und unser Verhalten ändern. Ich wünschte, ich könnte es
anders sagen, aber die Einprägung ist allmächtig. Wenn jemand seit der Geburt
einschließlich der Kindheit ein Leben lang resigniert und verzweifelt ist, wird
der Beschluss allein, jetzt fröhlicher zu werden, daran nichts ändern. Wir können
nicht „darüber hinwegkommen“. Wir können uns nicht einfach über unsere
Physiologie oder Gehirnschaltkreise hinwegsetzen. Die Frontalregion des
Kortexes, wo Entscheidungen getroffen werden, ist nicht dafür bestimmt, stärker
als unsere Überlebensmechanismen weiter unten im Gehirn zu sein. Ist es
hoffnungslos? Nein. Wir können alle etwas tun, wenn wir wollen. Wenn wir uns
entscheiden, so zu leben, wie wir sind, dann sei dem so. Es ist alles eine Frage
der Wahl. Ich biete die Möglichkeit der Wahl. Wir müssen nicht Opfer unserer
Kindheit sein. In der
Zwischenzeit können wir Abstand nehmen von Drogen oder Schokoladekuchen. Wir können
schmerzstillende und Blutdruck regulierende Medikamente einnehmen. Aber das ist
nur Linderung, keine Heilung. Linderung beschreibt den Zustand der heutigen
Psychotherapie. Das muss sich ändern. Eine neuere
Forschungsarbeit von A. R. Hollenbeck, einem weiteren Spezialisten für fetales
Leben, dokumentiert, wie jedes Medikament, das die schwangere Mutter erhält,
die Neurotransmitter-Systeme der Leibesfrucht verändert, besonders während
der kritischen Periode, wenn sich diese Neurotransmitter-Systeme im Mutterleib
bilden.21 Er behauptet, dass die Verabreichung lokaler Betäubungsmittel
wie Lidocain (zur Unterstützung des Geburtsprozesses) in sensiblen (kritischen)
Perioden der Schwangerschaft dauerhafte Änderungen im Verhalten des Nachwuchses
erzeugen kann.22 Gehirnsubstanzen wie Serotonin und Dopamin können sich dauerhaft ändern,
wenn ein Tier den Geburtsprozess durchmacht und dabei auch nur ein lokales Anästhetikum
angewandt wird. Das wiederum beeinflusst das Schleusensystem. Seite 208 |
In einer
anderen Studie fand Hollenbeck, dass schwangere Frauen, die einem Anästhetikum
ausgesetzt waren, im Gegensatz zu Frauen, die keines erhielten, Babys bekamen,
die weniger wogen. Dieses niedrige Geburtsgewicht kann auf Veränderungen in der
Physiologie des Babys hindeuten, die wiederum das spätere Verhalten
beeinflussen können.23 Die meisten Beweise weisen auf die
Tatsache hin, dass lokale Anästhetika die Plazenta-Barriere durchdringen und
sich auf das Neugeborene auswirken. Diese Babys sind träger als solche, die
nicht medikamentös beeinflusst wurden, und wühlen nicht so bereitwillig nach
der Brustwarze. Es kann der Beginn einer allgemein passiven Persönlichkeit
sein. Irgendwo hat Neurose ihren Anfang. Wenn sich
das intrauterine Milieu bei Tieren durch die Zuführung von Kokain ändert, dann
ändert sich die Neurotransmitter-Produktion beim Neugeborenen und beeinflusst
langfristig das Gehirn. Kevitt, Reinoso und Jones, die die Entwicklung von
Gehirnzellen in der fetalen Phase studiert haben, weisen auf Folgendes hin:
„Das zelluläre Milieu des sich entwickelnden Nervensystems erfüllt somit pränatal
Funktionen, die so entscheidend sind wie in der postnatalen Zeit Umweltreize,
die die Entwicklung und Verfeinerung der Synapsen fördern.“24
Die chemische Umwelt während der Schwangerschaft ist genau so wichtig, wie die
soziale Umwelt nach der Geburt, in der Tat vielleicht noch wichtiger. Die Arbeit
anderer Wissenschaftler, die fetales Leben erforschen, J. M. Cermak et al.,
zeigte dasselbe Ergebnis.25 Langzeit-Veränderungen des Verdrängungs-
und Hemmungssystems werden verursacht, wenn sich das intrauterine Milieu
lediglich durch einen einzigen Baustoff ändert. In diesem Fall war es der
Baustoff Cholin, der die Erinnerungsbewahrung bei den Nachkommen permanent
steigerte. Cholin ist ein essentielles Element für den Signalisierungsprozess
in Zellen. Es ist für die Gehirnentwicklung wesentlich und fördert den
inhibitorischen Prozess von Zellen. Forschungen
in Schweden ergaben, dass die Wahrscheinlichkeit einer späteren Amphetamin-Abhängigkeit
des Nachwuchses viel größer war, wenn eine gebärende Mutter bei der Geburt
Opiate oder Barbiturate erhielt.26 Was viele der neuen Studien
über Abhängigkeit jedoch übersehen, ist die Natur der Geburt, ob sie eine
phlegmatische, passive Persönlichkeit einprägt, die später vielleicht
‚Speed’ braucht, oder eine aggressive, erregbare Person, die später
‚Downer’ braucht.27 Die Art der Geburt diktiert in hohem
Grade, ob es zu einer Kokainabhängigkeit kommt oder zu einer Abhängigkeit von
Schmerztötern. Ob, kurz gesagt, das biologische Bedürfnis darin besteht, das
Dopaminsystem zu „frisieren“, oder darin, das hemmende Serotoninsystem zu stützen.
Herunterregulierung vor und während der Geburt durch den Gebrauch von
Beruhigungsmitteln kann eine Abhängigkeit von Cola oder Kaffee im späteren
Leben bestimmen. Der Körper fährt unser ganzes übriges Leben damit fort, das
Eindringen von Drogen im Mutterleib zu kompensieren. Es ist, als würden wir ständig
versuchen, die abweichenden Sollwerte auf den Ausgangspunkt zurückzubringen. Seite 209 |
Abhängigkeit
von Schlaftabletten oder Quaalud wirkt möglicherweise direkt auf ein überaktives
retikuläres Aktivierungssystem ein. Diese Reaktion hängt davon ab, ob die
prototypische Persönlichkeit hyper ist (Sympathiker) oder hypo
(Parasympathiker). Kurz gesagt kann die frühe Einnahme von Drogen oder
Medikamenten durch die schwangere Mutter die Persönlichkeit in bestimmte Bahnen
lenken. Ständiger Gebrauch von Beruhigungsmitteln durch die Mutter könnte
durchaus zu späterer „Speed“-Abhängigkeit der Nachkommen führen. In
diesem Fall sind im Mutterleib die Sollwerte für angemessene Aktivierung
niedrig eingestellt worden, so dass die Person später eine gewisse Art von
Stimulans braucht. Deshalb kann jemand drei Cokes trinken, bevor sie/er ins Bett
geht, und schlafen wie ein Klotz. Ich habe
einige hinsichtlich des Lebens im Mutterleib relevante Forschungsarbeiten
diskutiert und außerdem, wie einige unserer biologischen Sollwerte in der Zeit
im Mutterleib fixiert werden. Eine gewisse Leblosigkeit kann das Ergebnis
schwerer Beruhigungsmittel sein, welche die schwangere Mutter eingenommen hat
und die ihren Weg ins fetale System finden. Eine hyperaktive Mutter kann ihr
Baby mit diesem Zustand prägen, so dass das Kind später, nach der Geburt und
in der Adoleszenz, Downer braucht, um sich „normal“ oder entspannt zu fühlen.
Ich werde jetzt diese Diskussion bezüglich der verminderten
Sauerstoffversorgung während der Geburt fortführen, ein Phänomen, das oft das
Ergebnis schwerer Anästhesie ist, die der gebärenden Mutter verabreicht wird.
Gäbe es ein universelles Unbewusstes, so wäre es die Hypoxie und Anoxie, die
wir oft während der Geburt erleiden. So oft steckt es hinter Rauchen und
Trinken. Meine anoxischen Patienten sind fast immer diejenigen, die stark
rauchen. Es ist eine Erfahrung auf Leben und Tod, wenn das Baby zum ersten Mal
das Licht der Welt erblickt; ein Organismus mit einem naiven Gehirn und hoher
Verwundbarkeit. Sie wird mit unglaublicher Kraft in das System eingraviert. Wir
müssen uns nur das Wiedererlebnis (oft gefilmt) ansehen, wenn der Patient rot
anläuft, um Luft ringt und scheinbar stirbt. Das ist keine Theorie, die ich
ausgeheckt habe; es ist eine beobachtbare Tatsache, tagein, tagaus. Es ist unmöglich,
einem Menschen ein solches Erlebnis einzureden. Leben im Mutterleib und spätere Krankheit Das pränatale Leben kann unser übriges Leben auf tiefgreifendste Weise bestimmen. Abweichungen der hypothalamisch-hypophysisch-adrenalen Achse (HPA) können die Funktion des Immunsystems unterdrücken und spätere Immunschwäche verursachen. Laut M. Weinstock, der den HPA-Schaltkreis studiert hat, „weisen pränatal
Seite 210 |
gestresste
Kleinkinder bei Menschen die folgenden Langzeitprobleme auf:
Aufmerksamkeitsdefizite, Überängstlichkeit, gestörtes Sozialverhalten,
beeinträchtigte Anpassung an Stress-Situationen und eine generelle
Fehlregulierung der hypothalamisch-hypophysisch-adrenalen Achse.“ 28 Ich möchte
noch einmal die Bedeutung der kritischen Periode betonen, in der Regel die
Periode, in der sich das Gehirn und seine Synapsen in schnellem Tempo
entwickeln. Wenn wir ein paar Tage lang Kaffeee trinken, fühlen wir uns
vielleicht einfach „hyper.“ Aber wenn eine schwangere Mutter über mehrere
Tage in der kritischen Periode der Synaptogenesis im Fetus 4 oder 5 Tassen am
Tag trinkt, ist die Möglichkeit einer Einprägung gegeben, die die Sollwerte
des Babys lebenslang verändert. Die Agitation wird in das fetale System eingeprägt
und dauert an. Aus diesem Grunde
glaube ich, dass ein Kind, in dem auf Grund des Geburtsprozesses und seiner
Anoxie ein verborgener Strom des Schreckens fließt, anfällig für das Syndrom
des plötzlichen Kindstodes sein kann. Die Furcht, mit sechs Monaten im Dunkeln
alleine zu sein, kann in Verbindung mit dem archivierten Schrecken, der im Locus caeruleus steckt, für das
kleine Herz des Kindes zu viel sein. Die Babys können einer Herzattacke oder
einem Schlaganfall erliegen, weil sie ein solches Maß an Terror nicht
verkraften können. Niedriges
Geburtsgewicht steht in hoher Korrelation mit späterer Herzkrankheit.29
David Leon von der London School of Hygiene hat herausgefunden, dass die Möglichkeit
von Diabetes im späteren Alter erhöht ist, wenn jemand dünn geboren wird. Es
kann sein, dass ein Trauma im Mutterleib die Sollwerte für Insulin und Glukose
verändert hat. Die einfache Tatsache einer eitlen Mutter, die während der
Schwangerschaft hungert, um ihre Figur zu halten, kann für den Fetus außergewöhnlich
schädlich sein. Vielleicht muten all diese Informationen an, als wolle ich, wie
die Leute in Frankreich sagen, „den Fisch ersäufen“. Ich konzentriere mich
nur darauf, was so sehr vernachlässigt worden ist. Bedürfnisse beginnen im
Mutterleib. Jetzt existieren die Techniken, die uns erlauben, in diese Tiefen
vorzustoßen. Es ist möglich,
dass Schmerz, der sich in den ersten Monaten der Schwangerschaft festsetzt, eine grundlegende Fehlregulierung erzeugt,
die in der frühen und späteren Kindheit in Form somatischer Leiden (Asthma,
Allergien) oder psychischer Merkmale (Trägheit, Aggressivität, ständigem
Weinen, Herumzappeln, Hyperaktivität) erscheint. Das neugeborene Baby kann
unter Schmerz stehen, ob es das fühlt oder nicht, ob es sich dessen bewusst ist
oder nicht oder ob es dafür Worte hat oder nicht. Während ich das schreibe, wird mir klar, wie hoffnungslos die Lage einigen Lesern scheinen mag. Sind alle Leute neurotisch? Ich denke nicht, aber es ist wahr, dass viele von uns sich dessen völlig unbewusst sind, was in unserem Unbewussten vor sich geht. Müssen wir darüber Bescheid wissen? Nicht, wenn Sie mit ihrem Leben so, wie es ist, zufrieden sind. Von einem objektiven Standpunkt aus muss man davon wissen, weil eine Verwundbarkeit des System für vorzeitige Krankheit und Seite 211 |
vorzeitigen Tod besteht. Es ist wichtig, darüber Bescheid zu wissen, wenn Sie
das Verlangen nach Drogen und Schmerztötern beeinträchtigt. Oder wenn Sie Zwänge
haben, die außer Kontrolle geraten sind, oder Symptome, die nicht verschwinden
wollen. Keine Geburt ist absolut perfekt, noch ist jedes vorgeburtliche Leben
ideal. Aber ich betone das, was man übersehen hat. Es geht nicht darum, als
Eltern perfekt zu sein. Es geht darum, dass wir wissen, welche Konsequenzen sich
ergeben, wenn Kinder nicht berührt und im Arm gehalten werden. Eine Mutter, die
während der Schwangerschaft chronisch deprimiert war, versteht nun zum Teil
vielleicht die Auswirkungen der Depression auf das Kind. Das Verhalten und die
Symptome des Kindes sind kein solches Geheimnis mehr. Ich bringe Wegweiser an,
die markieren, wo man abzweigen sollte. Nach meiner Erfahrung hat das Kind eine
gute Chance im Leben, wenn die Eltern liebevolle Seelen sind, auch wenn sie
viele Fehler mit dem Kind machen, es zum Beispiel anschreien, wenn es sich
daneben benimmt. Wenn wir weiterhin denken, dass die Zeit der Gravität nur
unwesentliche Wirkungen auf das Kind habe, denken wir vielleicht auch, es sei
gut und schön, während der Schwangerschaft zu rauchen und trinken. Auch könnte
sich für die Ärzte und Therapeuten, die sich eigenartigen Symptomen seitens
Ihrer Patienten gegenüber sehen, eine konkrete Vorstellung von den Ursachen
ergeben. Die Saat für
Herzdysfunktion, Herzklopfen, unregelmäßigen Herzschlag, Atherosklerose, hohen
Blutdruck, Krebs, Autoimmunstörungen, Depression, Phobien, Panik und Angststörungen
kann schon gestreut sein, ehe wir auch nur zu einem einzigen Wort fähig sind.
Es hat sich herausgestellt, dass chronisch hohe Kortisolwerte zu Atherosklerose
im Erwachsenenalter führen. In der Tat sind die Schmerzen, die wir ohne Worte
speichern, mit größter Wahrscheinlichkeit diejenigen, die später den größten
Schaden anrichten. Katastrophaler Schmerz vermittelt spätere katastrophale
Krankheit. Es ist kontraproduktiv, Patienten dahin bringen zu wollen, dass sie
über eine Gefühlserfahrung der Vergangenheit diskutieren, die keine Worte hat.
Das vertreibt das Gefühl eher. Die Decke zurückschlagen
Wir müssen die Decke bis zum Leben im Mutterleib zurückschlagen,
wenn wir alle möglichen späteren Störungen verstehen wollen. Gerade als
einige von uns begriffen haben, dass das Geburtstrauma uns ein Leben lang
beeinflusst, müssen wir jetzt in Betracht ziehen, dass vorgeburtliche
Ereignisse für die Prägung unseres Lebens sogar noch wichtiger sind. Wir
„kommen nicht darüber hinweg, noch wachsen wir aus der Sache heraus.“
Seite 212 |
In
Tierexperimenten mit Föten beeinträchtigte eine in den letzten ein oder zwei
Wochen vor der Geburt gestresste Mutter den Serotoninausstoß ihres Nachwuchses.
Die Langzeitfolgen frühen Stresses auf die spätere Entwicklung sind von David
Peters von der Ottawa-Universität in Kanada zusammen mit Ross Ader, S.M. Barlow
und R. Chapman dokumentiert worden.30 Peters fand heraus, dass
Stress die spätere Entwicklung von inhibitorischen Schlüsselhormonen beeinträchtigte
und die synaptischen Verknüpfungen störte. Er schreibt: „Studien haben
gezeigt, dass das Verhalten erwachsener Nagetiere durch pränatale Ereignisse
signifikant beeinflusst werden kann.“ 31 Zum großen Teil
bedeutet das, dass frühe Traumatisierung der Mutter zu Veränderungen beim
Nachwuchs führen kann. Diese Veränderungen sind zuallererst eine Reduktion der
neurochemischen Hemmsubstanzen, die Schmerz und Angst bekämpfen. So viele
Beweise demonstrieren nun, dass eine Mutter, die in der späten Schwangerschaft
leidet, Nachwuchs bekommt, der nicht „kampfbereit“ ist. Er wird zu dem
angstgeplagten Kind, das sich leicht ablenken lässt und deshalb nicht richtig
lernen und studieren kann. Hemmung/Verdrängung
beginnt im Mutterleib; bereits wenige Wochen (ungefähr zwölf) nach der Empfängnis
finden wir die Anfänge der Produktion hemmender Neurohormone. Wie könnten wir
je Zugang zu diesen frühen Erinnerungen erlangen? Wir können zuerst das Medium
der Gefühle benutzen und dann das der Empfindungen unterhalb dieser Gefühle,
um zu ihrem Endpunkt im Hirnstamm zu gelangen. Wie wissen wir, dass wir dort
angekommen sind? Jetzt gleich wissen wir es nicht, weil die Empfindungen
undeutlich, höchstwahrscheinlich amorph und ohne zugehörige Begriffe oder
Szenen sind. Aber wir wissen es empirisch durch die klinische Beobachtung. Im Mutterleib überwältigt Eine schwangere Mutter, die voller
Angst ist, weil ihr Mann seinen Job verloren hat, kann übermäßig aufgeregt
sein. Sie trinkt drei Tassen Kaffee am Tag, raucht fürchterlich und ist
allgemein nervös. Sie überreizt den Fetus, dessen Umgebung jetzt mit Aufregung durchsetzt ist. Um es zu
wiederholen, wenn dieser Fetus zu einem Erwachsenen wird, kann er oder sie sich
schon unter dem leichtesten Druck überwältigt fühlen. Schon das Anziehen für
eine Abendgesellschaft kann Leute veranlassen, immer wieder die Kleider zu
wechseln, weil sie sich nicht entscheiden können, was sie anziehen sollen. Er: Kannst
du bitte damit aufhören, Kleider anzuprobieren, und deinen Koffer packen, damit
wir hier wegkommen?
Seite 213 |
Sie: Hör
auf, mich zu drängen. Du bringst mich so weit, dass ich am liebsten aufgeben
und zu Hause bleiben möchte. Er: Ich dräng’
dich nicht. Das Flugzeug startet in einer Stunde. Sie: (weint)
Ich schaff’ es nicht. Es ist alles zu viel für mich. Lass’ mich einfach zu
Hause bleiben. Er: Himmel
nein! Geh’ zu deinem Psychiater. Der
Therapeut: Es ist nichts so Überwältigendes beim Anziehen. Lassen Sie uns das
Schritt für Schritt durchgehen. (Nun....sich für eine Party zu kleiden, kann
einfach ein Auslöser für das alte intrauterine Trauma sein, das im Unbewussten
verborgen liegt. Es als Überreaktion oder auch nur als neurotisch zu
bezeichnen, bedeutet, den wesentlichen Punkt nicht zu begreifen.) Sie: Er
versteht mich nicht. Ich fühle mich von allem so überwältigt. Ich bin es
alles so leid. Er: (zu
seinem Arzt) Sie versteht mich nicht. Sie tut nichts, wenn ich sie nicht dränge.
Und wenn ich es tue, dann macht sie auch nichts, weil sie sich dann unter Druck
gesetzt fühlt. Der Arzt:
Betrachten wir es auf diese Weise. Vielleicht können Sie ein bißchen
geduldiger sein. Beide reden
sie in der Gegenwart über ein Problem aus der Vergangenheit. Der Kortex
versucht, den Dialog mit dem Hirnstamm aufzunehmen, aber der spricht kein
Englisch und auch sonst keine Sprache. Erst später im Leben ist die Frau in der
Lage, dieses Empfindungs-Gefühl als etwas ganz Bestimmtes in ihrer Geschichte
zu bezeichnen: Überwältigung durch zuviel Eingaben. Physiologisch
unterscheidet sich das nicht davon, wenn man durch zu viele Forderungen in der
Kindheit unter Druck gesetzt wird. Im ersten Fall ist der Input
neurophysiologisch; im zweiten ist es sozialer Input durch die Eltern. Der
soziale, emotionale Input baut auf der neurophysiologischen Erfahrung der Geburt
und der Zeit zuvor auf und produziert dadurch ein noch viel schwereres Gefühl.
Die Empfindung, durch Eingaben im Mutterleib überwältigt zu werden, ist das
Substrat ihrer Qual. Als Erwachsene kann sie der Sache einen Namen geben, sie
diagnostizieren, aber auch ohne Namen hat sie eine Realität. Das Anziehen ist
lediglich der Brennpunkt für ihr Gefühl, nicht aber das Kernproblem. „Überwältigt“
macht sie mit ihrem alltäglichen Leben weiter. In einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung beginnt sie, ein Problem in Angriff zu nehmen, und will dann sogleich aufgeben. Das Gefühl der Niederlage kam zustande, als ihre Mutter bei der Geburt massive Anästhesie erhielt ( die in den Fetus eindrang). Sie musste aufgeben. Es gab keine Alternative. Die Vergangenheit lässt sie jetzt in der Gegenwart genauso fühlen. Dieses Gefühl verstärkte sich dann, als ihre Eltern sie mit Hausarbeit, Hausaufgaben und einem Übermaß an Seite 214 |
Forderungen überlasteten. Wie behandeln wir das? Wir
beginnen in der Gegenwart und reden über den Koffer und die Kleider. Schließlich
gehen wir dahin zurück (nicht in einer einzigen Sitzung), wie sie sich fühlte,
als ihre Mutter ständig Forderungen stellte, und dann wird sie Wochen oder
Monate später in einen Geburtszyklus fallen. Der schwierige Teil ist die
zeitliche Abstimmung. Wann ist sie bereit, tiefer zu gehen? Wir suchen nach
Hinweisen und lassen ihren Körper entscheiden.
Chronische Erschöpfung im Mutterleib Manchmal kommt der Patient herein
und ist erschöpft. Zu schwer ist der Lebenskampf. Bei einer Frau war das
Syndrom der chronischen Erschöpfung diagnostiziert worden. Sie erlebte den
wirklichen Kampf wieder, der für sie bei der Geburt zu schwer gewesen war, und
ein Großteil ihrer Müdigkeit verschwand. Sie kämpfte ständig gegen überwältigende
Umstände in ihrem Gehirn. Vielleicht hört es sich bei mir an, als ob eine
Patientin hereinkommt, ein Gefühlserlebnis hat und geheilt ihrer Wege geht.
Mitnichten. In ihrem Fall dauerte das Wiedererleben des ursprünglichen Kampfes
viele Monate.
Eine
Patientin von mir hatte folgendes Gefühl: „Papi, lass’ mich in Ruhe. Gib
mir bitte Zeit!“ Sie fühlte sich durch ihren angespannten, ungeduldigen und
fordernden Vater überwältigt. Nachdem sie dieses Gefühl eine Stunde lang
erlebt hatte, glitt sie in die reine, wortlose Empfindung, wie sie bei der
Geburt anästhetisiert worden war. Nachdem das Gefühl zur Verknüpfung
gelangte, gehörte es endgültig der Vergangenheit an. Was wir wirklich nicht
wollten, war, sie dazu zu bringen,
dass sie über ihre Gefühle
redet, denn das würde
sie sicherlich von ihren Gefühlen wegführen (wenngleich Worte oft den Zugang
ermöglichen). Der Therapeut wäre mit der kortikalen Ebene beschäftigt, während
die Empfindung tief unten im Gehirn der Patientin liegt. Es wäre ein Dialog,
der dem Versuch gleichkommt, Millionen Jahre der Evolution zu überbrücken. Eines der Zeichen, dass frühes präverbales Material zum Vorschein kommt, ist der Albtraum: Das Limbische System absorbiert die Energie und den Terror aus dem Hirnstamm und fügt der Mischung seinen Teil in Form von Bildern hinzu, um einen wirklich fürchterlichen Traum zu erzeugen.......zum Beispiel von einer düsteren fremden Gestalt erdrückt oder erstickt zu werden. Noch später macht sich genau diese Kraft auf den Weg zum frontalen Kortex, der sich durch verzerrte Vorstellungen auf die Einprägung einstellt. „Alles scheint so verwirrend, so völlig durcheinander.“ Oft ist Verwirrung die Reaktion, wenn jemand in tiefe, abgelegene Ereignisse versunken ist, weil zu der Zeit nur ein sehr kleiner Teil des frontalen Kortexes betriebsbereit war, der die Dinge hätte klären können. Verwirrung kann prototypisch werden; Angesichts komplizierter Instruktionen, zum Beispiel eine unbekannte Straße finden oder eine Telefonnummer wiederholen zu müssen, blendet sich der kortikale Verstand aus, und es herrscht Verwirrung. Wenn Patienten zurückgehen und Ereignisse im Alter von einem Jahr wiedererleben, bevor es Sätze gab, dann gibt es beim Wiedererleben sicher keine Sätze. Das Gehirn ist unerbittlich in seiner Weisheit.
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Quellenverweise und Anmerkungen
N.1 E.
G. Jones, « Scientists Link Faulty Distribution of Certain Cells to
Schizophrenia,” Los Angeles Times, 16. Mai 1996, s. B2.
N.2 K.
S. Anand, “Growing Sensitive to Infant Pain,” Insight (8.
Februar 1998): s. 52-53 beziehen sich auf K. S. Anand.
N. 3 J.
M. Lauder, „Neurotransmitters as Morphogens,“ Progress in Brain Research
(Amsterdam,
Niederlande) 73
(1988): 365-88.
N. 4 M.
Huttunen und P. Niskanen, „Prenatal Loss of Father and Psychiatric
Disorders,“ Archives of General Psychiatry 35 (1978): 429-31.
N. 5 J.
M. Lauder, „Neurotransmitters as Morphogens.“
N. 6 Ibid.,
s. 171.
N. 7 Ibid.
N. 8 J.
W. Smythe et al., « The Interaction between Prenatal Stress and Neonatal
Handling on
Nociception
Response Latencies in Male and Female Rats, » Physiology and Behavior 55,
no. 5 (Mai 1994): 971-74.
N. 9 Ibid.
N. 10 A.
Barbazanges et al., « Maternal Glucocorticoid Secretion Mediates Lomg-Term
Effects of Prenatal Stress, » Journal of Neuroscience 16 (15. Juni 1996):
3943-49.
N. 11 Siehe: Peter W.
Nathanielsz, Life in the Womb Ithaca, N. Y.: Promethean Press, 1999), s. 14.
((Peter W. Nathanielsz, Leben im Mutterleib, München, List, 1995)) N. 12 Ibid.
N. 13 Schizophrenie ist ein
kompliziertes Thema. Es ist nicht möglich, ihm hier gerecht zu werden , und man
kann nur auf einige ins Auge springende Punkte hinweisen. Zum Beispiel stellte
sich in einer Studie an Psychotikern heraus, dass die linke Hemisphäre weniger
dicht war als die rechte Seite. Man glaubte, dass bei Schizophrenie eine
Funktionsstörung der linken Hemisphäre besteht.
Siehe: E. Cantor-Graae et al., „Link between Pregnancy Complications
and Minor Physical Anomalies in Monozygotic Twins Discordant for
Schizophrenia,” American Journal of Psychiatry 151, no. 8 (August 1994):
1188-93.
N. 14 G.
Kempermann und F. H. Gage, „New Nerve Cells for the Adult Brain,“ Scientific
American 280, no. 5 (Mai 1999): 52. N. 15 Siehe bitte alle
Forschungsarbeiten und Schriften von David Barker, einschließlich Mothers,
Babies and Health in Later Life (Churchill Livingstone, 1998).
N. 16 Peter
W. Nathanielsz, Life in the Womb, s. 11-12.
N. 17 Ich beziehe mich auf eine sehr
große Studie von B. Pasamanick hinsichtlich Verhaltensstörungen (siehe B.
Pasamanick, „A Child is Being Beaten,“ American Journal of Orthopsychiatry
41, no. 4 [Juli 1971]: 540-56; idem, „Letter: Maternal Nutrition and Low Birth
Weight,“ Lancet 2, no. 7937 [11.
Oktober 1975]: 704-705; idem,
„Letter: Ill-Health and Child Abuse,“ Lancet 2, no. 7934 [20. September
1975]: 550), bei Krebs (siehe “Brain Tumors Among Those Children of Mothers
Who Took Barbiturates during Pregnancy,” die Arbeit von E. Gold und L.
Gordis), Lymphoma und Diabetes. G. T. Livezey et al., « Prenatal Diazepam :
Chronic Anxiety and Deficits in Brain Receptors in One-Year-Old Rats,” Brain
Research 334 (1985): 361-67.
N. 18 E.
Gold und L. Gordis, „ Increased Risk of Brain Tumors in Children Exposed to
Barbiturates,“ Journal of the Natinal Cancer Institute 61 (1978): 1031-34.
N. 19 H.
C. Lou et al., « Prenatal Stressors of Human Life Affect Fetal Brain
Development, » Developmental Medicine and Child Neurology 36, no. 9
(September 1994): 826-32.
N. 20 Lee Salk, wie in der Lancet vom
16.
März
1985 berichtet.
N. 21 A.
R. Hollenbeck et al., „Anesthesia Exposure to unborn Suggests Future Health
problems,“ Science 16, no. 2 (1985): 126-34.
N. 22 Ibid.
N. 23 Îbid.
N. 24 P.
Levitt, B. Reinoso und L. Jones, “The Critical Impact of early Cellular
Environment on Neuronal Development,” Preventive Medicine 27, no. 2 (März-April
1998): 180-83.
N. 25 J.
M. Cermak et al., « Prenatal Availability of Choline Modifies Development
of the Hippocampal Cholinergic System, » Faseb Journal 12, no. 3 (März
1998): 349-57.
N. 26 K.
Nyberg, “Opiate Addiction in Adult Offspring through Possible Imprinting after
Obstetric Treatment,” Acta Obstetrica et Gynecologia Scandinavica 301 (1990):
1067-70. Lesen Sie mehr zu diesem Thema: B. Jacobson et al., „Obstetric Pain
Medication and Eventual Adult Amphetamine Addiction in Offspring,“ Acta
Obstetrica et Gynecologia Scandinavica 67 (1988): 677-78. N. 27 Ich erörtere das in Kapitel 5 über
das sympath(et) ische und parasympath(et)ische Nervensystem.
N. 28 M.
Weinstock, „Does Prenatal Stress Impair Coping and regulation of the
Hypothalamic-Pituitary-Adrenal Axis?”, Abstract, UCLA Louise M. Darling
Library Biomedical Neuroscience and Behavioral Reviews 21, no. 1 (Januar 1997):
1-10.
N. 29 Siehe die Arbeit von David
Barker, Southampton University, England, der dies eingehend studiert hat.
N. 30 D.
Peters at al., “Effects of Maternal Stress during Different getsational
Periods on the Serotonergic System in the Adult Rat Offspring,” Pharmacology,
Biochemistry and Behavior 31 (1989): 839-43.
N. 31 A.
J. Friedhoff und J. C. Miller, „Prenatal Neurotransmitter Programming of
Postnatal receptor Functions,“ Progress in Brain Research (Amsterdam,
Niederlande) 73 (1988): 518.
|
KAPITEL 12 DAS GEBURTSTRAUMA ____________________
Die Vorstellung eines Geburtstraumas mag Außenstehenden
völlig bizarr, wunderlich oder mystisch erscheinen; auch ich tat mich zuerst
schwer, daran zu glauben. Vor Jahren mahnte ich einen Patienten, dass ich ihn
entlassen werde, wenn er noch einmal erwähne, dass er die Geburt
wiedererlebe. Ich habe es zwei Jahre lang an Patienten beobachtet, bevor ich
es endlich akzeptierte, hauptsächlich weil ich es mit Neurologen besprochen
hatte, die mir sagten, so etwas sei unmöglich.
Das
Geburtstrauma ist eine wahre und messbare Erfahrung. Aufgrund seiner hohen
Schmerzvalenz ist es in ungeübten Händen auch ein höchst gefährliches
Ereignis. Rebirther, aufgepasst! Wenn man sich über die Evolution der
Gehirnfunktion hinwegsetzt und versucht, ein uraltes Gehirn zu sondieren,
lange bevor die Person bereit ist, erhält man Schmerzen
außerhalb der natürlichen Reihenfolge, die aus der Tiefe des Gehirns an die
Oberfläche drängen und den Kortex überlasten, der dann sonderbare Gedanken
und mysteriöse Symptome erzeugt. Das Resultat für den Patienten ist
unvermeidlich Verwirrung.
Am
anderen Extrem liegt die traditionelle Einsichtstherapie, die das zerebrale
Mobiliar neu arrangiert und oft im Untergrund einen siedenden und schäumenden
Kessel qualvoller Gefühle und Empfindungen zurücklässt, die nie
Seite
220
|
Wenn jemand
durch eine Geburtssequenz geht und auch nur wie ein Kleinkind weint, ist es
sicherlich eine vorgetäuschte Erfahrung. Patienten aus ungefähr vierundzwanzig
Ländern sind durch diese Erfahrung gegangen, und ich habe von keinem von ihnen
jemals ein Wort gehört; keiner konnte von Armen und Beinen Gebrauch machen. Wir
reden das Geburtserlebnis nie einem Menschen ein, noch steht es auf dem
Therapieplan. Es geschieht, wenn der Patient bereit ist. Das Weinen eines Zehnjährigen
hört sich anders an als das Weinen eines neugeborenen Kindes. Beide Arten
werden eindeutig in unterschiedlichen Arealen des Gehirns organisiert. Durch die
speziellen Laute des Weinens, die der Patient nach der Sitzung niemals
wiederholen kann, wissen wir, dass wir zu Erinnerungen aus der Kleinkindzeit
vorgestoßen sind. Wie wir sehen werden, ist Verknüpfung aus guten
neurologischen Gründen eine sine qua non. Ist das Unbewusste gefährlich ?
Unglücklicherweise
besagt der theoretische Zeitgeist, dass es gefährlich sei, in das Unbewusste
einzutauchen. Das ist ein Auswuchs religiöser Philosophie des neunzehnten
Jahrhunderts, die für den Glauben eintritt, dass wir alle von Dämonen bewohnt
seien, die man niemals freilassen darf. Es gibt keine Dämonen! In uns wohnen
Bedürfnisse und Schmerzen, die aus deren Nichterfüllung resultieren. Sie sind
erfahrbar. Am Anfang des Lebens besteht ein Bedürfnis nach Sauerstoff. Je tiefer, je weiter hinab wir ins Gehirn gelangen, umso weniger verformbar wird es, weil wir es mit Überlebens-Grundfunktionen zu tun haben. Umgekehrt, je höher wir im Gehirn steigen, umso flexibler wird es. Das ist der Grund, warum Gedanken „verrückt werden“ können (das heißt, höchst sonderbare Ansichten fabrizieren können). Es ist nicht unsere Aufgabe, Gedanken zur Norm zurück zu bringen, sondern vielmehr, die überwältigenden Gefühle zu normalisieren, die diese Gedanken zum Beispiel in paranoide Kanäle lenken. Natürlich machen das die meisten psychiatrischen Praktiker, ohne es anzuerkennen. Sie benutzen Beruhigungsmittel, um Gefühle zu normalisieren, reden dann mit den Patienten und helfen ihnen, die Gedanken durchzugehen. „Im Grunde“, könnte der Doktor sagen, „wissen Sie, dass niemand Botschaften von Europa durch den Fernseher schickt, um Ihre Brüste abzuschneiden.“ Das war die Wahnvorstellung einer Patientin von mir. Sie glaubte aufrichtigen Herzens, dass sie solche Botschaften erhalte, und niemand konnte sie von dieser Vorstellung abbringen. In unseren Sitzungen haben wir diese Vorstellung
Seite 221 |
nie angesprochen. Stattdessen beschäftigten
wir uns mit ihren Gefühlen. „Sie wollen mich entstellen, damit ich mich hässlich
fühle,“ sagte sie. Dieser Wahnvorstellung lag zugrunde: „Ich fühle, dass
sie mich nicht mögen.. Ich muss so hässlich sein, dass sie mich überhaupt
nicht mögen.“ Die Botschaft, der Gedanke wurde geschickt, damit sie sich hässlich
fühlte und deshalb unerwünscht, oder unerwünscht und deshalb hässlich. Das
bezog sich darauf, wie ihre Eltern sie behandelt hatten.
Die
Grundlage dieser Wahnidee war das Gefühl, nicht geliebt zu sein. Wenn jemand
immer wieder zu erkennen gibt, dass er nicht bei uns sein will, ergibt sich der
offensichtliche Schluss, dass er oder sie uns nicht mag; und so fühlen wir uns
ungeliebt. Wenn diese Person für uns der einzige Mensch auf Erden ist und unser
Leben, von ihm abhängt - Unterhalt, Obhut, Schutz und Liebe-, dann ist die
geringste Zurückweisung katastrophal. Wir können unser Gehirn nicht aus
eigener Kraft entwickeln. Wir brauchen den Input der Pflegeperson. Seine oder
ihre Liebe bestimmt über unser Gehirn. Seine oder ihre Zurückweisung
deformiert unser Gehirn.
Wir folgten
der Spur des Gefühls (unerwünscht zu sein) bei der gerade erwähnten Patientin
zurück zur Geburt, wo sie in Gefahr war, durch Ersticken zu sterben. Das wurde
im Lichte des späteren Verhaltens ihrer Mutter interpretiert als: „Sie wollte
nicht, dass ich lebe.“ Natürlich erzeugten erst jahrelange Erfahrung
elterlicher Kälte und Gleichgültigkeit das voll entwickelte Gefühl. Der Anstoß
und die Kraft jedoch, die Kraft, die den frontalen Kortex bis an die Grenzen und
darüber hinaus beanspruchte, war die Geburt. Wir müssen darüber keine
Vermutungen anstellen. Wir messen die Gehirnwellen und Vitalfunktionen der
Patienten, die dem Geburtstrauma nahe kommen, und finden sprunghaft ansteigende
Messwerte. Die Erfahrung des Geburtstraumas ist, was sie ist, aber spätere
Erlebnisse werden dann anders interpretiert. Seine Kraft wird in das spezielle
Trauma eingeschleust, das einem später widerfährt. Hier wurde es
zu einem Bestandteil von: „ Sie will nicht, dass ich lebe.“ Gedanken können kompliziert werden, Gefühle jedoch nicht; somit sind sie viel einfacher zu behandeln. Nehmen Sie Krebsforscher, die rauchen, oder Ärzte, die zu viel trinken. Ungeachtet der Vorstellungen, die der frontale Kortex hegt, haben die Gefühle und Bedürfnisse Vorrang. Zuerst muss die Person einen Weg finden, um zu eigenem Wohlbefinden zu gelangen. Dann kann sie mit ihrem Leben vorankommen. Das Unterbewusste birgt Motive, von denen der Kortex nichts weiß. Weil Gedanken flexibel und grenzenlos sind, ist der konventionelle Therapeut gezwungen, ein endloses Labyrinth aus Glaubensüberzeugungen zu betreten. Er ist dann in der Position eines Entprogrammierers, der versucht, die Person von ihren Ideen abzubringen. Das ist alles unnötig und unwirksam.
Seite 222 |
Müssen Individuen in Qual
versinken, die sie bereits erlebt haben? Warum den Patienten unter Schmerz
setzen? Der Schmerz wurde niemals voll erlebt. Das Gehirn ließ es nicht zu. Es
weigerte sich, auf den Mangel an Liebe zu reagieren, so dass die Reaktivität
blockiert war. Das Ereignis wurde nur zum Teil erlebt. Der andere Teil blieb im
Dunkeln unter Verwahrung. Hier liegt der Schlüssel zum Fühlen – Reaktivität.
Es ist die Reaktion auf überwältigendes Fühlen, die unterdrückt worden ist.
Es gibt einen internen Verwalter, der die Reaktivität aus zwei Gründen einschränkt:
(1) um zu verhindern, dass die Vitalwerte und Vitalfunktionen, Blutdruck und
Herzschlag, auf ein gefährliches Niveau klettern, und (2) um den inneren Druck
vom Kortex fern zu halten, so dass er nicht überlastet wird und nicht
auseinanderbricht. Wir sehen, was Rebirther in ihrer Therapie freisetzen, und
wie es die Person oft verrückt macht. Traurigerweise ist sich die Person oft
dessen nicht bewusst. Vielmehr glaubt sie, sie habe eine göttliche Erscheinung
gehabt und das kosmische Bewusstsein erreicht. Auch das Halluzinogen LSD setzt
tiefe Schmerzen frei und vermindert die kortikalen Integrationsfähigkeiten. Und
wiederum sehen wir bizarre Gedankenbildung, die irrtümlich für eine bestimmte
Art mystischer Erfahrung gehalten wird
Wie in
vielen Aspekten menschlichen Verhaltens ist der Eingang zugleich der Ausgang. Um
aus dem Schmerz herauszukommen, müssen Sie in ihn hineingehen. Dennoch
versuchen viele aktuelle Methoden, von der Akupunktur zur Massage, von der
Traumanalyse zur Bioenergetik, von der Verhaltenstherapie und Vitaminberatung
bis zum „Pflaster“ (fürs Rauchen), Symptome ohne Schmerz zu lösen.
Wer wünschte keinen
schmerzlosen Ausweg aus dem Leiden? Damit aber ignorieren wir biologische
Gesetze. Es gibt keine Magie. Wir hatten Erlebnisse, die unsere Neurobiologie
veränderten, und wir müssen uns mit diesen Erlebnissen befassen, wenn wir
normal werden wollen. An anderer Stelle diskutiere ich die
Speichelkortisol-Messungen, die wir an unseren Patienten vornahmen. Nach
mehreren Monaten Therapie kam es zu einem signifikanten Absinken dieser Werte.
Dies bedeutet, dass die Person unter weniger Stress steht und von weniger
Spannung angetrieben wird. Das ist ein Aspekt der Normalisierung. Sollten wir „schlafende Hunde nicht wecken“? Das geht nicht, weil wir sie auf einer Ebene des Gehirns die ganze Zeit fühlen. Auf dieser Ebene schläft nichts. Deshalb sind die Stresshormon-Spiegel so chronisch hoch. Mittlerweile suchen wir den einen Doktor wegen dieser Symptome auf: hoher Blutdruck, Allergien, Schilddrüsen-Überfunktion, Kolitis, Spielsucht; und den anderen Doktor wegen Phobien, Zwangsvorstellungen, Perversionen und Alkoholismus. Dennoch gibt es oft eine einzige Pille, ein Beruhigungsmittel, das sie allesamt behandeln kann. Schmerz ist das gemeinsame Substrat in vielen dieser Fälle. Natürlich gibt es genetische Seite 223 |
Tendenzen,
Umwelteinflüsse und so weiter, aber man darf den Schmerz nicht übersehen,
besonders eingeprägten Schmerz; vor allem
nicht den Schmerz, bevor wir unseren Eltern offiziell begegneten. Es ist eine
Erleichterung, nicht alle drei Tage eine Migräne zu haben, sich nicht überessen
zu müssen oder nicht von sexuellen Impulsen kontrolliert zu werden. Es ist eine
Erleichterung, nicht ständig Angstattacken zu erleiden, nicht mit
Blutdruckmedikamenten oder Beruhigungsmitteln und Pillen gegen Depression
leben zu müssen. Das alles wird kurzum durch ein außergewöhnliches Wohlgefühl
ersetzt. Der Mensch wird endlich lebendig, nachdem er seine Leblosigkeit gefühlt
hat, eben weil er fühlt. Fühlen ist ein kleiner
Preis für diese Freiheit. Wenn die Schmerzen schließlich abtreten, kommt es zu
diesem wunderbaren Gefühl von Lebendigkeit – „lebendig“, weil wir fähig
sind, zu reagieren. Das ist keine utopische
Vorstellung. Es ist eine beobachtbare Tatsache.
Zu oft fühlen
wir, dass wir dem Leben nichts abgewinnen können, eben weil wir nicht voll
reagieren können. Die Verdrängung hat in unserem Innern alles abgestumpft. Wir
schauen uns Kinder an, die so lebendig sind, und wir fragen uns vielleicht, wo
wir diese Fähigkeit verloren haben. Wir wachsen aus diesem Enthusiasmus, dieser
Lebensfreude nicht heraus. Wir verlieren sie mit den Jahren, weil uns unsere
eigenen Gefühle fremd werden.
Je
entfernter der Schmerz, umso tiefer die Verdrängung und umso größer die
Befreiung, wenn er gefühlt wird. Durch die Art, wie ein Patient atmet, wissen
wir, dass er die Empfindungen des Geburtstraumas wiedererlebt. Seine Äußerungen
haben einen anderen Tonus, eine andere Energie, einen anderen Rhythmus. Wir
stellen das in Dierdres Geburtsgefühlen fest.
In der
folgenden Fallgeschichte werden wir sehen, wie Dierdre durch das Gefühl ihrer
Hoffnungslosigkeit außer Gefecht gesetzt wurde. Sie war so unbeweglich, dass
sie sich nicht mehr zu helfen wusste, weil das die ursprüngliche Einprägung
war, wo sie sich nicht selbst helfen und nicht reagieren konnte. Sie hatte das
alte, vertraute von der Geburt stammende Gefühl, „festzustecken.“ Wir
bemerken ihr Fortschreiten vom Weinen über ihre Probleme in der Gegenwart hin
zur Intrusion von Hirnstamm-Einprägungen – Husten und Würgen. Von da fiel
sie in ein „bewusstes Koma“, wie viele Patienten es beschreiben – „Ich
bin im Raum, aber ich bin nicht im Raum.“ Sie weinte darüber, dass sie ihre
Mutter vermisste, und sie weinte wegen des Bedürfnisses nach Körperkontakt.
Dann glitt sie in einen lautlosen Zustand delphinartiger Bewegungen. Das Atmen
fiel ihr schwer, und ihr war, als würde sie sterben. Sie kam aus dem Erlebnis
mit der Einsicht heraus, dass sie tat, was sie konnte, und dass sie die Hoffnung
auf Wärme und Hilfe verlor. Sie fühlte den Ursprung ihres Feststeckens und
ihrer Einstellung, dass sie sich nicht selbst helfen könne. Sie verstand allmählich,
dass sie das Drama ihrer Hoffnungslosigkeit in ihrem Leben aufführte, wo sie
Re-Akteur war anstatt Akteur. Bei der Geburt, als der Tod nahte, hatte sie keine
Gelegenheit zu kämpfen. Seite 224 |
Dierdre
Was hat es
dir gebracht, Primärgefühle wiederzuerleben?
Warum gehst
du durch den ganzen Prozess? Nehmen Sie einfach ein Beispiel aus meinem Leben,
seit ich in Primärtherapie bin. Seit den letzten sieben Jahren bin ich
Pflegemutter für zwei Kinder, und ich wurde zu einer Gerichtsverhandlung
vorgeladen, wo der Richter entscheiden sollte, ob die Kinder ihre biologischen
Eltern besuchen müssen oder zu ihnen zurückgehen müssen. Ich fühlte mich
sehr schlecht. Mein Kopf raste, ich war voller Verzweiflung und
Hoffnungslosigkeit. Mir war, als würde ich zu etwas gezwungen, das ich nicht
zulassen wollte. Meine Gedanken liefen jeden Tag auf die Hoffnung hinaus, diese
ganze Situation durch Selbstmord beenden zu können.
Ich ging zu
einer Primärgruppe. Ich sagte der Therapeutin, wie hoffnungslos und verzweifelt
ich war und dass ich mich in dieser Situation total allein gelassen fühlte und
dass es für mich keine Hilfe gab. Mein Herz war gebrochen. Ich glaubte, dass
ich alles verlieren würde, was ich in meinem Leben jemals besaß, und dass ich
nichts dagegen tun könnte. Ich spürte auch Wut: Wut gegen den Richter und die
Jugendbehörden.
Niemand
konnte mir helfen, ich konnte mir selbst nicht mehr helfen – ich fühlte, dass
ich total feststeckte, wusste nicht, was ich tun sollte und verstand nicht mehr,
was vor sich ging. Ich schrie jeden an. Wie können sie es wagen, es auch nur in
Betracht zu ziehen, dass diese Eltern, die meinen Pflegekindern schreckliche
Dinge angetan haben, die Kinder besuchen oder sie sogar zurückhaben dürfen?
Ich fing zu weinen an. Ich war hilflos und geschlagen. Mein Körper fühlte sich
immer schwächer an. Ich fühlte mich hilflos. Ich spürte die Angst, die Kinder
zu verlieren. Ich spürte, dass alles, was ich je für sie getan habe und alles,
was ich je in meinem ganzen Leben tat, wertlos war. Während mein Weinen lauter
und tiefer wurde, fing ich zu husten an. Mein Weinen hörte sich anders an und
kam mehr aus der Tiefe meines Inneren. Ich fühlte, dass mein ganzer Körper in
purem Schmerz versunken war. Das Husten wurde stärker und ich fühlte ein Bedürfnis
hochkommen, das Bedürfnis, dass mir jemand hilft. Ich bat sie immer lauter, mir
zu helfen, und meine Stimme veränderte sich. Sie wurde höher.
Seite 225 |
Dann verlor
ich die Verbindung zu den Therapeuten und zu dem Raum, in dem ich mich befand,
und innerlich fühlte ich mich ganz klein, als sei ich wieder ein Kind, und plötzlich
erkannte ich, dass all meine Hoffnung auf Hilfe auf meine Mutter zentriert war.
Ich wollte, dass sie mich hielt und tröstete. Ich folgte meinem Impuls,
gehalten zu werden, indem ich mich in die Arme meiner Therapeutin flüchtete;
aber ich vermisste meine Mama, und ich weinte ganz tief, und es hörte sich an,
als würde ein Kind weinen. Und während ich weinte, begriff ich, dass meine
Mutter nicht da war, damals, als ich ein Kind war, und ich spürte, wie eine
Riesenwut in mir hochkam, zusammen mit einem ungeheuer großen Bedürfnis nach
ihr. Ich verlangte danach, dass sie mir half und meine Schmerzen linderte, aber
sie kam nicht, und während ich sie noch immer anflehte, für mich da zu sein,
erkannte ich, dass ich meine Hoffnung verlor, sie werde jemals zu mir kommen.
Ich gab auf.
Erinnerungen
an Situationen in meiner Kindheit überschwemmten mich, wo ich meine Mutter
brauchte, wo mir aber die Erfüllung meines Bedürfnis wieder und wieder versagt
blieb. Mein Feeling wurde größer; mein ganzer Körper war darin verstrickt.
Ich hustete wieder, dieses Mal viel stärker. Ein ganz starkes Bewusstsein, dass
sie mir nicht halfen, kam in mir hoch, und ich fand mich wieder in totaler Wut,
die mein ganzer Körper zum Ausdruck brachte. Zusammen mit dieser Wut spürte
ich das reine Bedürfnis, getröstet zu werden, Körperkontakt und Berührung
von meiner Mutter zu bekommen, und ich wollte sie bei mir haben. Spontane
Schmerzensschreie drangen mit einer Kraft aus meinem Mund,
die ich mir nie hätte vorstellen können. Gleichzeitig begriff ich, dass diese
Kraft immer da war, aber nie zum Ausdruck kam. Mein Mund stand weit offen, und
ich konnte meinen Körper überhaupt nicht bewegen, und kein Ton kam mehr aus
meinem Mund. Und lautlos begann sich mein Körper wieder zu bewegen, aber mit
Wut. Ich musste aus dieser unerträglichen Situation herauskommen, in der ich
den Trost und die Unterstützung, die ich verzweifelt brauchte, nicht mehr
bekam. Ich gehorchte dem Druck und tat etwas, das ich in diesem Moment nicht tun wollte aber tun musste, um zu überleben. Ich verlor völlig die Kontrolle über mich und über das, was ich ursprünglich wollte (weiterhin unter dem Trost und der Wärme meiner Mutter zu bleiben). Ich fühlte den Druck, dass mich etwas zurückhielt und mich nicht mehr atmen ließ, und mit intensiver Kraft bewegte ich mich wie ein Delphin; ich wusste, ich musste gegen den Tod kämpfen. Meine Lungen schmerzten, mein ganzer Körper fühlte sich wund an. Ich fühlte mich total allein. Es schien, als würde ich auf etwas warten, lange Zeit warten. Aber nichts geschah. Ich verlor die Hoffnung auf Hilfe, Trost und Wärme. Und ich verfiel wieder in Agonie, weil ich alles verloren hatte.
Seite
226 |
Und noch während
ich dieses Gefühl wiedererlebte, erkannte ich mit Erleichterung: dass es
dasselbe mächtige Gefühl ist, das meine Realität beeinträchtigt. Mein Fühlen
und mein Verstand begannen sich in dieser Situation zu verknüpfen, und ich
verstand, dass es meine Geburt war und die unmittelbar folgende Zeit, wo ich
tat, was ich konnte, um zu überleben. Ich wollte leben, aber
Ich hörte
auf, um Hilfe zu bitten. Für den Rest meines Lebens lebte ich alleine. Und ich
begriff, dass ich zurückgehen und diesen alten Schmerz fühlen musste, dass ich
die Wärme meiner Mutter für immer verloren hatte, um zu verstehen, warum ich
mir nicht holen konnte, was ich brauchte. Dieses Gefühl wurde größer, weil
mich meine Mutter in der Kindheit in Situationen nicht unterstützte, in denen
ich ihre Hilfe brauchte. Ich entwickelte das Verhalten einer völlig unabhängigen
Person.
Diese Gefühle
haben mich mein ganzes Leben in schwierigen Situationen gelenkt und mich zu
falschen Entscheidungen geführt, durch die ich alles verlor, weil ich immer
meine Hilflosigkeit ausagierte – dass ich nicht bekam, was ich brauchte, und
aufhörte, auf irgendwas zu hoffen, nachdem ich alles getan hatte, um geboren zu
werden. Jetzt bin ich in der Lage, in dieser Situation etwas zu tun. Ich möchte
für das kämpfen, was ich für richtig halte. Ich gebe nicht einfach nach. Ich
bitte um Hilfe, wenn ich es nicht alleine machen kann. Nachdem ich dieses Primärgefühl
hatte, war ich überhaupt nicht mehr suizidal. Ich spürte, dass etwas in meinem
Inneren mir die Kraft gab, mich auf meine Probleme zu konzentrieren und nicht
auf alte Gefühle aus der Vergangenheit.
Lange Zeit
später begann ich, darüber zu reden, wie sehr dieses Gefühl nach der Geburt
dem Gefühl ähnelt, das ich in der Gegenwart hatte, als ich über diese
Gerichtsverhandlung informiert wurde; dass ich befürchten müsse, die Kinder zu
verlieren; und Dinge tun müsse, die ich nicht tun will. Es war so sehr ein und
dasselbe. Ich war suizidal, weil meine Geburt lebensbedrohlich war und auch,
weil ich fühlte,
dass mein Bedürfnis im Sterben lag, und als es starb, starb ich mit ihm.
Und als ich das erzählte, weinte ich wieder wie eine Erwachsene, aber mit
Erleichterung, da ich wusste, dass es jetzt Hilfe gab. Ich kann meine Freunde
fragen, ich kann Anwälte und Angestellte der Jugendbehörden fragen, und ich
muss nicht mehr in Agonie versinken. Ich kann jetzt etwas tun. Ich habe mich sehr verändert. Ich habe Freunde, und ich will meine Freundschaften halten. Was ich tue, betrachte ich jetzt mit anderen Augen, und allmählich werde ich mit mir selbst zufriedener denn je. Ich stehe am Anfang einer neuen Beziehung und ich bin offen für die Freundlichkeit meines Partners. Ich fange an, mich selbst wichtig genug zu nehmen, um wählen zu dürfen, was ich wirklich machen will, und um mir selbst genug Zeit zu geben, bevor ich in schwierigen Situationen Entscheidungen treffe. Ich gebe nicht gleich auf, wenn ich nicht geradewegs bekomme, was ich will, und ich bin offen für Ratschläge anderer Leute. Ich blicke vertrauensvoll in meine Zukunft, weil ich weiß, dass ich nicht mehr im Griff des Geburts- und Kindheitstraumas bin. Ich kann wählen, und ich kann meiner Natur trauen – Ich bin eine aktive Person, die sich auch ausruhen kann. Ich freue mich darauf, dem Selbst zu begegnen, das ich sein werde, weil ich einen Weg fand, wie ich meine Vergangenheit daran hindern konnte, mich zu etwas zu machen, das ich nicht war. =======================
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KAPITEL 13 DER STRESS - FAKTOR
Erwachsene Ratten, denen als
Jungtiere kräftiges Lecken und Striegeln zuteil wurde, waren
erkundungsfreudiger und neugieriger als solche, die nicht geleckt und
gestriegelt worden waren.1 Sie besaßen auch eine „Fülle
von Gehirnrezeptoren für eine Klasse angstreduzierender, schmerzstillender
Substanzen , die Benzodiazepine genannt werden.“ 2 Es gibt
noch andere beteiligte Rezeptoren, einschließlich derer für die Neuropeptide
Oxytozin und Vasopressin. (Ausführlich erörtert im Kapitel 17 über
Oxytozin). Diese sind wichtig für das Bindungsverhalten der Eltern zum Kind
und umgekehrt. Der entscheidende Punkt, den ich wegen seiner Bedeutung immer
wieder anführen werde, ist, dass Berührung ganz am Anfang wesentlich für
die Entwicklung eines gesunden Gehirns ist.3 Ungeachtet der
beteiligten Neurosäfte ist klar, dass fehlende Liebe die chemischen
Substanzen im Gehirn verändert und schließlich die Struktur dieses Gehirns
verändern kann. Wie der kleine Baum, der in seiner Kindheit krumm gewachsen
ist, weicht das „verkrümmte“ Gehirn danach vom Normalzustand ab. Pränatal
gestresste Ratten zeigten im Verhalten nach der Geburt große Angst. Wenn sie
im Mutterleib gestresst wurden, wiesen sie nach der Geburt ein Stress-Syndrom
auf. Diese scheinbar harmlosen Fakten haben immense Bedeutung, weil sie darauf
hindeuten, dass intrauterine Ereignisse später im Leben dauerhafte
Auswirkungen haben. Aber einige dieser Wirkungen lassen sich möglicherweise
durch Ereignisse gleich nach der Geburt aufheben. Ratten, die direkt nach der
Geburt gestreichelt wurden, zeigten einen verminderten
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als wichtiger Faktor mit der Vermittlung des Stress-Syndroms in
Zusammenhang gebracht worden. Es stellte sich heraus, dass Stress bei Tieren
wie der Baumspitzmaus die Serotoninrezeptoren reduziert,5
ein Ergebnis, das sich in zahlreichen Tierstudien fand. Diese Studien enthüllen,
dass die Abwesenheit einer Mutter gleich nach der Geburt zu erhöhten
Stresshormonwerten mit Schädigung gewisser kortikaler Zellen und bestimmter
Hippocampus- Orte führt. Diese Nachricht ist gut und schlecht. Je früher wir
Liebe erfahren, umso stärker ist unsere Serotonin-Endorphin-Sekretion und
umso besser fühlen und verhalten wir uns später. Im Gegensatz dazu schwächt
fehlende Liebe am Lebensanfang das Verdrängungssystem und mindert unsere
physiologische Fähigkeit, später im Leben mit Stress fertig zu werden. Nach
erfolgter Deprivation bleibt das System kontinuierlich unter Stress, weil es
im Innern ein elektrochemisches Signal gibt, das regelmäßig „ungeliebt“
aufleuchten lässt. Dieses Signal gibt eine Reihe von Anweisungen: Scheide
diese Substanz ab, stoppe die andere, reduziere dieses Hormon, erhöhe das
Insulin, ändere die Bluttplättchen, ändere die natürlichen Killerzellen
des Immunsystems.6 Diese Abweichungen sind die
Kompensationsmechanismen für fremdes Eindringen. Liebe entspricht der natürlichen
Ordnung der Dinge. Mangel an Liebe ist eine fremde Macht. Sie ist unerfülltes
Bedürfnis, das den Alarm auslöst. Forscher haben das fetale Stress-Syndrom beschrieben. Es unterscheidet sich nicht vom Stress-Syndrom in Kampfhandlungen. Ein Baby, das nicht gut schläft, unglücklich ist und sich unwohl fühlt, weist alle Anzeichen des posttraumatischen Stress-Syndroms auf (PTSS). Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir den Ursprung des Baby-Stresses im Gegensatz zu den Kampfstrapazen nicht „sehen“ können. Das Baby war ganz für sich in einen Kampf verwickelt, als es versuchte, der Strangulierung durch die Nabelschnur zum Trotz geboren zu werden. Es hat noch keine Worte, um jemanden von seiner Tortur zu erzählen. Es kann zittern und eine schwere Schreckreaktion zeigen, aber wenige Erwachsene können diese Zeichen richtig deuten. Auch für den Fetus, der am Rauch, den die Mutter inhaliert, würgt und fast erstickt, ist es ein Kampf ums Überleben. Und es ist einem Fetus nicht möglich, „Normalität“ und Wohlbefinden zu wahren, wenn die Mutter Alkohol zu sich nimmt, der das Gehirn des Fetuses verändert Der hohe Stress-Spiegel bei einer schwangeren Mutter ist nicht nur von Kortisol-Sekretion begleitet, sondern der anhaltende Kortisol–Ausstoß schädigt auch den Baby-Hippocampus, dessen Aufgabe es ist, neue Erinnerung zu verankern. Als Ergebnis kann der Erwachsene seine Gefühle nicht artikulieren oder sich nicht recht gut erinnern.7 Wenn Hoffnungslosigkeit früh einsetzt, wenn man zum Beispiel versucht, geboren zu werden, und nichts tun kann, um herauszukommen, kommt es zu entsprechend hohen Kortisolwerten, die Verwüstung anrichten und Gehirnzellen zerstören. |
QUELLENVERWEISE UND ANMERKUNGEN
N. 1
„Child Sex Abuse Leaves Mark on Brain,“ Science News 147 (3 Juni
1995): 340.
N. 2
Ibid., s. 167.
N. 3
Siehe: C. S. Carter, „The Integrative Neurobiology of Affiliation,“
Annals of the New York Academy of Sciences 8070 (15.
Januar 1997): xiii-xviii.
N. 4
Monique Vallee et al., « Prenatal Stress Includes High Anxiety and
Postnatal Handling Includes Low Anxiety in Adult Offspring, » Journal of
Neuroscience 17, no. 7 (1. April 1997):
2626-36.
N. 5
G. Flugge, “Dynamics of Central Nervous 5HTIA Receptors Under
Psychosocial Stress,” Journal of Neuroscience 15, no. 11 (November 1995):
7132-40.
N. 6
Siehe auch: T. R. Insel, „A Neurobiological Basis of Social
Attachement,“ American Journal of Psychiatry 154, no. 6 (Juni 1997): 726-35. N. 7 Siehe M. A. Smith et al., „Stress and Glucocorticoids Affect the Expression of Brain-Derived Neurotrophic Factor and Neurotrophin-3 mRNAs in the Hippocampus,” Journal of Neuroscience 15 (1995): 1768-72. |
KAPITEL 14 DIE SCHLEUSENTHEORIE
Unser Schleusensystem verkehrt das Fühlen
großen frühen Schmerzes in sein Gegenteil: nichts fühlen. Um zu verstehen,
wie das vor sich geht, müssen wir uns die Arbeit der Drs. Ronald Melzack,
Autor von
The Puzzle of Pain1 und
Patrick Wall, der die Theorie der Schmerzschleusung entwickelte, ansehen. Melzack
und Wall benutzten transkutane Elektroneurostimulation (TENS), um ihre Theorie
zu untermauern, dass im Mittelhirn ein Schleusensystem existiert. Sie
implantierten eine Elektrode hoch oben im Rückenmark. Der Patient konnte dann
auf einem Sender einen Knopf drücken und den Bereich mit elektrischen
Impulsen fluten, um großen Schmerz wie bei Krebs abzuschalten. Diese Impulse
sind neutral, dennoch senden sie Informationen an das Schleusensystem, die zur
Hemmung und Verdrängung von Schmerzsignalen führen. Kurz gesagt kann Überreizung
durch eine starke elektrische Kraft zur Abschaltung oder Schleusung führen.
Die Kraft muss keinen Inhalt haben. Sie muss eine bestimmte Stärke erreichen,
über die hinaus die Neuronen nicht mehr reagieren. Genau das passiert mit
elektrischen Eingaben, die einen emotionalen Inhalt haben: „Sie lieben mich
nicht.“ Wenn die dem Inhalt innewohnende Bedeutung/Gefühl außergewöhnlich
schmerzvoll ist, kommt es zu automatischer Abschaltung. Die Überflutung mit
elektrischen Impulsen ruft das Schleusensystem auf den Plan. Es kommt dann zu
einer effektiven Unterbrechung zwischen dem Schmerz auf tieferer Ebene und Seite 232 |
Wenn sich
jedoch mit der Zeit zu viel Schmerz anhäuft, zerfällt das Schleusensystem und
wir brauchen dann Hilfe von außen. „Zerfallen“ bedeutet, dass es keine
ausreichenden chemischen/neurohormonellen Vorräte gibt, um ein frühes Trauma
vom Bewusstsein fernzuhalten. Die Abwehr funktioniert nicht. Der Mensch ist dann
zum Beispiel in Angst, Schrecken oder Wut aufgelöst, so dass es zu unzulänglicher
Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung kommt. Elektroschock-Therapie
kann die Schleusung und Verdrängung unterstützen, weil das System nicht genug
Serotonin (und andere innerlich hergestellte Schmerztöter) produziert, um den
Schmerz unten zu halten. Schocktherapie mit elektrischem Input direkt in die
Schläfen und somit ins Gehirn erzeugt einen massiven Input, der im System
bleibt. Sie erzeugt auch höhere Spiegel bei einigen hemmenden Substanzen, so
dass Gefühle an Ort und Stelle gehalten werden. Ich war Zeuge, als Patienten
ihre Schocktherapie genauso
wiedererlebt haben, wie sie sich abgespielt hatte. Wenn man während einer
Sitzung im Mund dieser Patienten einen
Abb. 7 Gefühle werden auf dem Weg zum frontalen Kortex
blockiert.
Seite 233 |
Gummischlauch platziert, verbeißen
sie sich darin und verziehen das Gesicht, als würden sie gerade den Schock
erhalten. (Wir haben das gefilmt.) Was hineingeht, muss schließlich wieder
herauskommen, ob es sich um elektrische Impulse aus einer Maschine handelt oder
aus einem emotionalen Trauma. Schock macht die Person ahistorisch; ein Mensch,
der von der Vergangenheit abgeschnitten ist. Es ist der gleiche Schock und Gedächtnisverlust,
der als Ergebnis eines Autounfalls oder eines Inzests eintritt, der einem Kind
in den allerersten Lebensjahren angetan wird. Die
Schleusenkontroll-Theorie ist kürzlich von Melzack modifiziert worden. Es geht
jetzt dabei um Neuromodule, aber meine Beobachtungen in der Primärtherapie erhärten
die Theorie noch immer. Patienten, die in meinen Sitzungen eine Geburtssequenz
wiedererlebten, wiesen Zangenmale auf der Stirn auf. Diese Male hatten sich
zuvor niemals manifestiert, weil sie die Schleuse nicht passieren konnten und
als Erinnerung gespeichert worden waren. Ich habe gesehen und gehört, wie das
Wimmern eines Babys, das später vorsätzlich nicht nachgemacht werden kann,
aus Vierzigjährigen kam, die ein frühes Trauma wiedererlebten. Während
eines Gefühlserlebnisses können Patienten die fetale Position bis zu einer
Stunde beibehalten. Die Spannung, die unseren Körper erfüllt, ensteht, weil
wir massive Mengen an Primärenergie mittels Schleuse wegsperren. Meine
Patienten nennen diese Energie „Primärtreibstoff“. Um es klar
zu sagen, es gibt keine kleinen Schleusentore im Gehirn. Abschalten nimmt viele
Formen an: Sekretion von Serotonin/Endorphin, stillgelegte Neuronen, die die
Nachricht nicht weiterleiten, und andere. Aber wie auch immer die Form
beschaffen sein mag, es besteht das Äquivalent eines Tores, das sich vor Gefühlen
verschließt. Das Ergebnis ist, dass wir keinen Zugang haben. Durch keinen
Willensakt können wir das Tor noch öffnen. Aber wir können in den Raum schlüpfen,
in dem die Gefühle verborgen sind, und nach den Zugangsschlüsseln stöbern.
Einer der Schlüssel ist der Hippocampus, der unsere Geschichte abzutasten
scheint und uns den Zugang zu Teilbereichen anbietet. Wenn Mutter
oder Vater in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden, wenn jemand
Schwester oder Bruder durch einen Unfall verliert, in jungen Jahren zu
Pflegeeltern oder auf die Knabenschule geschickt wird, Inzest oder andere
Traumen erleidet, wird das Gehirn mit elektrischen Impulsen überflutet, die auf
einen Schock hinauslaufen. Es ist Informationsüberlastung. Das kann sich auch
in der tagtäglichen Sterilität eines Haushaltes ereignen, in dem Eltern wie
abwesend sind und ihr Kind niemals in den Arm nehmen oder mit ihm reden. Diese
Informationsüberlastung ist kumulativ. Ich habe schon früher erwähnt, dass
dieser Mechanismus bis ins pflanzliche Leben zurückreicht. Er ist buchstäblich
viele Hundertmillionen Jahre alt. Information muss nicht in Worte gefasst sein, besonders wenn das Trauma oder das Fehlen von Liebe schon lange geschehen war, ehe wir die Fähigkeit besaßen,
Seite 234 |
Worte zu
benutzen. Information kann in Form chemischer Substanzen auftreten, die das
System in genau derselben Weise überlasten, wie ständiges Quasseln der Eltern
oder zu viel körperliches Schubsen und Drängeln das Kind überlastet. Das ist
Überreizung. Eine der beteiligten Substanzen ist das Stresshormon Kortisol. Morphium ist
ein Beispiel dafür, dass eine höhere Schleusungsaktion abläuft. Eine Person,
die die Höllenqualen einer Herzattacke erleidet, bekommt eine Morphiumspritze
und fühlt sich plötzlich wohl. Wenn sich die Wirkung der Droge verliert, kommt
der Schmerz zurück. Wir produzieren dasselbe Morphium in unserem Gehirn, um es
uns „behaglich“ zu machen, auch wenn der Schmerz und seine Ursache noch
immer tief in unserem Gehirn verborgen liegt. Morpheus, der griechische Gott der
Träume und des Schlafes, hat unsere Sinne stumpf und unser Leben farblos
gemacht. Indem wir uns selbst gegenüber unsensibel werden, werden wir anderen
gegenüber unsensibel. Wir sehen ihren Schmerz nicht; wir können uns nicht in
sie einfühlen.
Die
Schleusen bewahren unsere innere Wirklichkeit in reiner Form. Sie sind gütig,
Teil unseres Überlebensmechanismus. Deshalb verlieren wir diese Realität
niemals, wir verlieren nur den Kontakt mit ihr. Je mehr wir mit diesen
Abb. 8. Ein allgemeiner Überblick über Schlüsselstrukturen im
Gehirn, Seite 235 |
Jeder Aspekt
des Schleusensystems scheint eine spezifische Toleranz zu haben. Die Schleuse
des Hirnstamms (den ich als „erste Linie“ bezeichne) - die Rezeptoren, die
sich mit dem Trauma befassen – können beispielsweise eine Kapazität von zehn
haben. Andere Schleusen können eine Kapazität von fünf oder sechs haben (das
bedeutet, die Dichte an Neuroinhibitoren ist in diesen Bereichen geringer). Ein
Trauma, wie zum Beispiel Mutter oder Vater in jungen Jahren zu verlieren, kann
mit einer Valenz von sieben oder acht die Schleuse überwältigen. Das untere
Schleusensystem scheint eindeutig auf viel stärkere Eingaben eingestellt zu
sein. Oder – andere Möglichkeit - die Anhäufung von Schmerz im Laufe der
Zeit schwächt vielleicht letztendlich das Schleusensystem, was zu chronischer
Angst oder Spannung führt. Was wir manchmal bei unseren Patienten sehen, ist ein brüchiges Schleusensystem auf Grund von Schmerz, der sich aus den ganzen Erfahrungen der Kindheit zusammensetzt. Das ist die Art von Person, die Gefühle nicht voneinander trennen kann. Sie kommt in die Therapie und hat ein Gefühlserlebnis über die Kindheit, das sich bald mit allen möglichen Geburtstraumen vermischt. Dieser zusammengesetzte Schmerz erzeugt eine Melange, die verhindert, dass die Person ein einzelnes integriertes Gefühlserlebnis hat. Beruhigungsmittel oder Schmerztöter sind an diesem Punkt erforderlich, die Schmerz von hoher Valenz unterdrücken und die Schleusen gegen Hirnstammreize stärken, so dass der Mensch Gefühle integrieren kann, die weniger weit enfernt und mit weniger Schmerz beladen sind: jedes Gefühl zu seiner Zeit. Wir benutzen Medikamente als Mittel, um den Gefühlsprozess zu unterstützen, um dem Patienten zu ermöglichen, sich mit Schmerz von geringerer Valenz weiter oben im Nervensystem zu befassen; sie sind nicht das Endziel der Therapie. Medikamente ohne ein dynamisches Verständnis der Funktion des Gehirns zu benutzen, bedeutet, an Magie zu glauben. Der Glaube, dass Medikation irgendwie emotionale Probleme lösen kann – dass Medikamente tatsächlich jemanden davon heilen können, dass er nicht geliebt wurde und die meiste Zeit in seiner Kindheit vernachlässigt wurde, dass Medikamente jemanden heilen können, der in einem kalten Pflegeheim aufwuchs oder einen gewalttätigen betrunkenen Vater hatte – bedeutet, in die Abgründe des Mystizismus zu fallen. Medikamente bewirken nichts anderes, als dass wir uns weiterhin der Realität nicht bewusst sind. Das ist und kann nicht das Endziel an sich sein. Die
Angst vor dem Tod Ein Patient von mir wurde die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens von der Angst gequält, der Tod stehe ihm unmittelbar bevor. Er hatte ein schreckliches
Seite 236 |
Geburtserlebnis, in dem er im Geburtskanal steckenblieb. Dann hatte er
gleichgültige Eltern; eine Mutter, die psychotisch war. Das Ergebnis war, dass
er nie fähig war, eine Abwehr oder ein Schleusensystem aufzubauen. In jedem
seiner Urerlebnisse brandete das „Todes“-Gefühl empor und stellte ihn
innerhalb von Sekunden buchstäblich kerzengerade auf. Er rang nach Luft, lief
rot an und fasste sich an die Brust, als hätte er eine Herzattacke. Er spürte,
dass er am Ertrinken war und dass eine zähe Flüssigkeit seine Lungen füllte,
die sich auf die Matte ergoss. Anfangs benutzten wir geringe Mengen Zoloft (und
manchmal Clonidin), um ihn in die Gefühlszone zu bringen; Clonidin unterdrückt
die Aktivierung von Hirnstamm-Einprägungen, während Zoloft den
Serotoninspiegel erhöht und dadurch die Schleusen verstärkt 2 (ausführlich
erklärt im folgenden Kapitel). Als er dieses Gefühl in unseren Sitzungen immer
wieder erlebte, begann seine Angst nachzulassen. Die „Todes“-Erinnerung
befand sich fast sein ganzes Leben lang unterhalb des Bewusstseins. Wir müssen uns darüber
im Klaren sein, was wir mit den Medikamenten, die wir verschreiben,
unterdrücken. Viele, die auf zahlreichen LSD-Trips
waren, kommen in meine Sitzungen mit „gesprengten Schleusen“, wie ich es
nenne. Begünstigt durch das Halluzinogen öffneten sich ihre Schleusensysteme,
konnten sich aber nie wieder vollständig schließen. Ein Patient sagte mir,
dass er einer Todeserfahrung bei der Geburt nahe gekommen sei, nachdem er Acid
genommen hatte. Bald danach trat er einem Kult bei. In vielen dieser Kults
lautet die erste Geschäftsregel, sich vor dem Tod in Acht zu nehmen; ein Grund
dafür ist, dass das Halluzinogen ganz frühe Todesgefühle freigesetzt hat.
Diese Leute suchen nach Vorstellungen, die ihre gesprengten Schleusen wieder
herstellen sollen. In den meisten Kulten wird der Tod entweder verleugnet oder
willkommen geheißen, weil er zu einem besseren „Leben“ führt. Nach vielen
Monaten Therapie kann der Patient anfangen, das zu fühlen, was LSD entfesselt
hat – die Erfahrung der Todesnähe bei der Geburt. Der Unterschied besteht
darin, dass sie nun integriert werden kann; es ist ein funktionsfähiger
frontaler Kortex vorhanden, der dabei hilft. Eine Patientin, die Opfer von Inzest war, erkannte diese Tatsache erst bewusst, als sie zwei Jahre in Primärtherapie war. Sie hatte angefangen, auf der Straße mit sich selbst zu reden, und fühlte, dass sie „es verlor“. Sie fühlte auch, dass sie gleich sterben werde. In ihrem Unbewussten war das Gefühl zu fühlen gleichbedeutend mit dem Tod. Denken Sie daran, ein traumatisches Feeling, das dem Bewusstsein nahe ist, lässt die Werte der Vitalfunktionen in gefährliche Bereiche klettern. Diese Frau kam zur Therapie und hatte keine Ahnung, was nicht stimmte. Über viele Monate erlebte sie Aspekte des Inzests wieder, bis sie ihm eines Tages in entsetzlicher Qual direkt ins Auge sah. Auch die einzelnen Bestandteile der Erinnerung waren durch die Schleusen abgeblockt worden, so dass sie sich zuerst nur an die harmlosesten Aspekte erinnern konnte: Angst vor der Dunkelheit als Kind, Furcht, als sie Schritte den Flur entlang kommen hörte. In späteren Primals sah sie einen Seite 237 |
bedrohlichen Schatten im Zimmer; noch später
hatte sie die Empfindung von etwas Großem und Scharfem zwischen ihren Beinen.
Schließlich, fast ein Jahr später: Papi!!
Seite 238 |
Die Rolle des Serotonins im Schleusungsprozess In den vergangenen zwei Jahrzehnten
haben sich Forscher auf Rezeptoren wie Serotonin konzentriert, ohne zu
verstehen, dass sich Schmerzrezeptoren angesichts eines Traumas vermehren oder
vermindern. Wir haben uns nur eine Seite der Gleichung angeschaut und haben die
Frage vernachlässigt, warum Serotonin sekretiert oder vermindert wird.
Serotonin hilft, eingeprägte Impulse in Schach zu halten, es sei denn, sie sind
zu stark. Es gibt mindestens vierzehn verschiedene Arten von
Serotonin-Rezeptoren. Dieser Neurotransmitter datiert etwa fünfhundert
Millionen Jahre zurück und findet sich in den primitivsten Spezies.3 Schwere
Deprivation während und gleich nach der Geburt schädigt dieses System und
erzeugt hyperaktive, impulsive Kinder, die Lernprobleme haben.4
Forscher,
die alle möglichen Krankheiten untersuchen, finden eine Veränderung bei
Serotonin und nehmen an, dass eine genetische Änderung des Serotoninspiegels
die „Ursache“ der Krankheit sei. Bestimmte Typen von Medikamenten gegen Migräne
haben Serotoninrezeptoren zum Ziel. Aber die
Abb. 10 Gefühle werden blockiert
und durch den Hypothalamus in verschiedene Organsysteme umgeleitet. Seite 239 |
Kürzlich
wurde berichtet, dass Bulimie eventuell durch genetische Defekte in
L-Tryptophan, der Aminosäure-Vorstufe des Serotonins, verursacht werden kann.5
Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass herabgesetzte
Serotoninfunktion des Gehirns einige der klinischen Charakteristika der
Bulimia nervosa in Individuen auslöst, die für diese Störung anfällig sind.6
Aber ausgelassen wurde in dieser Gleichung die Möglichkeit, dass die
Einprägung permanent die Serotonin-Funktion reduziert und dass dies zu späteren
Symptomen führen kann. Bei Bulimie ist die Einprägung ein Schmerz, der
vielleicht durch Essen unterdrückt werden muss. Wir müssen darauf achten, dass
wir nicht der Genetik zuschreiben, was seine Wurzeln in unserem Leben hat, auch
wenn es ganz am Anfang des Lebens geschah. Endorphine,
Serotonin und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) dienen letzten Endes alle als
Neuroinhibitoren. GABA ist ein echter Inhibitor, wogegen Serotonin andere
Funktionen hat, einschließlich der Vermittlung von Wohlbefinden. Auf die eine oder andere Weise helfen sie dem
Kortex, erregende Botschaften zu hemmen, die aus dem Limbischen System
eintreffen. Wenn Schmerz, gleich welcher Art, andauert, scheinen die GABA-Vorräte
zu Ende zu gehen und zuzulassen, dass Schmerz ins kortikale Bewusstsein drängt.
Medikamente wie Gabatril straffen die Zügel und helfen, den Schmerz wieder
wegzusperren. Wie Dr. Frank Wood, mein Berater, betont, „ist das Empfinden von
Zufriedenheit im Leben nicht einfach auf die Unterdrückung des Unangenehmen zurückzuführen,
sondern auch auf die Aktivierung guter Gefühle.“ 7
Andererseits, wenn meine Patienten Beruhigungsmittel oder sogar direkte Schmerztöter
verwenden, um Schmerz zu unterdrücken, fühlen sie sich besser. Dr. Laurence
Tecott von der Universität von Kalifornien, San Francisco, der Serotonin
erforscht, setzte bei Mäusen den Rezeptor für den Serotonin-Vorläufer außer
Funktion. Die Tiere waren von Angst gepeinigt, drängten sich an die Wände
eines Labyrinths; sie waren zu verschreckt, um neue Objekte zu erkunden.8
In dieser Studie wie in so vielen anderen repräsentieren Tiere, die ihre Furcht
auf Grund unzureichenden Serotoninausstoßes nicht verdrängen können, das Äqivalent
zu Menschen in Angstzuständen. Furcht scheint Lähmung und Vorsicht zu
verursachen, dämpft die Neugierde, blockiert Spontanität und kann bei Menschen
zu Bulimie und/oder Anorexie führen. Ein Beispiel, wie Untersuchungen an Tieren die Erforschung des Menschen unterstützen, war eine Studie von J. Altman und G. D. Das vom Massachusetts Institute of Technology (MIT).9 Sie beschrieben, wie man neue neuronale Entwicklung (Neurogenesis) im Hippocampus erwachsener Ratten ausfindig machte. Später wurde sie dann auf Grund dieser Forschungsergebnisse im gleichen Bereich bei Menschen lokalisiert.Tierforschung kann uns etwas über Menschen beibringen. Wir müssen Tiere Seite 240 |
studieren, um Hinweise auf menschliches Verhalten zu bekommen,
und wir müssen Menschen untersuchen, um diese Hinweise zu erhalten.10 Etwas ist nicht einfach wahr,
weil eine Forschungsstudie es so sagt, wie Sie an den Schlussfolgerungen über Bulimie in
der Studie weiter oben sehen können. Wir müssen keine Vermutungen über
Kindheitsschmerz oder das Geburtstrauma anstellen. Mit den richtigen Geräten können
wir es unter klinisch relevanten Bedingungen sehen und messen. Nachdem ich
Tausende Wiedererlebnis-Episoden über frühen Kindheitsschmerz gesehen habe,
könnte mich niemand überzeugen, dass er nicht existiere. Auszudrücken,
wie wir uns fühlen, - traurig, wütend, glücklich, ekstatisch – ist die natürlichste
Sache der Welt: Es ist wichtig, all diese Gefühle auszudrücken. Es gibt auch
Statistiken, die anderes zeigen. Statistiken können verdreht werden, so dass
sie der natürlichsten menschlichen Neigung widersprechen. Es gibt eine neue
Therapie, die behauptet, dass Sie einen Zauberstab (Ich mache keine Scherze) vor
den Augen des Patienten nach rechts und links schwenken und damit Angst
vertreiben können. Diese Therapie hat einen Berg von Statistiken angehäuft, um
ihre Sache zu „beweisen.“ Einige bekannte Wissenschaftler sind Anhänger. Zu
glauben, man könne ein ganzes Leben voller Vernachlässigung mit einem
Zauberstab vertreiben, ein ganzes Leben, in dem man ohne Liebe allein gelassen
wurde, ist für mich völlig mystisch und irreführend. Dennoch gibt es die
Statistiken. Eine Studie von Steven Locke
untersuchte, wie eine Gruppe von Individuen mit Problemen umging. Diejenigen,
die gut zurecht kamen, wiesen hohe Spiegel natürlicher Killerzellen auf; bei
denjenigen, die schlecht zurecht kamen, war das nicht der Fall.11,12
Normalerweise verhindern die Serotonin-Schleusenwächter, dass die Botschaft der
Hoffnungslosigkeit zu schnell und zu leicht zu den frontalen Zentren aufsteigt.
Aber ihre Truppen werden dezimiert, wenn die Schlacht über eine lange
Zeitperiode andauert. Die Nachricht wird sozusagen zu Hause gelassen, so dass
die „Nachbarn“ (die nahegelegenen Neuronen) nichts davon mitbekommen.
Ich habe gerade einige der
chemischen Botenstoffe erörtert, welche die Vermittlung von Schmerzinformation
an höhere Zentren erschweren. Die Folge davon ist, dass Schmerz nicht bewusst
wahrgenommen wird. Deswegen fühlen sich so viele von uns „wunderbar,“ während
wir gleichzeitig eine unerträgliche Schmerzlast mit uns herumtragen. Das
menschliche Gehirn ist dazu bestimmt, uns unbewusst zu halten, so dass wir mit
unserem Leben weitermachen können. Das wäre nicht gewährleistet, wenn wir uns
die ganze Zeit in Höllenqualen auf dem Boden wälzen würden. Das passiert
meinen Patienten, die endlich Zugang zu ihrem Unbewussten haben. Wir stellen
sicher, dass sie während der Sitzung unter Schmerz stehen und nicht danach. Wir
wollen, dass sie nach der Sitzung wieder Struktur annehmen, damit sie die
Sitzung nicht in Stücken verlassen. In diesen Pseudo-Primärtherapien reagiert
der Patient zu oft ab und geht ‚kaputt’ seiner Wege. Zu oft werden
wir dann dafür
verantwortlich gemacht. Seite 241 |
Jetzt werden
wir sehen, dass Verdrängung universell ist und zu den frühesten Zeiten in der
phylogenetischen Geschichte zurückreicht; es scheint, dass auch Fische verdrängen
können. Sie weisen bezüglich Drogen die gleiche Besonderheit wie Säugetiere
auf, so dass die Fähigkeit, schädliche Stimuli zu unterdrücken, anscheinend
eine sehr lange Geschichte hat. Die Gründung der neuralen Truppen Die Geschichte der Schleusung und
Verdrängung reicht zu mikroskopischen Protozoen zurück und sogar zum noch früheren Pflanzenleben. Die
Evolution hat über Millionen Jahre die Benutzung dessen begünstigt, was uns
zum Überleben verhalf. Es überrascht ein bisschen, dass wir Pflanzenderivate
wie das des Mohns (Heroin) benutzen, um unseren Schmerz zu dämpfen. Solomon
Snyder und andere haben beobachtet, dass es in primitiven Fischen und Haien
genauso viel Opiatbindung gibt wie in Affen und Menschen.13
Der Opiatrezeptor dieser primitiven Fische zeigte die gleiche spezifische
Reaktion auf Drogen wie die Opiatrezeptoren von Säugetieren, was darauf
hindeutet, dass im Verlauf der Vertebraten-Evolution in der chemischen Struktur
des Rezeptors wenige oder gar keine Veränderungen stattgefunden hatten.14 Im Verlauf
der Evolution hat das Gehirn Rezeptoren für unterschiedliche Arten von intern
produzierten Schmerztötern oder Opiaten geschaffen. Repressoren oder
Inhibitoren binden sich an diese Rezeptoren und helfen dadurch, Schmerz und Gefühle
zu schleusen oder zu blockieren. Wenn ganz
früh ein Trauma einsetzt, werden nicht benötigte Rezeptoren eliminiert, während
andere an Zahl zunehmen, und Verbindungen von einem Gehirnschaltkreis zum
anderen werden abgekoppelt und neu verknüpft. Das Gehirn wird zu einer hageren,
armseligen Kampfmaschine, die ihre Mittel jeder möglichen gegenwärtigen
Bedrohung entgegensetzt. Somit sind
Gehirnzellen, wie ich früher dargelegt habe, am Darwinschen Überlebenskampf
der am besten Angepassten beteiligt. Die stärksten Neuronen überlebten, genau
wie die wirksamsten innerlich produzierten Schmerztöter. Rezeptoren werden mit
der Zeit immer raffinierter. Sie wirken auch vor der Geburt, zumal sie sogar in
der Plazenta zu finden sind. Alpha-Sprouting: Ein anderes Gehirn entsteht 1996 ging ich wegen chronisch
intensiven Halsschmerzes aufgrund mehrerer operativer Eingriffe in die
Schmerzklinik des Johns Hospital in Baltimore,
Seite 242 |
Die Ärzte erklärten, er
könnte von „sympathisch aufrechterhaltenem Schmerz“ verursacht sein. Wenn
es zu Gewebeschaden kommt, beginnen die damit in Zusammenhang stehenden
Nervenzellen mit einem Prozess, der „Alpha-Sprouting“ genannt wird, eine
starke Vermehrung mikroskopischer Schmerzrezeptoren, die sich mit exzessivem
Schmerz befassen. Die Rezeptoren sind Teil eines schützenden
Überlebensmechanismuses. Wenn der Körper verletzt wird, aktiviert das
sympathische Nervensystem Neurohormone wie Noradrenalin, das an den Rezeptoren
andockt, damit die Schmerzempfindung andauert. Der Schmerz wiederum aktiviert
das System, weist es an, sich selbst zu schützen, und bildet somit eine
Rückkoppelungsschleife, in der Schmerzrepressoren sekretiert werden. Manchmal
ist der Schmerz stärker als die Verdrängung. Das Prinzip
des Alpha-Sprouting ist von entscheidender Bedeutung. Wenn es zu ernsthafter
physischer Schädigung kommt, produziert das System mehr Alpha-Rezeptoren oder
andere Typen von Schmerzrezeptoren, um mit dem Exzess fertig zu werden. Meine
Vermutung geht dahin, dass ein Geburtstrauma oder schwere Vernachlässigung am
Lebensanfang die gleiche Art von Sprouting erzeugt. Wir wissen zum Beispiel,
dass adrenergische Alpha-2-Rezeptoren bei Depression und Schizophrenie erhöht
sind.15 Die mobilisierenden Substanzen (Katecholamine)
beeinflussen letztlich die Anzahl und Reaktionsbereitschaft der
Alpha-Rezeptoren. Was beruhigt diese Schmerzrezeptoren? Medikation, die auf
Grundlage der Unterdrückung der Hirnstamm-Stimulierung funktioniert. Es ist das
sympathische Nervensystem, das ein Trauma verarbeitet, uns auf der Hut sein lässt
und den Schmerzzustand aufrecht erhält. Und umgekehrt ist es Schmerz, der uns
wachsam macht, oft zu wachsam, so dass wir uns nicht entspannen können. Wenn
gespeicherter und eingeprägter Schmerz zu vollem Bewusstsein gebracht wird,
werden die durch übermäßigen Schmerz neu entstandenen Rezeptoren überflüssig.
Angstgefühle signalisieren keine Wachsamkeit mehr, weil die Schleusen geöffnet
sind und der Schmerz, seiner Macht beraubt, zu einer einfachen Erinnerung wird. Schmerz
reverbiert um das Limbische System und den Hirmstamm, und versucht ständig,
einen Ausgang zu finden. Ist er einmal draußen, kann der Körper zur Ruhe
kommen. Aus diesem Grund fallen die Werte des Speichelkortisols (Stresshormon)
bei unseren Patienten nach einem Jahr Primärtherapie beträchtlich. Indem wir
ermöglichen, dass das Ereignis oder Gefühl voll bewusst wird, können wir voll
darauf reagieren, und dann kann das System ausruhen. Wie ich früher dargelegt habe, ist der Spalt zwischen Neuronen mit chemischen Substanzen gefüllt, welche die Nachricht entweder behindern oder beschleunigen. Die Nachricht wird erst in Worte gefasst, wenn sie den frontalen Kortex auf der höchsten Ebene erreicht. Dies geschieht erst viele Monate nach der Geburt, wenn der Seite 243 |
Kortex
reifer ist. Wenn der Schmerzimpuls zu groß ist, füllen die Neuronen den Spalt
mit einem hemmenden Neurotransmitter, der die Botschaft aufhält. Das
Nervensystem „weiß bereits Bescheid,“ wenn
andere Nerven nichts mehr aufnehmen können. Der wichtige Punkt ist, dass der Schmerz des Kleinkinds im
Alter von zwei Wochen oder weniger verdrängt werden kann.
Physiologisch
betrachtet scheinen Schmerzrezeptoren dem Ausmaß der Traumatisierung des Körpergewebes
entsprechend zuzunehmen.16 Unsere evolutionären Vorfahren
entwickelten die Fähigkeit, auf Gefahr schnell zu reagieren, um zu überleben.
Als Ergebnis ist unsere heutige Fähigkeit von entscheidender Bedeutung, Schmerz
abzuschalten, um uns mit der Welt befassen zu können, Und wir werden wachsam für
die Möglichkeit einer Verletzung. Wir können etwas vorausahnen. Zu oft
ahnen wir ein Verhängnis voraus, das bereits stattgefunden hat, nur dass wir
ohne Zugang glauben, es komme von außen. Wenn eine
eingeprägte Empfindung sehr stark ist, wandert ihre Energie zum frontalen
Kortex, aber auf Grund der Verdrängung kann sie ihr Ziel nicht erreichen und
bewegt sich stattdessen zu Arealen, die mit Fühlen assoziiert sind. Das kann
einen Menschen zu dem Ausruf veranlassen: „Ich muss aus diesem Haus oder aus
dieser Ehe raus.“ Er muss einfach „raus“, Punkt. Ironischerweise kann die
Empfindung wegen der Gewalt des Schmerzes, die es bedeuten würde, nicht zur
Verknüpfung gelangen. „Niemand will mir helfen“ und „Sie wollen mich nur
verletzen“ können ihren Antrieb von der Geburt haben. Später dann, wenn die
Eltern der Person wirklich nicht helfen wollen, verstärkt sich das Gefühl.
Jahrzehnte später dann, wenn der Ehemann keine Hilfe beim Tragen der
Lebensmittel anbietet, ist der Ärger der Frau übertrieben: “Nie willst du
mir helfen!“ Wenn wir vom plötzlichen,
unerwarteten Tod eines Freundes erfahren, können wir es nicht integrieren. Es
kann nicht durchdringen. Das Schleusensystem erlaubt jeweils nur einer bestimmte
Menge schmerzvoller Information, das volle Bewusstsein zu erreichen. Später
beginnen wir, den Verlust mehr und mehr zu akzeptieren. Auf ein Kleinkind trifft
das doppelt zu. Es hat nicht die intellektuelle Ausstattung, um auch nur
ansatzweise zu verstehen, was in seiner Familie vor sich geht. Schleusung
kann für Persönlichkeitsunterschiede zwischen Geschwistern, sagen wir zwei
Jungen, verantwortlich sein. Beide werden von ihren Eltern umarmt und geküsst,
aber einer hat vielleicht ganz früh massiven Schmerz erfahren – zum Beispiel
eine Periode elterlicher Vernachlässigung – und verdrängt deshalb massiv. Dieser Bruder kann
distanzierter und unnahbarer sein, während das Geschwister vertrauensvoller und
offener ist und sich von anderen mehr akzeptiert fühlt. Oder noch wahrscheinlicher ist, dass das
Geburtstrauma für beide ganz unterschiedlich ist, und das resultiert in
unterschiedlichen Prototypen. Einer kann ‚ausgangsfreudiger’ sein (wortwörtlich
bei der Geburt) und wird schneller umarmt und geküsst. Seite 244 |
Eine
Methode, wie wir die Schleusung messen können, besteht darin, die Ergebnisse an
einem Patienten zu beobachten, der unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln
steht. Wie viele benötigt man für die Person, damit sie sich entspannt und
wohl fühlt, und wie stark müssen sie sein? Wenn starke Sedativa wie Alkohol
oder Stimulanzien jemanden ungerührt lassen, sind die Schleusen wahrscheinlich
so stark, dass nichts durchkommt, nicht einmal Koffein. Es ist merkwürdig aber
verständlich, dass jemand starken Kaffee trinken kann und dann einschläft. Das
kann eine parasympathische, herunterregulierte Person sein oder jemand, der so
gut abgewehrt ist, dass Kaffee nicht tun kann, was er soll, nämlich uns wach zu
halten. Für diejenigen, die aufgrund eines unterregulierten Systems
Stimulierung brauchen, kann Kaffee ein normalisierender Faktor sein. Jemand, der
„ganz schön viel vertragen kann“, ist ein anderes Beispiel. Auch ein
starkes Anästhetikum wie Alkohol kann die Person nicht betrunken geschweige
denn schläfrig machen, weil sehr wenig Information im Bewusstsein ankommt. Aus diesem Grund konnten einige
meiner früheren suizidalen Patienten eine Menge an Schmerztötern einnehmen,
die ein Pferd getötet hätten, und nicht einmal in Schlaf fallen. Das Gehirn
war durch Schmerz so aktiviert, dass es eine enorme Dosis gebraucht hätte, die
Person auch nur zu beruhigen. Wir sehen diese Aktivierung in unserer
Hirnwellenforschung.17 Vielleicht können wir allmählich ein
Phänomen verstehen, dass in der Medizin als „paradoxe Reaktion“ bekannt
ist, wobei Sie das Gegenteil dessen erhalten, was sie mit einem bestimmten
Medikament beabsichtigten. Gegenwärtig ist ein größeres Gerichtsverfahren
gegen eine pharmazeutische Firma im Gange, weil behauptet wird, dass ihre
Tranquilizer jemanden dazu gebracht haben, sich selbst umzubringen. Die
Argumentation geht dahin, dass dieser
Tranquilizer gefährlich ist und selbstzerstörerisches Verhalten provozieren
kann. Es ist nicht das Medikament. Es ist die Reaktion darauf, und diese
Reaktion hängt von der persönlichen Geschichte ab. Was Medikamente wie Prozac
in einigen Fällen vielleicht bewirken, ist, dass sie die Person in die Primärzone
hinunterbringen, wo sie fühlen kann. Die alte Traurigkeit und die alte
Verletzung beginnen mit all ihrer Hoffnungslosigkeit hochzukommen; die Person
hat keine Ahnung, was los ist; ihre Kindheit wird zu ihrem gegenwärtigen Leben,
weil sie zwischen beiden nicht mehr unterscheiden kann, und sie wird suizidal.
Wir müssen vorsichtig sein, wenn wir dieses oder jenes Medikament als
„schlecht“ bezeichnen, ohne dass wir den Wirtskörper näher in Betracht
ziehen, in den die Droge eindringt. Wir kommen
jetzt zu Samanthas Geschichte. Was sie vor allem aufzeigt, ist die große
Erleichterung, die sich aus der Gewissheit ergibt, dass sie das ‚Warum’ ergründen
kann, wenn sie ängstlich ist. Ihre Angstzustände sind kein Geheimnis mehr.
Seite 245 |
Es gibt
jetzt einen Weg herauszufinden, was nicht stimmt. Allein der Sache das
Geheimnisvolle zu nehmen, ist ein so gutes Gefühl; nicht länger von einem
unbekannten Dämon angegriffen zu werden, der uns ohne erkennbaren Grund aufwühlt.
Nicht länger in eine Depression versunken zu sein, die aus dem Nichts zu kommen
scheint, weshalb Psychologen sie als „endogene“ Depression bezeichnen, was
„etwas von innen“ bedeutet. Das ist keine allzu große Hilfe.
Was von innen
ist es?! Samantha Ich kam zur Primärtherapie, weil
ich extrem ängstlich war, immer das Gefühl hatte, dass mit mir etwas nicht
stimmt, aber nicht wusste, was es war. Immer wenn ich in der Arbeit etwas Neues
oder Schwieriges machen musste, war ich sehr angespannt und hatte irrationale Ängste,
dass etwas Furchtbares mit mir geschehen werde. Ich fühlte mich völlig hilflos
und wurde sehr von meinem Mann abhängig; ich wollte seine Hilfe und seinen Rat,
hatte aber nie das Gefühl, dass ich die Sicherheit bekommen konnte, die ich
brauchte. Gewöhnlich lag ich nachts auch wach, grübelte und sorgte mich über
etwas, das ich am nächsten Tag in der Arbeit machen musste. Meine Gefühle
schienen immer für die Situation zu extrem. Oft hatte ich das starke Gefühl,
dass mir der Untergang bevorsteht. Allmählich wurde mir auch klar, dass ich nie
in der Lage gewesen war, mich mit der Realität des Todes meiner Schwester
Gloria abzufinden. Im Alter von zwölf Jahren war ich in einen grauenvollen
Autounfall verwickelt, bei dem sie ums Leben kam. Meine Schwester und ich, wir
waren uns sehr nahe und die meiste Zeit unseres Lebens teilten wir uns ein
Zimmer. Plötzlich war ich total alleine gelassen. Es war so ein schockierendes
Erlebnis, dass ich unfähig war, die volle Wucht dessen, was mir passiert war,
wirklich zu fühlen und um meine Schwester zu trauern. Schon bevor ich in die
Therapie kam, begann es mir zu dämmern, dass etwas mit der Art, wie ich
reagiert hatte, ganz und gar nicht stimmte. Ich hatte das Gefühl, dass in
meinem Inneren eine kleine Zeitbombe vor sich hin tickte. Seit ich mit der Therapie begonnen habe, kann ich weinen und wirklich über Glorias Tod trauern. Ich habe das Entsetzen wiedererlebt, alleine zu sein, nachdem sie starb, und akzeptierte endlich die Realität ihres Todes. Den Schmerz zu fühlen, brachte mir Erleichterung – er war ein weggeschlossenes Geheimnis. Zuvor hatte ich niemanden, mit dem ich wirklich hätte reden können. Die einzige Möglichkeit, an meiner Schwester festzuhalten, bestand darin, alles für mich zu behalten.
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Weil ich nicht darüber reden konnte, was geschah und wie ich mich fühlte, war es, als würde sie nicht wirklich
existieren. Diese Erkenntnis traf mich, als ich eines Tages versuchte, in der
Gruppe über Gloria zu reden. Ich fühlte mich von allen eingeschüchtert und
wollte sie an nichts teilhaben lassen. Mein Gefühl war, dass sie ganz mein war,
wenn ich sie nur in meinem Inneren bewahren würde. Schließlich begann ich zu
reden und zu weinen und mir wurde klar, dass ich sie nicht gehen lassen wollte. Hinterher
hatte ich eine Sitzung, in der ich mich erinnerte, wie meine Mutter nachts immer
in mein Zimmer kam, nachdem Gloria gestorben war. Sie redete und weinte mit mir
über Gloria, aber ich fand es immer beschwerlich. Ich fühlte mich unwohl und
schuldig, weil ich spürte, dass es um ihre Bedürfnisse ging. Ich fühlte, dass
es falsch war, und hörte zu weinen auf. Nach einiger Zeit tat ich so, als würde
ich schlafen, damit sie nicht hereinkommen würde. Ich erinnere mich, wie ich
voller Entsetzen unter der Bettdecke lag und tiefes Atmen vortäuschte, wenn ich
meine Mutter an der Tür stehen hörte. Die einzige Möglichkeit, wie ich meine
Schwester für mich behalten konnte, bestand darin, meine Tränen zu unterdrücken
und völlig allein zu sein. Ich war auch
in der Lage, das Entsetzen wiederzuerleben, das ich fühlte, als ich nach dem
Unfall auf dem Rücksitz des Autos wieder zu mir kam. Zur Zeit dieses
Ereignisses war ich völlig erstarrt und reaktionsunfähig. Aber in einer
einzelnen Sitzung konnte ich die volle Wirklichkeit und das ganze Grauen an die
Oberfläche bringen, in einem zertrümmerten Auto inmitten zersplittertem Glas
eingeschlossen zu sein. Meine Mutter schrie hysterisch, und mir wurde klar, dass
mit meiner Schwester etwas nicht stimmte. Schließlich war ich in der Lage, mich
zu bewegen und zu schreien und die schreckliche Realität zu fühlen, die ich zu
jener Zeit gespürt hatte – dass ich sie verloren hatte. Großen Anteil an dem
Schrecken und der Einsamkeit, die ich nach Glorias Tod fühlte, hatten ähnliche
Gefühle, die von meiner Geburt stammten. Gefühle wie „Ich kann das nicht“
und „Ich sterbe“ lähmten mein ganzes Leben Diese Gefühle ergaben in Bezug auf meine gegenwärtige Realität keinen Sinn. Die Primärtherapie hat es geschafft, dass ich ihre Quelle ausfindig machen und Erleichterung finden kann. Jetzt verstehe ich, was mit mir los ist. Meine Eltern sagten mir, dass ich eine gute Geburt hatte. Ich wurde natürlich geboren, ohne Medikamente, und die Wehen dauerten etwa acht Stunden. Mit der Zeit war ich in der Lage, die Realität zu fühlen, dass ich bei der Geburt steckenblieb, und das Entsetzen, völlig allein zu sein. Ich kämpfte und drängte, um herauszukommen, und bekam keine Hilfe von meiner Mutter. Ich habe die Hoffnungslosigkeit des Gefühls wiedererlebt, dass ich nie rauskommen werde, und die Panik, als ich herausfinde, dass ich nicht richtig atmen kann. Oft ging ich in Sitzungen und äußerte „Ich kann das nicht“ oder „Ich weiß nicht, was ich tun soll“ als Reaktion auf Probleme in Beziehungen und im täglichen Leben. Jetzt, da ich meine Geburt wiedererlebt Seite 247 |
habe, weiß ich, woher diese Gefühle
kommen und wie sie mein Leben beeinträchtigen. Diesen Schmerz zu fühlen hat
mir beträchtliche Erleichterung gebracht und mir den Raum verschafft, den ich
brauche, um mit dem täglichen Leben leichter fertig zu werden. Ich fühle mich
jetzt viel handlungsfähiger. Ich liege nachts nicht mehr voller Sorge wach, wie
ich durch den nächsten Tag kommen soll. Ich begreife mich selbst und meine Wünsche
jetzt besser. Ich weiß, dass ich es selber schaffen kann. Der größte
Unterschied ist für mich jetzt, dass ich weiß, wenn ich mich schlecht fühle,
muss ich in das Gefühl versinken und herausfinden, woher es kommt – das
bringt mir Erleichterung und ich fühle mich besser.
Wenn die Schleusen der Abwehr durchdrungen werden Die Plazenta ist nicht einfach eine
„Barriere“; sie ist eine Schleuse, die neuen Elementen den Durchlass
erlaubt, so dass sie die Entwicklung des Fetuses ändern können. Die Einnahme
von Beruhigungsmitteln durch die schwangere Mutter kann die Fähigkeiten der
Rezeptoren im Fetus verändern. Später erfolgt der Ausdruck der Gene in Übereinstimmung
mit diesen frühen Eingaben. Beide, das Kind und der Erwachsene, können
Schwierigkeiten beim Verdrängen haben; das Ergebnis kann chronische Angst sein,
Schlaflosigkeit und die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren und zu
funktionieren. Das geschieht, weil der Fetus mit Tranquilizern überschwemmt
wird, mit einer Dosis, die für so einen kleinen Körper viel zu schwer ist, und
weil die Umgebung dem kleinen System gebietet, keine eigenen Beruhigungsmittel
zu produzieren. Das Ergebnis kann ein lebenslanges Defizit sein, da die
Sollwerte im Mutterleib für das ganze Leben geändert worden sind. Und was
dann? Dem jetzt Erwachsenen fehlt es an angeborenen und endogenen Drogen, und er
muss externe Beruhigungsmittel aufspüren. All das hängt von der kritischen
Periode ab, wenn die Sollwerte für Serotonin und andere
Hemmsubstanzen/Repressoren eingerichtet werden. Levitt schreibt: „Experimentelle
Studien an Tier-Modellen zeigen auf, das frühe Umwelteinflüsse in utero die
Wahl des Zellschicksals und das neuronale Wachstum modulieren können. Die
Modifizierung der Determinanten kann langanhaltende Folgen haben.“18
Pränatal „erfüllt (die Umgebung der Zellen) Funktionen, die so entscheidend
sind wie postnatal Umwelteinflüsse, die das synaptische Wachstum fördern.“19
Wie intakt das fühlende Gehirn sein wird, hängt von Faktoren ab, die während
des Lebens im Mutterleib existierten.20
Seite 248 |
Gib einem Kind eine gute Geburt
(nach Möglichkeit keine Medikamente für die Mutter) 21 und
gute erste drei Lebensjahre, vor allem gute erste drei Monate, und ein Großteil
der Aufgabe der Kindererziehung ist erledigt. Warum? Weil die Gehirnsubstanzen
vorhanden sind, die dem Kind helfen, mit Widrigkeiten fertig zu werden. Unglücklicherweise
werden diese Eltern, die nicht liebevoll oder fürsorglich genug sind, um dem
Fetus die bestmögliche Lebenschance zu geben, den Schmerz Jahr für Jahr
weiterhin verschlimmern, so dass das Kind nie die chemische Ausrüstung
entwickelt, um mit dem Mangel an Liebe zu Rande zu kommen. Als Erwachsener
leidet es. Manchmal ist es jedoch einfach fehlende Aufklärung, die dazu führt,
dass Eltern ungesunde Bedingungen für ihr Baby schaffen. Das Baby ist dem
heftigen Angriff einer rauchenden Mutter ausgesetzt, die sich einer verrückten
Diät unterzieht, um schlank und attraktiv auszusehen, und damit bewirkt, dass
sich das Baby unsicher fühlt. Ihre uterine Umwelt ist unsicher, und das wird
das Baby ein Leben lang spüren, wenn auch unbewusst. Der/die
Erwachsene wird diese Grundschicht an Angst haben, die in vielfacher Form in
Erscheinung tritt, von Phobien bis zur Angst davor, etwas Neues auszuprobieren.
Eine trinkende Mutter erzeugt eine unsichere Umwelt für ihr Baby;
unartikuliert; sie artikuliert sich später in der Reaktion auf Y2K*,
wenn es zu einer unangemessenen kataklystischen Reaktion darauf kommt. Dieses
Ereignis kann die aus dem Mutterleib stammenden „Unsichere-Welt“-Gefühle
auslösen. Von dieser Erinnerung her kommt das Gefühl drohenden Verhängnisses;
ein Verhängnis, das in den tieferen Zonen des Gehirns eingeschlossen ist und an
die Oberfläche steigt, um den Kortex glauben zu machen, dass das Verhängnis
bevorstehe; und es steht bevor, es kommt aus der Tiefe und wird jetzt auf die Außenwelt
projiziert.
Die Welt als
„unsicher“ rührt vom Mutterleib her, wo die Welt des Fetus unsicher war.
Das verschlimmert sich dann durch eine chaotische Kindheit, in der sich das Kind
niemals sicher und geschützt fühlt. Der erwachsene Mensch wird jetzt von rätselhaften
tiefsitzenden Ängsten gebeutelt, am allermeisten von der nahezu ständigen
Angst vor dem Tod; alles erscheint einer Person, die diese Art Lebensanfang
durchgemacht hat, wie das Ende der Welt. Einer meiner früheren psychotischen
Patienten vernagelte in seinem Appartement die Türen in unmittelbarer Nähe zum
Nachbarn, weil er sich so bedroht, so unsicher fühlte. Seine Kindheit war
schrecklich: Ein Elternteil ging, der andere war die ganze Zeit betrunken. Das
steigerte die Unsicherheit in ihm und schließlich seine Wahnidee, dass überall
Gefahr lauere. Man könnte fragen: „Wie kommt es, dass ein Kind mit der
Scheidung und mit dem trunksüchtigen Elternteil fertig wird und das andere
nicht?“ Die Antwort kann in der Substruktur der Angst liegen, die tief im
Nervensystem verborgen liegt und eine gewisse Zerbrechlichkeit erzeugt. Die ein * Anm. d. Ü.: Y2K : „Year 2 Kilo“, „Jahr-2000-Fehler“ : Computertechnischer Begriff, der sich auf die Probleme bezieht, die durch den Jahrtausendwechsel tatsächlich oder vermeintlich entstanden sind. Einige haben anscheinend ein katastrophenähnliches Szenario erwartet.
________________________ Seite 249 |
Eine gute Geburt erfordert, dass die
Mutter Anästhetika während der Geburt vermeidet, ein Entbindungszimmer hat,
das weder kalt noch mit grellem Licht geflutet ist, und vor allem, dass das Baby
sofort auf den Bauch der Mutter gelegt und die Nabelschnur nicht vorzeitig
durchgeschnitten wird (Es ist noch viel Sauerstoff in dieser pulsierenden
Nabelschnur). Es betritt einen neuen Planeten mit neuen Anblicken und Klängen
und alles, was es zu diesem Zeitpunkt kennt, ist die beruhigende Berührung
durch die Mutter. Sie ist für ihn die ganze Welt, genau wie ihr Schoß früher
die „ganze Welt“ für ihn war. Sie setzt sein Leben in Gang, indem sie während
der Schwangerschaft gut auf sich selbst aufpasst, sie fährt dann fort mit
sanften Liebkosungen und sie hält es nahe bei sich. Das muss Monate oder Jahre
fortdauern, um dem Baby zu helfen, dass es sich sicher und geliebt fühlt. Es
bedeutet auch, ein gesundes Hirn zu schaffen. Körperliche Nähe und Berührung
sind die sine qua non. Wenn Versicherungsgesellschaften und
Gesundheitsorganisationen viel Geld sparen und menschliches Leiden beenden
wollten, würden sie eine Kampagne für die Leboyer-Geburt starten. So viele spätere
kostspielige Krankheiten könnten durch die richtige Geburtsprozedur vermieden
werden, ganz zu schweigen von der Vermeidung vieler psychisch-geistiger
Krankheiten und der Kosten für Krankenhaus und Psychotherapie. Die Einteilung des Gehirns in drei
Abschnitte ist wichtig für die Methode, wie wir Patienten diagnostizieren, die
nichts damit zu tun hat, wie sie in der konventionellen Therapiewelt
diagnostiziert werden. Zu oft nehmen Therapeuten ein Verhalten, geben ihm einen
besonderen Namen und machen daraus eine Diagnose. Betrachten Sie zum Beispiel
die Zwangsstörung. Die Patientin sagt: „Ständig muss ich nachschauen, ob die
Türen abgesperrt sind“, und der
Therapeut sagt ihr, es handle sich um eine „obsessive Zwangsstörung“. Was
sich abspielt, ist, dass alltägliche Beschreibungen in psychologischen
Fachjargon übersetzt werden ohne irgendeinen Fortschritt in der Diagnose. Es
ist viel besser, in Begriffen der Gehirnfunktionen und tiefer, generierender
Ursachen zu diagostizieren, weil das einen Unterschied in der Art der Behandlung
macht. Die übliche analytische Diagnose ändert an der Therapie wenig,
ausgenommen die Art von Medikament, die bei dem Patienten angewandt wird. Die Fallgeschichte von Rita ist
aufschlussreich über die Beziehung zwischen Messwerten der Vitalfunktionen und
psychischen Zuständen.
Seite 250 |
Über Rita
Heute morgen sah ich eine Patientin,
die mit einer Körpertemperatur von 95,3°F
((35,2°C)) in die
Sitzung kam. Ich war sicher, dass unser Messgerät defekt war und so probierten
wir ein anderes aus und fanden die gleiche Temperatur. Diese Tatsache allein
verschaffte mir einen Bezugsrahmen für die kommende Sitzung, der meiner Meinung
nach tiefe Hoffnungslosigkeit, einen parasympathisch dominanten Zustand,
involvierte. Rita begann die Sitzung in tiefer Verzweiflung und fühlte, wie
hoffnungslos ihr Leben gewesen war; monatelang nach der Geburt keine Mutter, ein
Vater, der zornig und distanziert war, und Bruder und Schwester, die sie dafür
hassten, dass sie auf die Welt gekommen war. Vor kurzem hatte sie zwei Autounfälle
und fühlte, dass Weitermachen keinen
Sinn mehr hatte. Die Hoffnungslosig- keit, jemals geliebt zu werden, zog sich
wie ein roter Faden durch ihr ganzes Leben. Sie fühlte: „Wer könnte sich je
für mich interessieren? Ich bin so wenig liebenswert.“ Wir suggerierten ihr
zu keinem Zeitpunkt, was für ein Gefühl das sein könnte, aber ich habe selten
einen tief deprimierten Patienten am Rande der Hoffnungslosigkeit gesehen, der
eine hohe Körpertemperatur hatte. Diese Patientin ging nach zwei Stunden mit
einer Temperatur von 97,5°F
((36,4°C)). Warum der Anstieg? Weil sie die
Hoffnungslosigkeit als kleines Kind fühlte. Ursprünglich war sie
physiologisch; später sollte sie in einen Begriff übersetzt werden –
Hoffnungslosigkeit. Dieses eingeprägte Gefühl trug sie die ganze Zeit mit sich
herum. Es zu erfahren bewirkte, dass sie in diesem Gefühl nicht mehr so tief
versunken war. Die Dialektik: hoffnungslos sein, um hoffnungsvoll zu sein.
Warum? „Weil“, sagte sie hinterher, „ich es in den Zusammenhang brachte,
als ich sehr klein war. Es ist nicht mehr mein gegenwärtiger Seinszustand.“
Ihre Gefühle erledigten das für sie. Ihre gegenwärtige Verzweiflung führte
sie in ihre Kleinkindzeit zurück, als sie sich in ihrem Kinderbettchen in einem
dunklen Raum alleine fühlte und niemand kam; der Vater schrie sie
augenblicklich an, sobald sie weinte, und es gab niemanden, an den sie sich hätte
wenden können. Sie konnte nichts dagegen tun. Bis in die Gegenwart
funktionierte sie kaum, die Schule, jeder Job, den sie hatte, und jede
zerbrochene Beziehung – alles schien hoffnungslos. Es war nicht allein die frühe
Prägung; es war die Tatsache, dass sie sich Jahr um Jahr verschlimmerte.
Mit einem im
Rektum platzierten elektronischen Thermistor (Thermometer) maßen (und filmten)
wir frühe Hoffnungslosigkeit bei einem Patienten während einer Sitzung, in der
die Körpertemperatur innerhalb zirka zwanzig Minuten von 98,6°F
((37,0°C)) auf 94,8°F
((34,9°C))
herunterging. Und das, owohl der Patient körperlich aktiv war. Wenn ich sage,
dass Wiedererleben ein unverfälschtes Ereignis ist, meine ich genau das damit.
Zum einen ist kein Willensakt hinsichtlich der Körpertemperatur möglich, zum
anderen ist sich der Patient auch nicht bewusst, dass die Temperatur sinkt.
Niemand wüsste, wie dieses Absinken der Werte zu bewerkstelligen wäre. In
keinem Fall erfolgt die Besprechung dieser Temperatur mit dem Patienten vor
Ablauf der Sitzung. Seite 251 |
Angst oder
Entsetzen in einem Inzesttrauma erhöht das Adrenalin, lässt das Herz hämmern
und den Blutdruck ansteigen und bewirkt die Freisetzung größerer Mengen
Kortisol. Das verursacht dann ein Ungleichgewicht im Gehirn, größtenteils im
Hippocampus, wo sich dann Gedächtnislücken, Angst und die Unfähigkeit
einstellen, emotionale Ausbrüche zu kontrollieren. Das kann zu
Aufmerksamkeitsstörungen führen, bei der die frontale Verdrängung unzulänglich
ist, so dass störende Schmerzimpulse aus der frühen Kindheit nicht
ausgesondert werden können. In einem Artikel über traumatisierte Kinder von
Martin Teicher von der psychiatrischen Abteilung der Havard Medical School
bemerkt dieser, dass in diesen Fällen weniger Nervenzellenverbindungen in der
linken Hemisphäre existierten.........und deshalb gab es weniger Verdrängung
und Kontrolle durch Neuronen des linken Kortexes. Wenn man diesen Kindern ein
Medikament gab, das die Hirnstammaktivierung blockierte, ging es ihnen viel
besser. Kurz gesagt war weniger Hemmungsarbeit zu erledigen. Die Implikation von
Teichers Arbeit ist die, dass ein frühes Trauma linkskortikale Prozesse auf
physiologische Weise beeinträchtigen kann, so dass wir weniger Linkshirnverknüpfungen
haben, um Impulse zu kontrollieren. Empfindungen
der ersten Linie sind die am wenigsten zugänglichen und die qualvollsten, und
deshalb sind sie am wenigsten glaubhaft. Wenn wir eine Empfindung verspüren,
als würden wir erwürgt oder - im Brustbereich - als würden wir erdrückt, können
wir auf die geschleusten Ur-Empfindungen zurückschauen, die mit dem frühen
Trauma der ersten Linie assoziiert sind. Da es die Ebene ist, auf der
Erinnerungen am schwierigsten wiederzugewinnen sind, ist es im Allgemeinen die
Ebene, die der Patient in der Therapie als letzte erreicht. Wir können es am
Muster des Weinens, am sporadischen Schluchzen und am Ausfall der Atmung
ersehen, wenn Hirnstamm-Einprägungen beteiligt sind. Das lässt uns wissen, ob
die emotionale Szene, die wiedererlebt wird, von der ersten Linie gesteuert
wird, oder ob es sich um eine Intrusion der ersten Linie (Hirnstamm) handelt.
Wir wissen auch durch die Körpersprache Bescheid: Krümmen des Rückens, fetale
Position und das Erscheinen eines „fetalen Gesichts.“ Der Körper ist gut geeignet, um mit dem Geburtstrauma fertig zu werden, falls in der Tat ein Trauma existiert. Nach dem fünften Tag auf Erden erfolgt wieder die Rückkehr zu niedrigeren Opiatspiegeln. Die Geburt kann enorm traumatisch sein, wenn sie nicht gut verläuft, wovon die massive Freisetzung von Schmerztötern zeugt, während sie im Gange ist. Es ist das Wiedererleben der ersten Linie, das den Hormonausstoß stabilisieren kann. Wir wissen, dass die Produktion von Thyroxin
Seite 251 |
(wird von der Schilddrüse hergestellt) um die zwanzigste Woche der Fötalphase
beginnt.22 Stress kann von der Mutter auf den Fötus übertragen
werden und leichte Änderungen der Thyroxin-Sollwerte bewirken. Später in der
Kindheit oder im Erwachsenenalter kann man einsetzende Tendenzen entweder in
Richtung Übersekretion oder zur Untersekretion hin sehen. Patienten, die
hypothyreoid waren, lustlos und energielos und zu leicht an Gewicht zunahmen,
sind nach dem Wiedererleben und Verknüpfen von Traumen der ersten Linie oft
weit weniger hypothyreoid. Kleine Mengen an Schilddrüsenhormon scheinen auch
bei meinen „normalen“ Patienten (am unteren Ende von normal) zur emotionalen
Stabilität beizutragen. Das Schilddrüsenhormon agiert im Gehirn als
Neurohormon und wird im Locus caeruleus des Hirnstamms in seine Aktivform
umgewandelt. Je mehr Epinephrin sekretiert wird, desto umfassender ist die
Umwandlung zu aktivem Schilddrüsenhormon. In der Depression, bei der wenig
Norepinephrin vorhanden ist, ist auch der Ausstoß an Schilddrüsenhormon
gering. Die entsprechenden Symptome sind Lethargie, niedrige Körpertemperatur
und Resignation. Die Schilddrüse hat in jeder Hinsicht mit der Körpertemperatur
zu tun. Was wir lernen, ist, dass das Noradrenalinsystem eng mit der Schilddrüse
verbunden ist. Sie teilen einander Information mit, so dass es nicht
unwahrscheinlich ist, dass eingeprägter Schmerz, falls vorhanden, direkt das
Schilddrüsensystem beeinflusst. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum in Fällen
von Depression die Verabreichung von Schilddrüsenhormon manchmal hilft, das
Syptom zu lindern. Für die Durchschnittsperson mag die
Vorstellung einer ersten Ebene des Gehirns wie der Glaube an die Zahnfee
scheinen. Es ist jedoch ein physiologisches und messbares Ereignis. Jahrlang
stand ich morgens auf und ging zum Kaffeetrinken außer Haus, anscheinend eine
normale Handlung. Aber in meinem eigenen Geburtsprimal fühlte ich die dringende
Notwendigkeit herauszukommen, und ich erkannte die vage Angst, die ich jeden
Morgen hatte und die nur durch „Herauskommen“ erleichtert wurde. Eine andere Sache, die in meinem
Primal aufgelöst wurde, war, dass ich es immer hasste, „zurückzugehen“,
wenn ich meine Schlüssel vergaß oder etwas liegen ließ. Umkehren war eine große
Anstrengung. Das Gefühl war: „Wenn ich zu dieser Höllenqual zurückgehe,
werde ich sterben.“ Das stammte aus der Einprägung von Anoxie bei der Geburt.
Einer der Gründe, dass Impulse dominieren, liegt darin, dass das Kontrollsystem
gegen Gefühle defekt ist. Geburtsanoxie kann die Verbindungen vom Kortex zur
Medulla unterbrechen und die Atmung beeinträchtigen. Ich lege Nachdruck auf
Annoxie, weil bei vielen Geburten die
Mutter schwer anästhetisiert ist; das bedeutet letzten Endes partiellen
Sauerstoffausfall für das Neugeborene. Aus diesem Grund plädiere ich dafür,
nach Möglichkeit auf Anästhesie bei der Geburt zu verzichten. Seite 253 |
Bei der
Geburt unter Medikamenten wird der Mutter ein Anästhetikum berabreicht, um die
Wehenschmerzen zu lindern. Die Droge passiert die plazentale Barriere in einer
Dosis, die für das Baby mehrere Hunderte Male zu stark ist, so dass weder die
Mutter noch das Baby normal reagieren können, um den Geburtsprozess zu
erleichtern. Medikamente für die Mutter und Schaden für das Baby Nach der Verabreichung von
Medikamenten werden die uterinen Kontraktionen weniger und schwächer. Schlimmer
noch, die Medikamente blockieren wichtige neurale Informationen, so dass sich
auch die Sequenz der Kontraktionen von hinten nach vorne ändert. Das bedeutet,
dass das Baby nicht mehr so leicht und zügig vorwärts getrieben wird. In den
meisten Fällen wird es durch die asynchronen Kontraktionen gequetscht und
zusammengedrückt – ein wenig so, als würde es durch eine Kompaktiermaschine
gehen. Der Uterus funktioniert demgemäß wie eine Kontraktionskammer, deren
Bewegungen stark genug sind, um starken Druck auszuüben, aber nicht rhythmisch
oder kräftig genug, um das Baby zügig nach unten und außen zu treiben. Als nächstes
kann sich der Kopf des Babys am vorderen Teil des
Kanals nicht richtig ausrichten. Das bedeutet, dass die amniotische Flüssigkeit,
die durch kraftvolle Kontraktionen nach vorne getrieben wird, in Mund, Lungen,
Luftröhre und Magen des Babys gepresst wird. Es wird zerquetscht, es erstickt,
und – ganz wesentlich – es ertrinkt. Da auch das Baby betäubt ist, ist sein
Atmungssystem geschwächt (Anästhetika beeinträchtigen die Atmung schwer), und
es hat nicht die Muskelkraft, sich dorthin zu bewegen, wo es weniger weh tut –
nämlich in die richtige Geburtsposition. Wäre das
Baby nicht so schwer betäubt, könnte es instinktiv handeln, um bei seiner
eigenen Geburt mitzuhelfen. Es könnte seine Muskeln anspannen, um sich nach außen
voranzukämpfen; es könnte eine torpedoähnliche, gut ‚zusammengepackte’
Position annehmen, um maximalen Vortrieb zu erreichen; und es könnte seinen Körper
zu einer einzigen Einheit machen – Brust und Bauch eins. Unter der Einwirkung
des Medikaments befindet sich der Körper in einer „losen“ und
fragmentierten Position, so dass zum Beispiel die Hände und Arme gefangen sind.
Und während der Körper gefangen ist, geht ihm der Sauerstoff aus. Es ist
dieser Sauerstoffmangel, den wir so oft bei unseren Patienten sehen. Der
Patient, den ich jetzt sehe, läuft während des Anoxie-Primals länger als eine
halbe Stunde lang knallrot an. Bei Anoxie kann das Herz des Babys kurz
aussetzen, der Blutdruck kann auf radikale Weise steigen oder fallen, und in
manchen Fällen kommte es zu einem milden Schlaganfall, von dem sich das Baby
schnell erholt, der aber gewisse neurale Defizite zurücklassen kann, die
vielleicht zu einem späteren Schlaganfall führen. Seite 254 |
Föten
schlucken im plazentalen Sack amniotische Flüssigkeit. Sie wird vom Darm
resorbiert. Wenn dieser Prozess gestört wird – wenn die Mutter zum Beispiel
Beruhigungsmittel oder Schmerztöter nimmt – kann es zum Ertrinken kommen. Ich
habe so viele Patienten gesehen, die die Geburt wiedererleben und zu ertrinken
scheinen. Ken Ich kam zur Primärtherapie, weil
ich den ständigen Schmerz, den ich jeden Tag meines Lebens erfuhr, nicht
aushalten konnte. Ein Überblick über mein frühes Leben enthüllt die Ursachen
meiner inneren Qual. Ich habe
eine Menge von dem üblichen Zeug: eine beschissene Geburt; Trennung von meiner
Mutter sofort nach der Geburt und mehrere Wochen in einem Inkubator; Entzug der
Mutterbrust nach nur zwei Wochen; Kinderkrankheiten, einschließlich Allergien;
schwere Medikation von Anfang an; Schläge mit dem Gürtel; und absolut keinen Körperkontakt
mit meinem Vater nach dem ersten Monat. Das Meiste davon nagte an meinem
Inneren, obgleich ich mir dessen weitgehend unbewusst war. Es wallte auf in Form
von Überintellektualisierung, Tagträumen, Depression, Angst und gelegentlichen
Selbstmordgedanken. Meine ersten
sieben Jahre verbrachte ich mit meinem Vater, meiner Mutter und mit meiner
kleinen Schwester. Dem oberflächlichen Schein nach waren wir die typische
amerikanische Kernfamilie. Mein Papa war Bauarbeiter, und wir zogen so einmal im
Jahr um und folgten den Bauprojekten der Firma. Er war äußerst reizbar,
ehrgeizig, aggressiv und zornig. Im Gegensatz dazu war meine Mutter eine sanfte,
apathische, energielose Person, die uns überhaupt keinen Ansporn geben konnte.
Ihre Persönlichkeiten waren stark polarisiert. Beide fügten mir schweren
Schaden zu: mein Vater durch Misshandlung und meine Mutter durch Vernachlässigung. Mein Vater
verließ meine Mutter, als ich ungefähr sieben war. Er ging zum Arbeiten nach
Übersee, und zehn Jahre sah ich nicht viel von ihm. Seine Abreise war jedoch
eine große Erleichterung. Alles, was ich je von ihm bekam, war Kritik, Kälte
und Hiebe mit dem Gürtel. Obwohl meine Mutter gleichgültig war, fügte sie mir
wenigstens nicht bewusst und überlegt Schmerz zu. Sie überließ mich mir
selbst, ohne mir Pflichten aufzuerlegen. Obwohl ich nicht viel vom Leben hatte,
kennzeichnet der Abschied meines Vaters meinen Aufstieg von der Hölle zur Vorhölle.
Seite 255 |
Der Schmerz,
dessen ich mir eher bewusst war, betrifft Leute wie Lehrer und Klassenkameraden,
mit denen ich zu tun hatte, nachdem sich meine Eltern entzweit hatten und meine
Mam’ mit uns in die Stadt zog, wo ich meine übrige Kindheit verbrachte. In
der zweiten Klasse hatte ich eine Lehrerin, die mich absolut hasste. Ich hatte
Aufmerksamkeitsprobleme. Die Klasse langweilte mich und ich verbrachte den
Schultag größtenteils in geistiger Abwesenheit und tagträumend. Vielleicht fühlte
sich meine Lehrerin durch mein offensichtliches Desinteresse ignoriert oder gekränkt.
Ich weiß es nicht. Was ich gewiss weiß, ist, dass sie mich aussuchte und mich
mit sehr barscher Kritik bedachte; sie schrie mich an und brachte mich in
Verlegenheit. Ich glaube, ich wurde als hoffnungslos schlechter Schüler
eingestuft oder einfach als dumm und faul. In jedem Fall war meine Lehrerin in
der zweiten Klasse meine Einführung ins staatliche Schulsystem, wie ich es
kennenlernen sollte. Ich war scheu, introvertiert und unfähig, für mich selbst
einzutreten. Ich wusste nicht, wie ich mich wehren sollte - also nahm ich alles
einfach hin. Die Mehrheit der Klasse (die guten Mädchen und Jungs) wollten mit
mir nichts zu tun haben. Abgesehen von den anderen Ausgestoßenen war ich
allein. Dieses Stigma blieb mein ganzes übriges Leben an mir haften. Die Leute
behandelten mich wie einen wertlosen Wurm, und genauso fühlte ich mich
innerlich. Meine Lehrer
schalten und erniedrigten mich. Die anderen Kinder hackten auf mir herum und
schickanierten mich, falls sie überhaupt mit mir etwas zu tun haben wollten.
Ich fühlte mich von Natur aus inakzeptabel, unvollkommen, unwürdig. Es war
nicht okay, so zu sein, wie ich war. Übersetzung: ICH WAR SCHLECHT. Mit dieser
Scheiße in mir ging ich durch die Adoleszenz. Obwohl allgemein anerkannt wurde,
dass ich ein kluger Junge war, konnte ich keine guten Noten nach Hause bringen.
Ich war faul. Ich bemühte mich nicht. Ich hatte eine schlechte Einstellung. Ich
wurde meinem Potential nicht gerecht. Ich war auf dem Weg zum Versager. Ich hörte
das alles. Ich glaubte das alles. Es war keine Überraschung, dass ich nach der
neunten Klasse die Highschool abbrach. Als ich sechzehn war, hatte ich eine göttliche Erleuchtung. Mir wurde mit einem Male klar, dass mit allem etwas schrecklich verkehrt war – nicht nur mit mir. Meine Mam’ trennte sich von ihrem zweiten Mann, weil er ein Trunkenbold war, wie mein Vater. Jeder Mann, den ich gekannt hatte, war ein Alkoholiker. Ich dachte, der Geruch von Alkohol sei halt die Art, wie Männer rochen! Es wurde ganz klar, dass Mama einen schweren Fehler machte, der mehrere Jahre ihres und meines Lebens versaute. Bevor sie die Beziehung abbrach, hatte ich ihrem Urteil immer getraut. Rückblickend kam mir in den Sinn, dass ich ihrem Urteil niemals hätte trauen sollen.
Seite 256 |
Ich begann mich zu fragen, was sie sonst noch vermasselt hatte.
Plötzlich waren die Lichter an, und ich war hellwach. Über Nacht stand meine
Welt Kopf.
Ich folgte
einer Fährte von Bibliographien in Psychologiebüchern, die mich zum
Neuen Urschrei führte. Auf halber
Strecke des Buches wusste ich, dass ich auf die eine oder andere Art an diese
Primärtherapie kommen würde. Ich hatte aus eigener Initiative eine ganze Menge
über Psychologie gelesen. Einiges von dem, was ich gelesen hatte, war fesselnd;
einiges war langweilig. Aber dieses Buch ging mir direkt an die Kehle. Es ließ
alles andere wie totalen Scheißdreck klingen. Fünf Jahre später, im Alter von
zweiundzwanzig, hatte ich genug gespart und zog nach Venice, Kalifornien, um mit meiner Therapie zu
beginnen. Was das Fühlen
der Gefühle mir gebracht hat Eines der ersten Feelings, die ich
in meinem Intensiv hatte, kam heraus, als ich sagte: „Ich bin ein schlechter
Junge.“ Bevor ich diese Worte tatsächlich laut aussprach, war mir nicht klar
gewesen, wie sehr ich an sie glaubte. Es war ein Gefühl, das ich mein ganzes
Leben von meinem Bewusstsein abgeblockt hatte. Fühlen, dass ich „schlecht“
war, bedeutete zu fühlen, dass ich wertlos und nicht liebenswert war. Ich fühlte
mich nicht liebenswert, weil ich nicht geliebt wurde – und es TAT WEH!
Ich weinte,
als ich fühlte: „Papa liebt mich nicht und ich weiß nicht, was ich tun
soll.“ Dieses Gefühl erreichte seinen Höhepunkt, als ich vor kurzem in einer
Sitzung hinausschrie, wie sehr ich meinen Vater hasste für das, was er mir
antat. Immer wieder brüllte ich: „Du hast mir so weh getan!“, bis meine
Stimme versagte. Es erforderte alles, was ich hatte, um es alles rauszukriegen.
Am Ende war ich völlig erschöpft. Aber es war tief lösend für mich. Ich spürte
solche Erleichterung! Die Einsicht, die sich daraus ergab, war, dass ich keinen
Papa hatte. Gewiß, sein Blut fließt in mir; aber das ist alles, was er mir
gab, und das nur ungern. Er hat nichts von dem getan, was Väter mit ihren Söhnen
machen. Er wollte mich nicht. Jetzt kann ich den Kampf aufgeben, die Liebe
meines Vaters zu bekommen. Ich muss nicht darum kämpfen, dass er mich liebt. In
der Tat kann ich den Kampf aufgeben, einen Vater zu BEKOMMEN. Ich muss nicht mit
meinen Bossen oder anderen ausagieren, dass ich keinen Vater habe. Meine Realität
ist, dass ich keinen Vater hatte und niemals einen haben werde. Es ist eine
beschissene Wahrheit, aber es ist
meine Wahrheit, und ich weiß, sie gehört zu mir. Ich habe
auch einiges darüber gefühlt, wie fad und langweilig meine Kindheit mit meiner
Mutter war. Es ist sehr schwer, den Schmerz ihrer Vernachlässigung zu fühlen.
Wenn dich jemand schlägt oder misshandelt, kannst du leicht erkennen, was nicht
stimmt, aber wenn dein Leben fad und ohne Ansporn ist, und so ist es immer
gewesen, dann begreifst du nicht,
was du versäumst. Es ist schwer, etwas genau zu bestimmen, das so
verallgemeinert ist. Wenn niemals Wasser im Brunnen war, wie kannst du es
vermissen? Seite 257 |
Ich kam
hierher und hatte den Kopf voll mit Primärbüchern, Primärtheorie, Primär-dies
und Primär-das, und so fort. Wenn ich zurückblicke, war „Primärtheorie“
meine Religion. Es hielt meine Hoffnung am Leben, bis ich hierher kam. Dafür
bin ich dankbar. Die Hoffnung, die mir die Primärtherapie gab, bewahrte mich
vor dem Auseinanderfallen. Jetzt aber habe ich diese „Religion“ verloren.
Religion ist Hoffnung, und Hoffnung ist für mich nicht so groß, wie sie einst
war. Hoffnung ist für mich, dem Tag entgegenzusehen, an dem ich nicht mehr
leiden muss. Mein Leiden ist nicht mehr, was es gewöhnlich war. Ich habe gute
Tage, und ich habe wirklich beschissene Tage. Wenn mein Schmerz hochkommt und
ich anfange, mich verrückt zu fühlen, kann ich es fühlen und weitermachen
oder wenigstens etwas Erleichterung finden. Alles, was ich vorher tun konnte,
war leiden. Jetzt bedeutet mir Primärtheorie nichts. Meine Gefühle bedeuten
mir etwas. Sie sind Primärtherapie. Primärtherapie ist nur eine Bezeichnung.
Sie bedeutet für mich einfach das: leben mit der Bindung an meine eigenen Gefühle.
Und dabei hilft mir die Primärtherapie. Ich mache mir keine Gedanken mehr um
den Tag, an dem mein Leiden ausgemerzt oder „geheilt“ ist. Ich glaube, es
ist am besten für mich, für den Augenblick zu leben und sich nicht um den
magischen Tag zu sorgen, an dem ich „geheilt“ sein werde. Was sagt dieses
Wort „geheilt“ überhaupt über mich aus? Es sagt: Es stimmt was nicht mit
mir, und das muss festgestellt werden; etwas an mir ist fehlerhaft; dass ich
schlecht bin. Die Wahrheit ist, es war von Anfang an nichts verkehrt mit mir.
Ich VERDIENTE es, geliebt, akzeptiert, genährt und angehört zu werden und SEIN
zu dürfen. Für mich gibt es keine Suche nach Heilung mehr. Ich will einfach FÜHLEN,
mich verbessern und jeden Tag meine Lebens wachsen. Ich will mein Leben mit
Leidenschaft, Kreativität und genug Mut leben, um meinem Schmerz geradewegs ins
Auge sehen. Ich fühle, so hätte es
immer für mich sein sollen. Vielleicht war ich tatsächlich auf diesem Pfad,
als ich ganz klein war, ich bin mir nicht sicher. Wenn ja, dann habe ich den Weg
verloren. Meinem Schmerz ins Auge zu sehen, bedeutet, dass ich mir gestatte, mit
dem Kampf gegen meine Gefühle (mich selbst) aufzuhören, und dass ich einen Führer
finde, der mich dorthin zurück geleitet, wo ich vom Weg abkam. „Mut“ ist ein wichtiges Wort. Diese Therapie war für mich manchmal so leicht wie Atmen. Ein anderes Mal war es eines der schwersten, erschreckendsten, frustrierendsten, erschöpfendsten und körperlich beanspruchendsten Unternehmungen meines Lebens. Ich erinnere mich an Zeiten, als ich in der Gruppensitzung am Seite 258 |
Boden lag, mich krümmte, und würgend und
erstickend nach dem ersten Atem meines Lebens schnappte. Einige Male wurde es so
ernst, dass ich befürchtete, ich könnte wirklich an den Flüssigkeiten
ersticken, die mein Körper produzierte. Für die meisten von uns bedeutet das
Eintauchen in die dunklen Abgründe unserer frühesten Einnerungen, den vollständigen
und äußersten Schrecken des Todes wiederzuerleben. Und Sie ahnen es kaum,
genau dort findet Es IST
unfair. Aber unglücklicherweise ist es der einzige mir bekannte Weg, die Verdrängung
zu bezwingen und alles, was sie mit sich bringt, einschließlich der Verewigung
ungelösten, unbewussten Schmerzes. Bevor ich die Therapie begann, redete ich
mit meinen Freunden unaufhörlich über die Primärtherapie. Einige fragten: „
Warum solltest du dir das antun? Gibt’s da nicht Sachen, von denen du besser
die Finger lässt?“ Es ist ein Haufen Höllenqual, durch die ich im Namen des
Fühlen gehen werde. Ich vermute, ich habe lediglich die Spitze des
Leidensberges berührt, auf den ich stoßen werde. Vieles, über das ich
geschrieben habe, damit es jemand verstehen kann, dem diese Art der Erfahrung
fehlt, ist schwerlich in Worte zu fassen. Allzu oft geraten Gefühle ins Reich
der Wortlosigkeit. Also werde ich es bei Folgendem belassen: Gefühle zu fühlen,
ungefühlte Schmerzen zu fühlen, unerfüllten Bedürfnissen und lange
verleugneten Wahrheiten gegenüberzutreten, ist machmal unbeschreiblich
qualvoll. Es enthüllt mein wahres Selbst an den verwundbarsten Stellen. Ich
muss Dingen ins Auge sehen, die mir eine Scheißangst einjagen. Ich muss
Geheimnisse über mich selbst preisgeben, über die ich mich zutiefst schäme.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für ein wunderbares Gefühl es ist, wenn
ich es trotzdem tue! Es ist nicht immer so, aber jede Träne bringt mich mir
selbst ein wenig näher. Warum all den Schmerz und die Agonie durchmachen? Bin
ich ein Masochist? Nein, bin ich nicht. All diese Scheiße, durch die ich mich wühle,
befreit mich. ICH LEBE! ICH LEBE! ICH WACHSE ALS MENSCHLICHES WESEN! Vor zwei
Jahren war ich innerlich tot. Viel schlimmer noch, mir war nur vage bewusst, wie
sehr ich nicht lebte. Und so kann ich triumphierend verkünden: Ich war
innerlich tot, aber jetzt kann ich fühlen! Das ist es, was wirklich zählt. ================== |
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1
Ronald Melzack, The Puzzle of Pain (New York: Basic Books, 1973).
N. 2
Clonidin ist ein altes Medikament gegen hohen Blutdruck. Wenn wir die
Beziehung zwischen Hirnstamm-Stimulierung und Blutdruck sehen wollen, ist sie
hier zu sehen.
N. 3
Siehe: T. J. Sejnowski, „A High Point for Evolution,“ Science 283,
no. 19, (Februar 1999): 1121. N. 4
Obwohl es jetzt Forschungsarbeiten gibt, die die Genetik z. B. in
bestimmte Formen von Dyslexie und Lesestörungen einbeziehen.
N. 5
„Study links Bulimia to Chemical Malfunction in the Brain,” New York
Times, Science section, 16.
Februar 1999, s. D8. N. 6
Ibid. N. 7
Persönliche Kommunikation, November 1998.
N. 8
„Of Mice and Menace,“ Los Angeles Times, 11. Februar 1999, Science
File, s. B2.
N. 9
Siehe G. Kempermann und Fred Gage, „New Nerve Cells for the Adult
Brain,“ Scientific American 280, no. 5 (Mai 1999): 49.
N. 10 Ibid., s. 48.
N. 11 Steven Locke, Science News, 11.
März 1978: 151. N. 12 Die
Forschung wurde mit dem St. Bartholomew’s Hospital und der Open University,
Milton Keynes, England, durchgeführt.
N. 13 Solomon Snyder, „Opiate
Receptors and Internal Opiates,“ Scientific American 236, no. 3 (März 1977):
44-67.
N. 14 Ibid., s. 49.
N. 15 N. Ghanshyam Pandey et al.,
« Increased sup-3H-clonidin Binding in the Platelets of Patients with
Depressive and Schizophrenic Disorders, » Psychiatric Research 28 (April
1989): 73-88.
N. 16 S. M. Pearl, S. D. Glick und I.
M. Maisonneuve, „Evidence for Roles of Kappa-Opioid and NMDA Receptors in the
Mechanism of Action of Ibogaine,“ Brain Research 749, no. 2, 28.
Februar 1997: 340-43. Es gibt viele
andere verwandte Studien von Pearls an der UCLA Biomed Library. N. 17 Siehe
Arthur Janov, Why You Get Sick and How You Get Well (West Hollywood, Kalif.:
Dove Books, 1996) zur ausführlichen Diskussion unserer Gehirnforschung.
N. 18 P. Levitt, B. Reinoso und L.
Jones, “The Critical Impact of Early Cellular Environment on Neuronal
Development,” Preventive Medicine 27, no. 2 (März-April 1998): 180-83.
N. 19 Ibid.
N. 20 Ibid. N. 21 Siehe
die Arbeiten der Drs. Frederic Leboyer und Michel Odent über den angemessenen
Geburtsprozess. |
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