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DR. ARTHUR JANOV: DIE BIOLOGIE DER LIEBE TEIL III DIE MACHT DER LIEBE
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KAPITEL 15 LIEBE HAT VIELE NAMEN ____________________
Wir haben gesehen, wie das fetale Leben lebenslange
Folgen haben kann. Ich bezeichne Deprivation, die während der Zeit im
Mutterleib geschieht, als Mangel an Liebe. Lassen Sie uns jetzt sehen, was
Liebe oberirdisch in unserem Leben nach der Geburt ist. Aber seien wir uns darüber
im Klaren, dass jegliche anhaltende Deprivation von Grundbedürfnissen eine
Bedrohung für die Liebe ist. Anders ausgedrückt geben wir Kindern Liebe,
indem wir ihre Grundbedürfnisse erfüllen, und das bereits, ehe sie Kinder
werden. In der modernen biologischen
Literatur fällt Liebe unter viele Namen. Wenn die Stimmungen der Mutter und
auch des Vaters mit denen des Babys in Einklang stehen, ist das ein Ausdruck
von Liebe. Eine deprimierte und folglich uninteressierte Mutter wird nicht
entsprechend auf die ausgelassene Stimmung ihres Kindes eingehen und hinterlässt
in ihm das Gefühl, dass es nicht beachtet und somit nicht geliebt wird.
Liebe hat
damit zu tun, alle Grundbedürfnisse des Babys zu erfüllen. Vor der Geburt
bedeutet sie, sich gut zu ernähren und Alkohol, Zigaretten und andere Drogen
zu meiden. Bei der Geburt bedeutet sie ausreichenden Sauerstoff und keine
schweren Anästhetika. Nach der Geburt bedeutet sie richtiges Stillen und
warmherziges Halten und Berühren. All das wird geschehen, wenn die Mutter und
der Vater fühlen und lieben können. Sie werden dem Baby liebevoll in die
Augen schauen, es liebkosen, hätscheln und beschützen, sie werden das Baby
warm halten und mit ihm auf langsame, maßvolle, sanfte Weise reden – alles
Praktiken des
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allgemeinen Prinzipien sind die gleichen: Sie müssen das Baby und Kleinkind
herzen und hätscheln, es vor Gefahr schützen, ihm das Gefühl von Sicherheit
geben, auf seine Stimmungen eingehen, so dass es sich verstanden fühlt, mit
ihm reden und nicht ständig verlangen, dass es anderen etwas vorführt
(„Wie sagst du.....?“, „Zeig uns mal, wie du zählen kannst“, etc.).
Eltern sollten die Entwicklung nicht über das hinaustreiben, was das Baby tun
will; gehen, wenn die Zeit gekommen ist, nicht nach dem Zeitplan der Eltern.
Gleichzeitig aber soll es
optimaler Stimulierung ausgesetzt sein, so dass seine Fähigkeiten aufblühen.
Und als Letztes, widmen Sie dem Baby Zeit, schauen Sie seinem Spiel zu und
lassen Sie es wissen, dass Sie da sind. Seien Sie da, wenn das Kind sich weh
tut und fühlen Sie mit ihm, wenn es sich das Knie aufschlägt. Lassen Sie es
wissen, dass sie verstehen. Wenn wir fühlen können, kommt das alles ganz von
selbst. Wenn der
Vater unruhig und schroff ist, wird er mit hastiger, hoher und gereizter Stimme
reden, und das Baby wird das spüren. Es wird die Entwicklung des Babygehirns
beeinflussen, die Produktion repressiver Zellen hemmen und exzitative Zellen ändern.
Ein Baby, das man „ausschreien“ lässt, wird nicht geliebt. Niemand schreit
grundlos. Schreien bedeutet, dass irgendwo eine Geschichte voller Schmerz im
Verborgenen liegt, und wenn wir nicht herausfinden können, wo sie ist, so können
wir wenigstens Trost anbieten. Ärzte sagen den besorgten Eltern vielleicht:
„Das Baby liegt nicht nass, es scheint es behaglich zu haben und hat wirklich
keinen Grund zu schreien.“ Dem ist nicht so. Die Gründe können darin liegen,
was vor der Geburt geschah. Auch im Mutterleib war es ein menschliches Wesen,
hatte es ein Gehirn und konnte Schmerz fühlen, und es kann, wie wir jetzt
wissen, im Mutterleib weinen. Damals konnte es sein Unbehagen nicht mit Worten
ausdrücken, und so drückt es dieses Unbehagen jetzt mit Tränen aus. Hören
wir auf unsere Gefühle und nehmen wir das Baby auf, wann immer es schreit.
Lieben Sie ihr Kind und behandeln Sie es von Anbeginn des Lebens als fühlendes
Wesen. Es ist kein „Kind“, es ist ein menschliches Wesen. Wie man einen Fetus liebt Liebe bedeutet auch, in der
Schwangerschaft auf sich selbst zu achten,
wenn die Neuronen im Gehirn des Fetuses sich mit unglaublicher
Geschwindigkeit entwickeln. Die Mutter darf nichts tun, was die Entwicklung
dieses Babys bedroht, wie Alkohol zu trinken und Beruhigungsmittel zu nehmen,
die ihren Weg ins System des Babys finden werden. Liebe bedeutet, das Baby zu
wollen, weil Mütter, die ihr Kind nicht haben wollen, feststellen müssen, dass
ihre Kinder mehr Gesundheitsprobleme physischer und auch psychischer Art haben
als andere Kinder. Vor allem kein Rauchen während der Schwangerschaft. Der
Fetus bekommt es zu spüren und reagiert im Mutterleib darauf. Er kann im Mutterleib wortwörtlich würgen
und keuchen. Seite 265 |
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Eine
rauchende/trinkende Mutter kann die Alarmzentren des fetalen Gehirns schädigen,
Zentren, die durch Dopamin aktiviert werden. Verbinden Sie das mit überzogener
Medikation und schlechter Ernährung, und Sie haben die richtige Zusammensetzung
für permanenten Dopaminmangel im Nachwuchs. Tiere können
nicht artikulieren, dass sie sich nicht geliebt fühlen; stattdessen agieren sie
es aus durch Hyperaktivität, Aggression, fehlende Neugier, Unfähigkeit,
Beziehungen mit anderen Tieren aufzunehmen, und so fort. Wir agieren es aus und
geben der Sache auch einen Namen. Wenn meine Patienten während eines Gefühlserlebnisses
aufschreien, rufen sie zuerst: „Halte mich, sei für mich da.“ Schließlich
wird ihr Bedürfnis spezieller: „Schau mich an. Mag mich. Spiel’ mit mir.“
Und zuletzt: „Bitte, hab’ mich lieb!“ „Freu’ dich, dass du mich
siehst.“ Letzteres ist so wichtig. Eltern betrachten ihre Kinder zu oft als
selbstverständlich. Sie sind einfach „da“, um Befehle entgegenzunehmen. Das sind die Bedürfnisse, die
wir täglich hören. Das sind die Schmerzen, die wir beobachten, wenn sie nicht
erfüllt werden. „Spiel’ mit mir“ scheint kein besonderer Schmerz zu sein,
aber allzu oft sind Eltern zu beschäftigt und zu gedankenverloren, als dass sie
in Ruhe Zeit hätten, mit dem Kind zu spielen. Oft sind Eltern zu gehetzt, als
dass sie das tun könnten. All dies ist die wirkliche Bedeutung von Liebe. Aber
sie ist nicht einfach das, was man macht; sie ist, wer man ist, ein fühlendes
Geschöpf oder nicht. Eine gehetzte, angespannte, ungeduldige Person oder ein
ruhiger, entspannter Elternteil, der das Kind mit Geduld und Bewunderung lehren
und ihm zuhören kann. Selbst liebende Eltern können von einem Kind zu viel
verlangen. Kinder sprechen das Alphabet gerne nach, weil sie dafür Anerkennung
bekommen, aber oft ist es für sie besser, Liebe einfach deshalb zu bekommen,
weil sie existieren und nicht wegen ihrer Leistung. Liebe
bedeutet optimale Stimulierung; nicht zu viel, nicht zu wenig, sondern die
richtige Art von Stimulierung. Wie wir später sehen werden, entwickeln sich der
ganze Körper und das Gehirn nicht wirkungsvoll, wenn es zu massiver emotionaler
Deprivation am Lebensanfang oder zu anderen Traumen kommt. In Anstalten lebende
Kinder erleben körperliche Wachstumsschübe, wenn sie warmherzigen und verständnisvollen
Pflegeeltern übergeben werden. Die liebevolle Interaktion mit den Eltern
stimuliert den Hypothalamus, der wiederum die Hypophyse aktiviert, um
Wachstumshormon freizusetzen. Liebesentzug kann das Wachstum eines Kindes
hemmen. Es ist die Art, wie der Körper sagt: „Ich kann ohne Liebe nicht
wachsen.“
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Wenn es am
Lebensanfang, besonders in den ersten eineinhalb Jahren, Liebe gibt, wird das
System nicht zu Übererregung tendieren und kann Stimulation besser vertragen.
Liebe ist in dieser Periode entscheidend. Das bedeutet, dass man das Baby
aufnimmt, wenn es schreit. Wenn Sie ein adoptiertes Kind haben, das seine ersten
Monate in einem Waisenhaus verbrachte, können sie davon ausgehen, dass es später
Probleme gibt. Liebevolle Adoptiveltern können den Schmerz bessern aber nicht
zum Verschwinden bringen. Denken Sie daran, die Gehirnsysteme der tieferen
Ebenen entwickeln sich viel früher als die kortikalen. Leben fand zuerst auf
diesen subkortikalen Ebenen statt, und diese Erlebnisse existieren schon lange
auf solchen Ebenen, bevor es Worte gibt. Wir haben eine Weg gefunden, um diese
Ebenen betreten zu können, und haben gelernt, was sich dort befindet. Ohne Liebe
und Stimulierung können wir kein normales Gehirn haben und kein normales Leben
führen. Der präfrontale Kortex und sein ‚Kollege’, die orbitofrontale
Region, sind unglaublich selbstbetrügerisch. Aus diesem Grund kann ein Zahnarzt
ein Placebo (eine neutrale, leere Pille) verabreichen, dem Patienten sagen, es
sei starke Medizin, die Schmerz abtötet, und der Patient fühlt nichts, wenn
der Bohrer auf den Nerv trifft. Die Frontalregion verleugnet unsere eigene
qualvolle sensorische Erfahrung. Der Zahn erleidet heftigen Schmerz, aber
„wir“ nicht, und „wir“ bedeutet der erkennende, verstehende Kortex. Wenn
sich die geistige Vorstellung änderte, würde der Patient dann Qualen leiden?
Ja, wenn der Zahnarzt sagt „Das wird weh tun,“ wird der Patient das Gesicht
verziehen und sich zusammenkrümmen. Das besagt nichts anderes, als dass sich
der Kortex den subkortikalen Zentren entfremden kann. Er kann Vorstellungen
entwickeln, die der Realität entgegenwirken. Zu Beginn habe ich Liebe und seine wesentlichen Punkte erörtert, und ich fahre nun fort, indem ich diskutiere, was fehlende Liebe dem Gehirn, insbesondere dem Botenstoff-System antut, das Gefühle zu unseren höheren Zentren für Verstehen und Bewusstheit transportiert. Ich verwende den Begriff „Liebe“, aber ich könnte den Begriff genauso gut vermeiden und es Bedürfnis-Erfüllung nennen. „Liebe“ ist einfach die Kurzfassung davon. Es ist keine mystische Vorstellung. Es ist nichts, das im Ozon existiert; vielmehr ist es konkret und spezifisch. Was vielleicht schwierig zu bestimmen ist, ist das Fühlen des Gefühls. Es ist eine Eigenschaft, die nicht leicht zu messen ist. Nichtsdestotrotz werde ich es versuchen. Haben wir erst einmal eine gute Vorstellung, was Liebe ist, können wir und bemühen, sie zu messen. Man kann die ganzen Handlungen der Kinderpflege ohne Fühlen vollziehen, und das Baby spürt das, weil es größtenteils ein fühlendes System mit weit geöffnetem sensorischen Fenster ist, und es wird nie wieder so offen sein. Ich erwähnte an früherer Stelle, wie ein besorgter Vater seinem Sohn alle richtigen Fragen stellte, wirklich an ihm interessiert war, aber ihn nie berührte. Der Vater konnte das nicht, weil er sein Leben lang nie berührt worden war. Das sensorische System des Babys ‚bekam es mit’ und bewahrte das Bedürfnis in unversehrter Form bis ins Jugendalter auf, wo die Berührung durch einen älteren Mann „richtig“ zu sein schien. Endlich Seite 267 |
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wurde das Bedürfnis
erfüllt, viel zu spät, und die Homosexualität hatte Wurzeln geschlagen. Es wäre
nicht zur Homosexualität gekommen, hätte der Vater seinen Sohn von Anfang an
liebkost. Diese frühe Berührung würde ihn zur Heterosexualität hinlenken. Spätere
Berührung nicht, weil sie weit jenseits der kritischen Periode stattfindet und
als solche zur symbolischen Erfüllung wird. Es fühlt sich für die Person real
an, aber es ist dennoch Ersatzbefriedigung, Befriedigung alter Bedürfnisse. Ich
habe im Laufe der Jahrzehnte mehrere Hundert Homosexuelle behandelt, und das
scheint eine unvermeidbare Tatsache zu sein. Ich will ein komplexes Thema nicht
simplifizieren. Aber das oben Genannte ist ein zentrales Element in diesem
Problem. Andere offensichtliche Elemente können Angst vor Frauen, Hass auf das
andere Geschlecht und Ähnliches sein. Und die Kinder werden die Eltern sein Es gibt in der Kindererziehung
immaterielle Werte, weil Gefühle immateriell sind. Sie können es bei anderen
spüren, wenn sie ihre Gefühle verdrängen, wenn sie keinen Zugang zu ihnen
haben, aber Sie können ein Feeling nicht zu fassen bekommen und sagen: „Hier
ist es!“ Es ist wichtig zu wissen, dass die Art, wie wir unser Baby behandeln,
für die Entwicklung seines Gehirns entscheidend ist. Eine unaufmerksame,
verwirrte Mutter kann dann wieder ihr Kind mit dieser gleichen Verwirrtheit prägen.
Das Kind wird vielleicht ebenso unaufmerksam, weil es aufgrund der fehlenden
Aufmerksamkeit der Mutter leidet. Dieses Leiden stimuliert seinen Kortex, es überreizt
ihn, so dass Konzentration nicht in Frage kommt. Somit haben wir einen
manischen, ‚hyperen’ Erwachsenen, der einen beeinträchtigten frontalen
Kortex hat wegen einer Mutter, die manisch und ‚hyper’ war, sich nicht
entspannen und nicht bei ihrem kleinen Kind verweilen konnte. Das Gehirn lieben, aber wie Wie lieben Sie ein Gehirn? Indem Sie
die Funktionen erfüllen, zu denen das Gehirn im Stande ist. Es geht wirklich
darum, jemanden zu lieben, der dieses Gehirn mit sich herumträgt. Zum Beispiel hat der größte Bereich
des Kortexes mit Berührung zu tun. Wenn wir wollen, dass sich dieses
Gehirnareal entwickelt, umarmen und liebkosen wir das Kind. Wir müssen das Baby
in unsere Arme nehmen. Tiere, denen in den ersten Monaten des Lebens die Augen
verbunden werden, entwickeln niemals visuelle Gehirnbahnen und sind danach
funktionell blind. Keine noch so große visuelle Stimulierung kann später daran
etwas ändern. Mit Liebe ist es nicht anders, ausgenommen dass wir es nicht vor
uns „sehen“ können, wenn Liebe fehlt. Seite 268 |
Schwere
Deprivation menschlichen Kontakts am Lebensanfang kann unsere Fähigkeit,
Beziehungen aufrecht zu erhalten, für immer schädigen. Anfangs fehlende
emotionale Nähe kann einen Psychopathen erzeugen. Es ist unbedeutend, wieviel
Liebe Psychopathen als Erwachsene erhalten, nach meiner klinischen Erfahrung verändert
sie nichts. Sie sind weit über die kritische Periode hinaus, in der Liebe für
den Aufbau des Gehirns bedeutend gewesen wäre. Sie können menschlich aussehen,
eine Art verführerischen Charme entwickeln, aber in ihrem Inneren sind sie kein
menschliches Wesen. Die meisten Therapien sind gegen Psychopathen wehrlos. Eine Mutter,
die trinkt, wenn ein Kind acht Jahre alt ist, wird nicht die gleiche schwere
Wirkung haben wie eine Mutter, die trinkt, wenn sie schwanger ist. Dieses frühe
Trinken kann Krebs in der Kindheit hervorrufen und ist eine wesentliche Ursache
für verzögerte geistige Entwicklung. Es kann die Funktionen der Organsysteme
des Babys und den Herzrhythmus verändern. Es kann die Anfälligkeit des Körpers
für hohen Blutdruck im späteren Leben erhöhen und könnte schließlich zu
einem Schlaganfall im mittleren Alter führen, wenn dieser hohe Blutdruck
(Hypertonie) lange Zeit andauert. Chronischer Alkoholkonsum der Mutter senkt die
Blut- und Sauerstoffzufuhr zum Gehirn des Fetuses. Wenn die Mutter gleichzeitig
raucht, steht sogar noch weniger Sauerstoff zur Verfügung; subtiler
Gehirnschaden setzt sich fest. Gestern sah ich im VSD, einem französischen
Magazin, ein Foto eines Mannequins, die ihre Schwangerschaft bekannt gab. Sie
hatte eine Zigarette in ihrer Hand. Wenn sie nur wüsste. Rauchen und Trinken
der Mutter in der Schwangerschaft erhöht bereits die Verwundbarkeit des Fetuses
für eine Geburt, die unter Anästhesie durchgeführt wird, so dass es zu einem
doppelten Sauerstoffmangel-Trauma kommt; die Reaktion auf die Geburt erfolgt
unter Bezug auf die bereits mangelhaften Sauerstoffreserven im Baby. Es kommt
nicht nur zu Sauerstoffmangel wegen der Medikamente, welche die Mutter bei der
Geburt erhält, sondern solche Traumen gründen auf dem Sauerstoffdefizit, das
durch das Rauchen der Mutter verursacht wurde. Wenn
emotionale Deprivation etwas unabdingbar einbezieht, dann ist es fehlende Berührung
und Zärtlichkeit von Anfang an. Wenn das Baby unter Stress steht, weil dieser
Stimulus fehlt, wird Kortisol freigesetzt, und wenn dieses Stresshormon über längere
Zeit abgesondert wird, produziert es ein toxisches Gehirnmilieu, das bestimmte
Gehirnstrukturen schädigen kann, und dies auch tun wird.
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Kortisol
wird ins System freigesetzt, wenn Liebe fehlt, weil das Hormon als Reaktion auf
Schmerz sekretiert wird. Es warnt vor Gefahr. Wir werden wachsam und sind auf
der Hut, weil Bedürfnisse nicht erfüllt werden, auch wenn wir uns nicht einmal
bewusst sind, dass wir Bedürfnisse haben. Das Wachsystem ist das Stress-System,
da wir uns darauf vorbereiten, gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen. Um zu
vermeiden, dass die Bedrohung ins Bewusstsein gelangt, scheiden bestimmte
Strukturen im Gehirn Neurosubstanzen ab, die verhindern, dass die
Schmerzbotschaft die Synapse überquert. Liebesmangel schädigt vielleicht auch
die „Pump“-Kapazität wichtiger hemmender Neurotransmitter, so dass der
Mensch danach unterversorgt ist, weil ihm die Fähigkeit fehlt, Inhibitoren wie
Serotonin zur Bekämpfung des Traumas herzustellen. Wenn der Stress andauert,
dann deshalb, weil die Gefahr jetzt in uns ist. Bei chronischem Kortisolausstoß
versagt die Wachsamkeit; es steht weniger Energie zur Verfügung, um Stress zu
bekämpfen, und das System verfällt in einen defätistischen Modus. Das
Stress-Syndrom lässt uns auf der Hut sein, auch wenn wir einschlafen wollen.
Viele meiner neu anfangenden
Patienten haben einheitlich hohe Kortisolwerte. Warum sind sie so
wachsamkeitsgestresst? Sie sind in Gefahr, den Liebesmangel zu fühlen, eine
Tatsache, die auf ihren tieferen Gehirnregionen herumschwirrt. Das Gehirnsystem
ist ständig vor einer Gefahr auf der Hut, die aus einer Jahrzehnte zurückliegenden
Zeit stammt. Es ist
eine Sache, wenn der frontale Kortex der oberen Gehirnebene
den Schmerz wahrnimmt; es ist eine ganz andere Sache, wenn er sich dessen vollständig
bewusst ist (wenn er Zugang zu tieferen Gehirnebenen hat). Letzteres bedeutet
Schmerz. Wir müssen diesen Schmerz an die
Oberfläche bringen. Wenn wir ihn nicht integrieren, verschlechtert sich unser
Zustand. Aber wenn die Botschaft äußerst schlimme Nachrichten überbringt –
„Sie werden mich niemals lieben. Es ist alles hoffnungslos“ – kann das
System stattdessen eine falsche Meldung abliefern
- „Sie haben mich wirklich lieb, aber sie können es nicht zeigen.“
Die Nachricht muss blockiert werden, weil die Verdrängung darauf abzielt zu
verhindern, dass der frontale Kortex die ganze Hoffnungslosigkeit zur Kenntnis
nimmt. Verdrängung ist ein anderer Begriff für Hemmung, dem Blockieren von
Impulsen und Informationen aus der Tiefe des Gehirns. Das System hält diese
Information automatisch zurück. Weiß das System einmal wirklich Bescheid, dann
reagiert es! Es ist diese Reaktion, die sowohl für den Körper als auch für
das Gehirn gefährlich ist. Eines kann der Kortex dann nicht länger leisten, nämlich
Aufmerksamkeit: Wenn ein zu starker Impuls oder zu viele Impulse gleichzeitig im
frontalen Kortex ankommen, zerstreut sich der Brennpunkt. Kann das alles
geschehen, weil das kleine Kind mit sechs Wochen nicht ausreichend berührt und
gehalten wurde? Ja, das Kind ist auf der Hut vor dem Verstehen, dem vollen
Begreifen dessen, was mit ihm in den ersten Wochen und Monaten seines Lebens
geschehen war. Seite 270 |
Substanzen wie Serotonin und die
Endorphine, das selbsthergestellte Morphium unseres Körpers, tragen dazu bei,
Schmerzlosigkeit zu erzeugen, und blockieren die Leidensinformation, die auf dem
Weg in unser Bewusstsein ist. Das
Ergebnis ist ein Paradoxon: Das System wird wegen des Fehlens von Liebe in
Alarmbereitschaft versetzt und bleibt wegen der drohenden Bewusstheit dieser
fehlenden Liebe permanent alarmbereit. Einige Patienten können sich einfach
nicht an Zurückweisung durch die Eltern erinnern, weil es sie nicht gab; da war
nichts, das sich hervorhob, das anders war. Es gab einfach die tägliche
Existenz in einer kalten, sterilen Umgebung. Die Chemie der Verdrängung Liebe ist nicht einfach eine
Empfehlung; es ist die sine qua non für die Entwicklung des Kindes. Liebe
bewirkt, dass sich das Gehirn auf positive Weise entwickelt. Das kann nicht
geschehen, wenn totaler Narzissmus verhindert, dass Eltern dem Baby ihre volle
Aufmerksamkeit schenken. Wenn Mutter/Vater mehr der Aufmerksamkeit bedürfen als
das Kind, leidet letzteres. Ein Vater, der wütend und eifersüchtig ist, wenn
er seine Frau mit dem Baby sieht, richtet nur mehr Schaden an, weil sie das Baby
im Stich lassen muss, um sich um das erwachsene Baby zu kümmern. Er hat übrig
gebliebene Bedürfnisse aus seiner Kindheit, die nach Besänftigung verlangen.
Eine Mutter, die spürt, dass sie ständig ihren wütenden, kritischen Mann
beschwichtigen muss, vernachlässigt vielleicht ihr Baby. Sie ist unfähig, ihr
kleines Kind zu beschützen, das dringend Schutz vor dem zornigen Ton und der
Reizbarkeit des Vaters braucht. Zu oft ist die Mutter einfach ein weiteres Kind
im Haus und fühlt sich machtlos, etwas gegen „Papa“ zu unternehmen.
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Die Macht der Liebe Liebe ist der zentrale Baustoff für
die Schaffung einer starken und spannkräftigen Persönlichkeit. Sie stattet uns
mit den mobilisierenden Substanzen wie Dopamin aus, die uns ermöglichen,
aggressiv zu sein, uns Ziele zu setzen und sie zu verfolgen, für uns selbst
einzutreten und die Energie aufzubringen, die uns Dinge vollenden lässt. Sie
ist für Selbstbewusstsein verantwortlich, eine „Ich-kann-es“-Haltung. Es
verhindert später das Verlangen nach Drogen wie Kokain, die das bewirken, was
Dopamin bewirkt hätte, wenn es genügend Vorräte bzw. genug Liebe gegeben hätte.
Drogensucht und die Wahl der Drogen sind meist der Versuch, ein System zu
normalisieren, das unausgewogen ist. Wenn das Hemmungssystem/das Serotoninsystem
mangelhaft ist, dann wird die Wahl des Suchtmittels später auf Schmerztöter
fallen. Emotionale
Deprivation, fehlender Körperkontakt unmittelbar nach der Geburt verringert die
Anzahl der Serotoninrezeptoren, die Teil des Schleusensystems gegen Schmerz
sind. Also stimuliert Schmerz das inhibitorische System, während zu viel früher
Schmerz es verkrüppelt. Es gibt Forschungsbeweise, dass dies zu
Introvertiertheit führen kann, zu einer Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken,
zu geringer Selbstachtung und allgemeinem Mangel an emotionaler Kontrolle – im
Wesentlichen zu permanenter Dysfunktion des Gehirns. Der über
eine lange Zeitspanne andauernde Ausdruck emotionaler Wärme seitens der
Pflegeperson hemmt die Produktion von Stresshormonen im Baby. Das macht das Baby
emotional solider. Als Ergebnis ist das Kind nicht so leicht überlastet, überreagiert
nicht und kann mehr Stress
verkraften als Kinder, die diese frühe Liebe nicht hatten. Das Kind lässt sich
von Hausaufgaben nicht überwältigen und kann sich aufs Lernen konzentrieren. Emotionale
Deprivation am Lebensanfang beeinflusst die rechte Seite des Gehirns – die
emotionale Seite – und kann sie ein Leben lang beeinträchtigen. Weil die
rechte Seite des Gehirns – die Seite, die unsere Emotionen und menschliche
Interaktion steuert – durch frei fließendes Kortisol (das Hormon, das
abgesondert wird, wenn wir gestresst sind) in hohem Maße beeinflusst wird, ist
sie die Seite, die durch frühen Stress den meisten Schaden erleidet. Somit
absorbiert das rechte Gehirn die Wucht eines präverbalen, auf den Hirnstamm
abzielenden Traumas, das sich gewöhnlich bei der Geburt oder vorher ereignet. Wenn nicht genug Dopamin abgesondert wird, um den frontalen Kortex intakt zu halten, sind wir desorganisiert, leiden an Aufmerksamkeitsstörungen, werden emotional labil und erleben Angst- und Panikzustände. Zum Beispiel zeigen schmächtige Kinder depressiver Mütter eine rechtsseitige frontale Asymmetrie des Seite 272 |
Gehirns. Ein Teil
des Gehirns macht zu viel Arbeit und leidet. Ein intrauterines Trauma hat zerstörerische
Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung, besonders auf der rechten Seite. Auf
diese Weise werden wir vielleicht später im Leben zu Intellektuellen mit einem
linken Kortex, der Begriffe und Gedanken ausheckt, um Gefühle im rechten zu bekämpfen.
Es ist der rechte Kortex, der einen Großteil unseres frühen Liebesmangels
beinhaltet. Wenn Liebe fehlt - und eine deprimierte Mutter kann oft nicht viel
geben – muss das rechte Gehirn Überstunden leisten, um den Schmerz zu
verarbeiten. Es kann auch bedeuten, dass die linke, Gedanken bildende Seite härter
arbeiten muss, um den Schmerz einzudämmen und von Bewusstheit fernzuhalten. Die
linke Seite wird überaktiv und der Mensch wird - bestimmte Lebensumstände
vorausgesetzt - „kopflastig“ oder intellektuell, verliert sich in Ideen und
Philosophie. Gedanken und Intellekt werden zu Abwehrmechanismen gegen das Fühlen. Es gibt auch
Beweise für Unausgewogenheit bei Dopamin in den Amygdalae. Kinder, die in den
ersten Monaten des Lebens keine Nähe zu ihren Eltern hatten, haben im
limbischen Bereich weniger Dopaminrezeptoren. Allan Schore vertritt die Überzeugung,
dass beinahe jede spätere Psychopathologie auf frühe mütterliche Deprivation
nach der Geburt zurückzuführen ist. Wenn Liebe
am Lebensanfang nicht zur Verfügung steht, „schrumpft“ das System und
entwickelt bildlich gesprochen keine richtigen „Liebesrezeptoren.“ Die Fähigkeit,
Liebe zu empfangen und zu geben, ist ein Leben lang vermindert. In diesem Sinne
ist Liebe keine Abstraktion, sondern ein wahrhaftiges neurochemisches Ereignis.
Wenn ein Kind Liebe erhält, nimmt der hemmende Botenstoff Serotonin stark zu
und hilft, ein Gefühl von Behaglichkeit und Wohlbefinden herzustellen. Durch
Umarmung nimmt die Dopaminmenge zu. Dopamin wird manchmal die „Wohlfühl“-Gehirnsubstanz
genannt. Das sind die biochemischen Substanzen der Liebe. Oder anders ausgedrückt,
das ist der Weg, auf dem Liebe physiologisch übermittelt wird. Später werden
wir sehen, dass es besondere „Liebeshormone“ gibt; Hormone, die uns helfen,
liebevoll zu sein, wenn sie in bestimmten Mengen vorhanden sind. Wenn der
Spiegel niedrig ist, sind wir weniger fähig, Liebe zu empfangen oder zu geben.
Die meisten von uns sind süchtig nach Liebe. Unser Bedürfnis danach nimmt die
Gestalt von Überessen oder Trinken
an, aber die wirkliche Sucht zielt auf unser eigenes Selbst, auf die Substanzen,
die wir im Gehirn produzieren und die bewirken, dass wir uns besser fühlen, wenn wir bekommen,
was wir brauchen. In meinen klinischen Sitzungen halte ich einigen meiner gestörteren Patienten manchmal die Hand, wenn sie in frühen Schmerz hinabsteigen. Ich mache, was Prozac machen würde, aber ohne die Nebenwirkungen. Ich weiß auch, wann ich loslassen muss, um die Patienten nicht unter die Gefühlszone zu bringen, was sie so beruhigt
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und entspannt sein ließe, dass sie nicht mehr fühlen können. Viele
Konfrontationsgruppen praktizieren eine Art „berührungs-und gefühlsbetonter
Liebestherapie.“ Sie glauben, sie könnten den Schmerz ‚weglieben.’
Konfrontationsmethoden ignorieren die kritische Periode, in der Liebe für die
Gehirnentwicklung absolut entscheidend ist. Es kann sein, dass ein Kind ab dem
Alter von zehn Jahren umarmt und geküsst wird, aber das kann nicht die
Entbehrungen wettmachen, die in der kritischen Periode gleich nach der Geburt
geschahen.1 Das bezeugen so viele Kinder, die bei Pflegeeltern
lebten oder früh im Leben adoptiert wurden; ihr Schmerz bleibt. Das sind die
Erwachsenen, die trinken, rauchen, Beruhigungsmittel brauchen und oft nicht gut
schlafen. Ihre chemischen Schleusen sind schwach. Sie werden auf Grund früher
Entbehrungen „leck.“ Beruhigungsmittel werden in der Psychotherapie zu oft
benutzt, um die Schleusen zu unterstützen, wenn sie „Halt mich, Mama!“ Sei
bei mir!“ unterdrücken. Wenn die Patienten oder wir alle unser Bedürfnis
hinausschreien könnten, würde es das Verlangen nach Tranquilizern verringern.
Wenn wir „Halte mich, Papa“ fühlen können, besteht keine Notwendigkeit
mehr, dieses Bedürfnis durch Drogen zurückzudrängen. Woher wissen wir das?
Die Beobachtungen an mehreren Hundert Patienten, von denen viele schwer drogensüchtig
waren, bestätigt das. Patienten, die diesen Gefühlen bis ins Tiefste ihre
Seele nachspüren, können mit den Drogen aufhören. Die Ergebnisse unserer
Nachuntersuchungen über Speichelkortisol bei unseren Patienten erhärten diesen
Punkt. Nach einem Jahr Therapie waren die Spiegel systematisch niedriger, und
das bedeutet, dass diese Individuen unter weniger Stress standen. Es bestand für
sie keine Notwendigkeit mehr, ihre Angespanntheit mit Drogen zu bekämpfen. Wir
haben jede Art von Drogensucht behandelt, von Heroin bis zu Klebstoffschnüfflern,
und haben das gleiche Ergebnis gefunden: kein normaler (oder normalisierter)
Mensch will in sein System Drogen einführen, die Psyche und Geist verändern. Weil wir
nicht fühlen können, was wir nicht fühlen können, sind wir uns gewöhnlich
der verminderten Fähigkeit zu lieben oder allgemein zu fühlen nicht bewusst.
Wir können Bedürfnis mit Liebe verwechseln, denn wenn wir etwas dringendst
brauchen, stellen wir uns alles, was irgendwie nach Wärme aussieht, als Liebe
vor. Eine Patientin von mir, eine Endokrinologin, lebte in mehreren Pflegefamilien. Schließlich studierte sie erfolgreich Medizin. Aber sie hatte Schlafprobleme und konnte sich nicht entspannen. Erwachsene, die als Kinder bei Pflegeeltern lebten, leiden mehr als andere, weil sie vor und auch nach der Geburt vernachlässigt wurden. Höchstwahrscheinlich verließ der Vater die Mutter, die vielleicht mit der Situation nicht fertig wurde und ihr Kind weggab. Was auch immer der Grund sein mag, das Endresultat ist Liebesmangel, der zu einem permanenten Schleusendefekt führt. Das bedeutet die unzureichende Fähigkeit, Gefühle unten zu halten. Was das Problem
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verschlimmert, ist die Tatsache, dass das Kind oft unerwünscht ist. Das erzeugt
Schmerz im Baby. Der finnische Forscher A. Myhrman fand heraus, dass „Unerwünschtheit“,
die eine schwangere Mutter für die ungeborenen Kinder fühlt, „in der
Entwicklungsphase direkt oder indirekt als psychosozialer Stressfaktor operieren kann, der mehr Kinder zu
Schizophrenie neigen lässt, oder ein Kennzeichen für Verhaltensweisen entweder der Mutter oder des Kindes sein
kann, die mit Gefahr verbunden sind.“2 Unerwünschte Kinder
können durch die Physiologie der Mutter und später dann durch das von Vernachlässigung
und Gleichgültigkeit geprägte Verhalten der Mutter beeinträchtigt werden.3
Kurz gesagt kann fehlendes Interesse der Mutter dem Fetus biochemisch eingeprägt
werden; die Gefühle der Zurückweisung, die sie unbewusst empfindet, wirken
sich negativ auf den Fetus aus. Die Mutter ist unter Stress, weil sie damit
konfrontiert ist, dass sie ein Kind bekommt
und keine Hilfe hat. Ihre Stresshormone wirken auf den Fetus ein, und auch er
wird wachsam. Er kann zu einem hyperaktiven Baby werden, das sich nicht
liebkosen lässt. Viele Geburten werden als „zufällig“
oder „lästig“ angesehen, und zu viele Eltern sind nicht glücklich damit,
dass sie ein Kind bekommen. Es stellte sich heraus, dass ein ungewolltes Baby später
viel mehr Gesundheitsprobleme hat. Überlegen Sie sich, was es bedeutet: Die
Einstellung der Mutter in der Zeit, in der das Baby sich in ihrem Körper
befindet, verbleibt für den Rest seines Lebens im Inneren des Babys und verändert
seine Neurophysiologie. Es ist nicht nur so, dass die schwangere Frau unter
Stress steht, sondern oft folgt danach das von Vernachlässigung und Gleichgültigkeit
gekennzeichnete Sozialverhalten der Mutter. Das Kind, das aufgrund der Anästhesie
der Mutter bei der Geburt bereits mit einer verzweifelnden, defätistischen,
herunterregulierten Physiologie ausgestattet ist, wird einer Frau geboren, die
gestresst und noch immer deprimiert ist. Emotional ist sie ihrem Kind vielleicht
gerade in der Zeit fern, wenn es jedes Gramm ihrer Aufmerksamkeit für die
Entwicklung seines frontalen Kortexes und limbischen Gehirns bräuchte.
Zwei meiner Patientinnen litten
unter lebenslangen Depressionen. Beide Frauen waren von ihren Müttern nicht erwünscht.
Ihre Mütter waren in der Schwangerschaft monatelang deprimiert. Die Veränderungen
in ihrer Physiologie könnten ähnliche Veränderungen in der Physiologie der
Feten hervorgerufen haben und in den Babys depressive Tendenzen hinterlassen
haben – Tendenzen, nach innen gerichtet, introspektiv, reflektiv und launisch
zu sein – mit anderen Worten: herunterreguliert. „Was hat es für einen
Zweck?“ sagten diese erwachsenen Frauen zu sich selbst. „Ich versuche es
nicht mehr. Es ist hoffnungslos.“ Diese Gedanken sind die sprachlichen Repräsentationen
der Gefühle und Empfindungen, die tiefer im Gehirn eingeprägt sind. Es ist die
Sprache der Neurophysiologie, der Empfindung von Verzweiflung und vielleicht des
nahenden Todes. Sie sind der Auswuchs oder die Widerspiegelung dieser frühen
Ereignisse. Der Gedanke
der Verzweiflung und Niederlage ist
die jüngste evolutionäre Entwicklung eines Gehirnsystems, das Hunderte
Millionen Jahre alt ist. Seite 275 |
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Die einfache
Tatsache einer trinkenden Mutter in spe, die das Gehirn ihres Babys durchtränkt,
so dass es desorientiert und durcheinander ist, kann in ihm die
physiologische Empfindung von Verwirrung zurücklassen.
Der Fetus kann nichts an der Situation ändern, er kann sie nur erdulden. Das
bleibt unartikuliert. Aber wenn das Kind in einem unterdrückenden Elternhaus
aufwächst, in dem man wirklich nichts an seinem Leben ändern kann,
verschmelzen die Empfindung und das Gefühl und bilden eine gewaltige Kraft. Sie
kann später durch den Verlust des Lebensgefährten ausgelöst werden, der zu
jemand anderem zieht. Die Reaktion kann totale
Resignation sein: „Ich kann nichts daran ändern.“ Selbstmordgedanken können
die Folge sein. Die Kraft kommt überwiegend von einem unartikuliertem Trauma,
das im Hirnstamm wurzelt. Ohne den Schub dieser alten Empfindung wäre jemand
vielleicht sehr unglücklich, aber es gäbe keine suizidalen Neigungen. Warum so
eine drastische Reaktion? Der Grund kann in der Erfahrung der Todesnähe im
Mutterleib liegen; wenn jemand von der Nabelschnur stranguliert wurde und Tod
der einzige Weg schien, um die Agonie zu beenden. Tod als Lösung wird eingeprägt.
Diese Einprägung kann sich durch Perioden der Vernachlässigung im
Kleinkindalter verstärken, und wenn jetzt die Lebensgefährtin geht, steuert
die alte Erinnerung, dass jemand von seiner Mutter vernachlässigt oder
verlassen wurde, ihren Teil bei. Die alte
Angst vor dem Verlassenwerden, die diese Person fühlte, konnte dem präfrontalen
Kortex wegen der Größe des involvierten Schmerzes und wegen des blockierenden
Schleusensystems nicht in reiner Form übermittelt werden, vor allem nicht dem
der linken Seite. Wenn wir also keinen Zugang mehr zu unserer Geschichte haben,
müssen wir glauben, dass die Gründe für unsere düstere Stimmung in der
Gegenwart liegen. Wir klammern uns dann auf Leben und Tod an die Fortgegangenen.
Die Neurotransmitter speien Hemmungs-Substanzen in die Synapsen, und dasselbe
machen die erregenden Katecholamine, und beide verhindern, dass der Schmerz in
der Tiefe sich mit dem präfrontalen Kortex verknüpft, während sie
gleichzeitig das System in unerträglichen Aufruhr versetzen. Da das Gefühl
nicht zur Verknüpfung gelangen kann, wird es im Assoziationskortex
symbolisiert. Das führt zu dem korrekten Gefühl: „Niemand will mich mehr.“
Nur der Brennpunkt ist falsch. Wenn jemand dann bei einem Berater Hilfe sucht,
der sich auf die Gegenwart konzentriert, verschlimmert dies das Problem, weil es
den Menschen aus dem richtigen Zusammenhang vertreibt. Solange der Brennpunkt in
der Gegenwart liegt, werden die Selbstmordimpulse bleiben. Sie sind nicht
irrational; nur der fehlende Kontext lässt sie so scheinen.
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Die alte
Angst dieses Mannes, verlassen zu werden, konnte dem präfrontalen Kortex nicht
übermittelt werden, da er gerade dabei war, gewaltigen Verlustschmerz zu
erleben. Die Neurotransmitter des Limbischen Systems scheiden Hemmsubstanzen in
die Synapsen ab, um die Botschaft vom vollen Bewusstsein fernzuhalten. Was
vielleicht bewusst wird, ist das Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Da es sich
nicht mit der gesamten Szene und ihren Gefühlen verbinden kann, wird es im
Assoziationskortex symbolisiert, was zu der Wahrnehmung führt, dass „niemand mich
noch will.“ Das wird dann ausagiert, entweder durch Depression oder durch
suizidale Tendenzen. Es kann auch durch eine anhänglich-abhängige
Verhaltensweise ausagiert werden, um „Niemand will mich“ fernzuhalten. Und
das alles, einfach weil man im Mutterleib unerwünscht war? Das ist aufgrund der
Physiologie der Mutter möglich und auch, weil das Baby nach der Geburt nicht
erwünscht sein wird. Wenn das ungewollte Baby zur Adoption freigegeben wird und
mehrere Wochen unadoptiert bleibt, wird sich dieses tiefe Gefühl verstärken. Das Trauma, nicht erwünscht zu sein In einer Studie von Myhrman4
wurden Kinder aus ungewollten Schwangerschaften wieder aufgesucht, als sie
dreißig Jahre alt waren. Es stellte sich heraus, dass sie „weniger günstige
psycho-soziale Anpassung“ aufwiesen.5 Eine finnische Studie
über 11.000 Individuen enthüllte, dass unerwünschte Babys ein höheres Risiko
hatten, schizophren zu werden.6 Forscher in Irland fanden,
dass die Wahrscheinlichkeit für das Kind, später psychotisch zu werden, viel
größer war, wenn es bei der Geburt Entbindungsprobleme gegeben hatte.
Wichtiger noch, die Autoren stellten fest, dass Entbindungskomplikationen gegenüber
noch früheren Ereignissen, das heißt Schwangerschaftsereignissen, zweitrangig
sein können: „Zunehmende und konvergierende Beweise legen nahe, dass sich
Anomalien bei Schizophrenie pränatal entwickeln. Es ist wahrscheinlich, dass
diejenigen, denen das Schicksal der Schizophrenie droht, bereits fragiler sind,
wenn die Wehen beginnen.“ 7
Schlafstörungen
bei einem meiner Patienten wurden durch die Einprägung verursacht, die früher
Liebesmangel hinterlassen hatte. So amorph, wie sie sind, können diese
Erinnerungen in einer Gefühlserfahrung wiedererlebt werden. Beschwerden wie
Hypothyreoidismus, bei dem der Ausstoß von Schilddrüsenhormon chronisch
niedrig ist, scheinen sich manchmal nach einem Gefühlserlebnis zu
normalisieren. Das sagt uns, dass die Sollwerte für Hormonsekretion sehr früh
während der Schwangerschaft festgelegt werden. Ein Trauma ändert diese
Sollwerte entweder zu hochregulierten oder herunterregulierten Werten. Beruhigungsmittel können die Wachsamkeit/Energie produzierenden Quellen des eingeprägten Traumas unterdrücken, und somit die Freisetzung von Kortisol reduzieren und den Blutdruck senken. Der Schmerz sagt: „Gib Acht. Halt die Augen offen! Gefahr droht. Halte dich bereit!“ Und Medikamente, die auf Seite 277 |
|
Hirnstammstrukturen
einwirken, gebieten: „Bleib’ ruhig. Kein Grund zur Aufregung!“ Es gibt
einen Grund, aber die Alarmmechanismen sind gedämpft worden. Somit erlaubt uns
Medikation, uns selbst zu belügen. Es wiegt uns in Gelassenheit, wenn Gefahr
droht; in diesem Sinne ist ein Teil der Tranquilizer-Medikation gegen das Überleben
gerichtet. Es wiegt uns in Selbstgefälligkeit,
|
wenn wir wachsam sein sollten. Das
Problem besteht darin, dass ein kostanter Zustand der Wachsamkeit zur Gefahr
wird. Das System wird durch diesen chronischen Alarmzustand kollabieren. Wir müssen
unseren Feind wählen: entweder wachsam-mobilisiert oder gelassen-immobilisiert.
Letztlich werden wir durch diese Irrealitäten niedergestreckt. Und chronische
Veränderungen in unserem System können zu Krankheit führen; langzeitig hoher
Blutdruck kann später im Leben zu einem Schlaganfall führen, und zwar auf
Grund der gleichen Einprägung, die hinter beidem steckt. Die Gefahr
ist natürlich die Erinnerung. Denn wenn die volle Reaktion auf sie in einer
einzigen Wiedererlebens-Erfahrung erfolgt, ist das System in Gefahr; das Gehirn
und der Körper können ausgedehnte Perioden mit Stresshormon-Freisetzung, hohem
Blutdruck oder schnellem Herzschlag nicht verkraften. Wir sollten wachsam und
auf der Hut sein, aber wenn dieser Zustand andauert, wird er selbst zu einer
Gefahr. Somit haben wir es mit einer Zwickmühle zu tun. Wir müssen wachsam
sein, aber wenn wir zu lange zu wachsam sind, zerfällt das System. Wir
erkranken an hohem Blutdruck oder erkranken durch übermäßige Freisetzung von
Stresshormonen, was unter anderem zu vorzeitigem Tod führen kann.
Ein Artikel
in der Los
Angeles Times vom 22. Februar 1999 erörterte eine neue Behandlungsmethode
für obsessive Zwangsstörungen – einen operativen Eingriff in einem
Teilbereich des orbitofrontalen Kortex. Dieser psychochirurgische Eingriff
wird am Karolinska Hospital in Schweden erfolgreich durchgeführt, wie die Ärzte
behaupten. Wenn der Teil des Gehirns, der Obsessionen erzeugt, entfernt wird,
hat man keine Ausrüstung mehr, um Zwänge zu entwickeln. Aber gegen die
generierenden Ursachen dieser Zwangsvorstellungen, was auch immer sie sein mögen,
hat man nichts unternommen. Ich frage mich auch, welche Langzeitwirkungen die
Operation auf die Fähigkeit haben kann, zu denken, planen und integrieren. Eine
Operation ist eine radikale Therapie, die oft durch tief eindringende Gefühls-Therapie
vermieden werden kann. Der hirnstammlich-limbische Druck, der gegen den
orbitofrontalen Kortex (OBFC) anwirkt, kann in Zwangsgedanken enden. Wenn wir
diesen Druck eliminieren, glaube ich nicht, dass orbitofrontale Schnitte nötig
wären. Die Chirurgen in Schweden behandeln eine Denkstörung als wortwörtliche
Denkstörung, was sie nicht ist. Dass man lokalisiert hat, wo die Gedanken
stattfinden, bedeutet nicht, dass die Entfernung der Stelle die Gedanken
entfernt. Die Einprägung wird sich einfach anderswohin bewegen. Die Biologie
ist niemals launenhaft. Wenn Ihr Körper eine erhöhte Menge Salzsäure enthält,
müssen wir abgesehen von diätetischen Erwägungen wissen, was diese übermäßige
Säureproduktion angeregt hat. Er übersekretiert nicht aus einer Laune heraus.
Die Erinnerungen können eine Anhäufung einander ähnlicher Gefühle sein
(„Ich habe Hunger“; „Ich brauche meine Mutter;“ „Halte mich“; „Ich
werde im Geburtskanal gequält.“). Reaktionen sind der Bedrohung angemessen.
Wir müssen nur herausfinden, wie die Bedrohung beschaffen ist. Seite 279 |
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Der
konventionelle Psychotherapeut von heute verstärkt unbeabsichtigt und irrtümlich
das Schleusensystem der Patienten, indem er die Werkzeuge der Besorgtheit, des
Zuhörens, der Aufmerksamkeit, Führung
und Beratung benutzt. Therapie kann zu einer weiteren Form des Ausagierens für
den Patienten werden, der unbewusst bekommt, was er will (symbolische Erfüllung),
anstatt was er braucht (die
fehlende Befriedigung im
Kindesalter zu fühlen). Die Folgerung lautet, dass man gute Absichten haben und
Neurose ‚weglieben’ kann. Wenn all das scheitert, wendet der Therapeut
direktere Mittel an, indem er das Bedürfnis/den Schmerz durch die Verschreibung
von Beruhigungsmitteln unterdrückt. Ein Therapeut, der die Selbstachtung einer
Patientin aufzubauen versucht, indem er zu ihr sagt „Wissen Sie, Sie sind
wirklich ein fähiger Mensch“, ermutigt die Patientin in Wirklichkeit, ihr
reales Gefühl, nämlich
„Ich bin schlecht. Die Leute lieben mich nicht, weil ich wertlos bin“,
abzublocken. Dadurch, dass der Therapeut versucht, Schmerz „wegzulieben“,
indem er „nett“ ist, kämpft er gegen die Wirklichkeit an. Er funktioniert für
den Patienten als Gehirnschleuse. In der Primärtherapie wollen wir die Schleuse
öffnen und Liebe, Schönheit und Leben hereinlassen! Um das zustande zu
bringen, müssen wir den realen Gefühlen wie „Niemand liebt mich. Ich bin
nicht liebenswert. Es ist alles so hoffnungslos“ etc. die Schleuse öffnen. Wir sollten
daran denken, dass jede Liebe außerhalb der kritischen Periode nett, hilfreich
und entspannend ist, aber keine dauerhaften Veränderungen des neurobiologischen
Systems bewirken kann.Wir können nach dieser Art von Liebe – beruhigende Wärme
durch einen Therapeuten – süchtig werden, weil sie immer eine
Ersatzbefriedigung bleibt. Letztlich muss die Patientin den Liebesmangel fühlen,
der ihr in der Kindheit widerfuhr. In der Gegenwart Wärme zu bekommen,
bedeutet, Liebe noch immer auszuschließen, weil die Verdrängung unangetastet
bleibt. Es ist der Schmerz der fehlenden Liebe, der die Verdrängung aufhebt und
Liebe hereinlässt. Andernfalls ist liebevoll, besorgt und nur auf die Patientin
konzentriert zu sein, gleichbedeutend damit, ihr das zu geben, was sie in der
Vergangenheit brauchte, nicht in der Gegenwart. Liebe im Hier-und-Jetzt verstärkt
paradoxerweise die Schleusen und verhindert das Fühlen des
„Ungeliebt-Seins.“. Natürlich fühlt
sich die Patientin eine Zeit lang besser und wird vom Therapeuten abhängig,
weil sie bekommt, was sie vor langer Zeit brauchte. Gäbe es eine Methode, wie
eine Einprägung „ausgelöscht“ werden könnte, bestünde sie darin, das
Trauma zum Zweck der Integration nach oben in den präfrontalen Bereich zu fördern.
Erinnern Sie sich, es ist die vergrabene Leidenskomponente, die es „am
Leben“ hält. Wird das Leiden gefühlt, verliert das Trauma seine Kraft.
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Ich amüsiere
mich immer, wenn ich Therapeuten über die Behandlung narzisstischer Patienten
reden höre, wobei sie sich in jeder einzelnen Sitzung ausschließlich und völlig
auf sie konzentrieren. Und solange wir uns auf den Narzissten konzentrieren,
wird er uns lieben und denken, wir seien wundervolle Therapeuten. Jeder Patient
und jede Person ist ein Narzisst, solange sie es nötig hat. Über die Natur des Fühlens Fühlen ist die Fähigkeit, unser
ganzes Selbst zu spüren und zu erfahren; es ist die Essenz des menschlichen
Seins. Wenn wir kein völlig unversehrtes Gehirn besitzen, sind wir nicht in der
Lage, zu hundert Prozent zu fühlen. Fühlen bedeutet, dass keine Mauern uns den
Zugang zu bestimmten Aspekten unseres Gehirns versperren, insbesondere zu jenen
Strukturen, die für die Kernsubstanz des Fühlens sorgen. Fühlen ist kein
Gedanke, hat aber gedankliche Aspekte. Es kann einen Namen haben –
‚traurig’, zum Beispiel. Aber es kann ohne Namen existieren. Fühlen ist
nicht die Entladung von Energie durch Schreien oder Weinen; das ist Freisetzung
des Gefühls ohne Verknüpfung mit der Geschichte und ohne gedankliche Ergänzung.
Zugang zum Fühlen bedeutet Zugang zu allen Schlüsselebenen der Gehirnfunktion;
die Fähigkeit, hinabzusteigen und zu erfahren, was in den tiefsten Zonen des
Gehirns liegt. Wir sehen an den Fallgeschichten, was ich damit meine.
Blockierung des Fühlens ist das Ergebnis der repressiven oder hemmenden
Neurohormone. Sie sind die Reaktion auf den eingeprägten Schmerz fehlender
Liebe oder auf ein physisches Trauma, auch in der Zeit vor der Geburt und natürlich
danach. Es ist die blockierte Energie des frühen Traumas, die sich gegen
Organsysteme wendet und Verwüstung anrichtet. „Halte mich, Mama“ ist ein
Bedürfnis, das weggeschlossen werden kann. Seine Energie kann ins
Kreislaufsystem eindringen und hohen Blutdruck erzeugen. Patienten, die dieses
Bedürfnis bis ins Tiefste ihrer Seele fühlen, stellen fest, dass ihr Blutdruck
auf normale Werte zurückgeht. Wir brauchen Liebe, um unser Gehirn und unser Leben zu entwickeln, um zu lernen, zu erschaffen, um andere zu lieben und um gesund zu bleiben. Schmerz ist ein Warnsignal, dass das System in Gefahr ist. Je weniger eingeprägten Schmerz es im System gibt, umso mehr Zugang zu tieferen Ebenen besteht. Und dieser Zugang bedeutet letzten Endes Harmonie, Ausgeglichenheit und, ja, auch Traurigkeit, wenn es nötig ist. Es bedeutet keine unerklärlichen Symptome oder unkontrolliertes Verhalten mehr. Es bedeutet, dass Sie sich nicht mehr entgegen Ihrem Willen überessen müssen; nicht zu ständigem Sex getrieben werden, der vielleicht wenig mehr als Spannungsabfuhr ist. Es bedeutet, nicht ständig in Aktion sein zu müssen mit diesem oder jenem Plan, diesem oder jenem Treffen; nicht telefonieren zu müssen Seite 281 |
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um sich das Urgefühl des Alleinseins vom Leib zu
halten, und nicht von einem Haus zum anderen und von einem Job zum andern ziehen
zu müssen, weil es Angst erzeugt, still zu stehen oder an einem Platz zu
verweilen. Es bedeutet, dass man nicht von Eifersucht und Neid geplagt wird;
wenn wir unser eigenes Leben leben, sind diese Gefühle ausgeschlossen. Es
bedeutet, dass man ohne Angst produktiv sein kann, beenden kann, was man
begonnen hat, und das man die nötige Zähigkeit für die schwierigen Projekte
im Leben besitzt. Es bedeutet auch, zum Nichtstun fähig zu sein; einfach zu
„sein“, und für Ihr Kind da zu sein. Wer Sie sind, das hat Bedeutung. „Wie-man“-
Bücher können ändern, was Sie tun, aber nicht, wer Sie sind. Kinder sind Gefühlsmaschinen.
Sie wissen, noch ehe sie Worte haben, wer wir sind, ob sie ihren Ärger vor uns
ausdrücken können, ob sie mit uns Trauer oder Freude fühlen können, und vor
allem, ob sie Vertrauen in uns haben können. Bei so vielen meiner Patienten war
es eine Tatsache, dass sie ihren Eltern nicht vertrauen konnten, als sie fünf
oder sechs waren. Nur kam ihnen nie der Gedanke. Sie „spürten“ es. Sie
wissen ohne zerebrales „Wissen“, ob die Eltern wirklich interessiert sind
oder nicht. Sie haben noch nicht das intellektuelle ‚Gepäck’, um sich
selbst zu täuschen. Später dann wird Selbsttäuschung zu einem Schlüsselwerkzeug,
um mit dem Leben trotz inneren Schmerzes weiterzumachen.
Wenn die
Eltern keine Zuneigung zeigen, handelt das Kind nach deren Gefühlen ihm gegenüber,
ohne sie jemals sich selbst gegenüber zu artikulieren. Es geht seinen Eltern
aus dem Weg und beginnt, sich scheu und furchtsam zu benehmen, als ob niemand an
ihm interessiert sei. Es agiert aus, was es gelernt hat. Es ist kein Satz
falscher Gedanken, unter dem es leidet; auch wenn die Gedanken irrational
scheinen mögen, so sind sie doch korrekt, nur aus dem Kontext.
Niemand war interessiert
- dieses Gefühl
wird zu einer Einprägung. Später, in der Therapie, sollte man diese sogenannte
Irrationalität in den historischen Zusammenhang bringen, um ihr einen Sinn zu
geben. Das rechte Gehirn weiß das bereits alles, aber es besitzt nicht die
ausgeklügelten Worte, um dem linken Gehirn die Botschaft zu überbringen, wo
sie zum Ausdruck kommt. Viele von uns gehen durch die Kindheit und „wissen“, dass etwas falsch ist, sind aber nicht fähig, es zu artikulieren. Alles, was wir wissen, ist, dass wir uns nicht gut fühlen. Mir war nie klar, dass ich chronisch unruhig war, bis zur Ankunft der Antihistaminika. Ich nahm zwei davon, und meine Mutter musste den Arzt rufen, weil ich bald von einer neuen Beschwerde belästigt wurde – Entspannung. Ich hatte sie nie zuvor erlebt und war überzeugt, dass ich echt krank war. Ein bisschen Wärme eines außenstehenden Fremden hätte den gleichen Effekt wie die Droge erzeugt. Viele Kinder bekommen dafür „Liebe“ oder Anerkennung, dass sie ihr Bedürfnis nicht zum Ausdruck bringen. Eltern wollen manchmal nicht gestört werden und so wird das Kind dafür belohnt, dass es um nichts bittet, ruhig bleibt, mit sich selbst spielt und
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ihnen aus dem Weg geht. Das Bedürfnis ist
auf den Kopf gestellt. Gut zu sein bedeutet, nichts zu brauchen. Es gab die
Auffassung, dass ständiges Nachgeben, wenn Kinder ein Bedürfnis äußerten,
diese verderben werde; sie würden immer mehr verlangen. Das Gegenteil ist der
Fall. Was zählt, ist nicht, einem Bedürfnis nachzugeben; seine Erfüllung ist
wichtig. Dialektisch betrachtet wird es keine überzogenen Forderungen mehr
geben, wenn das Bedürfnis einmal erfüllt ist. Kein Mensch will mehr, als er
braucht, es sei denn, er verlangt mehr, um ein frühes Defizit aufzufüllen. Ein
Kind will ausreichend Körperkontakt, um sein Bedürfnis zu befriedigen, und
nicht mehr. Was darüber hinaus geht, ist möglicherweise auf Eltern zurückzuführen,
die das Kind zu sehr herzen müssen, vielleicht um ihren eigenen frühen
Liebesmangel wettzumachen. Gesund sein
bedeutet, Bedürfnisse zu haben. Ein Kind quengelt und drückt seine Bedürfnisse
nur ansatzweise aus. Die Antwort der Eltern kann sein: „Hör auf zu quengeln
und sieh’ zu, dass du im Leben vorankommst.“ Würden die Bedürfnisse des
Kindes erfüllt, könnte es in seinem Leben vorankommen. Nichts ist
so grenzenlos wie Selbsttäuschung. Es bewahrt uns vor der Erkenntnis, dass
Eltern nicht lieben können, sich nicht kümmern und nicht interessiert sind. Es
ist eine Überlebensmaßnahme, eine notwendige Abwehr der Wirklichkeit. Es ist
nicht unbedingt ein gut’ Ding, die Leute über ihre Illusionen aufzuklären,
die oft eine Schutzfunktion ausüben können. Mit Sicherheit trifft dies auf die
Wahnvorstellungen des Psychotikers zu
Viele Eltern
fühlen, dass sie nicht gewinnen können. Gleich, wie sehr sie es versuchen, sie
können nicht zu ihren Kindern durchkommen. Auch wenn sie fürsorglich und
liebevoll sind, kann das Kind bereits aufgrund eines sehr frühen Traumas
blockiert sein, ein Trauma, dass möglicherweise nichts mit dem Verhalten der
Eltern zu tun hatte. Vielleicht musste die Mutter nach der Geburt eine Zeit lang
ins Krankenhaus; das Kind kann der Obhut anderer übergeben worden sein, weil
der Vater wieder zur Arbeit musste. Jedenfalls wurde das Kind vernachlässigt,
nicht geliebt, und es fühlt sich ungeliebt. Es kann seine Gefühle nicht sagen,
aber es kann ins Bett nässen, oder es kann stottern oder Tics entwickeln. Diese frühe Deprivation beeinträchtigt sein Denken, seine räumliche Orientierung, Koordination, Wahrnehmung, seine Fähigkeit, mit anderen Beziehungen einzugehen und sich in sie einzufühlen, und eine ganze Menge kognitiver Prozesse. Traumen vor, während und nach der Geburt sind Schlüsselereignisse, die in der Literatur vernachlässigt wurden. Zum Beispiel enthüllen zahlreiche Studien, dass Zwillinge, die bei der Geburt getrennt worden waren, überraschend viele Charakterzüge gemeinsam haben, wie sich Jahre später herausstellte, als sie wieder zusammentrafen. Die Forscher wiesen auf die Gene als Schlüsselfaktor hin. Was sie bei ihrer Untersuchung jedoch übersehen haben, sind die entscheidenden neun Monate im Mutterleib, die die Zwillinge zusammen verbrachten und die sie Seite 283 |
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unwiderruflich formten. Diese neun Monate sind wichtiger als
irgenwelche anderen neun Monate in ihrem Leben. Ein Trauma im Alter von zwölf
Jahren wird das Gehirn nicht umfassend verändern, ein Trauma im Mutterleib
dagegen schon.
Indem es
Schmerz fühlt, reagiert das System. Diese Reaktion ist es, was ich Fühlen
nenne. Schmerz zu fühlen, ist
Fühlen. Ihn zu blockieren, ist kein Fühlen. Die meisten Gefühle
im Erwachsenenalter bauen auf Bedürfnissen auf. Die Frustration aus früher
Deprivation kann Wut erzeugen, aber Wut ist nicht die Grundlage; das Bedürfnis
ist es. Patienten gehen über ihren Ärger hinaus, nachdem sie ihn ausgedrückt
haben - oft durch heftiges Einschlagen auf die gepolsterten Wände - und fühlen: „Gib mir eine Chance.
Sag, du magst mich. Hör auf, jede Bewegung von mir zu kritisieren. Schau mich
an! Halt mich nur einmal!“ Wenn Sie es beim Ausdruck des Ärgers bewenden
lassen, gibt es keine Heilung. Wir sind unsere Gefühle
Gefühle bleiben in uns eingeprägt,
weil sie Teil unserer Zytoarchitektur sind.
Wir sind unsere Gefühle. Sie
bleiben, damit wir wieder ganz und wir selber werden können. Das ist die äußerste
Bedeutung von „sich selbst finden.“ Wenn wir entdecken, dass wir im Alter
von vier Jahren nicht geliebt wurden, finden wir unser wahres Selbst. Es ist das
Ziel einer jeden Therapie, den Patienten ihr reales Selbst zurückzugeben. Keine
Therapie kann mehr als das leisten. Der Abstieg in das Unterbewusste ist laut
meinen Patienten eine unglaubliche Reise, auf der sie die verborgenen Winkel des
Gehirns ergründen. Es ist eine Expedition, die Aspekte eines Lebens zurückbringen
soll, das seit vielen Jahren verschollen ist.
Der Körper
ist nur ein Stück eines Ganzen. Wenn er Verdrängung erleidet,
aus welcher Quelle sie auch
stammen mag, verschließt er sich in dem Versuch, jedes Gefühl im
Inneren zu blockieren, und das bezieht Liebe ein. Kein noch so großer Wunsch,
keine Willenskraft ändert etwas an dieser Tatsache. Sich ungeliebt zu fühlen,
hebt die Verdrängung auf und reduziert vor allem die Überlastung. Das öffnet
teilweise die Schleusen, so dass man Liebe von anderen hereinlassen kann.
Wenn eine Person von Anfang an über längere Zeit von ihren
Eltern nicht geliebt wurde, fühlt sie sich irgendwo in ihrem System immer
ungeliebt, bewusst oder nicht, ...........und leidet. Es ist dieses Gefühl, das
die meisten Leute mit Alkohol, ständigem Arbeiten und Drogen beruhigen.
Warum trinken Menschen, auch wenn sie
nun eine liebevolle Familie haben? Die Geschichte! Ohne frühe Liebe nimmt ein Erwachsener vielleicht Zuflucht zu Drogen wie Prozac, die das leisten, was Liebe hätte machen sollen. Wortwörtlich. Prozac gewährleistet ausreichend Serotonin in der Synapse, genau das, was frühe Umarmungen zustande gebracht hätten. „Hugs avoid drugs“ - Umarmungen vermeiden Drogen. Seite 284 |
Liebevoller Augenkontakt und viele Umarmungen und Küsse in den ersten drei
Jahren des Lebens schaffen ein chemisches Bollwerk, das von Dauer ist, so dass
Drogen niemals notwendig sind. Wenn wir in unserer Therapie die Hand einer
Patientin halten, die überlastet, frakturiert und mit ihren Gedanken „über
den ganzen Platz verstreut“ ist, kann das das Schmerzniveau senken, bis die
Gefühlszone erreicht ist, eine Zone, die bestimmte neurobiologische Parameter
hat. Hält man sie zu lange, gerät die Patientin unter die Gefühlszone (und
das Feeling bleibt verdrängt). Berührung erfüllt dieselbe Funktion wie eine
Demerolspritze, aber sie muss maßvoll erfolgen: nicht so intensiv, dass sie Fühlen
blockiert, aber intensiv genug, um katastrophalen limbischen Schmerz von
Hirnstamm-Einprägungen abzugrenzen. Wir werden
einem Menschen niemals sein Bedürfnis ausreden können, und es ist das Bedürfnis,
das uns lenkt. Bedürfnis ist der Motor, der uns dazu antreibt, dass wir uns auf
jede erdenkliche und unerdenkliche Weise Luft verschaffen. Die Frustration des
Bedürfnisses kann Wut verursachen, und die kann beim leisesten Anzeichen, dass
jemandes Forderungen nicht nachgegeben wird, zur Körperverletzung führen. Der
Ehemann will seine Frau jederzeit an seiner Seite haben, will, dass sie gehorcht
und folgt. Wenn sie das nicht macht, wird er wütend. Er hat nichts, das ihm
sagt, dass sie auch nur ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen ist. Er handelt nur
aus dem Bedürfnis heraus. Es gibt kein
Grundbedürfnis nach Ruhm oder Vermögen oder Macht. Das sind keine fest
verdrahteten Bedürfnisse; vielmehr sind es symbolische Ableitungen des realen
Bedürfnisses, die ins Spiel kommen, wenn das Grundbedürfnis nicht befriedigt
werden kann. Dennoch können sie die Dringlichkeit jener realen Bedürfnisse
besitzen, weil reale Bedürfnisse in sie eingeschleust worden sind. Sich mit
symbolischen Bedürfnissen zu befassen, bedeutet, sich auf die falsche Fährte
zu begeben, denn sie sind lediglich Kanäle für das reale Bedürfnis. Wenn wir
von den Eltern keine wirkliche Liebe bekommen können, entwickeln wir
symbolische Wege, um zu erhalten, was wie Liebe von anderen aussieht. Wir überessen
uns oder verzweifeln in einem Lokal, wenn wir nicht prompt bedient werden. Es
ist nicht wirklich ein verzweifeltes Bedürfnis nach Essen. Es ist ein
verzweifeltes Bedürfnis nach Liebe in anderer Form.
Seite 285 |
|
Quellenverweise und Anmerkungen N. 1 Ich würde eine
einfache Studie über Kinder vorschlagen, die in Institutionen oder Pflegeheimen
aufwuchsen, und über ihre Lebensdauer. Verkürzt frühe Deprivation das Leben
und auf welche Weise?
N. 2
A. Myhrman et al., « Unwantedness of a Pregnancy and Schizophrenia
of a Child, » British Journal of Psychiatry 169, (1996): 637-40.
N. 3
Ibid.
N. 4
Siehe auch L. Kubicka et al., „Children from Unwanted Pregnancies in
Prague: Czech Republic revisited at Age Thirty,“ Acta Psychiatrica
Scandinavica 91, (1995): 361-69.
N. 5
A. Myhrman et al., « Unwantedness of a Pregnancy and Schizophrenia
of a Child.»
N. 6
T. Forsen et al., « A Coronary Heart Disease, Weight in Pregnancy
and Birth Weight, » British Medical Journal 315, (1997): 837-40.
N. 7
E. O’Callaghan et al., « Season of Birth in Schizophrenia :
Evidence for Confinement of an Excess of Winter Births to Patients without a
Family History of Mental Disorder, » British Journal of Psychiatry 158
(1991): 764-74. N. 8 Thomas H. Maugh II, “Obsessive Compulsive May Find Relief from Unlikely Source,” Los Angeles Times, 22. Februar 1999, s. S1. |
||
KAPITEL 16 Fehlender Sauerstoff ist
fehlende Liebe
Im UCLA – Lungenlaboratorium
filmten meine Angestellten und ich in Zeitlupe zwei Patienten, die sich eine
halbe Stunde genau wie ein Salamander bewegten ( in einem
Geburts-Wiedererlebnis, das spontan und unerwartet zustande kam). Ich erörterte
die Geburt und ihr Wiedererleben in Kapitel 12. Erst wenn ein Patient einige
Monate in der Therapie ist, kann er sich diesen tiefsitzenden Einprägungen
annähern, insbesondere denen des Hirnstamms, die mit Hypoxie (verminderter
Sauerstoff) bei der Geburt zu tun haben. Den enormen Veränderungen nach zu
urteilen, die meine Patienten nach ihren Geburts- Wiedererlebnisepisoden
erfahren (und solche Wiedererlebnis-Episoden erstrecken sich oft über Monate
und Jahre), können wir annehmen, dass das ursprüngliche Trauma signifikante
Veränderungen in der Neurophysiologie der Person verursachte. Das
Wiedererlebnis der Geburt beinhaltet niemals Worte; es beinhaltet fetale
Bewegungen und Positionen, Ächzen, kein Weinen, und delphinartige Bewegungen,
die über eine Stunde andauern, - etwas, das der Patient hinterher niemals
ohne äußerste Erschöpfung nachvollziehen könnte. Während des
Wiedererlebnisses atmet der Patient lange Zeit sehr tief, machmal dreißig
Minuten lang. Im Normalverlauf eines solchen Ereignisses würden diese
Patienten ‚umkippen’. Im Wiedererlebnis ist das nie der Fall. Nie gibt es
einen Moment der Benommenheit. Mir ist klar, dass ich Ereignisse diskutiere,
die außerhalb der Norm des psychologischen Universums liegen. Es erfordert
„Gewöhnung.“ Ich bitte deshalb den Leser um Geduld, wenn ich den Fall
ausarbeite. Angesichts der Art, wie sich meine Patienten in einem Primal
bewegen, war offensichtlich, dass kein Mensch, nicht einmal sie selbst, ihre
Bewegungen zu einem späteren Zeitpunkt willkürlich nachvollziehen konnte,
und gewiss nicht eine halbe Stunde lang. Sie wären erschöpft gewesen. Diese
Patienten waren es nicht. Je mehr wir davon verstehen, umso mehr verstehen wir
unsere phylogenetische Entwicklung, und umgekehrt. Seite 288 |
Wenn
ein Patient in einer Sitzung das Fehlen oder die Verminderung von Sauerstoff
wiedererlebt (Anoxie oder Hypoxie, die ihm bei der Geburt widerfuhr), reagiert
sein System nur auf das Vergangenheits-Ereignis. Im Therapieraum gibt es
offensichtlich Sauerstoff in Hülle und Fülle. Es ist dasselbe, wenn wir einen
frühen Liebesmangel wiedererleben, auch wenn wir vielleicht in der Gegenwart
von unserer Familie geliebt werden. In meiner Syntax ist unzureichender
Sauerstoff bei der Geburt eine Form von Lieblosigkeit. Es verursacht Schmerz und
vereitelt die Entwicklung. Schmerz ist
der ständige Begleiter des Bedürfnisses. Wenn der Körper Sauerstoff braucht
und ihn nicht bekommt, leidet er. Dem Neugeborenen den Sauerstoff zu entziehen
ist gleichbedeutend damit, dem Zweijährigen die Umarmungen zu entziehen. Beides
sind unerfüllte Bedürfnisse und deshalb Kennzeichen fehlender Liebe. Wir
nennen es Liebe, aber was zählt, ist, dass Liebe die Erfüllung eines Grundbedürfnisses
bedeutet, gleichgültig, welchen Namen wir ihr geben. Wenn wir ein Kind hungern
lassen, lieben wir es eindeutig nicht. Um
herauszufinden, was in der Schwangerschaft und bei der Geburt geschah, müssen
Sie die Sprache des Hirnstamms sprechen. Im Wesentlichen müssen Sie wieder zu
einem Salamander werden. Das ist kein bildlicher Ausdruck, da viele meiner
Patienten, die die Geburt wiedererleben, Salamander-Bewegungen vollziehen. Wenn er bedroht wird, läuft der
Salamander auf Grund seines Instinkts weg, nicht auf Grund von Denkprozessen
oder auch Gefühlsprozessen. Um instinktgesteuerten Terror, der sich in Angst
und Panik manifestiert, zu „heilen“, müssen wir die Angst in ihrer eigenen
Sprache anreden, indem wir das Salamandergehirn ‚anzapfen’, wo der Terror
seinen Ursprung hat. Das muss nicht durch Worte sondern durch etwas Primitiveres
bewerkstelligt werden: Sich Winden, Ersticken, Husten, Krümmen des Rückens –
alle begleitenden viszeralen Reaktionen. Es ist die Sprache des alten Gehirns.
Der Terror kann nach oben in Richtung Bewusstheit auf unverknüpfte Weise in
Form von Angstattacken durchsickern. Es ist eine Erinnerung, die ihres Kontextes
beraubt ist, der, gelinde gesagt, oft geheimnisvoll ist. Der Terror kann darin
bestehen, bei der Geburt dem Tod nahe gekommen zu sein. Wir haben eine Methode
gefunden, mit diesem uralten Gehirn zu reden; wir sind in der Lage, die
richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Antworten zu bekommen. Wir
begegnen ihm unter seinen eigenen Bedingungen. Wir sprechen die Sprache der
Bewegung, die Sprache viszeraler Reaktionen, und dann können wir mit ihm
kommunizieren.
Seite 289 |
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Eine Art
Salamanderhirn ist auf unserer inneren Festplatte bereits installiert. Wir
liefern die Software, um darauf zuzugreifen.
Zugriff/Zugang ist ein Schlüsselbegriff.
Es ist eine komplizierte Angelegenheit, die für Therapeuten jahrelanges
Training erfordert, um die Techniken zu erlernen. Primärtherapie unterscheidet
sich von allen anderen Therapien dadurch, dass sie die Evolution des Gehirns in
Betracht zieht. Wir beginnen mit der Therapie in der Gegenwart, konzentrieren
uns auf den präfrontalen Kortex und auf gegenwärtige Ereignisse. Dann helfen
wir den Patienten, auf ihre Gefühle zuzugreifen, die sich im Limbischen System
befinden. Schließlich helfen wir den Patienten, Ereignisse wiederzuerleben, die
lange vor Gefühlen oder Gedanken stattfanden – die des Hirnstamms. Wenn wir
uns auf die Kindheit konzentrieren, erwarten wir keine komplizierte Syntax und
keinen Gebrauch von Erwachsenen-Worten. Wenn es um die frühe Kindheit geht,
erwarten wir, dass das Weinen über frühe Szenen wie das eines Kleinkinds
klingt und nicht wie das eines Erwachsenen. Es gibt viele Fingerzeige, die wir
nutzen, um den Patienten zu führen. Es dreht sich alles ums Fühlen.
Therapeuten verwenden keine komplizierten Sätze oder Worte, wenn sie den
Patienten ansprechen, der sich Kindheitserinnerungen annähert. Wir achten auf
die Zeichen – eine Veränderung des Atmungsmusters, ein Stocken im Hals,
Zittern, Flattern der Augenlider, etc. Die Therapieräume sind voll gepolstert
und schalldicht. Der Therapeut sitzt auf der Matte hinter dem Patienten. Der
Dialog ist auf ein Minimum reduziert. Die durchschnittliche Sitzung dauert zwei
oder drei Stunden. Die Gefühle des Patienten bestimmen, wann die Sitzung vorbei
ist. Es ist keine Einsichtstherapie. Es geht um das Wiedererleben von
Ereignissen, die im Gehirn deponiert wurden, lange bevor Einsichten als
neurologische Möglichkeit existierten. Demgemäß folgen Einsichten dem Fühlen;
sie gehen ihm nicht voraus. Wir dürfen, wenn wir Zugang schaffen, keine
neurologischen Stufen überspringen, wie die Rebirther es machen, die Patienten
tief in Hirnstamm-Einprägungen ‚versenken’, lange bevor sie Zugang zu
Erinnerungen auf höherer Ebene haben. Die Ergebnisse sind beinahe immer
verheerend. Wir müssen die Ebenen der Gehirnfunktion respektieren, wenn wir
Leiden aus dem Gehirnsystem herauslösen wollen.
Nur die
Geschichte birgt unsere Wahrheiten. Es ist wesentlich, mit dem Patienten in die
Vergangenheit zu den weit entfernten Bereichen des Gehirns zu reisen, zurück in
eine Zeit, als der frontale Kortex nicht voll funktionsfähig war. Das schafft
man nicht durch Worte und Erklärungen. Wir können nicht den Kortex benutzen,
um unter ihn zu tauchen; es gibt keine verbalen Mittel, um zu präverbalen
Ereignissen zu gelangen. Wenn der Patient über dieses Empfindungen („Ich
werde zerquetscht. Ich ersticke. Mein Magen ist aufgewühlt. Ich spüre Druck
auf meiner Brust.“) nur
redet, wird er keine anhaltende Erleichterung von seinem Schmerz
finden. Manchmal ist ein Stoß hier, ein körperlicher Druck dort alles, was
erforderlich ist, um eine bestimmte frühe Erinnerung wieder wachzurufen. Das
ist nichts anderes, als wenn ein Patient eine frühe emotionale Szene
beschreibt, um in das alte Feeling hineinzufallen. Die Sprache des Hirnstamms
ist Instinkt und Empfindung. Wir müssen eine Methode finden, die den
Empfindungen entspricht, von denen der Patient berichtet, und uns dann entlang
dieser Empfindungen zum Ursprung hinabbewegen. Es ist machbar. Seite 290 |
Ich habe die
Ebenen der Gehirnfunktion erörtert, und wie unsere Therapie der Spur der
Evolution folgt, wenn sie sich an bestimmte Ebenen der Gehirnfunktion wendet, so
dass wir nicht, lange bevor der Patient bereit ist, in Ereignisse stürzen, die
dem Hirnstamm eingeprägt sind. Eine Möglichkeit zu erkennen, wie gestört ein
Patient ist, besteht darin, dass wir seine anfänglichen Primals beobachten.
Wenn er früh in der Therapie Anzeichen der Geburt zeigt, können wir beinahe
sicher sein, dass sein Schleusensystem, das die Ebenen des Bewusstseins
auseinander hält, defekt ist.
Wir werden
im nächsten Kapitel die Hormone der Liebe untersuchen. Wir brauchen optimale
Mengen bestimmter Hormone, um zu lieben und um uns geliebt zu fühlen. Es gibt
keine Liebe ohne diese Hormone.
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KAPITEL 17 OXYTOZIN UND VASOPRESSIN (Die zwei liegen zusammen im Bett) Er: Natürlich
liebe ich dich. Sie: Wie
sehr? Er: Ganz
enorm. Autsch! Was machst du da? Sie: Ich
nehme eine Blutprobe, um zu sehen, wie sehr du mich liebst. Ich bin gleich zurück. Er: Was? Sie: Dein
Kortex denkt vielleicht, dass du mich liebst, aber dein Körper sagt mir was
anderes. Er: Was
zur Hölle ist Oxytozin? Und übrigens, was zur Hölle ist der Kortex? Sie: Er
soll dir das erklären, aber zuerst kriegst du dieses Oxytozin-Nasenspray. Ich
glaube, wir können näher zusammenrücken. Er: Nein,
danke. Sie: Nur eine kleine Prise Liebe?
Seite 292 |
limbische Gefühlszentren im Gehirn bindet. Die Bedeutung der inhibitorischen
Neurotransmitter wie Serotonin für die Liebe wird offensichtlich, wenn wir die
Tatsache betrachten, dass zwei eng
vertraute Talapoin-Affen, wenn sie getrennt worden sind und wieder
zusammentreffen, einander enthusiastisch kraulen, und dass ihre Serotoninspiegel
beträchtlich steigen.1 Liebe beruhigt und das Gleiche gilt für
die neurochemischen Substanzen, die Schmerz unterdrücken. Die Gleichung könnte
lauten, dass „Liebe durch die Freisetzung bestimmter Neurotransmitter Schmerz
unterdrückt und uns entspannt.“ Liebe am Lebensanfang leistet das dauerhaft. Wenn wir jemanden vermissen, kann es
sein, dass unsere Serotonin-Vorräte auf Grund des Trennungsschmerzes geringer
sind. Wir sind nach dem anderen süchtig und brauchen diese Person, um uns zu
normalisieren. So können wir von einem anderen Menschen abhängig sein. Wenn
wenig Serotonin vorhanden ist, gibt es weniger emotionale Bindung, weniger
Sozialverhalten und Fürsorge, weniger Berührung und Zärtlichkeit........kurz
gesagt, weniger Liebe. Wenn der Spiegel hoch ist, gibt es Entspannung, Ruhe,
Wachstum, Erholung und Heilung, liebevolles Verhalten und Gefühlsbindung. Man
findet es nur bei Säugetieren. Es kann sein, dass Liebe und gegenseitige
Pflege, in welcher Form auch immer, in der gesamten Geschichte der Organismen
notwendig waren; entscheidende Schritte der Gehirnentwicklung und Evolution
konnten ohne sie nicht stattfinden. Wenn wir uns die essentielle Natur des
Menschen anschauen, müssen wir die Rolle der Liebe in der Entwicklung und
Evolution in Betracht ziehen. Liebe gehört zum Essentiellen. Oxytozin beruhigt
wie eine Umarmung. Oxytozin beschleunigt die Geburt. Synthetisches Oxytozin
(Pitozin) gibt man Müttern, die Stimulation für die Geburtskontraktionen
brauchen. Wir werden später
lernen, dass es weit über die Geburt hinaus Verwendung findet. Es kann gut
sein, dass wir Liebe „injizieren“ können oder wenigstens etwas, das sie fördert,
das uns hilft, mit anderen Beziehungen einzugehen und uns an einen Partner zu
binden; etwas, das uns gestattet, uns anderen Menschen nahe zu fühlen, Mitgefühl
und Einfühlungsvermögen für ihre Gefühle und Schmerzen zu zeigen.2 Das ist
nicht so weit hergeholt, wie es scheinen mag. Vor kurzem nahmen Wissenschaftler
Mäuse, die Einzelgänger waren, und injizierten ihnen ein Vasopressin-Gen (wird
später ausführlich erörtert). Das wurde einem Nager entnommen, der als Präriewühlmaus
bekannt ist, von der man weiß, dass sie sehr gesellig und partnertreu ist.
Ergebnis: die Mäuse wurden sozialer, kümmerten sich mehr um ihre weiblichen
Partner und verbrachten mehr Zeit mit ihnen. Sie waren allgemein „nett zu
ihnen.“ 3 Irgendwo darin liegt eine Lektion. Stellen Sie
sich ihren Wert für diejenigen vor, die kurz vor der Scheidung stehen. Sie
gehen in eine Klinik, bekommen eine Spritze, und die Ehe wird wieder gut. Oder
vielleicht gibt es für jene chauvinistischen, kampflustigen Seelen, die einen
Krieg vom Zaum brechen wollen, eine Methode, sie zu besänftigen und zu fürsorglichen
Menschen zu machen.
Seite 293 |
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Bindung ist
ein starkes emotionales Band, das in uns den Wunsch erweckt, miteinander zu
sein, einander zu helfen, zu beschützen und zu berühren. Bindung ist die
positivste aller menschlichen Beziehungen, es ist die menschlichste und
liebevollste. Diejenigen, die von Anfang an keine Bindung mit ihren Eltern
eingegangen sind, können durchaus lebenslänglich zu zerrütteten, fragilen, dürftigen
und abgestumpften Beziehungen verdammt sein. Und es kann zum großen Teil auf
ein Oxytozin-Defizit zurückzuführen sein. Und das kann von den ganz frühen dürftigen,
distanzierten und eisigen Beziehungen mit den Eltern herrühren. Es stellt sich
die Frage, was zuerst kam: das verminderte Oxytozin und dann die Unfähigkeit,
zu lieben und sich zu binden, oder der frühe Mangel an Liebe, der die Sollwerte
für Oxytozin niedriger eingestellt hat? Ich würde wetten, dass Schmerz zuerst
kommt. Zu Zeiten
Freuds gab es die Auffassung vom Wiederholungszwang: Kindheitstraumen werden
immer wieder ausagiert, um Liebe zu bekommen. Er ersann eine ziemlich ausgeklügelte
Theorie, um ihn zu erklären. Aber jetzt scheint es, dass es einem Menschen an
Oxytozin fehlt, wenn er von Anfang an keine Nähe zu beiden Eltern hatte; dieser
Mangel verhindert, dass er anderen nahe kommt. Anders ausgedrückt, wenn wir
jemanden sehen, der oder die eine Beziehung nicht lange aufrechterhalten kann,
eine oberflächliche Beziehung nach der anderen hat und in einem
„Wiederholungszwang“ feststeckt, können wir postulieren, dass es ihm oder
ihr an engem elterlichen Kontakt in der frühen Kindheit fehlte. Dieser Mangel
senkte den Oxytozinspiegel, so dass er oder sie jetzt als Erwachsene(r) nicht
das chemische Rüstzeug besitzt, mit einem anderen Menschen eine intime
Beziehung einzugehen. Durch frühe
Bindung lernen wir, wie wir uns emotional binden, so einfach es auch klingt. Es
ist kein Lernen im akademischen Sinne. Es
kann nicht gelehrt werden! Und es kann gewiss nicht im späteren Leben gelehrt
werden. Es ist ein emotionaler Zustand, der durch Gefühle übertragen wird, die
sehr früh in unserem Leben stattfinden müssen. In bestimmten Gebirgsnagetieren
wie der Bergwühlmaus, einer Spezies, die einzelgängerisch lebt (und sich
dadurch von der Präriewühlmaus unterscheidet), unterstützt eine
Oxytozin-Injektion Bindung und Paarung mit anderen Wühlmäusen. Nach
wiederholten Injektionen kommt es zu einem lange wirkenden Antistress-Effekt,
also zur Beruhigung. Die Menschen, die sich an eine Rückhalt bietende Gruppe
binden können, haben höhere Oxytozinspiegel und zeigen verringerte Reaktivität
auf Schmerz. Menschen, die sich nicht richtig an ihre Eltern gebunden haben, können
die sein, deren Beziehungen später sporadisch sind, nicht wegen ihrer gegenwärtigen
Beziehungen, sondern zuallererst, weil die biochemische Ausstattung fehlt oder
vermindert ist, um sich an andere zu binden. Kontinuierlicher Körperkontakt mit
den Eltern ist für das Wohlbefinden des Kindes wesentlich. Seite 294 |
Thomas Insel, Neurobiologe am Center
for Behavioral Neuroscience der Emory Universität hat bemerkt, dass „viele
der postnatal beobachteten Gefühlsbindungen an die Mutter durch pränatale
Erfahrungen festgelegt werden könnten.“ 4 Es unterstreicht
meinen Standpunkt; sogar der Klang der mütterlichen Stimme hat pränatale
Faktoren. Es gibt jetzt genug Beweise, die zeigen, dass Herzfrequenz, Körpertemperatur
und Atmungsfrequenz des Neugeborenen von der Mutter gesteuert werden; wenn sie mütterlich
ist, ergibt sich eine positive Wirkung auf das Baby, und die Sollwerte für
Herzfrequenz und Blutdruck werden normal. Wenn sie es nicht ist, wird die
Wirkung negativ und traumatisch, und wir finden später vielleicht eine Tendenz
zum Beispiel zu hohem Blutdruck oder zu Herzproblemen. Ihre Versäumnisse verändern
die Biochemie des Babys - vielleicht dauerhaft. Die postnatale Periode ist einfach
eine Erweiterung der pränatalen; liebevolle Gefühle werden durch die Biochemie
und die Oxytozinspiegel der schwangeren Mutter und später dann durch Körperkontakt
auf den Fetus übertragen. Die physiologischen Auswirkungen mütterlicher Fürsorge
auf das Kleinkind sind dieselben. 5 Wir alle haben ein definitives Bedürfnis
nach Bindung. Wir sind soziale Geschöpfe. Wenn wir von früh an nicht geliebt,
angeschaut, berührt wurden, wenn man uns nicht zugehört hat, uns nicht
liebkost und bewundert hat, werden diese biologischen Veränderungen, auch wenn
sie subtil sein können, uns unser ganzes Leben hindurch folgen, bis ihre
fortgesetzte Kraft später den Zusammenbruch körperlicher und psychischer
Systeme verursacht. Wenn die Traumen bei der Geburt und vor der Geburt (wie zum
Beispiel die chronische Depression der Mutter) und in der frühen Kindheit das
System überschwemmen, wird es schließlich zum Zusammenbruch der Serotonin- und
Oxytozinsysteme kommen. Die Vorräte werden im Unterdrückungskampf gegen den
Schmerz aufgebraucht. Die biochemischen Stoffe wie Serotonin und Oxytozin erschöpfen
sich im Kampf gegen emotionale Deprivation. Der Zwang, das volle Bewusstsein quälender Gefühle zu vermeiden, lenkt viele von uns im Leben, weil wir nicht geliebt wurden, gleich, was wir jetzt über unsere Kindheit denken. Ein Therapeut kann uns fragen, ob wir geliebt wurden, und wir beteuern vielleicht „Absolut!“, während unsere Oxytozinspiegel viel zu niedrig sind. Und vielleicht sind wir tatsächlich nach der Geburt geliebt worden, haben aber während unserer Zeit im Mutterleib schwere Traumen erlitten. Der Körper und seine
Seite 295 |
Physiologie lügen nicht. Wenn
es schwere Traumen oder frühen Liebesmangel gab, wird es sich in der Einprägung
zeigen. Diese Einprägung ist biochemisch. Es ist meine Vermutung, dass einige Mütter,
die Oxytozin zur Unterstützung des Geburtsprozesses brauchen, vielleicht eine
Schmerzgeschichte haben, die ihren Spiegel gesenkt hat, so dass das Gebären
schwierig wird. Mütter, die durch Kaiserschnitt entbinden, haben niedrigere
Oxytozinspiegel. Es geht
nicht darum, wie oft sie das Baby anschauen, wie oft sie es halten, es geht um
diese ungreifbare Liebe, die sie fühlen, wenn sie es tun. Es ist nie genug, das
Baby zu halten. Es muss ein Gefühl da sein, das dem zugrunde liegt. Dieses Gefühl
setzt sich aus Neuronen und biochemischen Substanzen zusammen. Es muss ein
angemessenes Niveau der Liebessubstanzen vorhanden sein und es darf nicht zu
viele Stresshormone im System geben. Oxytozin hemmt bei Tieren die Sekretion von
Stresshormonen (Glukokortikoiden).6 Wenn sich das System im
Alarmmodus befindet, fallen die Oxytozinspiegel, und das Angstsystem gewinnt an
Stärke. Wenn wir „lieben“, gibt es offensichtlich eine chemische
Komponente; und es ist durchaus möglich, dass der Oxytozinspiegel umso höher
ist, je intensiver das Liebesgefühl ist. Und umgekehrt, je höher der
Oxytozinspiegel, umso mehr Liebe kann man geben. In all dem liegt eine
versteckte Bedeutung. Auch wenn Sie schwören, jemanden zu lieben, können Ihre
biochemischen Substanzen Ihnen Grenzen setzen. Sie können darauf hinweisen,
dass Ihre Liebesfähigkeit nicht so ist, wie Sie denken. Die zweite Lektion:
Stress und innere Getriebenheit sind der Liebe abträglich. Getriebene Leute
sind oft nicht sonderlich liebevoll; sie müssen hierhin und dorthin und dieses
und jenes erledigen. Oxytozin-Freisetzung ist ein wichtiger Aspekt der
Serotonin-Sekretion. Sie scheinen harmonisch zusammenzuarbeiten, um uns bei
der Verdrängung von Gefühlen, besonders von Schmerz, zu helfen.7 Es ist die
Liebe der Mutter zum Baby, die eine sichere Plattform gewährleistet, von der
aus das Baby ans Leben herangeht. Es wird unerschrocken und neugierig sein und
keine Angst haben, Neues zu erkunden und herauszufinden. Es ist der Nährboden
der Angst, der Neugierde reduziert und bewirkt, dass ein Baby phlegmatisch wird
und kein Interesse an seiner Umgebung hat. Wenn die Beschützer, die Eltern, wie
bei Inzest oder bei zornigem, gereizten, tyrannischen Verhalten zur Bedrohung
werden, gibt es keine sichere Basis mehr, und das Kind ist in einer fürchterlichen
Lage, denn es kann sich an niemanden wenden, an niemanden anlehnen, und es kann
mit seinen Gefühlen nirgendwo hingehen. Es muss verdrängen. Streichelt man Tieren den Bauch, steigen die Oxytozinwerte und ihr Blutduck fällt. Überaus wichtig dabei ist, dass es zu einem Wechsel von sympathischer zu parasympathischer Dominanz kommt, wobei das Entspannungs-, Ruhe- und Reparatursystem übernimmt, um Überleben und Gesundheit zu fördern. Lange dachte Seite 296 |
man, dass das wachsame und aggressive Alarm-System, der Sympathikus, der
Überlebensmechanismus sei, weil er mit der Unterstützung von Vasopressin nach
Gefahr Ausschau hielt und vor ihr fliehen oder sie bekämpfen konnte. Nun stellt
sich heraus, dass das System abschalten kann, wenn es zu wachsam ist, und dieses
Abschaltsystem hat letztlich mit Überleben zu tun. Kurz gesagt ist Überreizung
für das System gefährlich. Es kann den Denkapparat fragmentieren, was zu
Zerstreutheit, Konzentrationsverlust und kurzer Aufmerksamkeitsspanne führt.
Wir wissen, dass eine niedrigere Körpertemperatur, die parasympathisch
organisiert wird, Langlebigkeit fördert; das ist bestimmt ein Schlüsselzeichen
des Überlebens. Mein erster
entscheidender Punkt: Frühe Bindung, Kontakt, Berührung und Zuneigung haben
beruhigende Langzeitwirkung. Meiner Meinung nach gewährleisten sie die spätere
Liebesfähigkeit. Das beinhaltet mütterliche Gefühle bei Frauen und die Fähigkeit,
genügend Milch abzusondern und ihre Babys zu ernähren. Zweitens, frühe
soziale Erfahrungen, die den Oxytozinspiegel beeinflussen, besonders solche im
Mutterleib, bilden Erinnerungen, die fortbestehen und eine Kraft ausüben, die
den Spiegel ständig auf optimalem Niveau hält. Diese Erinnerungen reaktivieren
dieselben physiologischen Prozesse, wie sie ursprünglich stattfanden, und verstärken
die ursprüngliche Wirkung. Kurz gesagt ist die Fähigkeit, später im Leben zu
lieben, eine neurophysiologische Erinnerung. Wenn Sie geliebt wurden, existiert
die Erinnerung. Wenn nicht, können Sie nicht im selben Maße lieben. Wenn es zu
viel frühen Schmerz gibt, und die ursprüngliche Reaktion auf das Trauma in
reduzierten Oxytozinwerten besteht, dann kann diese Reduzierung zu bestimmten
Zeiten, wie zum Beispiel bei der Geburt und gleich danach, wenn Oxytozin
dringend benötigt wird, reaktiviert werden. Sie brauchen innere Ruhe, um
liebevoll sein zu können. Frühe Liebe scheint Langzeit-Reduzierungen des
Blutdrucks und der Herzfrequenz zu erzeugen. Ein solcher Mensch wird nicht nur
schneller gesund, sondern wächst zu normaler Größe, wie es seiner genetischen
Bestimmung entspricht, wogegen diejenigen, die unter chronischem Liebesmangel
leiden, vielleicht nicht so schnell gesund werden und nicht ihrer genetischen
Bestimmung entsprechend wachsen. Wir haben jetzt Techniken, mit denen wir messen können, wie sehr jemand in der frühen Kindheit geliebt worden ist. Sicher gibt es einen Grund, warum unsere neu beginnenden Patienten einheitlich hohe Stresshormonspiegel haben.8 Wenn wir als kleine Kinder nicht geliebt worden sind, befindet sich unser System im Alarmzustand. Es treibt uns dazu, Befriedigung zu suchen, auch symbolische Befriedigung, zum Beispiel im Applaus eines Publikums oder in finanzieller Bereicherung. Depravierte Individuen, getrieben, wie sie sind, streben gewöhnlich nach sekundären Zielen, die nichts mit elterlicher Liebe zu tun haben. Essen ist ein gutes Beispiel. Jemand kann aufs Essen genauso versessen sein wie auf Sex. Beides kann sich vom Grundbedürfnis nach Liebe ableiten. Es sind umgeleitete Bedürfnisse, Seite 297 |
die sich ergeben, wenn Liebe fehlt und immer gefehlt
hat. Die Kraft hinter der Besessenheit ist immer noch das Bedürfnis nach
elterlicher Liebe. Die Energie dieses Bedürfnisses hat sich verlagert. Wir können
nicht genug bekommen, weil die Befriedigung zeitlich begrenzt ist, ein Ersatz für
die wirkliche Sache. Egal, wieviel wir bekommen, es kann niemals genug sein. Wir
versuchen, die Entbehrungen des Systems zu korrigieren. Also gehen wir zur
Massage, und unsere Oxytozinwerte steigen. In wenigen Stunden fallen sie wieder.
Wir machen ein gutes Geschäft, und die Werte gehen nach oben und dann nach
unten. Schon wieder Zeit, nach mehr zu streben. Es gibt ein
neuroendokrines Substrat oder eine biochemische Schicht, die unserem Verhalten
und endokrin-hormonellen Sekretionen zugrunde liegt. Oxytozin ist Teil dieses
Substrats, das aus positiven, liebevollen Erfahrungen früh im Leben resultiert
und deshalb dazu beiträgt, unser übriges Leben zu steuern. Es bewahrt uns
davor, dass wir uns selbst durch Arbeiten, ständiges Herumhasten, Planen,
Machen, Reisen umbringen, und das alles, weil wir wegen fehlender Liebe am
Anfang auf der Hut sind; auf der Hut vor dem vollständigen Bewusstsein, nicht
geliebt worden zu sein, eine Erfahrung, die unsere psychische Unversehrtheit
zerstört. Die Einprägung „Sie wollen mich nicht haben. Ich werde nicht (nie)
geliebt. Es ist hoffnungslos, es zu versuchen“ ist weitaus zu viel, als dass
ein Baby sie verstehen und akzeptieren könnte. Der Drang nach Liebe wird in
verschiedene Wege der Befriedigung umgeleitet – symbolischer Art, während
sich gleichzeitig die Fähigkeit der Person, Liebe zu geben und zu empfangen,
vermindert. Selbst im späteren Jugendalter kommt die Liebe zu spät, die wir
als Kleinkinder gebraucht hätten, da die kritische Periode vorbei ist. Es
besteht deshalb ein zweifacher Antrieb: (1) der Erkenntnis der Entbehrung und
ihrer Qual zu entkommen, und (2) für die Erfüllung sekundärer Ziele wie
Erfolg zu kämpfen. Leuten, die nicht geliebt wurden, scheint der Drang nach
Sekundärzielen absolut natürlich. Das Bedürfnis nach Erfolg kann das Bedürfnis
nach Liebe leicht ersetzen. Wenn jemand
nicht geliebt wird, bleiben das Gefühl und die sich darauf beziehenden
physiologischen Werte bestehen. So kommt es zu einem Teufelskreis: Wenn sich ein
Mensch ungeliebt fühlt, handelt er auf eine Weise, die ihn noch mehr entfremdet
und ihn noch ungeliebter macht: Gescheiterte Beziehungen, Ehen, uund so weiter,
die einen Menschen dazu bringen, dass er oder sie die Hoffnung aufgibt, jemals
geliebt zu werden. Die Folgen können Depression,
Selbstmord-Gedanken und Selbstmord-Versuche sein. Warum? Weil die Einprägung
„ungeliebt“ einen Menschen anspruchsvoll, reizbar, reserviert, distanziert,
zornig, kalt und leidenschaftslos machen kann. So hat der Partner genug und
geht, weil auch sie oder er unerfüllte Bedürfnisse hat. Fehlende Liebe ruft nicht nur Stress hervor, sondern nachfolgend auch hochgradige Verdrängung. Folglich denken wir, dass wir fühlen und lieben; aber wir können Seite 298 |
nicht fühlen, was wir nicht fühlen
können; deshalb diktieren und unterstützen unsere Gedanken die Vorstellung,
wir seinen fühlende, liebesfähige Geschöpfe, während wir tatsächlich
emotional behindert sind und unsere Bedürfnisse nur ausagieren. Unsere Fähigkeit
wird durch die unzureichende Liebe in unserem frühen Leben physiologisch
beeinträchtigt. Das Gehirn-Körper-System behält diese Erinnerung bei, nicht
nur an unser frühes Leben, sondern an die Geschichte allen menschlichen Lebens.
Betrifft die Erinnerung exzessiven und chronischen frühen Schmerz, der daraus
resultiert, dass man uns im Kinderbettchen ‚ausschreien’ ließ, dass wir ständig
angeschrien und vernachlässigt wurden, können die Oxytozinspiegel niedrig
sein. Ein Grund besteht unter anderem darin, dass es sich um ein Antiangst-,
Antischmerzhormon handelt, dessen Vorräte begrenzt sind. Teuflischerweise gehen
die Vorräte zur Neige, wenn wir emotional leiden – genau zu der Zeit, wenn
wir sie am meisten brauchen. Oxytozin-Rezeptoren finden sich überall im
limbischen Gefühls-System. Die Hypothalamus-Hypophyse-Achse schickt Oxytozin
auf den Weg zu anderen wichtigen Gehirnorten, vor allem zum Hirnstamm, wo sehr
frühe Traumen eingeprägt sind. Wie gut Hormone funktionieren, hängt von ihrer
Fähigkeit ab, sich mit ihren Rezeptoren zu verknüpfen oder zu binden.
Rezeptoren können abhängig vom Stresszustand des Organismuses verändert
und/oder neu zugeteilt werden. Liebe und Überleben Liebe ist nicht einfach Vermeidung
von Schmerz. Es ist der Schlüssel zum Überleben. Wenn Liebe fehlt, wenn Eltern
das Baby vernachlässigen, indem sie es nicht anschauen, ihm nicht zuhören oder
auf seine Stimmungen nicht eingehen (eine deprimierte Mutter kann mit ihrem Kind
nicht ausgelassen umgehen, und das Kind lernt schnell, dass Ausgelassenheit non
grata ist), dann kommt es zu Schmerz; schlimmer noch, es besteht die Gefahr des
vollständigen Bewusstseins dieses Schmerzes, das die Unversehrtheit des
Gehirnsystems bedroht, besonders des integrierenden Neokortexes. Das Gehirn und
der Körper beschleunigen dauerhaft, um dieses Bewusstsein in Schach zu halten.
Das ist Verdrängung: reale Gefühle vom Bewusstsein fernzuhalten. Das System
muss ständig mobilisiert sein, um diese Verdrängung in Gang zu halten. Und es
zieht bestimmte biochemische Stoffe zur Unterstützung heran, wie zum Beispiel
Oxytozin. Wenn der Schmerz zu groß ist, zu früh eintritt und sich über zu
lange Zeitdauer erstreckt, bricht das Verdrängungssystem zusammen und es kommt
später zu Angst und Panikattacken. Diese Attacken bedeuten oft, dass das Verdrängung
verursachende Trauma-Gefühl dem vollständigen Bewusstsein nahe ist, und sie
signalisieren Gefahr.
Seite 299 |
Ein Agent
dieses Zusammenbruchs kann Vasopressin sein. Dieses Neurohormon (auch ein
Neurotransmitter), ist ein naher Verwandter des Oxytozins und kann sich an
dessen Rezeptoren binden. Es hat mehr mit Erregung, Aggression und Territorialität
zu tun; die Heimstätte gegen Eindringlinge zu sichern. Zusammen mit Oxytozin
kann es einige neurale Bahnen, die aufgrund von Stress fehlgegangen sind, neu
anpassen und somit das System wieder ins Gleichgewicht bringen. Vasopressin wie
auch Oxytozin können von Stresshormonen reguliert werden. Wenn Vasopressin und
Oxytozin zusammenarbeiten, kann es zu verstärkter Sozialbindung kommen.9
Es ist auch möglich, dass Vasopressin die Fähigkeiten des Oxytozins, den
Organismus zu beruhigen, zunichte macht, wenn das Stressniveau in der Kindheit
außergewöhnlich hoch ist. Ich werde Vasopressin später in diesem Kapitel erörtern. Bei höherem
Oxytozinspiegel wird man schneller gesund; sicherlich ist das eine Überlebensmaßnahme.
Wenn wir zum Beispiel eine Infektion nicht ausheilen können, sterben wir
vielleicht. Also hat Überleben nicht nur damit zu tun, Gefahr zu bekämpfen
oder vor ihr davonzulaufen; nicht nur mit Abwehr; es hat damit zu tun, sich der
Liebe zu nähern. Überleben handelt auch von positiven Dingen. Es gibt
Psychopathen, die menschlich ausschauen aber niemals eine liebevolle
zwischenmenschliche Beziehung zustande bringen. Sie hinterlassen eine Spur aus menschlichen Trümmern.
Diese Individuen gehen Beziehungen nur ein, um sich zu bereichern und verstehen
sich nur aufs Manipulieren. Ihr falscher Charme erlaubt ihnen manchmal, damit
durchzukommen. Aber sie sind in der Kindheit der unzureichenden Menschlichkeit
ihrer Eltern zum Opfer gefallen. Unter ihrem scheinbar menschlichen Charme liegt
eine leere Hülle. Man kann zu ihnen nicht gut sein, weil sie es nicht fühlen können.
Sie wollen einfach mehr. Liebe und Ernährung: Die Übertragung der Liebe durch die Muttermilch Die Laktation wird durch Stress
gehemmt, wie so viele unserer natürlichen Funktionen: Ausscheidung, Essen, Sex
und andere. Es kann sein, dass früher Schmerz den physiologischen Spiegel des
Oxytozins senkt und dann einprägt,
und somit bereits von vorne herein festlegt, ob eine Mutter später genug Milch
hat. Es ist das Hormon Prolactin, das für die eigentliche Sekretion oder
Produktion der Milch verantwortlich ist, während Oxytozin die meisten
Ejakulationen steuert, einschließlich der „Ejakulation“ der Muttermilch für
das Baby. Prolactin kann als ein weiteres Hormon betrachtet werden, das zu mütterlichen
Gefühlen beiträgt. Es geht über den Zuständigkeitsbereich dieses Kapitels
hinaus, sich eingehend mit allen verwandten Hormonen zu befassen. Es genügt,
wenn man weiß, dass sie existieren und dass alle beschrieben worden sind. 10 Seite 300 |
Oxytozin-Injektionen erleichtern das
Einsetzen mütterlicher Gefühle. Natürlich würde frühe elterliche Liebe
diese Notwendigkeit erübrigen. Blockierung des Oxytozins erstickt mütterliches
Verhalten.11 Wenn Sie dieses Hormon einem Schaf geben, nimmt
es andere Jungtiere in mütterliche Obhut. Es wird zur „Mutter Erde,“ und
ist williger, „die ganze Welt zu lieben.“ Wogegen das Schaf ohne das Hormon
dazu neigt, fremde Babytiere zurückzuweisen. Bei Rhesusaffen, die Oxytozin
erhielten, kam es zu einer Steigerung des Berührungsverhaltens,
Lippenschmatzens und der mütterlichen Bereitschaft, auf ihre Jungen
aufzupassen. Primaten kommen menschlichem Verhalten und dem menschlichen Gehirn
nahe, und ihre Erforschung ist ein bisschen wichtiger als Studien an Ratten. Wenn wir die Oxytozin-Produktion in
einem Babytier verhindern, kommt es nicht zu Präferenz und Nähe zur Mutter. Es
findet keine Bindung statt. Wenn es keine Nähe gibt, leidet das Baby,
vielleicht ein Leben lang. Bindung ist ein Grundbedürfnis. Es ist wie eine Straße
mit Gegenspur: Vermindertes Oxytozin im Baby verhindert, dass es sich seiner
Mutter nahe fühlt. Es wird zu einem Baby, das sich nicht gerne knuddeln lässt,
das sich windet, wenn es gehalten wird. Wenn die Mutter ein Kind zur Welt
bringt, steigt ihr Spiegel dramatisch an und bietet ihr das nötige Rüstzeug,
um ihr Baby tief zu lieben. Ein Teil davon überträgt sich auf das Baby. Die
Biochemie sagt uns, dass Liebe wesentlich ist. Im Mutterleib wurde sie bereits
durch die Tasache der mütterlichen Liebe für das Baby übertragen. Diese Liebe
hat ihre chemischen Wurzeln, auch wenn das Baby noch nicht geboren ist. Ja, das
Baby kann sich im Mutterleib geliebt fühlen. Nicht im Sinne von Verstehen,
sondern im biologischen Sinn. Aus diesem Grund kann die Biologie Bände sprechen
und auch im Widerspruch zu unseren Denkprozessen stehen, die viel später ins
Spiel kommen, um unsere innere Wirklichkeit zu leugnen. Es scheint, dass wir
schließlich in der Lage sein könnten, einer Frau „Mutterschaft
einzuspritzen“, und einen nichtmütterlichen Typ in eine liebevollere, fürsorglichere
Mutter zu verwandeln. Können wir Liebe wirklich
injizieren? In Tierversuchen; denken Sie daran, sie haben die meisten Hormone
mit Menschen gemeinsam. Wir können jungfräuliche weibliche Tiere nehmen, ihnen
Oxytozin injizieren, und innerhalb dreißig Minuten werden sie mütterlich. Ja,
wir können Liebe injizieren, wenn wir sie vorsichtig definieren. Zumindest können
wir die Eigenschaften der Liebe injizieren: Bindung, Berührung, Achtsamkeit,
Schutz und Pflege. Die Bahnen dieser Liebe scheinen von hypothalamischen Zentren
auszugehen, wo so viele unserer Gefühle organisiert werden. Ein Großteil
dieser Ergebnisse hat sich in der Primatenforschung bestätigt.
Seite 301 |
Wenn das Stress-Niveau steigt, kommt
es jedoch oft zu einer Drosselung der Milchproduktion. Das System ist eher auf
Kampf und Konflikt eingestellt als auf seine natürlichen Funktionen. Es kann
sein, dass Oxytozin im Stressfall freigesetzt wird, um seine Bekämpfung zu
unterstützen; um zu helfen, dass das Individuum sich beruhigt und nicht so überwältigt
ist. Gemeinsam mit anderen blockierenden Agenten wie Serotonin unterdrückt es
Schmerz. Die Injektion von Oxytozin kann die Milchproduktion wieder auf normales
Niveau bringen. Die Beweisführung stützt sich auf die Rolle von Stress in der
Regulierung der menschlichen Milchproduktion. Es ist keine extravagante
Extrapolation, wenn man denkt, dass lange andauernder eingeprägter Stress die
Milchproduktion gänzlich verhindern kann. Früher Schmerz senkt den
physiologischen Oxytozin-Spiegel und bestimmt somit bereits im Voraus, ob eine
Mutter später genug Milch haben wird oder ob es dem Baby genau dann an Nahrung
und Nähe fehlt, und das alles, weil seine Mutter dieselbe Nahrung und Nähe als
kleines Kind nicht bekommen hatte. Die einfache Tatsache, dass eine Mutter als
Kind nicht gestillt wurde, kann zwanzig Jahre später zur Unfähigkeit führen,
selbst zu stillen.12 Wir können allmählich die Fixierung einiger Männer auf die
weibliche Brust verstehen, ihre enorme Erregung, wenn sich ihr Anblick bietet.
Es ist gut möglich, dass es sich um einen Rückfall auf ein atavistisches Bedürfnis
handelt, um den Versuch, die zusammengebrochene Versorgung mit dem Oxytozin der
Kindheit wiederzuerlangen. Im Erwachsenenalter wird das frühe Bedürfnis
erotisiert, aber es ist noch immer das Grundbedürfnis, das erregt, stimuliert
und anzieht. Muttermilch beinhaltet große Mengen
an Oxytozin. Das ist ein Grund, warum Brustmilch so wichtig für die Ernährung
ist. Sie wird direkt an das Gehirn des Säuglings geleitet, wo sie Wohlbefinden
und Beruhigung hervorruft. Wenn Tiere saugen, weisen sie höhere Werte dieses
Hormons auf. Es hat sich herausgestellt, dass stillende Mütter ruhiger und
sozialer sind, mit Stress und Monotonie besser umgehen und mehr Hautkontakt mit
ihrem Baby haben. In einem Experiment wurden Frauen ermutigt, ihre Babys gleich
nach der Geburt an die Brust zu legen. Je früher der Kontakt erfolgte, umso
mehr Körperkontakt hatte die Mutter später mit dem Neugeborenem, und sie
redete mehr mit ihm. Kurz gesagt gab es mehr liebevollen Kontakt. Laktation und
Stillen ist ein Ausdruck der Liebe zum Baby. Es ist ganz klar, dass Liebe und
ihre Hormone die beste Vorbeugung gegen psychische und körperliche Symptome
sind. Sie können keine gute, liebevolle
Mutter sein, wenn Sie unter chronischem, eingeprägten Stress stehen. Sie können
kein liebevoller Mensch sein, wenn die Oxytozinvorräte im inneren Kampf
zwischen Gefühlen und Verdrängung aufgebraucht worden sind. Was ich immer
wieder betonen muss, ist, dass frühe Liebe zu einer physiologischen Erinnerung
wird, die fortbesteht und späteren Symptomen vorbeugen, Angst verhindern,
Phobien reduzieren kann, und den Menschen zur Liebe befähigt. Seite 302 |
Ich verwende
das Beispiel der Laktation, um herauszustellen, wie die meisten unserer natürlichen
Impulse durch einen Stressor blockiert werden können; etwas scheinbar so
Banales wie Hunger. Viele meiner Patienten, die ihr Schreien im Kinderbett
blockierten, als niemand kam, um sie zu füttern, wissen es jetzt nicht einmal,
wenn sie hungrig sind. Erst Stunden später fühlen sie sich plötzlich
ausgehungert und wissen, dass sie essen sollten. Normalerweise ist es eindeutig
kein gegenwärtiger Stress, der
dies bewirkt, zumal das Problem oft ein Leben lang besteht. Laktation
reduziert bei stillenden Müttern obsessive Symptome. Es ist klar, dass
Zwangsgedanken Abwehrmechanismen gegen Schmerz und Angst sind, da Gedanken
versuchen, die aufsteigende Energie verdrängter Gefühle zu absorbieren. Die
treibende Kraft hinter diesen Symptomen ist ein hyperwachsamer Zustand, der den
zerebralen Kortex, das denkende Gehirn, dazu mobilisiert, Rituale und obsessive
Gedanken zu ersinnen, um Gefühle zu blockieren. Zum Beispiel kann latente
Furcht, Untergrund-Terror, verursacht durch zornige und gewalttätige Eltern,
aufsteigen und zu dem Bedürfnis werden, zehn Mal am Tag die Schlösser zu überprüfen,
um sich sicher zu fühlen und keine Angst zu haben. Zahlreiche Forschungsstudien
zeigen den beruhigenden Effekt von Oxytozin.13 Uvnas-Moberg
hat nach mehreren Injektionen dieses Hormons bei Tieren Dauerwirkung
festgestellt. Der Oxytozinspiegel kann durch sehr frühe Erfahrungen, auch im
Mutterleib, beeinflusst werden. Er ist, soweit wir wissen, die Schlüsselkomponente
im Bindungsverhalten zwischen zwei Menschen. Bei Müttern,
die selbst in ihrer Kindheit nicht geliebt wurden, deren Eltern sie kaum jemals
berührten, und die die meiste Zeit vernachlässigt wurden, kann die eigene
Oxytozin-Sekretion reduziert sein. Ihr Schmerz oder eingeprägter Stress kann
sie daran gehindert haben, mütterlich zu sein. Sie glauben vielleicht, dass es
für sie kein natürlicher Instinkt sei, weil ihnen nicht danach zumute ist,
Babys zu bekommen und sich um sie zu kümmern. Ihre mütterlichen Instinkte sind
durch frühe elterliche Gleichgültigkeit und Kälte ausgelöscht worden. Eine
Forschungsstudie, die mir vorschwebt, ist die Messung der Oxytozinspiegel in
erwachsenen Frauen, die mit der Flasche ernährt wurden, im Gegensatz zu denen,
die gestillt wurden. Zweitens möchte ich ermitteln, ob die Dauer der Stillzeit
den Oxytozinspiegel erhöht. Und weil ich sage, dass das Fühlen früher
Lieblosigkeit in einem Primal uns helfen kann, Liebe zu akzeptieren, würden wir
schließlich gerne das Oxytozin in unseren Patienten vor der Therapie und nach
sechs Monaten und einem Jahr messen. Die Spiegel sollten in unserer Therapie
ansteigen.
Seite 303 |
Hat sich
einmal eine ruhige Reaktion eingefunden, kann sie durch Substanzen, die gegen
Oxytozin ankämpfen, nicht umgekehrt werden. Genauso könnte man sagen, wenn wir
einmal wirklich geliebt werden, lässt sich später nicht viel tun, um es
ungeschehen zu machen. Es gibt eine Menge Forschungsarbeiten über Panik- und Angstzustände. Für mich ist ganz klar, dass wir solche Zustände nicht sehen würden, gäbe es kein Vorgeburts- und Geburts-Trauma, und gäbe es nach der Geburt viel Liebe. Es ist so schwierig, den Zusammenhang zwischen dem Geburtstrauma und diesen Heimsuchungen im Alter von fünfunddreißig Jahren herzustellen. Meine Patienten erledigen das für mich. Sie erleben frühe Traumen wieder, und die Symptome verschwinden.
Wenn
Körperkontakt fehlt, fehlt auch Liebe Wenn Babys nicht gehalten und
liebkost werden, wenn Grundbedürfnisse
nicht befriedigt werden, stehen sie per Definition unter Stress. Das Baby
braucht Liebe so sehr wie Milch. Wenn Bedürfnisse vernachlässigt werden,
sendet das System des Babys Alarmsignale aus, die auf Gefahr hinweisen. Wie ich
erwähnt habe, ist eines davon Kortisol, das Stresshormon. Wenn dem Baby plötzlich
Liebe und Berührung zuteil wird, kommt es zur Freisetzung von Oxytozin und zu
allgemeiner Beruhigung. Ein Aspekt des Alarms besagt, dass es zu einem
lebenslangen Oxytozindefizit kommen kann, wenn es keine Wärme und keinen Körperkontakt
gab. Weil ich früher elterliche Liebe neu als Erfüllung von Grundbedürfnissen
definiert habe, können wir sie in Zukunft vielleicht durch Messen des
Oxytozinspiegels quantitativ bestimmen. Jemand kann schwören, dass er geliebt
wurde, aber seine niedrigen Werte können ihn verraten. Es wäre auch eine
Messung des therapeutischen Erfolgs. Haben
diejenigen, die frühen Inzest erlitten hatten, niedrigere Werte im Vergleich zu
Kontrollgruppen? Haben Leute, die ihn in ganz jungen Jahren erlitten, niedrigere
Werte als andere, denen er im Jugendalter widerfuhr? Es ist kein sonderliches
Geheimnis (obwohl oft die intellektuelle Einbildung besteht, dass nichts so
einfach sein könne), dass ein wenig Liebe hier und dort die Struktur des
Gehirns ändern könnte, späteres obsessiv-zwanghaftes Verhalten, Angst und
Depression verhindern könnte! Liebe ist nicht einfach! Auf der Grundlage
weitverbreiteter emotionaler Deprivation scheint es eine äußerst schwierige
Angelegenheit zu sein. Immer wenn
wir das Wort „Stress“ in der Literatur sehen, müssen wir betonen, dass der
meiste Stress eingeprägt ist und in unsere Zeit im Mutterleib zurückdatieren
kann. Das ist ein Grund, warum es so schwer ist, diese Auffassung zu verstehen.
Natürlich wird er durch gegenwärtigen Stress verschlimmert, durch den Verlust
einer Gefährtin oder eines Jobs, finanzielle Sorgen und dergleichen. Meiner
Meinung nach ist eingeprägter Stress eine Erklärung, warum der Oxytozinspiegel
bei bestimmten Individuen chronisch niedrig ist; das Hormon wird im Kampf gegen
die Einprägung aufgebraucht. Seite 304 |
Wenn die
weibliche Präriewühlmaus bald nach der Geburt mit Steroid-/Stresshormonen
behandelt wurde, zeigte sie später gesteigerte Maskulinisierung
(Besteigungsverhalten der Weibchen).14 Den meisten von uns müssen
keine Stresshormone injiziert werden; Stress im Mutterleib und gleich nach der
Geburt wird das Gleiche leisten und kann in der Tat Frauen vermännlichen, wie
ich früher in diesem Werk erörtert habe. Vielleicht ist es logisch, wenn man
denkt, dass eine Injektion etwas Besonderes sei, auch wenn tatsächlich exakt
derselbe chemische Prozess auf natürliche Art stattfindet. Wir können Oxytozin
injizieren oder wir können das Tier massieren und dadurch vermehrt Oxytozin
produzieren. Wir können eine schwangere Mutter stressen, oder ihr Steroide
injizieren. Die psychische Injektion ist exakt dieselbe wie die einer Nadel.
Eine Mutter kann freundlich und liebevoll sein und den Serotoninspiegel in ihrem
Nachwuchs erhöhen, so dass der mit Widrigkeiten besser fertig wird, oder ein
Arzt kann Serotonin injizieren und temporäre Beruhigung erzeugen, die sich
nicht von der Wirkung eines liebevollen mütterlichen Blicks unterscheidet. Eine Mutter
kann durch ihre Milch Oxytozin „injizieren“. Eine chronisch ängstliche
Mutter kann in ihrem Nachwuchs niedrige Oxytozin-Spiegel hinterlassen, so dass
er später vielleicht Probleme hat, sich zu binden und Beziehungen einzugehen.
(Das ist ganz klar Gegenstand der Forschung. Ich erwäge nur Möglichkeiten.).
Das kann letztlich gescheiterte Beziehungen und gescheiterte Ehen bedeuten mit
leidenden, im Stich gelassenen Kindern, die die Hauptlast einer Sache tragen,
die ihren Grund in der frühen Kindheit der Mutter hatte.15 Sue Carter, die auf dem Gebiet der Neuroendokrinologie forscht, hat behauptet, dass Oxytozin „durch die Entwicklungsgeschichte eines Organismuses“ beeinflusst wird.16 Wenn der Steroidspiegel im Mutterleib aufgrund des Stress-Spiegels der schwangeren Mutter hoch ist, kann sich die ganze Entwicklung des Fetuses ändern, was die Senkung des Oxytozinspiegels einbezieht. Jahre später dann hat eine Mutter keine Milch für ihr Neugeborenes und niemand kann verstehen warum. Oder sie besteht darauf, gleich nach der Geburt wieder zur Arbeit zu gehen und rationalisiert, ihr Job sei so wichtig. Sie versteht vielleicht nicht, dass ihre Getriebenheit die Sekretion ihrer mütterlichen Liebeshormone verhindert hat und ihr Verhalten diktiert, zur Arbeit zurückzukehren. Ihre Einstellungen, Interessen und Gedanken können Rationalisierungen für ihren physiologischen Hormonstatus sein. Sie verfügt nicht über die biochemische Ausstattung, um mütterlich sein zu wollen, und sie hat diese Ausrüstung seit der Kindheit nicht besessen. Ihre Mutter, eine nichtmütterliche Person, hat es durch fehlenden Körperkontakt mit dem Baby zustande gebracht, die
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mütterlichen
Hormone in ihrer Tochter zu vermindern. Wenn diese Tochter zufällig Babys
bekommt, wird sie sie schon bald verlassen und zur Arbeit zurückkehren. Sie
wird über ihre Mutterrolle verärgert sein, und die Kinder werden es zu spüren
bekommen. Ihr niedrigerer Oxytozinspiegel kann sich bereits auf den Fetus im
Mutterleib auswirken. Ich würde die Hypothese wagen, dass er mit Defiziten im
Liebesbereich zur Welt kommt. Ich habe dargelegt, wie ein Trauma im Mutterleib
in gesenkten Serotoninspiegeln resultiert. Es ist nur ein kleiner Schritt, wenn
man das auf Oxytozin anwendet. Natürlich gibt es auch Mütter, die sich nicht
von ihren Kindern trennen können. In der Regel deshalb, weil sie versuchen, von
ihnen Liebe zu bekommen. Liebe und Sucht: Süchtig nach Liebe Es gibt Beweise, dass Oxytozin und
Dopamin zusammenarbeiten, um Wohlgefühl zu erzeugen; es ist dieses Gefühl und
dieser Hormonstatus, der jemand permanent von Drogen abhängig macht; das
Dopamin potenziert das Oxytozin, indem es dessen Bindung an Rezeptoren verstärkt.
Oxytozin hemmt die Toleranz-Entwicklung gegenüber Drogen wie Morphium und
verhindert auch die Entzugssymptome, wenn jemand diese Drogen absetzen muss.
Ratten, die in der Lage waren, sich selbst Schmerztöter zu verabreichen, indem
sie einen Hebel drückten, taten es nicht, wenn sie Oxytozin erhielten. Anders
gesagt kann Mutterliebe oder ihr chemisches Analogon Sucht verhindern. Liebe ist
die bevorzugte Methode.17
Die Aktivität
von Schmerztötern (Opiaten) erhöht sich, wenn man einem Tier
Oxytozin-Injektionen verabreicht.18 Oxytozin bildet ein
Gegengewicht, wenn man sich ungeliebt fühlt und unter Schmerz steht. Ratten,
die Kokain erhalten, werden zu zwanghaften Schnüfflern. Oxytozin reduziert
dieses Verhalten. Und mit Oxytozin brauchen Leute, die auf Drogen sind, nicht ständig
mehr. Wiederum wirkt es wie eine Liebesspritze; es hält einen von Schmerztötern
fern, weil man weniger unter Schmerz steht, wie es bei allen von uns der Fall
ist, die wirklich geliebt werden. Süchtige und Alkoholiker wollen sich geliebt
fühlen. Es ist der Schub und das Gefühl von Wärme, das sie erleben, wenn die
Wirkung der Droge oder des Alkohols einsetzt, was sie dazu treibt, immer mehr zu
nehmen. Diese Wärme ist wie mütterliche Liebkosung; oft beschreiben sie es als
Wärme, die total entspannend ist.19 Was ich gerade diskutiere, birgt für Philosophen reichlich Stoff zum Sinnieren. Ist der Drogenkonsument für sein Handeln verantwortlich? „Nein“ zu sagen bedeutet, dass keiner von uns einen freien Willen hat; wir alle sind Opfer unserer Kindheit. Was ich sagen will, ist, dass zu einem ganzen Leben voller emotionaler Entbehrung „einfach Nein zu sagen“ nicht so leicht fällt. Und es ist nicht einfach eine Sache der Willenskraft. Natürlich ist jeder von uns für seine Aktionen verantwortlich, aber Seite 306 |
oft brauchen wir Hilfe. Wir müssen
verstehen, dass jemand, dem es ein Leben lang an Schmerzverdrängern wie
Serotonin fehlte, chemische Hilfe braucht, um sich zu normalisieren. Ja, es muss
etwas in ihm sein, das ihn wünschen lässt, sein Leben in die Hand zu nehmen.
Nicht alle von uns haben diese Stärke und Entschlossenheit. Manchmal ist es
nicht leicht, gegen Schwäche Widerstand zu leisten. Käme ein Mensch gerade aus
der Wüste und wäre am Verdursten, würde sie oder er große Mengen Wasser
haben wollen. Das Problem ist, dass wir die emotionale Wüste nicht sehen können,
die die Kindheit bei einigen von uns hinterlassen hat. Wie die Grenzlinie
zwischen Verantwortlichkeit und Opfer-Sein zu ziehen ist, das ist ein ständiges
philosophisch-psychologisches Problem. Der Grad der
Abhängigkeit lässt sich oft an der Schwere der Entzugssymptome ermessen, wenn
die Droge einmal abgesetzt wird. Oxytozin mildert diese Symptome. Liebe ebenso,
aber nicht so schnell. Eine Spritze mit Oxytozin wirkt, als würde man eine
Spritze mit einer liebevollen Mutter bekommen. Das ist es doch, was Heroin
erreicht! Mama in der Spritze besänftigt, beruhigt und entspannt. Wo die Sucht ihren Anfang nimmt Frühe Traumen vor und während der Geburt haben viel mit dem richtigen Funktionieren des Kortexes zu tun. Hier ist der Ort, wo vielleicht die Saat der Drogensucht wegen der Fehlregulierung des frontalen Kortexes und ihrer Wirkung auf die Verbindungen zum limbischen System und Hirnstamm gesät wird. Diese Leute müssen sich ständig mit ihrem Schmerz befassen. Wenn Sie sich ein Bein brechen und ein starkes Schmerzmittel nehmen und wenn das Bein dann heilt, können Sie noch immer Medikamente brauchen. Das kommt daher, dass der Schmerz, an dem Sie wirklich leiden, im Verborgenen liegt, in den Antipoden des Gehirnsystems; eine Verletzung, die vielleicht fünfundvierzig Jahre alt ist. Dieser Schmerz bedarf noch immer der Besänftigung. Das bedeutet nicht, dass jemand süchtig ist. Es heißt einfach, dass der Schmerz noch immer existiert, aber weder sichtbar noch greifbar ist. Oft wissen Sie erst, wenn Sie das Medikament nehmen, was Ihnen abgegangen ist. Methadon für Heroinsüchtige auf Entzug oder Schmerztöter für Leute mit Angstproblemen verlangsamen oder blockieren die Übertragung der Schmerzbotschaft. Die Botschaft ist nicht offensichtlich. Sie ist es im Falle eines gebrochenen Beins, aber sie ist weniger klar im Falle eines gebrochenen Herzens aus der frühen Kindheit. Wenn unser gebrochenes Bein Monate braucht, um zu heilen, und wir während des Heilungsprozesses Schmerzpillen nehmen, betrachtet man das als normal. Wir würden nicht als „süchtig“ diagnostiziert (mit all der Schmach, die diesem Etikett anhaftet). Es wäre kurios, würden wir ein verächtliches Etikett
Seite 307 |
angehängt bekommen, weil wir
Schmerz abtöten müssen. Aber wenn wir an einer quälenden Einprägung aus der
Kindheit leiden, die genauso real und schmerzhaft ist wie ein gebrochenes Bein,
hält man uns vielleicht für süchtig. Warum? Weil wir eine Verletzung lindern,
die im Alter von zwei Wochen geschah. Wir neigen
noch immer zu der Mentalität, dass wir uns nicht beklagen und die Zähne
zusammenbeißen sollen. Doch wenn jemand süchtig nach Schmerztötern ist,
bedeutet das, dass sie oder er unter Schmerz steht oder denkt, unter Schmerz zu
stehen. Es ist kein krimineller Akt. Es ist ein Akt des Überlebens. Niemand würde
massive Mengen an Schmerztötern in sein System einführen, wenn er keinen
Schmerz hätte. Ohne eingeprägten Schmerz wäre eine massive Dosis von
Schmerzmitteln tödlich. Hat ein
Mensch einmal das Erwachsenenalter erreicht, kann Liebe keine dauerhafte Wirkung
mehr erzielen. Das heißt, sind niedrige Oxytozinspiegel oder hohe
Stresshormonspiegel einmal früh im Leben registriert, ist es schwierig, die
normalen Sollwerte wiederherzustellen. Das Verlangen nach Kokain kommt zum
Beispiel auf, wenn die Dopaminvorräte chronisch erschöpft sind; Kokain erhöht
das Dopamin in den Synapsen künstlich. Jemand kann am Kokain hängen, um sich
aggressiver zu fühlen, mehr Vergnügen und Spaß im Leben zu haben, mehr
Selbstvertrauen zu spüren, und um in der Lage zu sein, andere zu konfrontieren.
Kokain kann das leisten, aber elterliche Liebe ebenso. Kokain macht einen
Menschen viel furchtloser – für den Augenblick. Das ist ein Grund, warum man
immer wieder darauf zurückgreifen muss. Es wirkt nicht dauerhaft; ganz anders
Mutterliebe, die das tut. Mutter und Vater setzen die Sollwerte für ihren
Nachwuchs ein Leben lang fest. Sie können nicht beschließen, das Kind im Alter
von vierzehn zu lieben und ein Versäumnis im Alter von ein oder zwei Jahren
nachzuholen. Es ist bereits Physiologie geworden. Warum
sollten sich depravierte Menschen nicht an Drogen hängen wollen, die so ein
wunderbares Gefühl erzeugen? Sie versuchen nur, sich zu normalisieren, wieder
zu erschaffen, was seit den ersten Tagen des Lebens fehlt. Sie wollen dieses
warme und benommene Gefühl, das sich überall breit macht. Sie wollen sich
entspannt und wohl in ihrer Haut fühlen. Ich bezweifle ernsthaft, dass ein
Mensch süchtig würde, der normale Oxytozin- und Serotoninspiegel hat. Ich würde
eine Forschungsstudie an Süchtigen bezüglich dieser Werte vorschlagen. (Ich
plane eine Forschungsstudie über Oxytozinspiegel vor und nach der Therapie
unter meinen Patienten.) Was machen
viele New-Age-Therapien? Sie erleichtern zeitweise die durch frühen
Liebesmangel verursachte Sucht, indem sie den Oxytozinspiegel anheben und uns
beruhigen. Massage, Rolfing und und mystische Ideen gehören alle dazu, genau
wie der besorgte, freundliche, interessierte Blick eines Therapeuten. Es ist
nichts falsch daran, sich gut zu fühlen, auch wenn es nur vorübergehend ist.
Aber wir können von den Therapien und Therapeuten abhängig werden, die zur
Anhebung unseres Oxytozin- und Dopamin-Spiegels beitragen. Sie bewirken, dass
wir uns besser fühlen; für den Augenblick. Seite 308 |
Was die
Behandlung der Sucht betrifft, hoffe ich, dass es eines Tages Forschungsstudien
über die gemeinsame Verwendung von Oxytozin und Hirnstammblockern (erste Linie)
wie Clonidin und/oder dem Antianfall-, Antischmerz- Medikament Tegretol gibt.
Meiner Ansicht nach wäre die Kombination bei Sucht, Angst und Panikattacken
wirksam. Während früher Schmerz das System zu Hyperaktivität treiben kann,
steht Oxytozin mehr mit dem entgegengesetzten System, der parasympathischen
Hypoaktivität in Beziehung. Primärtherapie ist im Grunde ein Balanceakt, indem
sie Menschen, die hypo sind, etwas mehr in Richtung hyper bringt und umgekehrt.
Wir machen, was die Natur gemacht hätte, wäre nicht das Trauma
dazwischengetreten. Vasopressin Wie ich dargelegt habe, setzt sich
das autonome Nervensystem, das automatische Funktionen steuert, aus zwei
Sektoren zusammen, dem parasympathischen und dem sympathischen System. Ersteres
wird durch Oxytozin angetrieben, während das sympathische mehr mit Vasopressin
zu tun hat. Einige mögen es „Yin und Yang“ nennen, ich aber bevorzuge den
Namen „Dialektisches System“, da die Dialektik eines der Schlüsselgesetze
ist, die die menschliche Entwicklung regieren. In jedem von uns herrscht ein
Gleichgewicht zwischen dem sympathischen und parasympathischen System.
Vasopressin hat aggressivere Eigenschaften, die uns erlauben, wachsam und auf
der Hut vor Eindringlingen zu sein. Es wird vom sympathischen Nervensystem
dominiert. Tatsächlich sehen wir, wie ich früher erörtert habe, dass das
Geburtstrauma zur Vorherrschaft des einen oder anderen Systems führen kann, was
von der Natur des Traumas abhängt, zum Beispiel schwere Anästhesie der Mutter,
die eine grundlegend parasympathische Prägung beim Neugeborenen erzeugt. Beides
sind Methoden des Überlebens. Aber ein frühes Trauma verschiebt das
Gleichgewicht zwischen diesen Systemen – zwischen Oxytozin und Vasopressin als
jeweiligem Schlüsselelement. Im Fall einer sympathischen Prägung finden wir später
oft obsessiv-zwanghaftes Verhalten. Und Sie ahnen es kaum, bei diesen Störungen
besteht eine Vorherrschaft von Vasopressin (gemessen in der zerebral-spinalen Flüssigkeit).20 Vasopressin hilft männlichen Tieren, mehr Zeit mit ihrem Nachwuchs zu verbringen. Es fördert bei Vätern fürsorgliche Eigenschaften. Wenn wir Vasopressin blockieren, führt das sofort zu weniger väterlichem Verhalten. Direkt in einen Abschnitt des Tiergehirns injiziertes Vasopressin steigerte bei männlichen Wühlmäusen
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väterliches
Verhalten. Ohne das Hormon konnten sie keine liebevollen Väter sein.
Vasopressin bildet das Gegengewicht zu Oxytozin und hat bei Tieren mit
gesteigertem Aggressions- und Territorialverhalten zu tun (gesteuert vom
sympathischen, alarmierenden, antreibenden, mobilisierenden Nervensystem). Wie
Sie sich fühlen, Ihr Einstellung zu Liebe, Elternschaft, Bindung, kann durchaus
von Ihrem Hormonstatus diktiert werden, und der kann von den Sollwerten ihrer
Hormone bestimmt sein, die aus bis zum Mutterleib zurückreichenden Erfahrungen
resultieren. Ihre Einstellungen können sich durch Ermahnungen anderer ändern,
aber Sie werden Ihren Hormonstatus nicht dauerhaft verändern. Sowohl
Vasopressin als auch Oxytozin sind
auf Neuronen lokalisiert; beide scheinen eine Rolle im Reifeprozess des Gehirns
zu spielen. Wenn es also zu einem frühen Trauma kommt, auch im Mutterleib, wird
die Reifung des Gehirns gestört. Der Volksmund sagt: „Er oder sie hat sie
nicht mehr alle.“ Es ist ein anderes Gehirn, zum Teil dank dieser zwei
Neurohormone. Es ist von entscheidender Bedeutung, wenn Synapsen organisiert und
neuronale Netzwerke fixiert werden, dass zur Unterstützung dieses Prozesses
zwischen diesen Neurohormonen ein angemessenes Gleichgewicht besteht. Vasopressin und Oxytozin sind auch
im Stande, die Feuergeschwindigkeit von Einzelneuronen zu ändern. Ihre
Abweichungen unterstützen die Schaffung eines anderen Gehirns, bevor der Fetus
das Licht der Welt erblickt. Es ist nicht unmöglich, dass das andere Gehirn mit
geringerer Wahrscheinlichkeit fühlt und soziale Kontakte herstellt. Wir mögen
sagen: „ Er ist vom alten Schlag. Innerlich
ist er genau wie sein Vater.“ Doch vielleicht gehört er zum „alten
Schlag“, weil der Vater innerlich so war, dass er nicht aus sich heraus
konnte, um sein Kind in die Arme zu nehmen, oder weil der chronisch depressive
Zustand der Mutter in der Schwangerschaft den Fetus nachteilig beeinflusst
hatte. Vasopressin und Oxytozin lassen sich in der Evolution Millionen Jahre zurückverfolgen. Man könnte daraus ableiten, dass Liebe oder Zuneigung oder Bindung für lebende Organismen schon immer wichtig war und der Schlüssel zum Überleben ist. Es ist kein Wunder, dass sie in enger Beziehung zu Sex und Reproduktion steht. Bei sexueller Erregung erreicht Vasopressin seine Spitzenwerte, während Oxytozin bei der Ejakulation kulminiert. Vasopressin-Zellen konzentrieren sich in der Amygdala, in den fühlenden Zentren des Gehirns. Sexuelle Aktivität erhöht den Oxytozinspiegel. Vielleicht ist das der Grund, warum wir uns nach dem Sex und nach inniger körperlicher Zuneigung, so innig wir nur sein können – im Körper eines anderen Menschen – auf den Partner bezogen fragen: „Liebst du mich wirklich?“ Es ist Liebe, die uns zur Reproduktion motiviert. Ohne körperliche Zuneigung gibt es keine Liebe. Bei wenig Oxytozin gibt es keine Zuneigung. Wenn es keine Liebe gibt, Seite 310 |
steht das Überleben auf dem Spiel. Sex und emotionale Zuneigung teilen
diesselben zugrunde liegenden Hormone, nicht zuletzt Oxytozin. Deshalb
verwechselt man sie leicht. Liebe macht uns stark für unsere Nachkommen. Und
Sie brauchen Sex, um die Liebe zu stärken und um Nachkommenschaft zu haben, und
umgekehrt. Das ist die natürliche Folge der Liebe. Was auch leicht verwechselt
wird, ist Liebe und Bedürfnis. Leute, deren frühe Bedürfnisse niemals erfüllt
worden waren, suchen ständig nach Erfüllung und glauben, es sei Liebe, wenn
jemand hilft oder Schutz gewährt. Solange jemand bedürftig ist, wird sie oder
er dieses Bedürfnis mit Liebe verwechseln. Männliche
Ratten, die in den ersten Lebenswochen mit Vasopressin behandelt wurden, waren
später aggessiver zu Fremden, die ihnen zu nahe kamen. Das im Stressfall
freigesetzte Vasopressin kann mit Oxytozin bekämpft werden, was sonderbar ist,
zumal sie sich molekular so nahe stehen, dass sie dieselben Rezeptoren benutzen.
Es scheint, dass sie eine dialektische Einheit bilden, Teil eines übergreifenden,
größeren Systems, das sowohl Stress- als auch Entspannungsreaktionen steuert.
Denn Gefühle umfassen nicht nur diese zwei Neurohormone, sondern gehören zu
einer Reaktionskaskade. Deshalb können Gefühle entlang einer Leiter
hormoneller Reaktionen gemessen werden, die vom Hypothalamus, der Hypophyse und
anderen limbischen Strukturen organisiert werden. Vasopressin
hat Einfluss darauf, welcher Partner bevorzugt wird, und unterstützt bei einigen Tieren die
Auswahl bestimmter weiblicher Partner. Es ist ein wesentliches Element für die
Paarbindung bei Tieren. Es ist auch mit Testosteron assoziiert, das den
Vasopressinspiegel erhöht. In einigen Fällen agiert Vasopressin wie ein
Neurotransmitter.21 Es bleibt im synaptischen Vesikel
eingeschlossen und wird dann in den Kreislauf freigesetzt, wo es Wirkung auf
andere Neuronen ausübt, die dann die Übermittlung von Botschaften (oft
Schmerz) entweder erleichtern oder hemmen. Es ist nie eine gute Idee, sich auf ein Hormon oder eine Substanz zu konzentrieren und zu glauben: „Das ist es.“ Es ist beinahe immer Teil eines großen Systems. Das übergreifende große System ist in den meisten Fällen menschliches Fühlen. Ich habe früher erwähnt, dass Clonidin ( das auf viele Strukturen wirkt, deren wichtigster der Hirnstamm ist), als wir es in einem Experiment mit unseren Patienten anwendeten, ziemlich wirkungsvoll Angst beruhigt und Schlaf gefördert und auch noch das Verlangen nach Zigaretten reduziert hat, indem es die Hirnstamm-Agitation verminderte. Erinnern Sie sich, viele Süchte, einschließlich des Tabaks, werden von Einprägungen der ersten Linie gesteuert. Es sind die dem Hirnstamm und Locus caeruleus eingeprägten ganz frühen Traumen, die gut auf Clonidin ansprechen und sekundär auf seinen Verwandten, das Oxytozin. Anders ausgedrückt können Angst und posttraumatische Stress-Störung (die meisten von uns leiden an dieser Seite 311 |
Störung, wenn sie ein Geburtstrauma durchmachten oder später
ein ernstes Trauma und Liebesmangel erlitten) zum Teil auf gesenkte
Oxytozinspiegel zurückzuführen sein. Es stellte sich auch heraus, dass Östrogen
eine wesentliche Rolle in der Regulierung der Anzahl an Oxytozin-Rezeptoren in
einigen wichtigen Kernen des Gehirns spielt. Oxytozin ist eindeutig nicht die
ganze Geschichte, aber ein sehr wichtiger Teil. Ich
behaupte, Fühlen ist das zentrale Organisationsprinzip menschlichen Verhaltens.
Sie können Fühlen im Gehirn, in der menschlichen Biochemie, in der
Muttermilch, im Speichel und in Rückenmarkspunkturen messen. Wir können es in
Serotonin, Oxytozin, Vasopressin und Dopamin messen. Gefühle sind allumfassend,
und natürlich ist Liebe das Schlüsselgefühl der zwischenmenschlichen
Beziehungen. Man findet sie überall im System, weil Fühlen überall
stattfindet. Wir sind zuallererst fühlende Geschöpfe.
Ich habe
neue Forschungsergebnisse in der Biochemie ausgewählt, um menschliches
Verhalten zu erörtern. Genauso gut hätte ich andere biochemische Substanzen
nehmen können. Das Hormonsystem interagiert mit so vielen anderen Sytemen, in
allererster Linie mit dem Gehirn und seiner Entwicklung. Wenn wir die zentrale
Achse finden wollen, die im Räderwerk des Gehirns alles zusammenführt, was gut
oder schief laufen kann, müssen wir fragen, wo die Liebe oder deren Mangel war.
Wir können ein Leben lang biochemischen Veränderungen nachforschen und nie zu
einer Lösung der Frage gelangen,
warum wir bei bestimmten Hormonen hoch oder niedrig eingestellt sind, warum wir
hohen Blutdruck oder schnellen Herzschlag haben. Wir können keine Lösungen
finden, solange wir es vermeiden, die Art von Liebe zu untersuchen, die früh im
Leben existierte oder nicht existierte. Wir haben uns die Liebe nicht eingehend
genug angeschaut, weil sie ein Gefühl ist, und das macht es schwieriger, sie zu
quantifizieren und zu messen; und für Leute, die von ihren Gefühlen
abgeschnitten sind, die auf der kognitiven Ebene operieren, ist sie ein fremdes
Universum. Wenn wir Liebe und Fühlen in die Gleichung einsetzen, werden wir im
Stande sein, einige entscheidende biochemische Probleme unserer Tage zu lösen.
Ohne Liebe und Fühlen treiben wir weiterhin hilflos umher.
|
Quellenverweise und Anmerkungen N. 1 Die Arbeit von Barry
Keverne von der Cambridge University.
N. 2
Thomas Insel, „A Neurobiological Basis of Social Attachment,”
American Journal of Psychiatry 1554, (6. Juni 1997).
N. 3
Emory University, Atlanta, wie berichtet in “Gene Transplant Turns Mice
into Social Creatures,” International Herald Tribune, 20. August 1999.
N. 4
Thomas Insel, „A Neurobiological Basis of Social Attachment,” s. 732.
N. 5
K. Uvnas-Moberg, “Oxytocin May Mediate the Benefits of Positive Social
Interaction and Emotions,” Psychoneuroendocrinology 23, no. 8 (1998): 825.
N. 6
K. Uvnas-Moberg et al., « Oxytocin as a Possible Mediator of
SSRI-induced Antidepressant Effects, » Psychopharmacology 142, no. 1
(Februar 1999): 95-101. N. 7 Ibid. N. 8 Unsere Forschung 1984
zusammen mit dem St. Bartholomew’s Hospital, London.
N. 9
K. Uvnas-Moberg, “Oxytocin May Mediate the Benefits of Positive Social
Interaction and Emotions,” s. 825. N. 10 Siehe die Arbeit von Michel
Odent, Birth Reborn (New York: Pantheon, 1984).
N. 11
Thomas Insel, „A Neurobiological Basis of Social Attachment.”
N. 12 C. Carter und M. Altemus,
„Integrative Functions of Lactational Hormones in Social Behavior and Stress
Management,“ Annals of the New York Academy of Science.
N. 13 K. Uvnas-Moberg et al., « Oxytocin
as a Possible Mediator of SSRI-induced Antidepressant Effects. »
N. 14 Thomas
Insel hat die Präri–Wühlmaus eingehend studiert.
Siehe
„Voles are Addicted to Love,“ Science News 154 (5. Dezember 1998), s. 367.
N. 15 C. Carter und M. Altemus,
„Integrative Functions of Lactational Hormones in Social Behavior and Stress
Management.“
N. 16 G. L. Kovacs, Z. Sarnyai und
Gyula Szabo, “Oxytozin and Addiction: A Review,” Psychoneuroendocrinology
23, no. 8 (1998): 945-62.
N. 17
Ibid.
N. 18
Ibid.
N. 19
Ibid.
N. 20 K. Uvnas-Moberg, “Oxytocin
Linked Antistress Effects: The Relaxation and Growth Response.” N. 21 C. Barberis und Elaine Tribollet, “Vasopressin and Oxytocin Receptors in the Central Nervous System,” Critical Reviews in Neurobiology 10, no. 1 (1996): 119-54.
|
KAPITEL 18 ÜBER SEXUALITÄT UND HOMOSEXUALITÄT
Eine Studie über Mütter
homosexueller Männer ergab, dass zwei Drittel der Mütter im Vergleich zu
einem Drittel der Mütter heterosexueller Männer in der Lage waren, sich an
stressreiche Ereignisse während der Schwangerschaft zu erinnern. Das enthüllte
zusammen mit anderen Studien ein enormes frühes Trauma im System der Mütter,
deren Nachwuchs schließlich zu homosexuellen Erwachsenen wurde.1
Das ist kein Werturteil. Es entspricht meiner klinischen Erfahrung vieler
Jahre, dass die Zeit im Mutterleib ein echtes Vorspiel für die spätere Persönlichkeit,
das spätere Sexleben und die sexuelle Orientierung ist.2 Ich
bezeichne sie als „aberrant“, weil es aufgrund des Traumas der Mutter zu
einer grundlegenden Abweichung des Hormonsystems kommt. Meine
homosexuellen Patienten haben mir immer wieder erzählt, dass sie sich ab dem
Alter von fünf oder sechs „anders“ fühlten. Sie reagieren vielleicht auf
grundlegende Veränderungen der Biochemie und des Nervenschaltsystems, die in
den ersten Monaten nach der Empfängnis verankert werden. Diese Änderungen können
Tendenzen in Richtung abweichendes Verhalten etablieren. Besonders wenn sie
durch soziale Umstände, zum Beispiel einem abwesenden Vater oder eine
tyrannische Mutter zusätzlich verstärkt werden. Wenn eine Mutter während
der Schwangerschaft sehr ängstlich ist, wird diese Ängstlichkeit durch eine
Anzahl hormoneller Veränderungen vermittelt. Das kann später entscheidende
Wirkung auf die Funktion der Sexualhormone beim Nachwuchs haben. 3 Vor
einigen Jahren untersuchte Gunther Dorner vom Institut für Endokrinologie an
der Humboldt Universität in Deutschland die Beziehungen
Seite 314
|
Veränderungen
im Mutterleib und der späteren sexuellen Orientierung.4
Wenn trächtige Rattenweibchen nicht genug Sexualhormone bekamen, indem es
ihnen künstlich entzogen wurde, kam es zu bleibenden Veränderungen im
fetalen Gehirn, besonders im Hypothalamus. Er fand, dass das Ergebnis in
einigen Fällen Homosexualität beim Nachwuchs war, wenn die Veränderungen
radikal genug waren. Was Dorner aufzeigte, war, dass die spätere Sexualität
aus der Eingravierung, der Einprägung hormoneller Zustände resultiert. Er
legt dar, dass diese Veränderungen dauerhaft in das System geschrieben werden
und bestimmen, wie ein Junge oder ein Mädchen auf hormonelle Veränderungen
in der Pubertät reagieren wird.5 Vieles davon ergibt einen
Sinn, da es die ersten zwei oder drei Monate der Schwangerschaft sind, in
denen die Differenzierung zwischen männlich und weiblich stattfindet. Wenn
man diese auf Hormonen beruhenden Veränderungen ernsthaft stört, kann man
die sexuelle Orientierung signifikant verändern. Es stellte sich zum Beispiel
heraus, dass der weibliche Nachwuchs aggressiver ist, rauhes Spielverhalten
zeigt und dazu neigt, andere Affen zu besteigen, wenn man Rhesusaffen-Müttern
während der Tragezeit zusätzlich männliches Hormon gibt. Wenn es um
Menschen geht, wird die Sache vielleicht komplexer, aber die grundlegenden
Prinzipien sind klar. Aus dieser Art hormoneller Grundlage können sich
zusammen mit einem abwesenden oder misshandelnden Elternteil die Komponenten
für spätere Homosexualität ergeben. Die Veränderungen der
Sexualhormonspiegel können durch Stress der schwangeren Mutter modifiziert
werden, wodurch sich hinterher veränderte Sollwerte ergeben. Homosexualität
nimmt einen so frühen Anfang, dass sie genetisch bedingt scheint. Zumindest
scheint sie dem Homosexuellen „natürlich“.
Von einer
Studie über Sexualprobleme der Amerikaner berichtete die
Los Angeles Times vom 8.
Februar 1999. Sie enthüllte, dass 80 Millionen erwachsene Männer und Frauen
irgendeine Art sexueller Fehlfunktion haben. Viele Frauen im Alter zwischen
achtzehn und fünfundzwanzig sowie auch ältere Männer haben eine niedrige
Libido. Wichtig ist hier, wie tief und wie früh Sexprobleme wurzeln können.
Eine rauchende Mutter und eine schwer anästhetisierte Geburt können das
Neugeborene herunterregulieren, was schließlich einen herunterregulierten
Sextrieb, das heißt, niedrige Libido bedeuten kann. Das Zusammenfließen der drei Traumen – vor, während und unmittelbar nach der Geburt – erzeugt in Angst- oder Schrecksituationen einen überwältigenden Druck auf das Herz. Ein Kind überlebt vielleicht, wird aber zum Bettnässer, da es von alten schmerzgeladenen Hirnstamm-Impulsen überflutet wird. Zwanghafter Sex und Aggressivität sind andere mögliche Ergebnisse. Ein Teil dieses Problems ist die zusätzliche Verstärkung von Impulsen, und ein anderer Teil kann die mögliche Schwächung des frontalen Kortexes aufgrund des Traumas im Mutterleib sein. Bei verringerter kortikaler Verdrängungsfähigkeit kommt es zu Kontrollverlust. Sobald Seite 315 |
das Kind eingeschlafen ist und die Abwehr nachlässt,
kommt der Druck aus dem Hirnstamm nach oben und entlädt sich im Bettnässen. In
der Adoleszenz wird er sich zu sexueller Hyperaktivität wandeln, und der Penis
wir zum Ablassventil für Spannung. Wenn die Kindheit voller Entbehrungen ist,
dann kann sich die Hyperaktivität in unkontrollierte sexuelle Perversion
verwandeln. Das Ergebnis kann ein Pädophiler oder Vergewaltiger sein. Der
Impuls erfährt durch die Einprägung auf der ersten Linie oder Ebene
unkontrollierbare Kraft. Können Sie sich vorstellen, wie wirkungslos
Sexualberatung im Falle ernsthafter Sexualprobleme ist? Ein Mensch mit gehemmter
Entwicklung, dessen Reifeprozess in der Pubertät stehen blieb, wird auf
Beratung nicht reagieren, egal, wie effektiv sie ist. Peter Nathanielsz, der über das
Leben im Mutterleib geschrieben hat, zitiert eine Studie über Sexualität:
„Forscher in Kalifornien haben gezeigt, dass es Probleme im Sexualverhalten
erwachsener männlicher Ratten gibt, wenn sie sich im Fetalstadium in einer
Umwelt entwickeln, die im letzten Drittel der Schwangerschaft etwa die Hälfte
der normalen Sauerstoffmenge im Blut der Mutter aufweist.“ 6 Das
ist eine sehr wichtige Studie, weil sie wiederum herausstellt, dass
Sauerstoffentzug im Mutterleib Auswirkung auf späteres sexuelles Funktionieren
hat. Meiner Meinung ist es nicht nur Sauerstoffentzug; es kann jedes bedeutende Trauma sein.
Sexuelles Funktionieren wird kurz gesagt vom Leben im Mutterleib beeinflusst.
Des Weiteren müssen wir über den sexuellen Bereich hinausschauen, wenn wir
sexuelle Probleme wirklich verstehen wollen.
Sexprobleme sind nicht einfach
Sexprobleme. Der Körper reagiert in seiner Ganzheit, wenn
irgendein früher
Schmerz verdrängt wird, so dass es zu genereller Verdrängung kommt, und das
schließt den Sexualtrieb ein. Die Umwandlung eingeprägten Schmerzes in, wie
ich beobachtet habe, starken oder schwachen Sexualtrieb findet im Hypothalamus
und anderen limbischen Strukturen statt. Kleiner Junge - völlig verloren Ein Patient von mir verlor seine Zwillingsschwester durch eine Explosion, als er neun war. Die beiden hatten eine enge, warmherzige Beziehung. Der Tod war so plötzlich, so gewaltsam und unerwartet, dass sich der Verlust unbewusst einprägte. In unserer Sitzung war er in seinem Feeling versunken und flehte seine Schwester an, ihn nicht zu verlassen. Er erkannte, dass er in jeder weiblichen Beziehung, die er bis zu diesem Zeitpunkt gehabt hatte, nach seiner Schwester suchte.
Seite 316 |
Bis vor kurzem genoss er eine gute Beziehung mit einer Frau. Eines Nachts, nach intensivem Küssen und Umarmen, zog sie ihre Bluse und ihren BH aus und zog ihn auf die Couch. Er verfiel augenblicklich in einen Zustand von Schock und Ekel. Die Handlungen seiner Freundin trugen ihn über die Wärme und Kameraderie hinaus, die er mit seiner Schwester geteilt hatte. Es stellte sich heraus, dass er ein halbes Dutzend Beziehungen hatte, die scheiterten, als sie sexuell zu werden drohten. Sein Ausagieren bestand darin, weibliche Kameradschaft zu suchen und sie dann zurückzuweisen. Er war noch immer der kleine Junge, der nach seiner Schwester suchte, die ihn tröstete, wenn seine Mutter grausam war. Sie war seine ganze Zuflucht.
Angst ist ein Signal dafür, dass
sich das ursprüngliche Ereignis oder Feeling dem Bewusstsein annähert. Alle
Systeme beziehen sofort Wachposten gegen das volle Bewusstsein und gegen die
Verknüpfung. Energie bewegt sich zur Frontalzone des Kortexes, um die Gefahren
zu melden, aber der Kortex kann die erschütternde Nachricht nicht hören, und
sie wird vom Thalamus und Hypothalamus zu den tieferen Zentren des Gehirns zurückgeschickt,
wo sie uns in große Unruhe versetzt und unsere Sexualität ändert. Angst ist
ein vages, gestreutes Symptom, weil auch sein Ursprung so beschaffen ist. Ursprünglich
war da ein körperliches Unbehagen, das dem Baby widerfuhr, lange bevor es die
Gehirnkraft besaß, ihm auch nur einen Namen zu geben. Die aktuelle Behandlung
dafür ist wieder eine vage, globale, nicht punktgenaue Therapie – ein
Beruhigungsmittel. Es unterdrückt Agitation allgemein. Hierin liegt ein
Dilemma. Das Gefühlserlebnis ist eine totale körperliche Reaktion, während
die zugrunde liegende Kraft des Schreckens zu einem spezifischen Ereignis oder
einer spezifischen Reihe von Ereignissen gehört. Was wir tun müssen, ist, das
vage Symptom auf etwas Spezifisches zu richten. Es entspricht meiner Erfahrung,
dass Angst kein genetisches Gesetz ist. Sie geschieht aufgrund von
Erfahrung.
Wir müssen herausfinden, was
dahinter steckt. Andernfalls sind wir gezwungen, es mit der
Schrotflinten-Methode zu versuchen und alle Sorten global wirkender,
nichtspezifischer Tranquilizer anzuwenden, um dann auf das Beste zu hoffen.
Angst ist kein Mysterium; es ist eine Erinnerung! Viele Leute, die tyrannische Väter
hatten, stellen fest, dass angesichts von Zorn eines anderen eine alte Angst
hochkriecht, die der Situation total unangemessen ist. Die Furcht-Einprägung
wird ausgelöst und als Reaktion ist man unfähig, die Person zu konfrontieren.
Es bedarf nicht vieler gereizter Ermahnungen oder zorniger Blicke eines
Elternteils, um die Furcht eines kleinen Kindes fest einzuzementieren. Wir als
Erwachsene neigen dazu, das zu vergessen. Warum bleiben wir abgeschaltet und
leben in einer grauen Welt? Es geschieht, weil die Einprägung in unserem
neuralen Unterholz liegt und unserer Leblosigkeit Kontinuität verleiht. Die
Leblosigkeit zu fühlen lässt uns lebendig werden, weil wir fühlen. Zu oft
handeln wir einfach „wie tot“, was uns davon abhält, sie zu fühlen. Seite 317 |
Wut und die Impulsiven Wut ist ein Beispiel für Gefühle,
die sich nicht einfach durch Beratung entfernen lassen. Im Wut-Management lernt
man, wie man sich selbst unter Kontrolle hält. Aber das kann die eingeprägte
Wut nicht auslöschen. Wut-Management impliziert, dass Wut andauert und ständige
Kontrolle erfordert. Wut muss nicht dauerhaft sein. Wenn der Patient nicht gegen
einen brutalen, grausamen Vater oder gegen die Frustration, als er bei der
Geburt blockiert wurde, im historischen Kontext auf die gepolsterten Wände
einschlagen und schreien und brüllen kann, wird die Wut bleiben. Wut ist kein
Geschäft, das sich verwalten lässt. Studien haben herausgefunden, dass
Kinder mit gewalttätiger Kindheit später im Leben zu Gewalttätigkeit neigen.
Das kann auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass frühe Gewalt eine
deutliche Narbe in der Chemie des Gehirns hinterlässt und als Ergebnis das
Serotoninsystem an Wirkung verliert. Das schwächt die Verdrängung aggressiver
Impulse.7
Es gibt viele Studien, die niedrige
Serotoninspiegel in einer Vielzahl von Personenkategorien aufzeigen: Selbstmörder,
Mörder, Zwanghafte und andere. Die Forscher ziehen dann oft den Schluss, dass
Menschen suizidal sind, weil sie aufgrund eines genetischen Ungleichgewichts
wenig Serotonin haben. Dann verschreiben sie vielleicht Pillen, die die
Serotoninproduktion ankurbeln, weil sie glauben, das bringe das System wieder
ins Gleichgewicht und sei deshalb die Therapie der Wahl. Das System kommt
dann wieder ins
Gleichgewicht, wenn wir uns mit den frühen Traumen befassen, die es zuerst
destabilisiert haben. Warum besteht das Ungleichgewicht
nach emotionaler Deprivation oder nach einem Trauma Jahrzehnte weiter? Wegen der
Einprägung. Beachten Sie, dass es die impulsgesteuerte Person ist (niedrige
Spiegel hemmender Neurotransmitter), die
in Selbstmord und Mord verwickelt ist. Es sind die unartikulierten Impulse des
Hirnstamms (erste Linie), die dieses Verhalten steuern. Individuen, die sowohl ein Geburtstrauma als auch spätere emotionale Deprivation erlitten hatten, neigten, wie sich herausstellte, im Vergleich zu jenen, die keine ähnlichen traumatischen Erfahrungen hatten, mit sechsfacher Wahrscheinlichkeit zu gewalttätigen Delikten. „Ein Faktor allein,“ stellten die Autoren Adrian Raine, Patricia Brennan und Sarnoff Mednick fest, „erhöhte das Risiko (gewalttätiger Delikte) nicht sonderlich, aber die zwei zusammen scheinen beinahe wie eine
Seite 318 |
chemische Reaktion.“ 8
Diese Studie sagt uns viel über die Beziehung zwischen einem zusätzlich verstärkten
frühen Trauma und späterer Geisteskrankheit und antisozialem Verhalten. Es hat
sich herausgestellt, dass ein Geburtstrauma in Verbindung mit früher mütterlicher
Zurückweisung zu einem gewalttätigen Verbrechen führen kann, wenn das
Individuum das Alter von achtzehn Jahren erreicht hat. Das war aber nicht bei
denen der Fall, denen mütterliche Zurückweisung ohne das Geburtstrauma
widerfahren war.9 Wenn wir nach Lösungen für die hohen
Selbstmord- und Mordraten suchen, sollten wir besser unsere vorgeburtliche
Hygiene und unsere Geburtspraktiken anschauen. Allein die zu verbessern, wird an
der unnötig hohen Zahl von Todesfällen in der Gesellschaft etwas ändern. Und
dabei sind die Todesfälle wegen chronischen Trinkens und Rauchens noch gar
nicht erwähnt. Zigaretten sind ein exzellenter Blocker der ersten Linie, indem
sie die Sekretion endogener Schmerztöter fördern.
Die
Erinnerung an eine Reaktion des Hirnstamms - wie tiefes oder flaches Atmen als
Ergebnis früher Anoxie - ist
eine Hirnstamm-Reaktion. Das ist die Bedeutung von
Erinnerung. Die Reaktionen finden dort statt, wo die Erinnerung abgelegt war,
und die Reaktionen dauern an und werden zu lebenslangen Mustern, die sich von
diesen tieferen Strukturen ableiten. Der Körper erinnert sich auf seine eigene
Art, auf seiner eigenen Ebene, genau wie das Limbische System sich auf fühlende
Weise erinnert. Um es klar
zu sagen, Reaktionen wie zum Beispiel schneller Herzschlag sind die zur ersten
Ebene gehörende Komponente eines Gefühls. In der Schule einen Bericht zu präsentieren,
sollte keine Herzfrequenz von 180 Schlägen pro Minute erzeugen, aber das
Ereignis, das sie auslöste, nämlich der Schrecken, als die Person einen Tag
nach der Geburt allein gelassen wurde, sollte es. Hoher Blutdruck kann deshalb
durchaus die Erinnerung eines frühen Traumas sein, das in Strukturen des
Hirnstamms eingeprägt ist. Hirnstamm-Blocker normalisieren den Blutdruck.
Schneller Herzschlag, Herzklopfen und hoher Blutdruck sind alle Teil einer
Erinnerung; es fehlt nur der richtige Zusammenhang. Diese Herzfrequenz als die
wirkliche Krankheit zu behandeln, bedeutet, das Ziel zu verfehlen. Unterdessen
kommen Linderungsmittel zur Anwendung; Linderungsmittel haben ein Hauptmerkmal:
Man muss sie immer wieder anwenden. Wenn wir uns davor fürchten, mit
dem Aufzug zu fahren, sollte man uns nicht von dieser Furcht abbringen; man
sollte uns davon überzeugen, dass wir sie im Zusammenhang fühlen müssen. Es
gibt keine große Furcht, die dem System ohne Grund innewohnt. Wenn wir
versuchen, sie zu besiegen, machen wir sie uns zum Feind. Sie ist eine Freundin,
die uns von unserer Lebenserfahrung erzählt, von Erfahrungen, die wir vergessen
haben, und von Schmerz, den wir begraben haben. Sie ist befreiend. Sie trägt
den Schlüssel zur Freiheit. Wenn wir diesen Schlüssel finden wollen, müssen wir zuerst die
Archive der persönlichen Geschichte durchsuchen und herausfinden, was diese
Geschichte birgt. Seite 319 |
Im Verlauf
eines Urerlebnisses griff eine Patientin plötzlich nach der Hand eines meiner
Therapeuten. Der Therapeut zog seine Hand zurück – ein Fehler, denn was sie fühlte,
auch wenn sie es nicht artikulieren konnte, war: „Wenn ich mich jetzt
nirgendwo festhalten kann, werde ich sterben.“ Sie brauchte diesen Kontakt, um
den äußersten Schrecken in ihr zu besänftigen. Schlaf-Apnoe,
bei der die Atmung zeitweise aussetzt, ist eine mögliche Reaktion auf die
Erfahrung von Anoxie (Sauerstoffentzug) bei der Geburt, wie es auch bei einem Kind der Fall ist, das
den Atem anhält, weil es seinen Willen durchzusetzen versucht. Die Geschichte
lenkt das Bedürfnis. Den Patienten im Hier-und-Jetzt zu behandeln, ist nicht
progressiv, weil der Patient sich im Dort-und-Damals befindet. Nur seine
Symptome sind im Hier-und-Jetzt. Auf Fotos
eines Geburtstraumas (die in einem früheren Buch des Autors gezeigt wurden),
zeigten sich die Fingerabdrücke des Geburtshelfers tatsächlich wieder auf den
Beinen einer Patientin. Als ich dieses Phänomen zum ersten Mal sah, war ich so
skeptisch, wie jetzt sicherlich viele Leser sind. Aber es geschieht, und es ist
kein Zufallsereignis. Solche Phänomene sind die Begleiterscheinung der
Erinnerung. Wenn einem bei der Geburt der Hals verdreht wurde, dann kann die
Neigung zu Symptomen im Halsbereich ein Leben lang fortbestehen. Den Hals schief
zu halten, kann eine lebenslange Folge sein. Einige meiner männlichen Patienten
berichten von einem schneidenden Gefühl an der Spitze ihres Penises, wenn sie
Zeuge eines Unfalls werden oder von einer Messerattacke lesen. Beschneidung kann
hier der eingeprägte Auslöser sein. Kein Kind sollte beschnitten werden (wenn
überhaupt), bevor es groß genug ist, um das zu verstehen und zu wollen. Einem
Baby aus ihm nicht ersichtlichen Grund Schmerz zuzufügen, kann sehr traumatisch
sein. Das spielte bei einem Homosexuellen, den ich behandelte, eine Rolle. Sein
Penis war angegriffen, und das hielt ihn zusammen mit anderen Gründen lange von
Sex ab. Später sah er seine Beschneidung als Strafe für seine sexuellen
Impulse an. Alle Straßen
führen zum Schmerz. Das Ziel der Primärtherapie ist jedoch nicht Schmerz. Es
ist Freude, Zufriedenheit und ein gutes Leben. Schmerz ist nur der Eingang. Eine
meiner Patientinnen, Sarah, findet Trost in der Gewissheit, dass die
Erleichterung auf der anderen Seite des Schmerzes liegt. Sarahs Geschichte Heute Morgen wachte ich um etwa 4:45 mit einer Angstattacke auf. Die vergangene Woche ist das fast täglich passiert. Das Feeling ist, dass ich mich sehr, sehr Seite 320 |
fürchte. Ich habe es mein ganzes
Leben lang verspürt, aber ich wusste nie, womit es zu tun hatte. Jetzt weiß
ich es, und wenn ich mit diesem Terror aufwache, beginnt sofort ein interner
Dialog: „Du weißt, was das für ein Gefühl ist, Sarah. Dein
Mutterleib-/Geburtstrauma schießt ins Bewusstsein durch. Es ist okay.“ Dass ich das
weiß, macht einen riesigen Unterschied, weil es mich wahnsinnig gemacht hat,
dass ich es nicht wusste. Mit einem Gefühl, das eine Ursache hat, kann ich
umgehen, aber ein Gefühl ohne offensichtlichen Grund macht den Verstand und die
Emotionen verrückt. Das Gefühl beginnt mit Panik, dann wird mir schlecht im
Magen. Die Brechreiz-Schübe halten an. Ich muss aufstehen und herumgehen, bevor
mein Körper sich beruhigt und dieses Gefühl allmählich abschüttelt. Wenn ich
an diesem Gefühl dran bleibe und nicht aus dem Bett springe, intensiviert es
sich einfach. Meine oberen
Schultern und mein Nacken fangen an weh zu tun, und dann beginnt der Schmerz
auch im Gesicht. Ich weiß,
dass dies ein großes Gefühl ist, und ich bin nicht gewillt, es zuhause alleine
zu erleben. Kürzlich kam mir der starke Verdacht, dass ich mich übergeben würde,
wenn ich dieses Gefühlserlebnis schließlich zulassen würde. Dem sehe ich
nicht freudig entgegen, aber die Erleichterung, die es bringt, wiegt weit mehr
als jeglicher Verdruss. Diese Gewissheit gibt mir den Mut, mich in die
schrecklichsten Gefühle fallen zu lassen. Auf der anderen Seite dieser Gefühle
liegt Erleichterung und Befreiung, etwas, was ich mir mein ganzes Leben gewünscht
habe.
|
Quellenverweise und Anmerkungen N. 1 Siehe D. F. Swaab und
M. A. Hoffmann, „Sexual Differentiation of the Human Hypothalamus in Relation
to Gender and Sexual Orientation,“ Trends in Neurosciences 18 (1995): 264-70.
N. 2
G. Dorner et al., « Stressful Events in Prenatal Life of Bi- and
Homosexual Men, » Experimental and Clinical Endocrinology 81 (1983):
83-87.
N. 3
I. L. Ward, “Prenatal Stress Feminizes and Demasculinizes the Behavior
of Males,” Science 175 (1972): 82-84.
N. 4
Ibid.
N. 5
G. Dorner et al., « Stressful Events in Prenatal Life of Bi- and
Homosexual Men. »
N. 6
Siehe die Originalstudie: R. H. M. Hermans et al., „Altered Adult
Sexual Behavior in the Male Rat Following Chronic Prenatal Hypoxia,“
Neurotoxicology and Teratology 15 (1993): 353-63.
N. 7
Siehe Science News, 27. Juni 1995.
N. 8
A. Raine, P. Brennan und S. A. Mednick, „Interaction between Birth
Complications and Early Maternal Rejection in Predisposing Individuals to Adult
Violence: Specificity to Serious, Early Onset Violence,” American Journal of
Psychiatry 154, no. 9 (September 1997): 1265-71. N. 9 Ibid |
KAPITEL 19 WAS HAT LIEBE DAMIT ZU TUN?
Geschichte, Geschichte, Geschichte.
Einprägung, Einprägung und Liebe. Wie lieben Sie ein Gehirn? Sie erfüllen die
Grundbedürfnisse von Menschen, und das Gehirn sowie der Körper werden sich
anschließen; denn Liebe ist nicht einfach etwas Gedankliches oder Verbales. Sie
befindet sich in allen unseren Geweben, Hormonen und Organsystemen. Das Gehirn
organisiert die Liebe und verbreitet ihre Freuden überall im System. Sie sagt:
„Nicht zu viele Stresshormone,“ „Nicht zu viele erregende
Neurotransmitter;“ gerade genug, um uns wach und wachsam zu halten. Wenn es
Liebe gibt, genügend Sauerstoff bei der Geburt, große Sorgfalt der Mutter in
der vorgeburtlichen Zeit, Halten, Berühren, Pflegen, Harmonie, Zuhören, Lob
und Ermutigung, wird sich das System selbst ins Gleichgewicht bringen. Wenn wir
spätere Drogensucht und Alkoholismus vermeiden wollen, brauchen wir ein Gehirn,
das effektiv verdrängt, und das bedeutet ein geliebtes Gehirn. Serotonin ist
ausreichend vorhanden, wenn es am Lebensanfang Liebe gibt, und es reicht nicht
aus, wenn es diese Liebe nicht gibt. Wir können Nein zu Drogen sagen, aber ich
denke nicht, dass wir Nein zu unserer Neurobiologie sagen können. Wir brauchen
eine neue Einstellung zur Liebe. Es sind nicht einfach zärtliche Worte, was wir
brauchen. Wir dürfen die Mutter und damit das Neugeborene nicht anästhetisieren,
so dass Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sich ein Leben lang einprägen und
ein abweichendes Gehirn erschaffen. Wir müssen eine Kampagne gegen Rauchen und
Trinken in der Schwangerschaft arrangieren. Die Mutter raucht, der Fetus keucht.
Die Mutter trinkt, und der Fetus wird betrunken. Können Sie sich vorstellen,
was der Fetus durchmacht, ‚besoffen’ Seite 323 |
Es gibt die
Ein-Recht-auf-Leben–Leute, die wollen, dass Frauen, die vergewaltigt worden
sind und/oder ihre Babys wirklich nicht wollen, kein Recht auf Abtreibung haben. Nichtsdestotrotz zeigt die Forschung,
dass ungewollte Kinder viel weniger Chancen haben, ein normales Leben zu führen.
Das zwingen wir Frauen auf: psychisch behinderten Nachwuchs zu gebären. Das
Recht auf Leben sollte das Recht auf ein normales, glückliches Leben bedeuten.
Ein Kind, das aus welchen Gründen auch immer unerwünscht ist, setzt die Mutter
unter Stress. Ihr Kortisolspiegel sind kontinuierlich hoch. Das Ergebnis kann
eine Frühgeburt sein und alle Komplikationen, die mit unzulänglicher
Gehirnentwicklung in Zusammenhang stehen. Ein Baby zu lieben bedeutet, dass
seine Rechte an erster Stelle stehen. Wenn eine schwangere Mutter einen Drink
braucht, muss sie zuerst an die Auswirkungen auf den Fetus denken. Wenn sie Diät
machen will, um ihre Figur zu halten, muss sie an die Mangelernährung des
Fetuses denken, und daran, wie dies das Gehirn schädigen wird. Es ist schwer,
jemand anderen an erste Stelle zu setzen, wenn wir selber so schrecklich bedürftig
sind. Wenn wir
neue menschliche Geschöpfe mit einem stabilen Gehirn erzeugen wollen, müssen
wir die Geburtspraktiken in Übereinstimmung mit den Drs. Leboyer und Odent ändern.
Wir müssen in der vorgeburtlichen Phase und natürlich in den ersten Monaten
nach der Geburt große Sorgfalt walten lassen. Das heißt, in einer Zeit, in der
das Gehirn neue Synapsen und Dendriten bildet; sein Kommunikationssystem
entwickelt sich, das dem Kind ermöglicht, in vielen Bereichen – körperlich,
künstlerisch und intellektuell – mehr als kompetent zu sein. Ich habe Kinder
gesehen, die von Müttern geboren wurden, die vor, während und nach der Geburt
sehr sorgfältig und liebevoll waren. Diese Kinder sind anders. Sie sind rege,
klug, körperlich fortgeschritten, nicht krank, nicht weinerlich, sie sind
kreativ, warmherzig und kuschelig. Wer wollte noch mehr? Sie haben alle Chancen
im Leben, und aus dem Grund wurde dieses Buch geschrieben – um der
Gesellschaft die Chance zu geben, eine neue Art Mensch zu schaffen. Es ist gar
nicht so schwierig. Es ist eine Methode, wie wir späteren Alkoholismus und spätere
Sucht, Kriminalität und Psychose vermeiden. Es ist eine Methode, Menschen zu
schaffen, die sich um ihre Brüder und Schwestern in der Gesellschaft kümmern. Ich bin beeindruckt von der Vorstellung, wie leicht das zu erreichen ist, was ich hier erörtere. Es ist viel leichter, als Gefängnisse und psychiatrische Kliniken zu bauen, in denen wir uns um die Folgen der Fehler kümmern, die wir in der Kindererziehung bereits gemacht haben. Worüber die meisten von uns schreiben, hat damit
Seite 324 |
zu tun, wie man sich mit den Kompensationsmechanismen frühen
Liebesmangels arrangiert. Wir stutzen die Migränen, den Vergewaltiger, den
Drogensüchtigen und den Voyeur zurecht, den Bluthochdruck und den Zähneknirscher,
den Zorn, der außer Kontrolle geraten ist, und den Depressiven. Wir müssen
anfangen, uns mit den Ursachen zu befassen, bevor es zu einem abweichenden,
abnormen Gehirnsystem kommt, das abweichendes Verhalten erzwingt. Wir müssen
die ganz tiefen, viszeralen Wurzeln der Angst verstehen, jene äußerst
primitive Reaktion, die tiefgelegene Sektoren des Gehirns involviert. Wir können
versuchen, sie durch Ermahnung, Moralpredigt, Einsichtstherapie oder Medikamente
zu bekämpfen, aber wäre es nicht besser, auf diese tiefen Ebenen
hinabzusteigen und die Wurzeln der Angst auszureißen? Es ist machbar.
Zuallererst müssen wir unsere Geburtspraktiken ändern. Hören wir auf, Mütter
bei der Geburt unter Drogen zu setzen. Für alle meine schwer rauchenden
Patienten war das Geburtstrauma ausschlaggebend. Dasselbe gilt für die
Alkoholiker. Gestern
interviewte ein Fernseh-Team einige meiner Patienten. Sie fragten: „Erschreckt
Sie nicht, was Sie da tun?“ Sie
verneinten einstimmig; es ist erschreckend, es nicht zu tun, weil es dann
chronisches Leiden bedeutet. Sie alle sagten, dass sie ihre Therapiesitzungen
gar nicht erwarten können, weil sie Erleichterung bedeuten. Ich habe mir
keine Theorie über eine Einprägung ausgedacht. Ich habe jeden Tag gesehen, was
fehlende Liebe den Leuten antut, und wie sie vierzig oder fünfzig Jahre in
ihrem System verharrte; wie diese
frühen Traumen in reiner Form erhalten bleiben, unberührt von jahrzehntelanger
Erfahrung. Ich höre es jeden Tag in den Schreien meiner Patienten, die ihre
realen Bedürfnisse ihren Eltern gegenüber ausdrücken: „Halte mich. Will
mich. Hör’ mir zu. Lobe mich. Führe mich. Sei bei mir.“ Was sie nicht mit
Worten ausdrücken können, erleben sie in der unartikulierten Agonie aus präverbalen
Schmerzen wieder. Ihr Körper drückt die Angst und das Unwohlsein aus. Wir müssen
uns wieder daran orientieren, wie der Körper sich auf seine eigene Art ausdrücken
kann. Durch hohen Blutdruck, der sagt: „Ich stehe unter Druck.“ Durch Migränen,
die sagen: „Meine Blutgefäße ziehen sich zusammen und erweitern sich auf
Grund von Sauerstoffmangel bei der Geburt.“ Was können
wir an den Folgen frühen Liebesmangels ändern? Ich glaube, das Wiedererleben
der Qual, die hinter fehlender Liebe steckt, erlaubt dem Gehirn, Rast zu machen
und sich zu erholen. Es scheint logisch, nachdem man meine fortgeschrittenen
Patienten gesehen hat, dass es dem Gehirn irgendwie sehr gut geht, wenn es nicht
unter Schmerzbelastung steht. Das Gehirn kann nicht von allen seinen frühen
Beeinträchtigungen genesen, aber diese Individuen können ein glückliches und
produktives Leben führen. Wir sehen an den Fallgeschichten, wie sie Drogen und
Alkohol vermeiden können. Wir befassen uns mit diesen Problemen niemals um
ihrer selbst willen. Wir befassen uns mit dem Schmerz; alles Übrige ergibt
sich. Ja, man muss sich mit Symptomen befassen, aber nicht als endgültige
Therapie. Seite 325 |
Das sind die entscheidenden Konzeptionen, die enthalten sein
müssen, wenn man sowohl physische als auch psychische Probleme ansprechen will.
Ohne sie sind wir in eine phänotypische, Symptome erleichternde, am äußeren
Schein orientierte Therapie eingesperrt, die bestenfalls flüchtige Erfolge
bringt. Diese Therapien sind nur handlungsorientiert. In der
handlungsorientierten Therapie müssen Sie die früh eingeprägten Dämonen zurückschlagen.
Per Definition kann sie keine Langzeitwirkung haben, weil die Einprägung immer
gegenwärtig ist und uns an unerledigte Geschäfte erinnert. Die Einprägung ist
ein Überlebensmechanismus und sollte immer anwesend sein. Sie erlaubt uns, in die Geschichte zurückzugehen,
zurück in eine Zeit, als wir mit sechs Monaten oder mit einem Jahr keinen Körperkontakt
hatten, und diese Geschichte wiederzufinden und ungeschehen zu machen, indem wir
das Bedürfnis hinausschreien, unsere Hände nach Mami ausstrecken, flehend,
bittend (mit dem neu entwickelten kortikalen Gehirn), und indem wir die Verdrängung
dieses Bedürfnisses überwinden, eines Bedürfnisses, das zu Schmerz wurde,
weil ihm die Erfüllung versagt blieb. Meine
Vermutung geht dahin, dass Patienten sich auch in vorgeburtliche Ereignisse
einklinken, wenn sie das Geburtstrauma wiedererleben, und es kann gut sein, dass
das Wiedererleben beide Zeitperioden umfasst. Jede sich entwickelnde Ebene der
Gehirnfunktion umfasst die vorangegangene. Eine hormonelle Veränderung bei
einer deprimierten Mutter zu einem Zeitpunkt, da der Fetus fünf Monate alt ist,
kann sich bei der Geburt durch schwere Anästhesie verschlimmern, mit der sich ein nur geringfügig verfeinertes
und weiter entwickeltes Gehirnsystem auseinandersetzen muss. Beide Ereignisse
und viele weitere werden das kleine Kind permanent herunterregulieren. Wir dürfen
niemals denken, dass früher Schmerz nicht kodiert und gespeichert werden könne,
weil es für ihn keine Worte gebe. Vielleicht müssen wir Jahrzehnte warten, bis
wir Gefühle mit einem Etikett versehen können, aber es wird geschehen. Es ist die
alte philosophische Frage: Sind wir glücklich, wenn wir denken, dass wir es
sind? Sind wir geheilt, wenn wir es denken? Nein! Wir sind geheilt, wenn der Körper
seine Aussage macht. Er spricht seine eigene Sprache mittels chemischer
Substanzen; die sind auch „wir.“ Wir sind nicht nur ein kortikales Gehirn.
Wenn jemand einen hohen Stresshormon-Spiegel aufweist, sagt der Körper:
„Nein, du bist nicht gesund.“ Ein Urgrund
für die Entwicklung des frontalen Kortexes bestand darin, unangenehme
Wahrheiten weit von uns zu halten. Wenn wir die Kodierung und Speicherung von
Gefühlen erkennen, können wir allmählich verstehen, warum wir so sind, wie
wir sind. Wenn wir lernen, bei unserer Therapie der Evolution des Gehirns zu
folgen, werden wir viel weiter kommen. Das Feld der Psychotherapie hat die Einprägung
und die Evolution weitgehend ignoriert, weshalb der Schwerpunkt auf der
Gegenwart, auf Verhalten und auf Symptomen liegt.
Seite 326 |
Wenn die
Sauerstoffexperimente an der UCLA sonst keinen Zweck erfüllen, so sollten sie
doch den deutlichen Beweis für die Elastizität und anhaltende Kraft der frühen
Erinnerung erbringen. Weiterhin bedeutet es, dass wir uns wiedergefundene
Erinnerung noch einmal anschauen müssen. Es gibt Methoden, sie zu verifizieren.
Lassen wir unsere Patienten dadurch nicht noch mehr leiden, dass wir ihrer
Geschichte über Missbrauch keinen Glauben schenken. Das ist keine Therapie, das
ist Moralpredigt. Es ist keine Sache unseres persönlichen Glaubens. Es ist
unser Job, die historische Realität aufzuspüren, wohin auch immer sie uns führen
mag. Therapeuten können sagen, dass ein Patient ein Trauma vortäuscht,
erfindet, dass er hysterisch ist, und so fort.
Aber solange Therapeuten keinen tiefen Zugang zu sich selbst haben, können
sie die Wahrhaftigkeit des Patienten nicht beurteilen. Bis dahin können sie dem
Patienten durch derart bewertendes Verhalten einen äußerst schlechten Dienst
erweisen. Denken Sie daran, Wahrhaftigkeit resultiert aus Wiedererleben und
nicht aus Wiedererzählen. Wiedererleben erzeugt exakt dieselben früheren
Vitalwerte, wie sie während des Traumas aufgetreten waren. Es gibt eine
wichtige Methode, wie wir erkennen können, dass eine Wiedererlebens-Episode
zutreffend ist und dass die Einprägung existiert. Befindet man sich einmal
vollständig mit Körper und Seele in einer Erinnerung und erlebt die
Verminderung der Sauerstoffzufuhr bei der Geburt, handelt das System, als sei
dieses enorme Bedürfnis nach Sauerstoff gegenwärtig, und akzeptiert tiefes,
schweres Atmen ohne Hyperventilations-Symptome. Aber wenn jemand sich auf
intellektueller Ebene an den Sauerstoffmangel erinnert und dann willkürlich
schnell und tief atmet, kommt es zum Hyperventilations-Syndrom. Deshalb heilt
totales Erinnern, während intellektuelles Erinnern, auch wenn es unter Tränen
geschieht, nicht heilt. Es ist der Unterschied zwischen dem Weinen über und dem
Weinen innerhalb einer Erinnerung. Ich habe die
unteren Gehirnebenen viele Male auf andere Art in Aktion gesehen (und wir haben
es gefilmt). In einer Sitzung vibrierten die Füße eines Patienten fünfunddreißig
Minuten lang mit über 100 schnellen Bewegungen pro Minute, was er später durch
keinen Willensakt auch nur ansatzweise nachvollziehen könnte. Aber, sagen Sie,
das ist dasselbe wie Hypnose. So ist es. Hypnose zapft tiefere Ebenen an, indem
sie uns durch Vorstellungskraft von kritischem kortikalen Denken abbringt. In
unseren Sitzungen ist der Körper auf Automatik und reagiert instinktiv. Falls
nicht, kann das, was ich gerade beschrieben habe, nicht ablaufen. Was trieb
diese Vibration an? Es war ganz früher Terror, den er nur fühlen konnte, als
er zu den Hirnstamm-Erinnerungen des Geburtsterrors hinabstieg. Sind wir im Grunde zornige, tobende Monster, oder sind wir freundliche und edle Miezekätzchen? Weder noch und beides zusammen. Wir werden mit Fähigkeiten geboren, die Millionen Jahre zurückdatieren. Wenn das System geliebt und nicht traumatisiert wird, ist es freundlich und edel und nicht hasserfüllt und aggressiv. Seite 327 |
Wenn ein
kleines Kind ständig frustriert wird, wird es zu einem zornigen Kind und
Erwachsenen werden. Das Kind reagiert auf eine Verletzung, und es wäre die äußerste
Verleugnung, wenn es vorgeben würde, es sei nicht verletzt worden.
Verknüpfung
ist Heilung. Die Wunde, die wir heilen müssen, ist der Mangel an Liebe. Die Heilungsmethode besteht darin,
diesen Mangel zu erfahren. Wenn wir uns weh tun, eilt das System augenblicklich
herbei und leitet die Heilung ein. Wenn wir uns schneiden, wird der epidermale
Wachstumsfaktor produziert, um die Heilung zu unterstützen. Wenn wir uns
emotional weh tun, eilen die Kräfte der Verdrängung herbei, um uns ruhig und
am Funktionieren zu halten. Dann versucht der eingeprägte Schmerz ständig,
sich mit dem frontalen Bewusstsein zu verknüpfen, um die Heilung einzuleiten.
Das System weiß, dass dies zur Heilung nötig ist. Alle unsere Messungen
zeigen, dass Verknüpfung heilt, sei es die dauerhafte Senkung des Blutdrucks
oder die anhaltende Reduzierung der Stresshormone. Schmerz ist ein Segen. Wenn
er gefühlt wird, setzt er die Kräfte der Heilung in Bewegung.
Um Liebe zu fühlen, müssen
Sie sich zuerst ungeliebt fühlen.
Das öffnet das System, so dass es jetzt Liebe empfangen kann. Es scheint
paradox, aber sich ungeliebt zu fühlen, lässt Liebe und Wärme herein, weil es
endlich die Schmerzverdrängung aufhebt und Fühlen zulässt. Andernfalls
durchdringt dieses Gefühl des Ungeliebtseins alles andere. Ein nicht erwiderter
Anruf ist ein Auslöser, der sonderbare Ideen in Gang bringt: „Sie will nicht
mit mir reden. Bestimmt liebt sie mich nicht.“ Jede
psychische Ausschmückung ist eine Extrapolation, die von eingeprägten Gefühlen
angetrieben wird. Sie verhindern den vernünftigen Gedanken in uns, dass der
Anruf einfach deshalb nicht erwidert wurde, weil die Person beschäftigt war.
Das kommt daher, weil man die andere Person nicht „sehen“ kann; man ist zu
sehr in die eigenen Bedürfnisse verstrickt. Wenn wir bereits fühlen, dass
„niemand uns mag“, dann ist es leicht, einen Telefonanruf hinsichtlich
dieses Gefühls falsch zu interpretieren. Wenn wir versuchen, jemanden zu überzeugen,
dass „die Leute ihn wirklich mögen“, kämpfen wir gegen die Realität.
Konzentrieren wir uns nicht darauf, Gedanken in Ordnung zu bringen;
konzentrieren wir uns auf das, was die Gedanken schief laufen ließ. Warum
sollten wir, wenn wir uns mit einer Verletzung befassen, die im Alter von einer
Woche geschah, als wenig frontaler Kortex da war, um irgendwas zu verstehen, den
sich später entwickelnden Kortex benutzen, um diese Verletzung zu begreifen und
ihre Heilung zu versuchen? Es ist wahr, dass Information aus dem primitiven
Gehirn in der Ontogenese an höhere Gehirnebenen weitergeleitet und dann
ausgearbeitet wird, aber wir dürfen diese Ausarbeitung nicht mit dem Ursprung
der Verletzung verwechseln. Keine Ebene des Gehirngewebes kann die Arbeit einer
anderen verrichten. Wir verlangen vom Hirnstamm keine höhere Mathematik.
Verlangen wir vom frontalen Kortex nicht, dass er ganz für sich selbst fühlt
und Gefühle versteht. Seite 328 |
Ich bestehe
darauf, dass in den meisten abweichenden Verhaltensweisen und Symptomen ein Kern
aus Urschmerz sitzt, und es spielt keine Rolle, ob er frühen Mangel an Körperkontakt,
Beschneidung, spätere Kritik, Erniedrigung, Verunglimpfung oder Ignoranz
seitens der Eltern beinhaltet. Es wird alles als Schmerz verarbeitet. Das ist
der Grund, warum Medikamente auf ein so breites Spektrum von Symptomen
ansprechen. Nehmen Sie ein Beruhigungsmittel, und wir können besser schlafen,
Migränen vermeiden, Ausagieren unterdrücken, Ängstlichkeit beenden, weniger
aggressiv sein, weniger deprimiert sein, Bettnässen und vorzeitige Ejakulation
beenden und aufhören, Alkohol zu
trinken und Drogen zu nehmen.
Eine spezifische Schmerzpille kann diese universelle Aufgabe erledigen. Kurz
gesagt, Schmerz ist Schmerz, ungeachtet des Etiketts, das wir ihm anheften.
Nicht ich bin es, der darauf besteht. Es ist das, was wir in jedem Patienten aus
vierundzwanzig verschiedenen Ländern finden; sie drücken ihre Bedürfnisse und
ihren Schmerz ohne irgendwelche Anweisung von uns aus. Wenn sonst nichts, dann
zeigt der Phantom-Gliederschmerz – wenn der Fuß schmerzt, der vor zwei Jahren
amputiert wurde -, dass wir an einer Erinnerung leiden können!
Unbewusstheit
ist Teil unseres genetischen Erbes, dass wir von Generation zu Generation
weitergeben. Wir sind mit den Mechanismen ausgestattet, die uns gnädigerweise
unbewusst bleiben lassen. Freud nannte es Neurose. Es bedeutet nicht mehr, als
unbewusst zu sein. Deshalb existiert sie; der barmherzigste aller menschlichen
Prozesse. Wir können niemandem Bewusstsein geben, obgleich wir ihm Bewusstheit geben können.
Bewusstsein kann man
nicht manipulieren und durch keinen Willensakt erreichen. Bewusstheit schon. Sind
Patienten einmal voll bewusst, müssen wir ihnen keine Integration beibringen
oder Lebensunterricht erteilen. Ist die Integration einmal zustande gekommen, müssen
wir der Selbstbestimmung der Patienten vertrauen, die sie ihr eigenes Leben
gestalten lässt. Therapeuten müssen nicht allwissend oder allmächtig sein.
Wenn man den Leuten sagt, wie sie leben sollen, bedeutet das, sich anzumaßen,
dass wir es besser wissen als sie selbst. Sind sie einmal von ihrer
Vergangenheit befreit, können sie ihren eigenen Weg bestimmen. Dass wir
schlau sind, bedeutet nicht, dass wir unser Leben nicht verpfuscht haben. Ich
glaube, die Patienten werden es selber wissen, wenn sie einmal integriert sind
und nicht länger von unbewussten Kräften getrieben werden. Selbstbestimmung
ist ausschlaggebend. Im Großen und Ganzen brauchen Menschen emotionale
Beratung, wenn sie nicht fühlen können. Das ist der Grund für alle diese
„Wie-man“- Bücher in der Psychologie. Und wir sehen, wie begrenzt der
Erfolg dieser Bücher ist. Letzten Endes fällt die Person auf die gewohnten
Verhaltensmuster zurück. Seite 329 |
Fühlende
Menschen behandeln Kinder und Freunde mit Empathie und Freundlichkeit, nachdem
alle Feindseligkeit aus ihnen gewichen ist; sie behandeln sich selbst gut, da
sie keine Gefühle mehr mit Zigaretten und Trinken unterdrücken müssen; und
sie sind gut zur Umwelt, weil sie in Kontakt mit ihrer eigenen Wesensart stehen,
und das erlaubt ihnen, die Natur zu schätzen.
Es geht
nicht einfach darum, sich gesunde Gedanken zu machen; wir brauchen ein gesundes
Gehirn. Ein ungeliebtes Gehirn ist nicht gesund. Es sind nicht einfach Zellen,
was wir diskutieren; sie sind Teil eines menschlichen Wesens. Und es ist nicht
bloß Dopamin oder Serotonin, das zur Debatte steht. Es bedeutet, dass auf jeder
Ebene Liebe entscheidet, welche Form wir und unsere spätere Persönlichkeit
annehmen werden. Ein Hormon-Defizit in der Schwangerschaft kann für alle Zeiten
als Defizit im Baby bestehen bleiben. Natürlich können wir uns diese oder jene
Substanz, dieses oder jenes Hormon vornehmen und Defizite in bestimmten
Syndromen finden. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass der Mangel die
Ursache des Leidens
ist. Oft ist er eine Begleiterscheinung. Madonna sagte in ihrem Lied „Ertrunkene Welt“: Ich tauschte Ruhm für Liebe ein.“ Sie redete darüber, was sie für Liebe aufgab. Sie fand, dass Ruhm ein schlechter Ersatz war. „Er ist wie eine Droge, er steigt dir so zu Kopfe, dass er dich von den Beinen fegt,“ sagte sie in einem Interview in der Titelgeschichte der London Sunday Times vom 1. März 1998. Er ist nicht wie eine Droge. Er ist eine Droge! Er vertuscht die fehlende Liebe. Das Problem ist, dass wir immer mehr brauchen. „Plötzlich bist du zusammen mit hunderttausend Leuten, die deinen Namen schreien, in einem Stadion, und fühlst dich so einsam wie nie zuvor.“ Wer könnte es besser sagen ?
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KAPITEL 20 PSYCHOTHERAPIE UND DAS GEHIRN ___________________________
Das Ziel der Primärtherapie besteht
darin, fühlende Geschöpfe zu erzeugen. Um das zu leisten, müssen wir der
Biologie vertrauen. Das biologische System ist schrecklich und unerbittlich
rational. Kein Patient, der die Geburt wiedererlebt, kann von Armen oder
Beinen Gebrauch machen. Wir müssen auch dem Patienten vertrauen, der weiß,
was als nächstes geschehen sollte. Dieses System wird von der Einprägung
gesteuert. Wir laufen unser ganzes Leben herum und versuchen, die Einprägung
einzuholen; leider schaffen wir es nie. Sie bleibt in Führung. Ein Vater, der
mit seiner Arbeit beschäftigt ist, weil er wegen seines eigenen Schmerzes
beschäftigt und ständig in Bewegung sein muss, wird nicht der aufmerksame
Vater sein, den ein kleines Kind braucht. Er sagt, er muss sich um den
Unterhalt der Familie kümmern, aber zu oft ist das eine Rationalisierung. Und
der Stress-Spiegel des Babys steigt, weil es einen Papi braucht. Und es wird
aufwachsen und ständig in Bewegung sein, weil sein chronisch hohes
Stressniveau es dazu zwingt. Wenn wir hohe Stresshormon-Werte haben und nicht
ausagieren und uns nicht in Bewegung halten, richtet sich der Druck nach
innen, und wir sind Kandidaten für eine Herzattacke oder einen Schlaganfall.
Der Tod wartet, gleichgültig, wohin wir uns wenden.....nach innen oder außen.
Ich habe von der „Verabredung in Sumatra“ gesprochen. Gefühle sind diese
Verabredung. Wohin auch immer wir uns wenden, wohin wir auch fliehen, sie
warten auf uns. Wir ignorieren sie, und sie machen uns krank. Wir betäuben
sie, und sie erlangen ihre Kraft zurück, sobald wir damit aufhören. Wir
agieren sie aus, bis wir zu Boden sinken. Es gibt kein Aufhören, keine
Atempause, kein Erbarmen. Das gepeinigte System ist faschistisch, es lässt
niemals nach, bekommt seine Bedürfnisse nie erfüllt, es sei denn symbolisch,
es dominiert alles und jede Beziehung, erlaubt Seite 331 |
Während
eines Gefühlserlebnisses weicht der Kortex zurück und gleichzeitig treten
Prozesse der tieferen Ebenen in den Vordergrund. Bevor das geschieht, befindet
sich das System in hektischer Aktivität, da im Kampf gegen die Einprägung
immer mehr Neuronen rekrutiert werden. Die Rekrutierung zusätzlicher
Gehirnzellen treibt die Amplitude der Gehirnwellen in die Höhe. Wir sehen, dass
die Amplitude radikal ansteigt, wenn ein Patient einem Gefühl nahe ist; wenn
ein Gefühl hart darum kämpft, voll zu Bewusstsein zu gelangen. Nach einem
verknüpften Gefühlserlebnis fällt die Amplitude gleichermaßen radikal. Es
ist ein weiteres Kriterium für Verknüpfung, für ein echtes Feeling. Jetzt
kann man die Einprägung in sich aufnehmen, sie fühlen und vor allem auf sie
reagieren, anstatt vor ihr
davonzulaufen. Reaktivität
ist ein zentraler Punkt, weil die volle Reaktivität zur Zeit des Traumas
blockiert und umgeleitet wurde. Wenn das Ereignis – Vater und Mutter ständig
streiten zu sehen – Sie dazu brachte, dass Sie sich schutzlos fühlten, dann
ist es in der Therapie notwendig, dieses Ereignis über viele Monate zu fühlen,
um eine vollständige Reaktion darauf zu ermöglichen. Das Gefühl könnte darin
bestehen, dass die Familie jeden Augenblick auseinander zu fallen droht und das
Kind kein Zuhause mit den Eltern mehr hätte. Die Person wächst in Unsicherheit
und Schrecken auf. Sie wartet auf die große Katastrophe – die Scheidung –
das Ende der Familie. Genau das passiert in zu vielen Fällen, mit verheerenden
Folgen. Und hinsichtlich des Vaters, der ständig droht, die Mutter zu
verlassen: „Ich werde nie mehr meinen Papa haben.“ Die Person wächst in
Angst vor dem Leben und besonders vor dem Tod auf, weil sie niemals jemanden
hatte, der sie besänftigt und beruhigt, ermutigt, unterstützt und beschützt hätte. Sie steht nackt vor dem Leben;
keine schützende Schicht aus Liebe, die sie ummantelt hätte, keine frühe
Liebe, die einen frontalen Kortex errichtet hätte, der dem Leben die Stirn
bieten, Gefühle integrieren und erleben und mit anderen auskommen könnte. Wir dürfen vorgeburtliche Ereignisse nicht länger vernachlässigen, denn wenn wir die Entwicklung der Persönlichkeit verstehen wollen, müssen wir uns darauf konzentrieren, wo sie sich entwickelte. Unsere Gehirnzellen sind dem Darwinschen Überleben des am besten Angepassten verpflichtet; die stärksten und die am meisten benötigten überleben. Deshalb glaube ich, dass das menschliche Gehirn seit Millionen Jahren sehr erfolgreich ist und unter sonst gleichen Umständen angemessen funktionieren sollte. Die stärksten Neuronen haben überlebt, und die wirkungsvollsten intern produzierten Schmerztöter haben auch überlebt. Als das
Seite 332 |
System im Laufe der Zeit schweren Traumen ausgesetzt war, verfeinerten sich
die Rezeptoren immer mehr. Sie sind bereits vor der Geburt einsatzbereit und
finden sich auch in der Plazenta. Aus diesem Grund neige ich dazu, der Vererbung
kein so großes Gewicht beizumessen. Angesichts der verschiedenartigen Traumen,
denen wir von der Zeit im Mutterleib an unterliegen, ergeben sich zahlreiche Gründe
für abweichende Verhaltensweisen und Symptome. Ich erwähnte an früherer
Stelle, indem ich Peter Nathanielsz zitierte, dass Menschen, die mit großer
Plazenta geboren werden, anfälliger für hohen Blutdruck und möglichen
Schlaganfall im späteren Leben sind. Wie alles andere im menschlichen System
tendiert die Plazenta dazu, Ausgleich zu schaffen, wenn während der
Schwangerschaft suboptimale Bedingungen herrschen. Sie wird größer, um
Gegebenheiten wie dürftige Ernährung wettzumachen. Ein anderer
Grund für das Wachstum der Plazenta besteht darin, dass sie härter arbeitet,
um die anhaltende Sekretion von Stresshormonen im Fetus abzubrechen. Unglücklicherweise
kommt der Punkt, an dem der Stress die Kompensationsmechanismen überbeansprucht.
Die Plazenta ist nicht einfach ein Sack; sie ist ein lebendes Gebilde, das
Schmerztöter produziert. Ja, der Fetus muss Schmerz abtöten, auch wenn er wie
ein Protoplasmaklümpchen aussieht, und obgleich er keine Worte hat, um sich
irgendwie zu artikulieren. Sauerstoffmangel
tendiert dazu, die Blutgefässe zu schwächen. Dieses scheinbar geringfügige
Problem im Mutterleib kann sich später im Leben zu ernster Diabetes oder Herzstörungen
auswachsen. Vergessen wir nicht, dass die Plazenta für den Fetus der
Hauptlieferant von Sauerstoff ist. Eine rauchende und/oder trinkende Mutter
erzeugt für den Fetus einen niedrigen Sauerstoff-Spiegel; die Plazenta gleicht
aus, indem sie wächst, um mehr bereit stellen zu können. Die Nieren und die
Leber können darunter leiden, wenn auch unmerklich, weil das System versucht,
den Sauerstoff an das Gehirn des Fetuses zu liefern. Später wird der Schaden
nicht unmerklich bleiben, da weitere Traumen im Leben den leichten ‚Knacks’
im System verschlimmern. Wenn es zu
dieser Art Trauma, zu Sauerstoffmangel kommt, produziert der Fetus
Stresshormone, um das System für die Gefahr aufzurüsten. Anhaltende Sekretion
von Kortisol kann jedoch für späteren hohen Blutdruck verantwortlich sein.1
Deshalb erwähne ich an anderer Stelle, dass die ‚Fabrikation’ früher
Schlaganfälle ( aufgrund hohen Blutdrucks) im Mutterleib stattfindet. Auch ob jemand dick ist oder nicht, kann nicht nur von Vererbung abhängen (obgleich ich ihren Einfluss nicht verneine), sondern davon, wie gut sich die Mutter während und nach der Schwangerschaft ernährt. Wenn sie in der ersten Hälfte der Schwangerschaft unterernährt ist, ist die Chance größer, dass ihr Nachwuchs später im Leben fettleibig ist.2 Das System scheint in diesen Fällen im ganzen späteren Leben zu versuchen, die Defizite im Mutterleib auszugleichen. Die Sollwerte für das Seite 333 |
Gefühl der Sattheit sind in diesem Fall
vor der Mitte der Schwangerschaft festgesetzt worden. Wenn die Lungen sich im
Mutterleib nicht richtig entwickeln, kann das die Voraussetzung für die
chronische, lebenslange Behinderung der Atemwege schaffen.
Fehlernährung
während der Schwangerschaft kann die Lebensspanne der Nachkommen durchaus verkürzen,
aber wenn das Kleinkind nach der Geburt unterernährt ist, wird das die
Lebenserwartung nicht mindern. Wir sehen immer und immer wieder, dass ein Trauma
die Sollwerte im Mutterleib ändert; ein Problem, das nicht leicht zu bewältigen
ist, falls überhaupt. Ein Trauma nach der Geburt kann dauerhafte Auswirkungen
haben, aber es hat nicht so tiefgreifende Konsequenzen wie Erfahrungen im
Mutterleib. Wir dürfen nie die kritische Periode vergessen. All das Obige
betont – und es entspricht meiner klinischen Erfahrung und gründet auf vielen
neuen Forschungsergebnissen -, dass viele Probleme und Gebrechen, die wir
Erwachsene haben, sich aus pränatalen Einflüssen ergeben können. Vergessen
wir nicht die dialektischen Prinzipien, die die Biologie beherrschen. Wir
putschen ein Baby im Mutterleib mit Kaffee und Angst auf, und es wächst heran
und will Beruhigungsmittel, um sich normal zu fühlen. Wir unterdrücken einen
Fetus mit Drogen und Alkohol, und er wächst heran und will ‚Speed’, Kaffee,
Zucker und vielleicht Kokain. Unser Körper verbringt sein ganzes Leben mit dem
Versuch, die Geschehnisse im Mutterleib auszugleichen. Die Sollwerte ändern
sich für immer. Mit vierzig brauchen wir Schilddrüsenhormone, um den niedrigen
Hormonspiegel der Mutter während der Schwangerschaft auszugleichen. Und wir
wissen, dass die Leistung ihrer Schilddrüse (und der des Babys) beeinträchtigt
war, als sie unter Stress stand. Schilddrüsenhormon ist für die Pflege und
Versorgung der Neuronen und ihrer dendritischen Verbindungen wesentlich. Auch
wenn der Fetus etwa im vierten Monat beginnt, sein eigenes Schilddrüsenhormon
zu produzieren, so fließt doch auch die Produktion der mütterlichen Schilddrüsenhormone
ins fetale System ein und beeinflusst seinen Ausstoß. Wenn der Spiegel der
Mutter sehr niedrig ist, kann das Kind mit Rückständen in der geistigen
Entwicklung geboren werden; die Neuronen entsprechen einfach nicht der
Anforderung. Was versuchen viele von uns, wenn sie Drogen
nehmen.....Tranquilizer, Schilddrüsenhormon, Insulin, Heroin, Pillen zur
Blutdrucksenkung und Herzberuhigung und Vasokonstriktoren für die Migräne? Wir
versuchen, uns zu normalisieren.3 Die Medikamente, die wir jetzt anwenden, um Sucht und Alkoholismus zu kontrollieren, sind oft die nämlichen Serotonin steigernden Medikamente wie Prozac, Zoloft und Paxil. Was versucht der Süchtige zu erreichen? Er oder sie versucht, normal zu werden, - die Spiegel innerlich produzierter Schmerztöter auf optimalen Stand zu bringen, so dass der frühe Liebesmangel nicht gefühlt wird. Durch Drogen und Medikamente wird der Körper hinters Licht geführt und denkt kurze Zeit, dass er geliebt werde, denn genau das leistet Behaglichkeit; sie lässt uns innerlich ganz warm und kuschelig fühlen. Und was machen Ärzte, die ein und dieselbe Droge für alles von Seite 334 |
Depression bis Angst, von Bulimie bis zu
suizidalen Neigungen verschreiben? Bewusst oder unbewusst versuchen sie, das
System des Patienten zu normalisieren. Hierin also liegt das Dilemma: Ein ganz
frühes Trauma beeinträchtigt das Serotonin-System, dasselbe System, das wir
brauchen, um dieses Trauma zu verdrängen. Ein Mensch, der eine ziemlich
liebevolle Kindheit hatte aber eine schreckliche Zeit vor und während der
Geburt, kann immer noch in der Lage sein, die Ressourcen aufzubringen, um
Schmerz zu unterdrücken. Aber wenn Sie das Vorgeburts- und Geburtstrauma durch
Hinzufügen von emotionaler Leere und Zurückweisung in der frühen Kindheit
verschlimmern, dann haben Sie eine Anhäufung von Schmerz, die das
Hemmungssystem überfordert. Wenn wir uns
fragen, warum es Kriminalität gibt und warum so viele Kriminelle unter Drogen
stehen, müssen wir einen Blick auf frühe Deprivation und eingeschlossenen
Schmerz werfen. So viele unserer Gefängnisse werden für die Aufnahme Drogensüchtiger
in Anspruch genommen; Leute, die behandelt werden sollten, weil Ihnen Liebe
fehlte. Für Leute, die Süchtige ausbeuten und deren Geschäft der
Drogenverkauf ist, sieht die Sache anders aus. Süchtige zu beraten, kann erst
hilfreich sein, nachdem man sich mit dem Schmerz befasst hat. Die Priorität für
Leute, die von Anfang an Liebe entbehren mussten, besteht immer darin, den Schmerz abzutöten. Sie
können schwören, dass sie Drogen aufgeben werden, den Versuch aufgeben werden,
unbewusst zu versuchen, ihr System zu normalisieren, aber die Physiologie
regiert; der frontale Kortex folgt nach und geht nicht voraus – genau wie es
in der Evolution war – zuerst der Hirnstamm, als zweiter das Limbische System
und zuletzt der frontale Kortex. Wir müssen mit der Evolution arbeiten, nicht
gegen sie.
Wenn wir an
die Kosten der Kriminellen für die Gesellschaft denken, stellt sich zum
Beispiel heraus, dass die Hälfte der Frauen in U.S.- Gefängnissen (so steht es
in einem Bericht)4 Opfer körperlicher oder sexueller
Misshandlungen in ihrer Kindheit sind. Viele ihrer Vergehen waren gewalttätiger
Art, nachdem sie früh im Leben Gewalt gegen sich selbst erfahren hatten. Diese
Frauen benutzen mit viel größerer Wahrscheinlichkeit Drogen und Alkohol. Ich
bin überzeugt, dass wir diese Opfer behandeln und ihnen helfen können, Gewalt
zu vermeiden, nicht durch Ermahnung sondern durch wissenschaftliche
Psychotherapie, die in einem schalldichten gepolsterten Raum die Wut und das Bedürfnis
im Kontext herauslässt.
Wir haben etwa einhundert Fälle von Inzest behandelt, und wir sehen die
furchtbare Zerstörung, die er anrichtet. Drogensucht ist die harmloseste; es
geht um die Verbrechen, die diese Personen auf Grund der Sucht zwangsweise
begehen. An all dem lässt sich etwas ändern, wenn diese Personen die von ihren
Eltern gegen ihre Menschenwürde begangenen Verbrechen wieder erleben. Die Gefühle
tragen die Patienten zu den Orten und Zeiten, die sie aufsuchen müssen.
Seite 335 |
Warum sollte
jemand Höllenqualen fühlen wollen? „Weckt keine schlafende Hunde“, so
lautet oft das Motto. Wir müssen es fühlen, weil wir es auf einer Ebene des
Gehirns bereits die
ganze Zeit fühlen – wir
sind uns bloß dessen nicht bewusst; und der Schaden, den es anrichtet, wird
fortbestehen. Wir sind „entnormalisiert“, und wir spielen die ganze Zeit
„aufholen“. Der Hirnstamm wird weiterhin bis zur Erschöpfung erregende
Substanzen ‚ausspucken’, um uns
ein Leben lang auf Touren und auf Trab zu halten. Wir laufen dann wegen dieses
oder jenes Symptoms zum Arzt – wegen hohen Blutdrucks, Pädophilie, Kolitis
und Spielsucht. Oder vielmehr gehen wir zu mehreren verschiedenen Spezialisten,
die uns vielleicht alle auf dieselbe Weise behandeln. Oft geben sie uns
Beruhigungsmittel, weil sie unbewusst verstehen, dass all diesen Symptomen
Schmerz zu Grunde liegt.
Weil wir
viel mehr limbische Bahnen haben, die zum frontalen Kortex hin verlaufen, als
solche, die von ihm herkommen, haben Gefühle weit mehr Einfluss auf Gedanken,
als Gedanken auf Gefühle, wie wir aus evolutionärer Sicht erwarten könnten.
Jemand muss in einer kontrollierten Situation völlig die Kontrolle verlieren,
so dass er in Gefühle versinkt. Das Gehirn wird sodann Selbstkontrolle
erlernen. Es muss weniger kontrollieren. (Ehe ich Polster an den Wänden hatte,
hatte ich viele Löcher.) Die Person muss die Kontrolle
im Kontext verlieren. Wenn wir zu
der Erinnerung, zu der ganz frühen Erinnerung zurückgehen, als Papa die
Kontrolle verlor und die ganze Zeit herumbrüllte, dann folgt die Wut nach. Wir
müssen uns zu dem Babygehirn begeben, das die Wut fühlt, und nicht zum
erwachsenen frontalen Kortex, der Vermutungen anstellt, wie das Baby sich fühlt.
Wir müssen das Ausmaß unserer Wut kennenlernen, weil so viele von uns Angst
vor sich selbst und davor haben, was sie anstellen könnten, wenn sie die
Kontrolle verlieren. Besser die Kontrolle in einem gepolsterten Raum verlieren,
wo wir lernen, welches Ausmaß die Wut hat. Erinnerung
ist niemals annähernd; sie ist exakt. Zu oft, wie ich immer wieder beobachten
konnte, beginnt die Wut mit dem Winden und Drehen bei der Geburt, wenn die Zange
heftig an dem Neugeborenen zieht. Wir müssen über diese Wut nicht
theoretisieren. Wir erleben sie jeden Tag. Niemals fordern meine Therapeuten Wut
heraus oder sagen den Patienten, sie seien voller Wut. Nur im Kontext werden die
Patienten genau die Wut ausdrücken, die ins System eingeprägt ist. Wenn sie es
auf Geheiß des Therapeuten tun, wird es zwangsläufig ungenau sein. Viele Therapeuten sagen ihren Patienten: „Lass das Kind in dir heraus“, „Sag deinem Papa, dass du ihn hasst“, und so fort. Da ist kein kleines Kind drin. Da sind nur Erinnerungen, die zur Verknüpfung gelangen müssen. Der große Fehler der Pseudo-Therapeuten (wie ich sie nenne) besteht darin, dass sie vorschreiben, wohin der Patient zu gehen hat: „Sag deiner Mutter, dass sie dir weh tut!“ „Schrei deinen Zorn über deinen Vater hinaus!“ Vorschriften zu machen, weist auf mangelndes Seite 336 |
Vertrauen hin und nimmt dem Patienten die Macht. Aus diesem Grund heißt meine
Therapie nicht Urschrei-Therapie. Es ist Primärtherapie. Niemals wird den
Leuten gesagt, er oder sie solle schreien. Richtige
Therapie braucht Zeit. Deshalb sind Wochenend-Seminare, die Wiedererlebnisse
vermitteln, gefährlich. Und deshalb ist es ein schwerer Fehler, Drogen zu
nehmen, um schneller dorthin zu gelangen. Der Schmerz hat seinen eigenen
Zeitplan; wir müssen biologische Parameter respektieren, wenn wir erfolgreich
sein wollen. Das ist genau der Grund, warum es absolut nutzlos ist, ohne
Zusammenhang mit der Vergangenheit zu schreien, auf Matratzen einzuschlagen oder
Wut auszudrücken. Diese Verknüpfung ist eine sine qua non. In mancher Hinsicht ist die gegenwärtige
konventionelle Psychotherapie ein unbewusster Pakt zwischen Arzt und Patient,
der stillschweigend beinhaltet, dass der Arzt mehr über den Patienten weiß als
er selbst. Das trifft besonders zu, wenn der Arzt am Patienten interessiert,
warmherzig, besorgt, beschützend und freundlich ist – all die Eigenschaften,
die die Eltern nicht hatten. Das ist sehr erleichternd, aber wir müssen über
Jahre ständig zur Therapie laufen, weil sie eben nur das ist.......lindernd und
Abhängigkeit schaffend. Der Patient denkt, es seien die Einsichten, die helfen.
Sie helfen nur ein bisschen. Es ist der freundliche und besorgte Doktor, der
etwas ausmacht. Wären es die Einsichten alleine, die helfen, könnte sie auch
ein Roboter liefern. Es geht um die Wärme und Besorgtheit, die mit ihnen
einhergeht. Der Doktor ist der Masseur des schmerzgeplagten Egos. Er bietet, was
wir haben wollen, nicht, was wir brauchen. Was wir brauchen, ist das Bedürfnis
– das alte kleinkindliche Bedürfnis aus älteren Gehirnstrukturen. In der
konventionellen Therapie spielt sich auf der zweiten Ebene (Limbisches System)
eine Beziehung ab, bei der es im Wesentlichen um ein Ausagieren des Patienten
geht. Er ist brilliant, hat Einsichten und erfährt im Gegenzug Linderung und
bekommt, was er im Alter von zwei brauchte. Zu spät. Deshalb macht es abhängig.
Die Wirkung ist von kurzer Dauer, und er muss immer wiederkommen. Es ist immer
noch ein Ausagieren, ob es in einer therapeutischen Situation geschieht oder
nicht. In den ersten paar Jahren des Lebens wird alles, was geschieht, zu
unserer Schuld, weil es keinen anderen Bezugsrahmen gibt, um die Dinge zu
verstehen. Die Beziehung zwischen Patient und Therapeut zählt; sie sollte warmherzig und unterstützend sein, aber wie die Berichterstatter bei einem Tennismatch sollten wir beherzigen, dass das Spiel unten auf dem Feld stattfindet und nicht in der Übertragungskabine. Brillianz ist nicht erforderlich. Empathie schon. Die Einsichten, die der Patient braucht, sind im frontalen Kortex bereits vorhanden. Es bedarf keines weiteren Kortexes, der aushilft. Die Einsicht eines Genies wird nicht zur Amygdala oder
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Medulla
oder zum Locus caeruleus oder zum Hypothalamus oder Thalamus durchdringen. Wir können
die Amygdala nicht überzeugen oder ihr abraten. Sie ist absolut unparteiisch.
Kein Ratschlag, keine Meinung oder Ermahnung wird etwas ändern. Sie weiß,
welche Gefühle sie in sich trägt, und sagt es niemandem. Beratung führt zur
Neuordnung des frontalen Kortexes, so dass der Mensch sich wohler fühlt, während
er entscheidende Informationen in der Amygdala und im Hippocampus verbirgt.
Konventionelle Therapie ist
ahistorisch und weitgehend des Fühlens beraubt; somit geht sie dem eigentlichen
Kern unseres Menschseins aus dem Weg. Ja, einige dynamische Therapien erforschen
tatsächlich die Geschichte, aber nicht mit dem alten historischen Gehirn, das
wie ein Dreijähriger weint. Sie weinen als das, was sie sind – Erwachsene; nicht
als die depravierten Kinder, die sie waren – und innerlich noch immer sind. Aus diesem Grund haben Therapeuten die
Tiefe des Fühlens in ihren Patienten nicht gesehen. Wir versuchen nicht,
einfach schlauere Leute zu produzieren; wir wollen Menschen produzieren, die
sich wohler fühlen, glücklicher sind und fühlen können; die nicht mehr an
unerklärlichen Symptomen oder zwanghaftem Verhalten leiden. Wenn wir darüber hinwegkommen können,
uns mit vorliegenden Symptomen zu befassen, als seien sie das eigentliche
Problem, dann könnten wir uns tiefer ins Gehirn begeben und zu Orten gelangen,
deren Existenz wir uns niemals erträumt hätten. Man braucht auch einen
abgedunkelten, ruhigen, gepolsterten Raum, um die Chancen zu vergrößern,
tiefer ins Gehirn zu gelangen, und natürlich die geeigneten Techniken.5
Wenn wir uns nicht mit inneren Einprägungen befassen, verbinden wir eine
Wunde und lassen sie dann eitern, während wir weiterhin glauben, es sei etwas
getan worden, um das Problem zu behandeln. Das menschliche Gehirn ist im Sinne
unserer Therapie kein so großes Geheimnis. Es bewahrt unsere Geschichte sicher
im Verborgenen, bis wir in der Lage sind, sie wiederzufinden. Das ist seine
wunderbare Funktion. Ein Therapeut kann uns erzählen, dass wir wundervoll, wertvoll, wichtig, etc. sind. Aber das lässt den Ort außer Acht, an dem die Wertlosigkeit liegt und an dem das Bedürfnis liegt. Die Amygdala beharrt darauf, dass wir nicht wundervoll sind, weil unsere Eltern uns das durch ihr Verhalten, das von Distanz und Gleichgültigkeit uns gegenüber geprägt ist, wissen lassen, indem sie uns ignorieren, niemals nach unserer Meinung fragen oder nicht einmal danach, was wir essen wollen. Es resultiert aus den Jahren, in denen wir kaum jemals Augenkontakt mit unseren Eltern hatten. Das ist die vorherrschende Realität, die einem verwundbaren Gehirn in der frühen und späteren Kindheit aufgebürdet und eingeprägt wurde, vielleicht in einer kritischen Periode. Die kritische Periode ist vorbei; die Tat ist geschehen. Das Kind brauchte als Baby seine Eltern, um Lob, Ermutigung und Liebe – also viel Berührung - zu bekommen. Die Amygdala bewahrt diese Wahrheit in ihrem Tabernakel und lässt sich niemals eines anderen belehren. Niemals! Sie kann es nicht hören! Nur zeitweise lässt sie sich von Gedanken knebeln. Babys brauchen Tag und Nacht Seite 338 |
körperliche Nähe von der ersten Minute
ihres Lebens an und in den folgenden sechs Jahren; nicht jede Minute, aber so,
wie es dem Bedürfnis des Babys entspricht.
In dem Fall
einer Frau, deren Mutter Tuberkulose hatte, gab es niemals Liebe; daher das
innewohnende Gefühl, wertlos und unwichtig zu sein – keines Menschen
Freundlichkeit wert. Diese geringe Selbstachtung ist nicht einfach ein
Gedanke; sie befand
sich im Blutsystem und in den Gehirnzellen. Vernachlässigung im Alter von zwei
Wochen führte dazu, dass sie sich unwichtig und keiner Aufmerksamkeit wert fühlte.
Es gibt
einen Artikel in der
New York Times der darauf hindeutet, dass Fachleute die Auffassung
vertreten, die gegenwärtige Psychotherapie sollte größtenteils von kurzer
Dauer sein.6 Langzeit-Therapie ist suspekt, wird sogar als
unethisch betrachtet. Das geschieht auf Erlass der neuen Ego-Psychologie, um den
Versicherungsgesellschaften entgegenzukommen, die keine Langzeit-Therapie
bezahlen wollen. Stillschweigend inbegriffen bei all dem ist, dass das
Fachgebiet zugunsten einer Therapie im Beratungsstil auf tiefgreifende Veränderung
verzichtet. Die tiefe, dynamische Freudianische Therapie ist seit kurzem
weitgehend in Ungnade gefallen, gerade jetzt, da es zu tiefgreifender Veränderung
kommt. Weil die dynamische Tiefentherapie es aufgrund fehlerhafter Theorie
(meiner Einschätzung nach) nicht schaffte, hat man die Langzeit-Tiefenanalyse
fallen lassen. Nicht das Problem, dass man tief in der Psyche graben muss, hat
Schuld daran. Schuld ist die falsche Methode. Nötigenfalls sollten wir tief
graben, sobald wir eine gewisse
Vorstellung haben, wie wir es angehen sollen. Und wir sollten uns nicht auf
therapeutische Ideen verlassen, die hundert Jahre alt sind. Würde irgendein
anderer Zweig der Medizin den Techniken treu bleiben, die ein Jahrhundert alt
sind? Kaum. Wir müssten wieder dahin zurückkehren, Patienten mit Blutegeln zu
schröpfen. Es sollte offensichtlich sein, dass tiefgreifende Veränderung, die
Änderung tief verwurzelten Verhaltens, nicht in wenigen Sitzungen erreicht
werden kann, obgleich die Lacan-Methode in Frankreich genau das versucht.7 Warum ist die Psychotherapie derart in die Irre gegangen? Weil Emotionen und Verdrängung involviert sind, und die hindern hochgebildete Praktiker daran, den Wert des Fühlens zu sehen; und weil die frühen Freudschen Ideen die Psychotherapie so im Würgegriff hatten, dass es sehr schwer war, sie abzuschütteln. Und schließlich gab es nicht genug neurologische Informationen, um uns davon in Kenntnis zu setzen, dass wir das Gehirn in Betracht ziehen müssen, wenn wir Psychotherapie praktizieren. Zu viele Therapien erachten Abreaktion – das heißt, über ein anderes Gruppenmitglied wütend zu werden, einem anderen gegenüber Liebe auszudrücken – als Therapie. Wenn das Feeling nicht im historischen Kontext steht, ist es nicht heilsam und keine Therapie. Es kann hilfreich sein, aber andererseits – Voodoo ist es auch. Niemand kann gesund werden ohne die Hilfe der Geschichte. Ich sage das in Bezug auf körperliche als auch auf psychische Leiden. Ja, wir Seite 339 |
können Krebs
erfolgreich behandeln. Aber erst wenn wir den ungeheuerlichen Druck von Schmerz
der ersten Ebene sehen, können wir verstehen, wie Zellen verfallen und ihre
Unversehrtheit verlieren können. Weder
gelenktes Tagträumen noch Imaginations-Therapie kann uns dorthin bringen, wo
wir hingehen müssen. Es ist ein willkürlich-bewusster Akt unter der Anleitung
eines anderen, anstatt den Anweisungen unseres eigenen Nervensystems zu folgen.
Wir können uns einbilden oder glauben, dass wir entspannt sind, dass wir den
ganzen Tag lang auf einer Wolke schweben, und dennoch Angst haben, die weiter
unten im Hirnstamm und limbischen System rumort. Es ist per Definition Selbsttäuschung.
Wir können für die Behandlung schwerer Schmerzen keine Selbsttäuschung
brauchen. Warum muss
unser Nervensystem die Regie übernehmen? Weil es die ganze Zeit Regie führt.
Imaginations-Therapie, oder wie auch immer der Name sein mag, ist ein geistiges
Spiel, das nicht auf die Realität neurologischer Einprägungen zielt, sondern
merkwürdigerweise von ihnen ablenkt; nur die Geschichte ist heilsam. Wir können
uns vorstellen, der Aufzug sei kein furchteinflößender Ort, sondern ein Ort
der Ruhe und des Friedens, als ließe man sich auf einem See treiben, während
man nach oben huscht; aber der Hirnstamm sagt: „Das ist ein grässlicher Ort,
weil er die alte Angst im Inkubator hervorruft.“ Wann immer
die Macht der Therapie außerhalb unserer selbst liegt, kann sie nicht gelingen.
Dann ist es Führung. Und Beratung. Aber keine Tiefentherapie. Die Macht ist
bereits in uns; wir müssen sie nur anzapfen. Alles, was wir lernen müssen, ist
bereits in die Schaltkreise des Gehirns eingeschrieben. Der Slogan „Alle Macht
dem Volke!“ sollte wörtlich genommen werden. Die Patienten entscheiden, wann
sie kommen, wann sie für heute gehen und wann sie die Therapie auf Dauer
verlassen. Nach dem Fühlen sind sie es, die Einsichten haben. Sie sind die
Schlauen und machen die bedeutsamen Entdeckungen. Ihre Neugierde ist aufgewacht.
Die
Vorstellung, es liege Gefahr im Aufschließen der Psyche, ist seit den Warnungen
Freuds tief in uns verwurzelt. Ich habe herausgefunden, dass das Gegenteil der
Fall ist. Das Erschließen der Psyche auf allen Ebenen der Gehirnfunktion ist
der einzige Weg, um fest eingewachsene Muster oder Symptome auszumerzen.
Einsicht ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. Unser Schmerz gründet nicht auf
Mangel an Einsicht, und wenn wir der Mixtur Einsichten hinzufügen, bewirkt das
gar nichts, außer dass wir dem Patienten Rechtfertigungen für sein Verhalten
anbieten und von daher seine Abwehr verstärken. Einsichten ohne vorhergehendes
Fühlen sind reine Raterei. Stellen Sie sich vor, ich versuchte Ihnen zu sagen,
was in ihrer Amygdala steckt, wenn nicht einmal Sie es wissen, wo es doch
Ihre Amygdala
ist.
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Der Grund,
dass die Psychotherapie eher ein Teil des Problems ist als ein Teil der Lösung,
besteht darin, dass sie das Unterbewusste des Patienten und sein präfrontales
Bewusstsein auseinander rückt und den kortikalen „Geist“ behandelt, als
unterscheide er sich vom übrigen Körper. Die Psyche wird behandelt, als sei
sie etwas, das im Raum schwebe und neu geformt und konstruiert werden müsse. Es
handelt sich nicht um
psychische Krankheit! Wir brauchen keine
Psycho–Therapie. Wir brauchen empirische
Therapie. Schmerz ist im Blut, in den Geweben, im Gehirn und in den Muskeln. Er
befindet sich in Immunzellen und Hormonen. Er ist überall und nirgends. Er lässt
sich nicht auf einen Platz festnageln, weil er pandemisch ist. Wir können das
Blut, das Gehirn, die Muskeln und das Immunsystem alle für sich behandeln, aber
solange wir den Menschen nicht als Ganzes behandeln, sind diese Maßnahmen zum
Scheitern verurteilt. Kann eine
Therapie helfen, wenn wir an sie glauben? Vieles kann helfen, nicht zuletzt
Religion. Widerspricht ein Placebo der Wirksamkeit bestimmter
Tranquilizer-Therapien, wenn es den Leuten nach einem Placebo besser geht? Ein
Placebo kann uns besser fühlen lassen, weil es die Sekretion der gleichen
Substanzen in Gang setzt, die in den Beruhigungsmitteln enthalten sind. Viele
Straßen führen nach Rom. Nur weil wir uns nach einem Placebo besser fühlen,
bedeutet das nicht, dass die Medikation unwirksam ist. Es bedeutet einfach, dass
der Glaube und die Hoffnung, die es enthielt, die Sekretion interner
Tranquilizer förderte. Ohne den
Eckpfeiler des Bedürfnisses kann keine Therapie dauerhafte Veränderung
schaffen. Kompensationsmechanismen zu behandeln, bedeutet Umgestaltung. Sie
befasst sich mit dem System, wie es ist, und modifiziert die Missbildungen, die
es verursacht hat. Wir brauchen eine Revolution; wir müssen das System verändern,
dann entströmt ihm Gesundheit auf natürlichem Wege. Ich glaube, wir haben den
Orchestrator aller Kompensationen gefunden
– das Gehirnsystem, dem sie alle entspringen. Wir werden kompensieren müssen,
bis ein jeder den Dirigenten findet. Es geht immer darum, das große Loch aufzufüllen,
das unbefriedigte Bedürfnisse hinterlassen haben. Sind wir im
Grunde zornige, tobende Monster oder sind wir freundliche und edle Miezekätzchen?
Weder noch, und beides zusammen. Wir werden mit Fähigkeiten geboren, die
Millionen Jahre zurückdatieren. Wenn das System geliebt wird und nicht
traumatisiert, wird es freundlich und edel sein und nicht hasserfüllt und
aggressiv. Wenn ein kleines Kind ständig frustriert wird, wird es zu einem
zornigen Kind und Erwachsenen. Das Kind reagiert auf eine Verletzung, und es wäre
die ultimative Verleugnung, würde es so tun, als sei es nicht verletzt worden. Seite 341 |
Existieren fetale Erinnerungen? Ja,
in neurochemischem Sinn. Erinnern wir uns an all das? Ja, aber im Sinne
neurochemischer Veränderungen, nicht im Sinn von Szenen, Worten oder Gefühlen.
Das untere Gehirnsystem erinnert sich ständig. Alles, was wir tun müssen, ist,
dieses System anzuzapfen. Das menschliche Gehirn ist hinsichtlich unserer
Therapie kein so großes Geheimnis. Es bewahrt unsere Geschichte sicher im
Verborgenen, bis wir sie wiederfinden können. Das ist seine wundervolle
Funktion.
Sigmund Freud glaubte, dass der Weg
ins Unbewusste über Worte führe, wie im freien Assoziieren. Dem ist nicht so.
Wir können uns den Weg zur Gesundheit nicht
erdenken. Der Weg zur fühlenden Ebene führt
über Gefühle; der Weg
zur Ebene instinktiver Empfindung führt über reine
Empfindungen. Wir müssen
von jeder Ebene ihren Beitrag zur Verknüpfung fordern. Das lässt uns wieder
ganz werden. Und letztlich gibt uns das unser Selbst zurück. Wir können uns
selbst finden, aber wir müssen an den unwahrscheinlichsten Orten suchen. Ist es
nicht paradox – ständig der einen Sache auszuweichen, die uns befreien könnte? Wie ich in der Einleitung behauptet habe, müssen wir in unerforschte Gewässer hinaussegeln, unseren Kompass auf eine außergewöhnliche Fahrt in den düsteren Morast des Unbewussten einstellen und zu den tiefsten Zonen des Gehirns reisen. Wenn wir ankommen, werden wir herausfinden, dass es dort unten gar nicht so düster aussieht. Das Unbewusste ist voller Licht und Entspannung, wenn wir alle diese verborgenen Erinnerungen frei gelassen haben. Ich glaube, ich habe einen Teil des Weges kartiert. Der Rest ist Aufgabe der Wissenschaft. Auf dieser Reise haben wir erfahren, was wir im Leben entbehren mussten, und wie wir unsere Kinder behandeln müssen, um sie vor diesen Fehlern zu bewahren. Wir können einen neuen Menschen erschaffen. Wir haben die Wahl, und wir haben die Technik, um das zustande zu bringen. Ihr Name ist ganz einfach Liebe. Immer wieder.
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Seite 342 |
Quellenverweise und Anmerkungen
N. 1 Peter
W. Nathanielsz, Life in the Womb: The Origin of Health and Disease (Ithaca, N.
Y.: Prommethean Press, 1999), s. 146-47.
N. 2 R.
S. Strauss, “Effects of the Intrauterine Environment on Childhood growth,”
British Medical Bulletin 53, no. 1 (Januar 1997): 81-95. N. 3
Siehe Nathanielsz, Life in the Womb, zur ausführlicheren Erörterung. N. 4
„ Die Hälfte der Frauen in Gefängnis – Systemen waren Opfer von
Missbrauch, sagt ein Bericht,“ Los Angeles Times, 12. April 1999. N. 5 Wir
bieten allen Profis in den helfenden Berufen Training an.
N. 6 „How
Much Therapy is Enough?“ New York Times, 24.
November 1998. N. 7 Henri Lacan, inzwischen verstorben, hatte in den 1980er Jahren in Frankreich mit seiner schnellen Analyse großen Einfluss. Einige wenige Sitzungen waren alles, was er zuließ.
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BEGRIFFSERKLÄRUNGEN
ACETYLCHOLIN. Ein wichtiger Neurotransmitter im zerebralen Kortex,
der auch an der Impuls-Übertragung von von Nervenzellen auf die glatte und
kardiale Muskulatur und auf bestimmte Drüsen und von motorischen Nervenzellen
auf die Skelettmuskulatur beteiligt ist.
ADRENALIN. Ein Hormon des sympathischen
(„Kampf-oder-Flucht-“) Nervensystems, das von den adrenalen Drüsen
produziert wird.
AMYGDALAE. Mandelförmige Körper an der Vorderseite des
Hippocampus in den Schläfenlappen, die sensorischen Input prüfen; wenn sie
Gefahr entdecken, alarmieren die Amygdalae das Bewusstsein und konzentrieren die
Aufmerksamkeit auf die Bedrohung, während sie den Körper über den
Hypothalamus auf Kampf oder Flucht vorbereiten. Die Amygdala funktioniert von
Geburt an und ist in alle Erinnerungen involviert, die mit Furcht, Schrecken und
Wut zu tun haben. Die Amygdala ist für das Fühlen des Gefühls verantwortlich.
ANOXIE. Das Fehlen von Sauerstoff. Siehe Hypoxie.
ANTIPODEN. Wörtlich: Zwei Orte auf entgegengesetzten Seiten
der Erde; bildlich: abgelegene, schwierig zu erreichende Teile des Gehirns, die
unvermutete Erinnerungen verbergen.
APPERZEPTION. Prozess des Verstehens, in dem neu beobachtete
Eigenschaften eines Objekts oder Ereignisses auf vergangene Wahrnehmungen und
mit ihm verknüpfte Erinnerungen bezogen werden.
ATHEROSKLEROSE. Eine Störung in den Blutgefäßen, bei der sich
Fettablagerungen, Plaque genannt, auf der Innenseite der Arterie aufbauen
und sie einengen, bis es möglicherweise zu Angina kommt (wenn die
Koronararterien betroffen sind) oder zu vorübergehenden ischämischen Attacken
(Mini-Schlaganfälle), wenn zerebrale Arterien beeinträchtigt werden. Sollte
die Arterie durch Einschnürung, ein Blutgerinnsel oder Plaque blockiert sein,
kann eine Herzattacke, ein Schlaganfall oder Venenentzündung die Folge sein.
AUTONOMES NERVENSYSTEM. Unbewusste körperliche
Kontrolle wird durch die zwei Zweige des autonomen Nervensystems vermittelt, durch das alarmierende, für
Kampf oder Flucht zuständige Sympathische Nervensystem und durch das für Ruhe
und Erholung zuständige Parasympathische Nervensystem. Im Schlaf und bei
Inaktivität ist der parasympathische Zweig dominant, und sein primärer
Transmitter, Serotonin, ist reichlich vorhanden. Im Wachzustand und bei Erregung
dominiert der sympathische Zweig, und sein Neurotransmitter, Norepinephrin,
steigt an.
AXON-TERMINAL. Siehe Synapse.
COMPOUNDING. (Verschlimmerung, Steigerung). Prozess, bei dem ein
späteres Trauma ein früheres Trauma weiter ausbaut.
DOPAMIN. Ein Neurotransmitter, der in der Substantia nigra des
Hirnstamms gebildet wird (und über die Axone der Substantia nigra–Zellen im
ganzen Gehirn verteilt wird); seine Aktivität hat viel mit Wachsamkeit und Lust
zu tun. Alle süchtig machenden Substanzen regen die Sekretion von Dopamin an.
ENDOGEN. Innerhalb eines Organs oder Organismuses entstehend.
ENURESE. Bettnässen
GLUKOKORTIKOIDE. Kortikosteron, Kortisol und Kortison sind
Glukokortikoide, Hormone, die von den Nebennieren abgesondert werden; diese
Hormone beeinflussen hauptsächlich die Protein- und Kohlenhydratmechanismen des
Körpers in Stressphasen.
HIPPOCAMPUS. Eine Kortexwindung auf der inneren Oberfläche des
Temporallappens, im Querschnitt wie ein Seepferdchen geformt; der Hippocampus
ist mit der Verankerung kontextbezogener Erinnerung befasst. Das bedeutet, er
unterstützt die Erinnerungsbildung an Ereignisse im Kontext. Der Hippocampus
reift ungefähr im Alter von drei Jahren, was für unsere Probleme
verantwortlich sein kann, wenn wir uns an Ereignisse erinnern wollen, die vor
dieser Zeit liegen. Es ist eine sehr alte Struktur, aber nicht so alt wie die
Amygdala, die schon vor der Geburt funktionsfähig ist.
HIRNANHANGDRÜSE (HYPOPHYSE). Die Hypophyse liegt über dem
Gaumendach. Sie ist eine endokrine Drüse, die mit dem darüber liegenden
Hypothalamus verbunden ist und von diesem kontrolliert wird. Die Hypophyse
kontrolliert gemäß der Anweisung des Hypothalamus die Sekretion vieler Schlüsselhormone.
HOLOTROPES ATMEN. Von Stanislav Grof vorgeschlagene
therapeutische Modalität, bei der beschleunigtes Atmen in ruhiger Atmosphäre
mit Musik kombiniert wird, zur Förderung eines „nicht-gewöhnlichen
Bewusstseinszustands, der den inneren Heilungsprozess in der Psyche des
Individuums aktiviert.“
HOMÖOSTATISCHE REGULIERUNG. Die genaue Kontrolle, die
der Körper über physiologische Parameter wie Körpertemperatur und Blutdruck
ausübt. Analog dazu sorgt ein Thermostat für die „homöostatische
Regulierung“ der Temperatur in einem Haus.
HYPOTHALAMUS. Der Hypothalamus liegt unterhalb des Thalamus und ist
das Gehirnzentrum für Homöostase, d. h., für die Kontrolle von Temperatur,
Blutdruck, usw. Es steht in enger Beziehung zum limbischen System, besonders zur
Amygdala und zur Hirnanhangdrüse. Er verkörpert die gemeinsame Endbahn, durch
die Gefühle in körperliche Symptome übersetzt werden.
HYPOXIE. Mangel an Sauerstoff in den Geweben des Körpers.
KATECHOLAMINE. Die Neurotransmitter, die sich von der Aminosäure
Tyrosin ableiten: Epinephrin, Norepinephrin und Dopamin. Das sind die
exzitatorischen Neurotransmitter.
KOLLAGEN. Bindegewebe, das weitgehend aus Eiweiß besteht und
einen Teil der Knorpel und Knochen bildet.
KORTIKOSTERON. In den adrenalen Drüsen
((Nebennierenrinde))
produziertes Hormon, das wie
Kortison dem Körper hilft, sich an Stress psychischer Art oder aufgrund körperlicher
Verletzung anzupassen.
KORTISOL. Von den adrenalen Drüsen abgesondertes Hormon,
welches das System für den Umgang mit Stress psychischer Art oder aufgrund körperlicher Verletzung rüstet.
LOCUS CAERULEUS. Wörtlich „der blaue Ort“. Diese Struktur
des Hirnstamms ist die Region, in der Norepinephrin produziert wird. Axone aus
dem Locus caeruleus verteilen Norepinephrin an limbische und subkortikale
Strukturen im Gehirn. Er gilt allgemein als Terrorzentrum des Gehirns.
LYMPHOZYTEN. Die Lymphozyten werden in
erster Linie von den lymphatischen Körpergeweben produziert – von der Milz
und den Lymphknoten. Ihre Hauptfunktionen sind, (1) in das Bindegewebe zu
wandern und den Aufbau von Antikörpern gegen Bakterien und Viren zu unterstützen
und (2) zwischen „eigen“ und „fremd“ zu differenzieren.
NEURON. Neurone sind die Zellen, die das Grundelement des
Gehirns und Nervensystems bilden. Jede besteht aus einem Zellkörper, von dem
Dendriten ausgehen, die Nachrichten von anderen Neuronen an die Zelle überbringen,
und aus einem Axon, das den Output des Neurons auf andere Neuronen überträgt.
Axone können über einen Meter lang sein oder nur wenige Millimeter kurz.
Neurone kommunizieren über Synapsen, kleine Spalte zwischen Dendriten und
Axonen oder zwischen Axonen und Zellkörpern; ein Neuron kann synaptisch mit
Tausenden anderer Neuronen verknüpft sein, so dass das Gehirn ein
Nervennetzwerk von nahezu unvorstellbarer Komplexität bildet. Der Nervenimpuls,
der sich entlang der Dendriten und Axone bewegt, ist sowohl eine chemische
Transaktion als auch eine elektrische „Depolarisationswelle“, während die
Botschaft, die die Synapsen passiert, die Form eines Neurotransmitters wie
Serotonin und Norepinephrin annimmt.
NEURONALE SCHLEIFE. Die ineinander greifenden Geflechte der
Dendriten und Axone bilden überall im Gehirn unzählige Nervenschleifen. Verdrängte
Erinnerungen können in einigen von ihnen reverbieren und physiologische
Parameter verändern, während sie niemals ins Bewusstsein gelangen. Somit kann
man sich ohne offensichtlichen Grund unwohl fühlen. Dieses Unwohlsein kann der
Empfindungsanteil eines verdrängten Traumas sein.
NEUROPEPTIDE. Kleine Proteine wie die Endorphine, Insulin und
Oxytozin (zu dessen vielfältigen Funktionen die Einleitung der
Wehenkontraktionen gehört) übermitteln Informationen zwischen den Körperzellen.
Für mehr als Hundert dieser Proteine fand man Rezeptoren im Gehirn, und sie
sind als Neuropeptide bekannt geworden.
NEUROTRANSMITTER. Diese chemischen Substanzen im Gehirn ermöglichen
die Kommunikation der Neuronen untereinander, indem sie den Nervenimpuls über
die Synapse befördern, über den kleinen Spalt zwischen dem Axon des einen
Neurons und dem Dendriten oder Zellkörper des nächsten. Einige, wie Dopamin
und Norepinephrin, sind exzitatorisch und bewirken tendenziell, dass das
folgende Neuron mit größerer Wahrscheinlichkeit feuert, während andere wie
Serotonin inhibitorisch sind.
NORADRENALIN. Ein erregender Neurotransmitter aus der Familie der
Katecholamine, der auch als Norepinephrin bekannt ist.
NOREPINEPHRIN. Ein erregender Transmitter aus der Familie der
Katecholamine. Der Spiegel des Norepinephrins im Gehirn erreicht am Nachmittag
seinen Höchststand, wenn der Serotoninspiegel am niedrigsten ist, und in der
Nacht seinen Tiefststand, wenn Serotonin Höchstwerte erreicht.
ONTOGENESE. Der Entwicklungsverlauf eines individuellen
Organismus. „Die Ontogenese wiederholt die Phylogenese“ bedeutet, dass der
sich entwickelnde Fetus die Stadien der Evolution der Spezies durchläuft.
OPIOIDE. Familie schmerztötender Peptide. Morphin (aus Mohn gewonnen) und die
Endorphine, unsere endogenen (hausgemachten) morphinähnlichen Moleküle sind
Beispiele.
ORBITOFRONTALER KORTEX. Teilbereich des Kortexes über
und zwischen den Augen. Man glaubt, dass sich in ihm Gefühle und Verstand
begegnen.
OXYTOZIN. Ein Neuropeptid, das sowohl die Wehenkontraktionen
als auch die uterinen Kontraktionen beim Orgasmus verursacht, wenn es von den
Eierstöcken produziert wird. Im Gehirn fördert vom Hypothalamus hergestelltes
Oxytozin offensichtlich mütterliches Verhalten und hilft bei Männern, monogame
Langzeitbeziehungen aufrecht zu erhalten.
PALPITATIONEN. Unkontrollierter unregelmäßiger oder schneller
Herzschlag; oft ein Symptom von Angst.
PARAHIPPOCAMPUS.
Am Hippocampus angrenzende Übergangsregion des
Temporallappens, dessen Funktion es ist, Input aus kortikalen Bereichen, die
sensorische Eingaben verarbeiten, zu korrelieren. Diese Struktur verschlüsselt
Erinnerungen für die permanente Speicherung.
PARASYMPATHISCHES NERVENSYSTEM. Siehe Autonomes Nerven
PHYLOGENESE. Die evolutionäre Entwicklung einer Pflanzen- oder
Tierspezies. „Die Ontogenese wiederholt die Phylogenese“ bedeutet, dass der
sich entwickelnde Fetus die Stadien der Evolution der Spezies durchläuft.
PRÄFRONTALER KORTEX. Der vordere Teil des
frontalen Kortex. Dieser Teil des Kortexes ist für die Integration von Gefühlen,
für Ehrgeiz, Planung und abstraktes Denken verantwortlich.
PRIMAL. Ein tiefes Gefühlsereignis, in dem verdrängte
Erinnerungen zu Bewusstsein gebracht werden; ein Wiedererleben eingeprägter
Erinnerung.
PRUNING (STRAFFUNG, KÜRZUNG). In den ersten Monaten des
Lebens stattfindender Konsolidierungsprozess, bei dem neurale Bahnen, die am
meisten benutzt werden, verstärkt werden, während die Neuronen, die wenig
Stimulierung erhalten, absterben.
RETIKULÄRES AKTIVIERUNGSSYSTEM. Hirnstammstruktur, die die
Aktivität des Kortexes und den Betrag sensorischen Inputs erfasst und die
Wachsamkeit des Gehirns entsprechend anpasst.
REVERBIERENDER KREISPROZESS. Wenn sich die Erinnerung
eines Traumas dem Bewusstsein nähert, werden neurochemische Substanzen
abgesondert, um sie zu unterdrücken und somit die Unversehrtheit des
Bewusstseins zu wahren, aber nicht bevor es sich auf die Physiologie ausgewirkt
hat, indem es (zum Beispiel) den Blutdruck hebt. Aber unvermeidlicherweise
werden bestimmte Lebenserfahrungen die Erinnerung erneut auslösen, und sie wird
wiederum beginnen, ins Bewusstsein aufzusteigen, sodass sich der Verdrängungsprozess
wiederholt. Auf diese Weise reverbiert
((widerhallt))
die Erinnerung eines Traumas
unterhalb des Bewusstseins.
SCHLEUSENTHEORIE. Die Vorstellung, dass es im Gehirn
„Schleusen“ gibt, die den Informationsfluss kontrollieren und die
Mechanismen für psychische Verdrängung liefern. Obwohl man solche Tore nicht
gefunden hat, legt die Existenz von Endorphinrezeptoren entlang der Bahnen
sensorischer Signalverarbeitung im Gehirn die Vermutung nahe, dass unsere
endogenen Opiate eine Art Schleuse im Gehirn bilden.
SEROTONIN. Ein beruhigender Neurotransmitter, dessen
Gegenspieler im limbischen System erregendes Norepinephrin ist. Der
Gehirn-Serotoninspiegel erreicht im Schlaf seinen Höchststand. Serotonin ist
ein wichtiges hemmendes Neurohormon.
STEISSPOSITION.
Geburtslage, bei der anstatt des Kopfes das Gesäß
des Fetuses das Becken in Anspruch nimmt. Bei einer Steißgeburt besteht für
den Fetus das Risiko der Anoxie.
STEROID.
Hormonelle
Steroide werden im Körper in der Nebennierenrinde, den Hoden, Eierstöcken und
in der Plazenta aus Cholesterin synthetisiert. Während die Sexualhormone für
die Reproduktion notwendig sind, sind die adrenokortikalen Hormone der
Nebennieren für die Aufrechterhaltung des Lebens nötig. Die Glukokortikoide
(z.B. Kortison) wirken auf den Kohlenhydrat- und Proteinstoffwechsel, während
die Mineralkortikoide wie Aldosteron hauptsächlich das Salz- und
Wassergleichgewicht regulieren.
SYMPATHISCHES NERVENSYSTEM. Siehe Autonomes
Nervensystem.
TACHYKARDIE. Übermäßig schneller Herzschlag.
TEMPORALLAPPEN. Die beidseitigen Gehirnlappen im Bereich über
und innerhalb der Ohren. Die Temporallappen beherbergen den Hippocampus und die
Amygdala.
THALAMUS. Jeder sensorische Input zum und motorische Output
vom Gehirn passiert diese „Relaisstation“ oben am Hirnstamm auf dem Weg zum
und vom Kortex. Er ist als Schaltzentrale des Gehirns bekannt. Der Thalamus ist
besonders verwundbar bei Sauerstoffmangel während der Geburt, und Zelltod zu
dieser Zeit resultiert später in einem verarmten Kortex.
TITRIEREN. In der Chemie: die exakte Menge einer Standardlösung
hinzufügen, die zur vollen Reaktion mit einer Lösung von unbekannter
Konzentration nötig ist. Angewandt auf den Gefühlsprozess „titriert“ ein
erfahrener Therapeut die Menge des Gefühls, die ein Patient in einer Sitzung
erleben und integrieren kann.
VALENZ. Beschreibt die Stärke oder Kraft eines verdrängten
Gefühls. Man sagt, ein starkes frühes Gefühlsereignis hat hohe Valenz.
VASOPRESSIN. Ein Neuropeptid der Hypophyse, das unter anderem für
die Kontrolle der Urinproduktion verantwortlich ist. Im Gehirn scheint es mit
wohlwollenden Gefühlen gegenüber Mitmenschen in Verbindung zu stehen.
Vasopressin ist verantwortlich für väterliche Gefühle des Vaters für seinen
Nachwuchs, während Oxytozin dasselbe bei der Mutter bewirkt. ZYTOARCHITEKTUR. Die spezielle Anordnung von Zellen im Gewebe; oft verwendet in Bezug auf die Anordnung von Nervenzellen im Gehirn, besonders im zerebralen Kortex.
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WARNUNG
Die meisten Kliniken, die heute damit
werben, haben trotz ihrer Behauptungen keine Verbindung mit mir. Ich erkenne
das große Bedürfnis nach therapeutischer Hilfe. Zu diesem Zweck habe ich mit
einem Ausbildungszentrum begonnen. Meine Hoffnung ist, dass diese Individuen,
die aus vielen Ländern der Welt kommen, bald
praktizieren können, und vielleicht
kann ich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits Absolventen empfehlen. Wir
nehmen gerade Bewerbungen für
unser fortlaufendes Ausbildungsprogramm entgegen und hoffen, das Netz der Primärtherapie
so weit wie möglich ausdehnen zu können.
Ich muss
jedoch betonen, dass ich die Gefühle nicht erfunden habe. Es gibt sie seit
Jahrtausenden. Ich habe einen Weg gefunden, wie man sie wieder aufspüren kann,
nachdem sie im Untergrund verschwunden sind. Auch wenn keine formale Therapie
zur Verfügung steht, kann man eine Menge tun. Ein verständnisvoller und
sympathischer Freund oder Freundin ist gewiss ein guter Anfang. Bei ihm oder
bei ihr kann man sich gehen lassen, weinen oder auch schreien, auch wenn der
Freund nicht weiß, worum es eigentlich geht. Ein paar erklärende Worte zuvor
wären hilfreich, aber ein guter Freund wird nicht kritisch sein. Er oder sie
gibt sich damit zufrieden, für Sie „da zu sein.“ Einfach nur mit einem
Freund /einer Freundin über seine Gefühle zu reden, ist bereits ein
wichtiger Schritt, auch ohne Schreien oder tiefes Weinen. Alles, was zum
Ausdruck führt, ist ein Gewinn.
Es gibt
Menschen, die keine verständnisvollen Freunde haben. Das schließt nicht aus,
dass man für sich selbst weint und schreit und wenigstens den Druck herauslässt.
Schließlich ist es das Fühlen, worauf wir aus sind, und darauf gibt es
Seite 352 |
Es ist
keine schlechte Sache, wenn man sich einfach bewusst ist, dass es so etwas wie
Gefühle gibt und hoffentlich auch, wie beschaffen diese Gefühle sein
könnten. Es gibt viele Leute, die noch immer nicht begreifen, dass es
Gefühle sind, die uns antreiben, uns lenken, unsere Symptome, Albträume und
körperlichen Beschwerden verursachen.
Es gibt
Menschen, die besorgt sind, weil ich nicht genug Betonung auf Wertsysteme lege
und kognitiven und spirituellen Aspekten kein ausreichendes Gewicht beimesse. Meine Überzeugung ist, dass sich
Wertsysteme direkt aus dem Fühlen ergeben, ohne dass man sie als solche
jemanden lehren müsste. Eine Frau zum Beispiel, die ihre eigenen Kindheitsbedürfnisse
gefühlt hat, kann spüren, was ihr eigenes Kind braucht. Als Mutter braucht sie
keine Werteliste, die sie bei der Erziehung ihres Kindes unterstützt. Niemand
muss ihr beibringen, dass man ein weinendes Kind aufnimmt, dass man ein Kind,
das hingefallen ist, in den Arm nimmt und tröstet. Sie muss nicht lernen,
welchen Wert es hat, auf die Gefühle eines Kindes zu hören, nachdem sie
bereits das tiefe Bedürfnis gefühlt hat, dass man
ihr zuhöre.
Ein
Ehepartner muss nichts über eine so absolut grundlegende Sache wie den Wert von
Zärtlichkeit in einer Beziehung lernen. Ich bestreite keinesfalls die Bedeutung
von Werten, von Bewusstheit oder gewissen Ideologien. Was ich jedoch
herausgefunden habe, ist, dass sie eine logische Evolution bei Menschen zu sein
scheinen, die fühlen können. Deshalb bin ich noch lange kein Befürworter von
Gestalten, denen es an Verstand fehlt und die kopf- und hilflos umherirren. Ganz
im Gegenteil, gerade Leute, die nicht fühlen können, kein Mitgefühl und natürliches
Verständnis haben, brauchen es dringend, dass man ihnen Werte beibringt. Zu
viele von uns führen ein Leben stiller Verzweiflung, zerbrochener Träume und
heimlicher Kompromisse. Wir haben uns kompromittiert, um durchs Leben zu kommen.
Wir können zu diesem Selbst , das kompromittiert worden ist, zurückfinden.
Was könnte
spiritueller sein als die Wertschätzung des menschlichen Lebens und des
menschlichen Geists? Für tief verdrängende Menschen ist der Wert menschlichen
Lebens nicht so offensichtlich. Kein fühlender Mensch würde sich in eine
besondere Uniform stecken lassen und Tausende von Meilen verreisen, um einzig auf der Grundlage einiger
abstrakter Begriffe wie „Ehre“ einen Fremden zu töten. Ebenso könnte kein
Mensch, der seine eigene Natur und ihre Schönheit zutiefst empfunden hat, die
Natur um sich herum im Namen des Profits zerstören. Man muss nicht dazu erzogen
werden, die Natur zu respektieren: Es ist im Respekt vor der eigenen Natur
inbegriffen.
Werte sind spätere Entwicklungen des zerebralen Kortexes, die allzu oft Gefühle ersetzen. Gefühle kamen zuerst. Werte sind darin inbegriffen. Wir schätzen das Leben und alles, was damit zu tu hat, es gut und angenehm zu machen, weil wir das Leben in uns gespürt haben, und es ist wunderbar.
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PRIMÄRTHERAPIE IST KEINE
„URSCHREI“-THERAPIE In der Primärtherapie
geht es nicht einfach darum, Leute zum Schreien zu bringen. Das ist der Titel
eines Buches. Sie war niemals „Urschrei“-Therapie. Wer das Buch gelesen hat,
wusste, dass ein Schrei das ist, was einige Leute von sich geben, wenn sie unter
Schmerz stehen. Andere schluchzen oder weinen einfach. Wir waren hinter dem
Schmerz her, nicht hinter mechanischen Übungen wie gegen die Wand zu schlagen
und „Mami“ zu brüllen. Diese Therapie hat das, was im Wesentlichen eine
Kunstform war, in eine Wissenschaft gewandelt.
Es gibt
Hunderte von Fachleuten, die ohne einen einzigen Tag Ausbildung etwas ausüben,
was sie als Primärtherapie bezeichnen. Viele ahnungslose Patienten sind schwer geschädigt worden, weil sie
glaubten, richtige Primärtherapie zu bekommen. Ich muss betonen, dass diese
Therapie in untrainierten Händen gefährlich ist. Vergewissern Sie sich, indem
Sie mit uns Kontakt aufnehmen.
Bei den
Hunderten von Kliniken auf der Welt, die meinen Namen benutzen und fälschlicherweise
behaupten, von mir ausgebildet worden zu sein, habe ich nie gesehen, dass die
Therapie korrekt ausgeführt wurde. Wir verbringen etwa ein Drittel unserer Zeit
damit, Patienten zu behandeln, die von Pseudo-Primärtherapeuten kommen.
Jahrelang
floss ein Großteil unseres Budgets in die Forschung. Ich hoffte, dass andere
klinische Zentren die Primärforschung fortsetzen würden, aber das war nicht
der Fall.
Gegenwärtig
kann ich aufrichtig kein primärtherapeutisches Zentrum empfehlen, da ich mit
keinem anderen als dem Primal Center in Venice, Kalifornien, U.S.A. in
Verbindung stehe. Was das Problem verschlimmert, ist die Tatsache, dass einige
Therapeuten ein paar Brocken
Ausbildung bei mir hatten und dann zu praktizieren angefangen haben.
Ich möchte die Primärtherapie der Welt anbieten. Primärtherapie funktioniert. Die Patienten wissen das. Und ich hoffe, es durch dieses Buch der leidenden Menschheit bekannt zu machen.
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TEIL I , SEITEN 1 - 152 | TEIL II, SEITEN 159 - 260 | |
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