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Primal Mind              Epilepticjourney

 

 

                                                                                                                         TEIL I C                       

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bereits wild und ohne Kontrolle gehandelt. Zu viele Hormone und zu wenig präfrontaler Kortex.

 

Der Neokortex ist die erste Tür, durch die wir gehen, um unsere Geschichte zurückzuverfolgen und unseren Schmerz zu verstehen.

 

Der präfrontale Kortex ist insoweit Teil des Gefühlssystems, dass er unseren physiologisch-emotionalen Reaktionen Bedeutung und Verstehen hinzufügt. Der Neokortex dient als Eingangsportal zur Leidenskomponente der Erinnerung; ein Portal, das nicht aus sich selbst heraus funktionieren kann. Er ist die erste Tür, durch die wir gehen, um unsere Geschichte zurückzuverfolgen und unseren Schmerz zu verstehen. Wenn der präfrontale Kortex aufgrund eines frühen Traumas geschwächt oder beschädigt ist, ist es schwer, Gefühle zu blockieren, die von tieferen Gehirnebenen aufsteigen. Wenn er weniger effizient arbeitet, sickert eingeprägte Erinnerung an die Oberfläche durch. Es kommt dann zu Panik, Unpässlichkeit und Angst, alle angetrieben von einer Einprägung, die sich auch in zwanghaftem Grübeln zeigen kann.

 

In der Psychotherapie ist es sehr wichtig, das Problem zu behandeln und nicht einfach das Symptom, was leider allzu oft geschieht. Zum Beispiel ist sorgenvolles Grübeln nicht ein Problem, sondern es ist das Symptom einer Sache, die sich physiologisch innerhalb des Gehirns abspielt – was das Grübeln verursacht, ist das Problem. Das Grübeln geschieht, wenn frühe Furcht sich gegen den frontalen Kortex stemmt. Furcht ist das Fachgebiet des limbischen Areals; amorpher Terror gehört zu einer tieferen Zone, im Großen und Ganzen zum Hirnstamm. Unnachgiebige Symptome wie z.B. Phobien leiten sich gewöhnlich vom Hirnstamm ab. Sorgenvolles Grübeln quält viele von uns und drückt sich gewöhnlich aus als: „Was ist, wenn dies oder das geschieht?!“ Die ständige Sorge bedeutet, die Katastrophe vorauszuahnen, aber was wir nicht erkennen, ist, dass die Katasrophe bereits stattgefunden hat; wir haben nur keinen Zugang zu ihr. Die präfrontalen Kortices (rechter und linker) sind der Versammlungsraum, wo Aspekte unserer Geschichte sich vereinen und ein Ganzes werden, wo wir getrennte Aspekte unserer Geschichte zusammenbringen. Wenn ein Ziel der Psychotherapie darin besteht, eine Person wieder ganz zu machen, dann muss Erinnerung komplett und untereinander verknüpft sein.

 

Im Wesentlichen wird Neurose von tieferen Gehirnzentren gesteuert, die mit dem linken Neokortex zu kommunizieren versuchen, es aber nicht können, weil die Verbindung unterbrochen worden ist, eine Unterbrechung verursacht von einer Einprägung frühen Liebesmangels,

 

 

 

 

 

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die Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit heißt. Zum Beispiel kann das limbische System, die zweite Ebene des Gehirns, ganz allein reagieren, bevor der Neokortex auch nur beteiligt ist, so dass wir also systemisch reagieren, bevor der frontale Kortex auch nur wahrnimmt, was geschieht. Es sind nicht vom präfrontalen Neokortex kommende Gedanken, die eine Reaktion innerhalb unseres Körpers und Nervensystems steuern, sondern emotionale Prozesse, die sich neurochemisch aus dem limbischen Areal entfalten.

Eine Patientin von mir, Eva, bekam, als ihr von der zuständigen Behörde ihr Pass verweigert wurde,  wegen dieser Frustration – davon abgehalten zu werden, dass sie vorwärts kam -  einen Wutanfall, da dieses Ereignis damit resonierte, dass sie zum einen von ihren Eltern von jedem Wunsch abgehalten wurde und zum anderen während ihrer Geburt am Herauskommen gehindert wurde, als sich ihre Mutter anscheinend nicht öffnen konnte. Diese Wut und dieser Antrieb waren ursprünglich lebensrettend, weil sie signalisierten: „Versuch es ein letztes Mal.“ Sie demonstriert, was ich als „Kampf-und-Scheitern“-Syndrom bezeichne, wo sie sich so sehr bemüht, aufgehalten wird und dann auf unüberwindliche Hindernisse trifft, so dass sie schließlich aufgeben muss. Als Erwachsene hat sie den Drang, erfolgreich zu sein, aber sie lässt sich leicht entmutigen. Sie begann so viele Projekte voller Entschlossenheit und Enthusiasmus, nur um beim geringsten Widerstand aufzugeben. Dann fiel sie gewöhnlich in eine Depression, in ein Gefühl von: „Was hat es für einen Sinn zu kämpfen?“

In Zeiten, die man als ihre „manischen“ Phasen bezeichnen könnte, duplizierte sie ihre eigene Geburtssequenz. Sie wurde vollends angehalten, als ihre Mutter eine massive Dosis Anästhetika erhielt, die auch viele Systeme des Babys stilllegten, nicht zuletzt die Atmung. An diesem Punkt stürzte sie in Scheitern, Verzweiflung und Resignation ; das waren die Prototypen für viele spätere Reaktionen. Man diagnostizierte sie als „depressiv,“ aber jetzt wissen wir, was es wirklich ist. Die injizierten Anästhetika tauchten des Baby in etwas, das ich die „Talsohle“ nenne, was bedeutet, dass das parasympathische System die Regie übernimmt. Die Talsohle ist der Punkt, an dem der Geburtskampf entweder durch eine Nabelschnur um den Hals, massive Anästhetika oder andere Hindernisse blockiert wird. Dadurch bildet sich ein „Kampf-und-Scheitern“-Syndrom und die Gangschaltung des Gehirn wechselt in den Verdrängungsmodus (parasympathischer Modus). Das ist die Bedeutung von Resonanz: Etwas in der Gegenwart löst das mit der zweiten Ebene verbundene Feeling aus und dann das der ersten Ebene, aber nur dann, wenn der Patient bereit ist.

Eva hatte den Drang, sich von dieser Talsohle fernzuhalten, wo der Tod lauerte. Der Tod lag auf der Lauer und „herauszukommen“ – ihr Entkommen – war unmöglich. Das Bedürfnis „herauszukommen“ hatte später im Leben eine Dringlichkeit auf Leben und Tod an sich, der sich in ihrem anfänglichen Drang reflektiert, neue Projekte zu beginnen. Lassen Sie mich hier wiederholen, dass dies kein theoretisches Konstrukt ist sondern eine tatsächliche Beobachtung an Patienten, die mit der Zeit sehr tief in eine weit entfernte Vergangenheit eintauchen.

 

 

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Depression ist Leben in der Talsohle, kein Verhalten oder eine Reihe negativer Gedanken. Es bedeutet, in seiner Geschichte versunken zu sein und nicht in der Lage zu sein, aus ihr herauszukommen. Schlimmer noch, es bedeutet, dass man nicht weiß, dass man in dieser Geschichte versunken ist.

Gedanken erschienen Millionen von Jahren nach Instinkten und Gefühlen. Gedanken sind nicht das Problem; sie signalisieren das Problem, sorgen bei all dem für die Worte. Das Leidenssystem ist eines der ältesten im Gehirn. Affen leiden, können es aber nicht mit Worten beschreiben. Menschen können es. Aber Primaten und Menschen leiden auf dieselbe Weise mit ziemlich denselben Gehirnstrukturen. Die Top-Ebene unseres Gehirns – der Neokortex – zeigt nur an, welche Gefühle gerade aufsteigen. Er leidet nicht selbst; er ist sich des Leidens bewusst und redet darüber. Er erinnert sich und denkt über Leben und Kindheit nach, aber der Leidensteil liegt abgesondert in seinem Versteck und wartet auf den geeigneten Moment und auf die geeignete Therapie.

Als alles andere schiefging, unternahm Eva einen Selbstmordversuch. Der Tod war eine Erinnerung, eine Erinnerung an das Ende der Agonie. Wenn sie während des Tages von jemandem provoziert wurde, der sie davon abhielt zu tun, was sie tun wollte, geriet sie manchmal in eine Angstsituation – zurück in die ursprüngliche Geburtssituation, wo sie blockiert und hilflos war. Wir dürfen nicht vergessen, dass es verknüpfte Nervenbahnen gibt, die ein vertikales Nervennetzwerk bilden (Ich erörtere die horizontalen Bahnen einen Augenblick später). Etwas in der Gegenwart löst ein Feeling aus, das dann zu dem prototypischen Nervennetzwerk hinabsteigt. Dort ist das ursprüngliche Empfindungs-Gefühl, das weiter ausgearbeitet wird, wenn wir und folglich unsere Gehirne reifen. Somit ist eine Sitzung De-Evolution, eine Rückreise in die Zeit. Wenn Eva provoziert wurde, konnte das Feeling in einem Alptraum enden. In diesem Alptraum fühlte sie sich hilflos, verängstigt, unfähig sich zu bewegen oder zu schreien, und sie fühlte den Tod nahen. In ihrem Schlaf fabrizierte sie eine Geschichte, um ihre Gefühle vernünftig erscheinen zu lassen – die Essenz der Neurose. Gefühle als Traum oder Alptraum sind nicht launenhaft. Sie sind nicht einfach so aus der Luft gegriffen. Sie gründen auf unserer Geschichte.

Wiederum sehen wir, dass Gefühle Gedanken steuern und nicht umgekehrt. Auch die Gedanken und Bilder in einem Traum werden vom tiefen Unbewussten gesteuert. Die Gedanken folgen der Evolution – Empfindungen zuerst, Gefühle als zweite und schließlich Gedanken. Wenn Eva nicht kämpfen konnte, um etwas in ihrem Leben geschehen zu lassen, wurde sie schwer depressiv. Es brachte sie zurück in eine Zeit, als ihr Geburtskampf nicht funktionierte; als der Tod sie bedrohte. Sie war dort zurück, wo sie sich nicht bewegen konnte um zu leben, und sie war wieder hilflos. Jede Art von Hilflosigkeit bedeutet für sie von Anfang an den Tod; deshalb die Depression. Sie vermied jede Art hilfloser Situation, zum Beispiel in der Bestimmungsgewalt eines anderen zu sein oder einen Chef zu haben. Der Prototyp involvierte Hilflosigkeit und Todesnähe bei der Geburt.

 

 

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Sie musste die Verletzung von Beginn ihres Lebens an verleugnen: „Es gibt niemanden, der mir hilft. Ich muss alles selbst machen.“ Als Kind bat sie wegen ihrer Einprägung nie um Hilfe; und bekam tatsächlich nie Hilfe von ihren Eltern, weil sie nie so aussah, als würde sie welche brauchen. Sie war entschlossen in allem, was sie tat. All das verstärkte ihr unbewusstes Gefühl: „Schau, es gibt niemanden, der hilft. Besser, ich mach alles selbst.“ Dieses Bedürfnis fiel Wegelagerern zum Opfer und schaffte es nie  bis zur obersten Ebene, erlaubte ihr nie zu fühlen und zu wissen, dass sie im Leben jemanden brauchte. Sie verließ jeden Jungen, den sie traf, sobald er ihr irgendwelche Anweisungen gab oder sie zu kontrollieren versuchte. Die geringste Forderung eines anderen wurde zu einem faschistischen Diktat, etwas, wogegen man rebellieren musste.

Zu der Zeit, wenn wir ihr Verhalten als Erwachsene beobachten, ist sein Ursprung überlagert und nicht zu erkennen, und so ist es verständlich, dass Therapeuten sich aufs Hier-und-Jetzt konzentrieren. Das Grundgefühl verzweigt und verdreht sich durch spätere Kindheitsereignisse. Das ursprüngliche große Gefühl findet man jetzt in Verhaltensdetails, wie z. B. im Zögern, einen Ober um Wasser zu bitten. Sie konnte keine dauerhafte Beziehung haben, weil sie wegen Liebe nicht von irgendjemanden abhängig sein wollte.  Ihre gegenwärtigen Beziehungen mit Jungen resonierten mit jener Misshandlung und machten sie ängstlich.

WIE VERDRÄNGUNG FUNKTIONIERT

Es gibt ein Schleusensystem im Gehirn, das die Gefühlsbotschaft hemmt oder verlangsamt, wenn sie nicht zu ertragen ist. Wenn der Schleusenmechanismus der Amygdala gegen aufsteigende Gefühle versagt, kommt es zu einer direkteren Einwirkung auf den frontalen Kortex, die ihn aktiviert; ihn rasen lässt; ihn dazu bringt, dass er Gedanken und Glaubensvorstellungen fabriziert; und, ganz allgemein, dass er tut, was er kann, um den Ansturm abzuschwächen. Wenn der Hippokampus mit vielen schmerzvollen Erinnerungen überlastet ist, dann ist er vielleicht hilflos und kann den Hypothalamus nicht informieren, dass er den Gefühlsausstoß der Amygdala abmildern soll. Die Amygdala hat direkte Verbindungen zum frontalen Kortex, so dass Gefühle auch direkt unsere Gedankenprozesse berühren können; und natürlich hat sie Verbindungen zu tieferen Ebenen der Gehirnfunktion. Wenn die Schleusenmechanismen versagen, können Gefühle, die auf tieferen Gehirnebenen verwurzelt sind, wie z. B. Schrecken, der Kontrolle entkommen und zum präfrontalen Kortex aufsteigen, um Gefahr zu signalisieren. Der präfrontale Kortex kann das als Angstattacke etikettieren, und das Individuum ist sich dann großen Unwohlseins bewusst.

Ein kognitiver Psychologe könnte versuchen, diese Angst zu behandeln, als sei sie ein rein kortikales Phänomen, und versuchen, sie durch Gedanken, Vorstellungen, Logik und so fort zu kontrollieren: „Schauen Sie her, Sie überreagieren. Es gibt keinen Grund, so aufgeregt zu sein.“ Dennoch sind Reaktionen fast immer richtig; sie sagen

 

 

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uns, was auf tieferen Gehirnebenen wirklich geschieht, auch wenn der ursprüngliche Zusammenhang damit, wie sie eingeprägt wurden, vielleicht nicht zu erkennen ist. Wir sollten Reaktionen nicht verleugnen oder verändern sondern vielmehr ihren Ursprung finden, so dass die Reaktionen Sinn ergeben. Ohne Zugang zu unseren Gefühlen wären wir zu dem Schluss gezwungen, dass ein bestimmtes gegenwärtiges Verhalten irrational sei, weil wir uns seiner Vorgeschichte unbewusst sind; zum Beispiel Phobien.

Wenn man unser Verhalten, unsere eigenen Gefühle antreibt, kann das für uns Gefahr bedeuten, weil sie für die höheren Gehirnebenen zu viel sind, als dass sie diese akzeptieren und integrieren könnten. Das Gehirn hat ein Alarmsystem, das uns vor potentieller Überlastung warnt – mehr Gefühle, als erlebt und integriert werden können. Es sagt „schalt hoch“ für den Schmerzansturm, und das System gehorcht. Aber wenn das Schleusensystem „leck“ ist, lässt es zu viel Schmerz durch. Wenn diese Überlast an Schmerz/Hoffnunglosigkeit ihren Marsch zum Kortex beginnt, gehen die Sirenen los. Kortisol ist eine dieser Alarmsubstanzen. Der Alarm ist jedoch von allgemeiner Art, und viele Systeme sind davon betroffen. Der eigene Hippokampus des Gehirns kann durch zu hohe Kortisolsekretion über zu lange Zeit geschädigt werden, was in einem geschwächten Gedächtnis resultiert. Es ist keine Überraschung, dass jene von uns, die in ihrer ganzen Kindheit ängstlich waren, sich kaum an irgendwas erinnern. Eva erinnerte sich an so gut wie nichts aus ihrer Kindheit;  es war alles ein „schwarzes Loch.“  Sie sagte uns in dem Eingangsinterview, sie glaube, dass ihre Kindheit, obwohl sie ihr unklar sei, doch ziemlich glücklich gewesen sei. Das war nicht ganz der Fall, wie sie in der Therapie herausfand.

Ein gutes Beispiel für Überlastung ist ein kürzlicher Fall, wo eine 40jährige Patientin im Alter von 9 Jahren ein Bad nahm und einen elektrischen Heizlüfter neben der Wanne stehen hatte. Sie griff hinüber um den Heizlüfter zu bewegen und erhielt einen massiven Schlag. Sie wurde sofort bewusstlos, aber die Heftigkeit ihres Zappelns/ihrer Krämpfe zog den Stecker des Heizgeräts aus der Dose und rettete ihr Leben. Sie ging nach unten, um es ihrer Mutter zu sagen, die gerade bügelte. Ihre Mutter sagte: „Oh, zu dumm. Aber du scheinst jetzt okay zu sein.“ Sie machte mit dem Bügeln weiter. Die Bedeutung für ihre Tochter war in diesem Moment, der viele Augenblicke zuvor zusammenfasste: „Sie kümmert sich nicht. Es gibt keine Hilfe für mich. Sie liebt mich wirklich nicht.“

Über mehrere Monate erlebte sie diesen elektrischen Schlag wieder - ein Zappeln und Krampfen, genau so heftig wie damals, als es geschah. (Das ist gefilmt worden.) Sie hatte keine Ahnung, dass  dieser Schock noch da drin war. Es war reine elektrische Energie ohne Inhalt, dennoch verschloß diese Energie sie total. Sie hatte einen rigiden, unbeweglichen Gesichtsausdruck, der erst nach Monaten des Wiedererlebens nachließ und sich schließlich löste. Ihr ganzer Körper gefror zur Zeit des Schocks, und auch heute noch fällt es ihr schwer, leichte, fließende Bewegungen zu machen. Ihr gesamtes System scheint sich permanent kontrahiert zu haben -

 

 

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eine totale Überlastung. Ihre „Primals,“ wie wir sie nennen, beziehen sich auf ihre Anfälle und dann auf das Gefühl: „Sie kümmert sich nicht. Es gibt keine Hilfe. Es gibt keinen Ort, wo ich mich hinwenden könnte. Diese Erkenntnis war gewaltiger Schmerz, denn sie war eine Prophezeiung ihre kommenden Lebens. Sie starb beinahe. Ihre Mutter reagierte kaum. Die wichtigste Sache, die sie aus diesen Primals erfährt, ist, dass sie nie fähig war sich auszudrücken. Alles war im Inneren verschlossen;  sie schien tot. Jetzt endlich, da sie den elektrischen Schock ausdrückt, kann sie sich auch selbst emotional ausdrücken. Ihr Gesicht hat jetzt einen Ausdruck, während es zuvor ausdruckslos und unbeweglich war. Sie hatte ständig Angst zu sterben, und das war nicht nur ein Gedanke. Es war eine wirkliche Erfahrung. Ihre Alpträume waren voller Gefahr; in ihnen war sie kurz davor zu sterben. Ich habe viele Patienten gesehen, die diese Ängste hatten, und es war nicht wie etwas Zukünftiges – es war unmittelbar: „Ich sterbe jetzt!“

Wenn sie den Schlag nicht wiedererlebt hätte, hätten wir nie von ihrem Nahtod-Erlebnis erfahren. In der kognitiven Therapie wären ihre Ängste vielleicht als irrationale Gedanken behandelt worden. Der elektrische Schlag in der Badewanne unterscheidet sich nicht von einer Überlastung durch ein Feeling: “Es ist alles hoffnungslos. Niemand wird mich je lieben.“ Das ist auch elektrisch. Aber es hat einen Inhalt. Der Schock hatte keinen. Das machte es so teuflisch schwer, ihn zu entdecken. Es gab keine besondere Szene, auf die man sich berufen konnte. Es war ein „neutrales“ Erlebnis; pure Elektrizität, die uns die Überlastung, und wie sie funktioniert, klar erkennen ließ. Diese Überlastung kann auch den sexuellen Ausdruck hemmen (und sie tat es wirklich), obwohl sie mit Sex nichts zu tun hat.

Traumen können sich während der Schwangerschaft und bei der Geburt, wenn die höchsten Ebenen neurologischen Funktionierens der Hirnstamm und limbische Strukturen sind, in den Eingeweiden festsetzen. Wenn Patienten über viszerale Symptome wie Morbus Crohn klagen, beweist es uns, wie früh das Trauma verankert wurde. Die Anzeichen einer frühen Prägung/Einprägung sind Empfindungen – ein aufgewühlter Magen, Engegefühl in der Brust, Atmungsprobleme, Empfindungen, dass man gedrückt oder zerquetscht wird, und ein generelles Gefühl von Agitation.

Somit können die Amygdala und der Hippokampus die Freisetzung von Stresshormonen kontrollieren. Wenn das System mit Kortisol geflutet wird, kann der Hippokampus zum Beispiel dem Hypothalamus eine Botschaft senden, er solle nachlassen. In gewisser Hinsicht fleht die Amygdala „Lass es raus!“, während der Hippokampus bittet: „Halt es zurück!“ Wir wollen gerade so sehr gestresst werden, dass es reicht, um mit Notsituationen fertig zu werden, aber nicht so sehr, dass wir überwältigt werden. Wir wollen sicher sein, dass das Gefahrensignal nicht selbst zu einer Gefahr wird. Wir geraten nicht aufgrund einer irrationalen Kraft in Panik. Es gibt einen guten Grund dafür; etwas auf tieferen Gehirnebenen steuert sie. Die Panik (und Panik-

 

 

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attacken) sind die Reaktion auf einen Alarm, eine Gefahr. Kurz gesagt können Panikattacken ganz rational sein und auf reale eingeprägte Ereignisse reagieren. Zu oft versuchen wir, das Gefahrensignal zu entfernen, während wir die Gefahr intakt lassen. Das passiert oft, wenn die Gefahr unten im Hirnstamm liegt, außerhalb unserer Sichtweite. Solange wir mit Worten und Erklärungen handeln, können wir per Definition nie zu der ursprünglichen Gefahr gelangen.

Panik ist Schrecken aus der frühen Schwangerschaft. Dieser Schrecken selbst hat das verdrängende, schleusende System geschwächt, so dass jedes gegenwärtige Nachlassen der Wachsamkeit ihn auslösen kann. Er tritt lange Zeit vor dem depressiven Leiden auf, weil er sich vor der vollen Entwicklung des Hemmungs- und Schleusungssystems ereignet. Er ist rein körperlich und scheint so ein Rätsel zu sein – bis die Person tiefen Zugang erlangt. Dann ist es kein Geheimnis mehr. Es ist die primitivste aller Reaktionen; Worte werden sie nicht berühren. Sie repräsentiert die höchste Ebene der Gehirnfunktion zu jener Zeit. Betrachten Sie ihre Manifestationen: Kurzatmigkeit, Brustschmerz und –druck, schneller Herzschlag, Würgen oder Erstickungsgefühle, Schmetterlinge im Bauch, Benommenheit, und das Gefühl eines bevorstehenden Verhängnisses. Nichts davon benötigt einen Kortex oder Gehirnfunktionen höherer Ebene. Das ist ein sehr wichtiger Grund, warum Worte diese Reaktion nicht heilen können. Sie ist im Grund viszeral und und subkortikal. Diese Manifestationen sagen uns, dass sie einer sehr primitiven Gehirnorganisation entstammen und einer Zeit, als es für den Umgang mit Traumen nur eine rudimentäre zerebrale Struktur gab (der ein voll entwickelter Neokortex fehlte). Es gibt keine Einsicht, die diesen Terror heilen kann, weil er sein Leben begann, bevor wir Worte hatten.

Es ist, was wir bei niedrigeren Tieren sehen, die von anderen Tieren erschreckt werden. Ihre Reaktionen scheinen wie reine Panik. Wir sehen das bei einigen Individuen, die sich einer Computer-Tomographie unterziehen. In dem Moment, wenn sie in einer Stahl- und Zementhülle eingeschlossen sind, kommt Panik auf. Die Situation kommt dem nahe, was ursprünglich geschah. Es bedarf der Beengtheit einer solchen Maschine, um das primitive Gefühl wieder zu erwecken. Der Patient glaubt vielleicht, es sei die Maschine, die Angst erzeugt, aber es ist die primäre Panik aus einem eingeengten, geschlossenen Raum. Was die Tomographie-Röhre bewirkt, ist, dass sie eine resonierende Erinnerung stimuliert, keine Erinnerung von der Art, wie wir sie uns gewöhnlich vorstellen, weil sie eine körperliche Reaktion auslöst. Wenn wir diese Art von Angst haben, wenn wir einen Magnetresonanz-Scan (MRI) machen lassen, können wir ziemlich sicher sein, dass wir eine schwere Geburt durchmachten; kurz gesagt ist das eine differentielle Diagnostik, um Leute mit gesunder Geburt von solchen mit traumatischer Geburt zu unterscheiden. Ich weise die Techniker an, die MRIs an mir ausführen, dass sie mir in unregelmäßigen Abständen auf die Füße klopfen, so dass ich keine vollentwickelte Angstreaktion organisieren kann.

Es bedarf tatsächlich einer gewissen höheren zerebralen Organisation, um einen Angstzustand zu erzeugen. Die Auffassung von Resonanz ist wichtig, weil Situationen

 

 

 

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in uns unterhalb der Sprachebene resonieren können. Wir können erregt sein, auch wenn wir nicht wissen, womit die äußere Situation resoniert. So kann beim Sex ein nackter weiblicher Körper in einem Mann mit einem frühen Erlebnis mit seiner Mutter resonieren. Vielleicht war sie verführerisch, lange bevor das Kind es verstehen konnte. Ich hatte einen weißen Patienten, der eine sehr verführerische Mutter hatte; sie küsste ihren Sohn auf französische Art. Später konnte er nur Freundinnen haben, die schwarz waren oder Asiatinnen – eine weiße Freundin resonierte mit dieser frühen Verführung und erschreckte ihn. Hier resonierten „weiße“ Frauen mit einer weißen Mutter, die man zu meiden hat. Ich behandelte eine lesbische Frau, die von ihrem (weißen) Stiefvater sexuell belästigt wurde.  Sie konnte nur mit schwarzen Männern Beziehungen haben. Später resonierte jeder Mann mit dem frühen Stiefvater. Sie wechselte zu Sex mit Frauen. Es schien ihr viel sicherer.

Wenn es bei der Geburt zum Beispiel aufgrund von Sauerstoffmangel (Anoxie) zu einem Kampf auf Leben und Tod kommt, wird das existierende Reaktionssystem aktiviert, aber weil es aufgrund der kompletten Schmerzlast nicht voll reagieren kann (es voll zu fühlen würde bedeuten zu sterben oder wenigstens das Bewusstsein zu verlieren), reagiert es innerhalb seiner biologischen Grenzen partiell und gibt den übermäßigen Teil des Schreckens zur Verwahrung weg; es speichert ihn, bis unser System stark genug ist, um ihn zu fühlen und aufzulösen. Er lebt hinter den Schleusen unserer Verdrängung.

Wir reagieren jedoch auf diesen gespeicherten Schrecken ständig mit chronisch hohen Stresshormon-Spiegeln, einem beeinträchtigten Immunsystem, Fehlwahrnehmungen, sonderbaren Vorstellungen, Alpträumen und chronischem Unwohlsein. Dieses hohe Maß an Aktivierung nagt am kardiovaskulärem System, so dass wir mit 55 ernsthaft krank werden, obwohl wir zu der Zeit ein normales, entspanntes Leben zu führen scheinen. Es ist nicht überraschend, dass eine der höchsten Konzentrationen an hemmenden Neurotransmittern – Teil des Schleusenmechanismuses des Gehirns – im Thalamus gefunden wird, der so konstruiert ist, dass er überwältigende Information nicht weiterleitet. Er muss Schmerz aufhalten, wenn Schmerz den frontalen Kortex bedroht. Wenn in einer primärtherapeutischen Sitzung jemand Zugang zu Gefühlen hat und schließlich die Verbindung zustande kommt zwischen dem linken präfrontalen Kortex und tieferen Gehirnzentren, gibt es zuerst großen Schmerz und dann große Erleichterung. In einem Primal-Erlebnis (völliges Wiedererleben frühen Liebesmangels) kommt es zu einem solchen Ansturm von Schmerz, dass das Abwehrsystem zeitweise überwältigt und die Schleusung geschwächt ist, und was dann manchmal durchkommt, ist zwanghaftes Husten, das Gefühl zu ersticken und sehr schnelles Fußzittern (dieses Zittern kann eine halbe Stunde andauern, auch wenn der Patient sich dessen nicht bewusst ist). Es stammt oft aus der Tiefe des Gehirns und ist Bestandteil dessen, was wir als Angst- oder Panikzustand kennen. Es ist ein nichtverknüpfter Zustand.

 

 

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Wenn wir unserer inneren Realität nicht gegenübertreten, können wir auch unserer äußeren Realität nicht gegenübertreten, besonders wenn diese äußere Realität die inneren Gefühle auslöst, die wir zu vermeiden suchen. Mit anderen Worten bilden das Äußere und das Innere im Gehirn einen integrierten Schaltkreis. Letztlich ist das Äußere das Innere. Wenn es ein offenes sensorisches Tor gibt, wird Information von innen und von außen akzeptiert und integriert. Wenn das Tor verschlossen ist, sehen wir weder innen noch außen klar. Wir sind von uns selbst abgetrennt. Verdrängung hält das Innere davon ab, nach außen zu gelangen, und das Äußere, nach innen zu gelangen. Liebe hat in diesem Fall keine Chance, Zutritt zu bekommen. Wir leiden dann unter vielerlei psychosomatischen Krankheiten. Die Energie kann nicht verknüpft und integriert werden. Sie richtet weiterhin ihren Schaden an. Stellen Sie sich einfach einen Rammbock vor, der gegen die Tore schlägt. Gefühle sind so stark, und schließlich geben die Tore nach; deshalb kommt es zu Angst und Panikattacken.

 

Wenn in einer primärtherapeutischen Sitzung jemand Zugang zu Gefühlen hat und schließlich die Verbindung zustande kommt zwischen dem linken präfrontalen Kortex und tieferen Gehirnzentren, gibt es zuerst großen Schmerz und dann große Erleichterung.

 

Was die Medizin und Psychotherapie heute meistens beinhaltet, ist die Behandlung von Bruchstücken eines Menschen, Fragmente einer Original-Erinnerung, die ihre Verbindung zum Ganzen verloren hat. So haben wir Hustenanfälle, Druck auf der Brust, Angst, Phobien und das Verlangen davonzulaufen, alles Stücke einer Original-Einprägung. Wir behandeln dann vielmehr verschiedene Ableger einer zentralen Einprägung als die Einprägung selbst; die Behandlung wird dann zu einer endlosen Angelegenheit. Was wir bekommen, ist ein Fortschrittsfragment – eine Änderung der Fragmente früher Erfahrung. Wir behandeln die Phobien, den hohen Blutdruck und das Herzklopfen, manchmal alles mit der gleichen Droge. Warum? Weil alles aus einem Stück ist, Aspekte derselben frühen Erfahrung. Unabsichtlich behandeln wir die Erfahrung, obwohl wir uns deren vielleicht nicht bewusst sind. Zum Beispiel gibt es „erfolgreiche“ Kognitions- und Verhaltens-Therapien für Phobien. Die Phobie ist jetzt „geheilt.“ Aber ihre Ursache ist es nicht; sie wird weiterhin Schaden anrichten.

Der Thalamus und der präfrontale Kortex sind ein wechselseitiger Informationsdienst. Manchmal ist diese nach oben und vorne gesandte Information so überwältigend, dass sie nicht akzeptiert und integriert werden kann. Die Information wird

 

 

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an den Absender zurückgeschickt. Es gibt einen bestimmten Kern im Thalamus, der das Zentrum für die Wahrnehmung und Weiterleitung von Schmerz darstellt. Genau in diesem Kern kann Schmerz auf seiner Reise zum präfrontalen Kortex aufgehalten werden. Es ist auch das Areal, das zusammen mit den frontalen kortikalen Zentren die Integration von Feelings unterstützt, um sie verständlich zu machen. Der Thalamus stupst den Kortex an, damit er Gedanken herstellt, die dafür sorgen, dass wir uns weiterhin wohl fühlen. Wenn der Neokortex bereit ist, steigt ein annehmbares Maß an Schmerz auf und wird integriert. Unsere Aufgabe in der Primärtherapie besteht darin, vages Unwohlsein, Panik und Leiden in spezifischen Schmerz umzuwandeln; Integration zu erzeugen. Mit anderen Worten: Harmonie zu erzeugen.

Wenn ein Individuum seit Beginn seines Lebens überaktiviert worden ist, wird es für diese Person zu einem normalen Zustand. Sie denkt dann, sie sei normal. Das ist der Haken an der Sache. Die Person ist vielleicht überaktiv und glaubt, das sei normal, weil sie sonst nichts kennt. Das trifft deshalb besonders zu, weil wir unser Leben um die Einprägung herum organisieren, um sie rational und verständlich zu machen; wir füllen unser Leben mit Projekten und Plänen, um die innere Agitation zu rationalisieren. Wenn wir in der Primärtherapie die Schmerzaktivierung aus dem System herausnehmen, weiß der oder die Betroffene endlich, was „normal“ ist.

Gedanken stimmen mit Gefühlen überein und bilden mit ihnen eine Einheit. Wir reagieren als Gesamtsystem und nicht nur mit Gedanken. Wenn wir voller Wut sind, könnte das als ständiger Sarkasmus aussickern, der jemandem als normales Verhalten scheinen kann. Es ist einfach Teil seiner oder ihrer „Persönlichkeit.“ Wir sagen, dass sie oder er als Charaktermerkmal sarkastisch und zynisch ist, aber diese Eigenschaft ist das Ergebnis von Wut und Zorn, die tief im Gehirn gespeichert sind. Sie steigen empor und beeinflussen, was aus unserem Mund herauskommt, aber wir müssen mehr als das behandeln, was unser Mundwerk macht. Kurz gesagt folgt der Mund der Einprägung.

Wenn wir in unserem System Terror gespeichert haben, dann erscheinen gewisse Phobien für das System normal oder zumindest angenehm. Es gibt zwanghafte Händewascher, die sich damit ganz wohl fühlen und nicht im Traum daran denken würden, sich zu ändern; sie könnten es auch nicht. Das Ritual bindet den Schmerz. Tiefe Gefühle steigen zur Ebene des Verhaltens auf und steuern Zwänge. Ein prominenter Komödiant, der keine Türklinken anfassen kann, sagt, es gehe ihm ganz gut so und er wolle sich nicht ändern. Dieser Zwang (ein Handtuch benutzen, um Türen aufzumachen) beschwichtigt seine Ängste (deren Ursprung er nicht kennt) und bewirkt, dass er sich wohl fühlt.

Edith konnte nie leicht einschlafen. Ihr Gedankensystem aus weit ‚daneben’ liegenden Überzeugungen resultierte aus ständig strömenden Impulsen, die gegen den linken frontalen Kortex stießen, Impulse, die aus dem Autounfall entstanden, als sie in ihrem achten Monat im Mutterleib lag. Es war dieselbe Kraft, die ihren Geist nachts rasen ließ. Sie brauchte diese Vorstellungen/Gedanken, um ihr Wohlbefinden zu wahren.

 

 

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Normalerweise ist der frontale Kortex verpflichtet, uns so zu steuern und zu leiten, dass wir mit bestimmten Situationen fertig werden. Aber hier liegt die Gefahr im Verborgenen, so dass der Kortex zwar herangezogen wird um zu helfen, aber nur ohne Ziel und Richtung losstürmen kann. Wenn wir versuchen wollten, diese Gedanken/Vorstellungen mit kognitiver Therapie zu eliminieren, würden wir Schlüssel-Überlebensmechanismen ins Handwerk pfuschen.Wenn wir diese letzten Wochen ignorieren, die Edith im Leib ihrer Mutter verbrachte, können wir den Ursprung ihres Problems nie richtig einschätzen. Sie war seit Anbeginn ihres Lebens verängstigt und zerbrechlich;  sie hatte buchstäblich einen wackeligen Anfang. Für den Fetus ergab das, was bei dem Autounfall geschah, in keiner Weise einen Sinn; folglich wurde sinnloser Schmerz und namenloser Terror zu einer Einprägung. Es ist diese Art von Phänomen, die aufsteigt wenn die Abwehr schwach ist und die Person zwingt, alle möglichen Phobien oder sonderbaren Überzeugungen anzunehmen, die vielleicht für andere keinen Sinn ergeben.

Als Edith diese Erinnerung wieder aufspürte, begann sie mit einer Empfindung, zerquetscht zu werden, was für sie und den Therapeuten ein Rätsel war. Aber die Fährte führte zu höheren Gehirnstrukturen und schließlich zum Thalamus und dann zum Neokortex, wo sie sich des Zerquetschungsgefühls, des Terrors und der Zerbrechlichkeit bewusst wurde. Was fehlte, war das „warum“. Schließlich sagte ihr ihre Mutter, was in ihrem achten Monat im Mutterleib geschehen war.

Es wäre unmöglich, sie zu deprogrammieren, so dass sie von ihren sonderbaren Ideen abließe: sie hatten Wurzeln, die hinabführten bis zu den tieferen Bereichen des Gehirns und zu den Anfängen ihres Lebens. Edith entwickelte eine Phobie, durch die sie ihr Schlafzimmer für lange Zeit nicht verlassen konnte, nicht einmal zum Einkaufen. Ein Ausflug von zuhause weg machte sie ängstlich. Der Terror hatte einen Brennpunkt gefunden, aber es war nur ein Brennpunkt. Sie ging zu einem Verhaltenstherapeuten, der mit ihr nach draußen ging; zuerst einen Block, dann noch einen Block, dann zum Einkaufszentrum. Er hielt ihre Hand und beruhigte sie, als sie immer unruhiger wurde. Er tat, was ein guter Vater von Anfang an tun hätte sollen. Aber zweifellos war es nur eine vorübergehende Lösung, weil der wirkliche Terror so tief verborgen war, wie man es sich gar nicht vorstellen konnte. Nachdem sie ihren Schrecken voll und ganz gefühlt hatte, mussten die kleinen Ängste nicht mehr hier und dort entweichen. Sie verknüpfte sich mit einer verborgenen Erinnerung. Verfehlt man diese Verknüpfung, gehen die Ängste weiter.

Nehmen wir an, diese Ängste wurden in Aufzüge kanalisiert, in eine Angst, eingeschlossen zu werden, als Gegenstand des Schreckens. Der Schrecken ist tiefes Gehirn; der Brennpunkt ist höheres Gehirn. Psychotherapie kann keinen Tiefhirn-Schrecken durch eine Diskussion mit dem höheren Gehirn kurieren; dort liegt die Wunde nicht. Es kann Umstände im Leben geben, die eine solche Phobie erzeugen könnten, wie z. B. als kleines Kind in einem Aufzug oder in einem anderen eingeengten Raum stecken zu bleiben, aber wirklicher Terror – ein Ereignis auf Leben und Tod – leitet sich nur selten von Geschehnissen in der späten

 
 

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Kindheit ab. Die Einprägung ist der Ursprung, der Schrecken wird zur Reaktion und die Phobie wird zum Brennpunkt. Wir müssen das auseinanderhalten, damit wir das Problem verstehen, und uns dann der Einprägung mit ihrer Reaktion zuwenden. Die Einprägung erzeugt den ganzen Rest.

Um ihre Ausgeh-Phobie zu kontrollieren, musste Edith dorthin zurückkehren, wo sie sich sicher fühlte – nach Hause. Das rührte von dem Unfall her, aber in der Primärtherapie verschwanden ihre Phobien allmählich mit der Zeit, ohne dass sie je direkt diskutiert wurden. Die Welt war für sie gefährlich, und sie wusste nie warum; sie war gefährlich, noch bevor sie ihren ersten Atemzug machte. Sicherheit lag für sie im Kokon ihres Zuhauses, das der Mutterleib war. Sie fühlte sich wohl, wenn sie nicht ausging. Sie versuchte zu einem sicheren Platz zurückzugehen, wie der Mutterleib es war, bevor der Unfall geschah. Draußen in der Welt zu sein, rief den Unfall und den unbewussten Schrecken wieder wach. Sie hatte immer Angst, dass etwas Schreckliches geschehen könnte, wenn sie von zuhause weg war. Etwas Schreckliches war bereits geschehen; es lag als Erinnerung in ihrem ganzen System. Weil es unzugänglich war, musste sie sich auf die Gegenwart konzentrieren. Sie machte, was Freud als „Projektion“ bezeichnete. Sie projizierte Ängste aus einer frühen Erfahrung auf die Gegenwart.

Unser normaler Bezugsrahmen für das Verständnis der Welt sollten wir selbst sein. Aber wenn wir uns selbst nicht haben, keinen Zugang zu unseren Gefühlen haben, verlieren wir unseren persönlichen Bezugsrahmen und müssen uns auf Außenstehende, Gurus, Therapeuten und so fort verlassen. Solange wir keinen Zugang haben, wird ihr Urteil und ihre Wahrnehmung die unsrige. Sie können ihre Vorstellungen auf unseren frontalen Kortex downloaden und ihre Gefühle auf unser limbisches System. Wir verlieren die Fähigkeit zu sehen, ob das, was sie sagen, sich richtig anfühlt, weil wir den Zugang zu diesem limbischen System verloren haben. Wir richten uns dann nach den Worten und nicht nach den Gefühlen.

Wenn wir keinen Zugang zu unseren Gefühlen haben, neigen wir dazu, den falschen Partner zu wählen, weil wir uns nur an ihrem äußeren Verhalten orientieren und nicht an dem, was darunter liegt. Wir können weder spüren noch sehen, wie Leute wirklich sind. Worte und Verhalten, die Fassade, werden zum Wichtigsten überhaupt.

Im Allgemeinen ist das, was wir in anderen sehen, die Erfüllung unserer Bedürfnisse – jemand, der uns führt, sich um uns kümmert, uns beschützt, freundlich zu uns ist, aggressiv für uns ist, oder der all die sozialen Dinge macht, die wir wir nicht machen können. Wir sehen in anderen die Erfüllung unserer Bedürfnisse.Wir mögen andere Leute, wenn sie uns bieten, was wir brauchen. Wir mögen sie nicht, wenn sie das nicht tun. Ein Narzist zum Beispiel, der ständige Aufmerksamkeit braucht, wird jemanden nicht mögen, der nicht nur nicht zuhört sondern auch die ganze Aufmerksamkeit für sich selbst will. Die meisten von uns verbringen ihr Leben damit, nach symbolischer Erfüllung zu suchen – jemanden finden, der

 

 

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 kritisch ist, und versuchen, seine Zustimmung zu gewinnen – der wiedererschaffene Kampf mit einem hoffentlich besseren Ausgang. Oder jemanden finden, der kalt ist, wie z.B.unsere Mutter, und versuchen sie warmherzig zu machen. Wir scheinen immer von Null zu beginnen, erschaffen das ursprüngliche Trauma aufs Neu und versuchen, zu der erwünschten Lösung zu kommen. Wir geben den Versuch niemals auf.

Wir dürfen für Erklärungen über Verhalten und Symptome nicht allein Gehirnsubstanzen oder –strukturen überprüfen, und genau so wenig sollten wir uns dafür  allein auf die Psychologie konzentrieren. Gehirn und Körper sind eins. Wir dürfen den Standard für Wellness nicht als kortikale Normalisierung betrachten, ohne andere Sektoren des Gehirns zu berücksichtigen, wie es einige von den Leuten tun, die Gehirn-Biofeedback-Sitzungen durchführen. Umgekehrt dürfen wir uns nicht von der Psychologie abhängig machen, um Normalität zu bestimmen. Das heißt, wir dürfen uns nicht mit Patientenberichten zufrieden geben noch damit, wie sie in psychologischen Tests abschneiden. Unsere Körper sprechen eine Sprache, und wir können diese Sprache verstehen, wenn wir wissen, wo man hinschauen muss und wie man zuhört. Wir müssen weiter und noch tiefer forschen.

 

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KAPITEL 4

DIE EINPRÄGUNG: WIE SIE UNSER LEBEN DIRIGIERT

 

 

Einer meiner Patienten hatte Eltern, die ihn von allem abzuhalten versuchten. Von Anfang an wollten sie von ihm nicht gestört werden, und sie befahlen ihm, sich auf seinen Stuhl zu setzen, sich nicht zu bewegen und nicht zu reden. Das war der Deckel auf eine blockierte Geburt, bei der er große Probleme hatte herauszukommen. Diese zwei traumatischen Erlebnisse während der kritischen Periode wurden für ihn zu einer Einprägung, vereinigten sich und führten dazu, dass er nicht zu bremsen war, wenn er einmal außer Kontrolle geraten war. Er wusste es nicht, aber er reagierte auf Ereignisse, die vor langer Zeit geschehen waren. Aufgehalten werden bedeutete ursprünglich den Tod; hätte er bei der Geburt nicht hinausgekonnt, wäre er gestorben. Er musste sich seinen Weg hinaus erzwingen, und wenn er später mit Hindernissen konfrontiert war, wurde er übertrieben aggressiv. Er kämpfte gegen die Geburt und gegen Eltern, die ihn nicht seinen Weg gehen ließen. Seine einzige Problemlösung war vorwärts zu stürmen, wobei er nie wusste, wann er sich zurückzuziehen hatte.

Ein anderer Patient hatte ganz andere persönlichkeitsformende Schlüssel-Ereignisse während der kritischen Periode. Seine Mutter war während der Geburt schwer betäubt. Das Anästhetikum drang in sein System ein und nahm ihm den Sauerstoff. Um sich selbst zu retten, verlangsamte sich sein System und wechselte in einen passiven, abwartenden Modus - eine Physiologie der Niederlage und Verzweiflung, da er nichts an dem ändern konnte, was geschah (die Anästhesie). Das verschlimmerte sich später durch die Art, wie seine Eltern ihn in der Kindheit behandelten, da sie nie zuließen, dass er seine Gefühle ausdrückte oder etwas einzuwenden hatte. Es hatte keinen Zweck, bei der Geburt zu kämpfen und später hatte es keinen Zweck, mit seinen Eltern um irgendwas zu kämpfen, denn das hätte sie nur noch zurückweisender und teilnahmsloser gemacht. In

 

 

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beiden Fällen wurde er von äußeren Kräften dominiert, über die er keine Kontrolle hatte, und er hatte keine andere Wahl als nachzugeben und aufzugeben. Passivität war die angemessene und in der Tat lebensrettende Reaktion. Und von da an gab er auf, wenn er auch nur mit kleineren Hindernissen konfrontiert war, wie er es ursprünglich und später bei seinen Eltern getan hatte. Tatsächlich wechselte er immer wieder in einen "Niederlagen"-Modus, genau wie er es von Beginn an getan hatte.

Beide Patienten sind, wie viele von uns, Opfer gewisser Ereignisse. Frühe Erfahrungen während der entscheidenden ersten drei Lebensjahre formen in hohem Maß unsere Persönlichkeit und unsere Gesundheit. Die Katholische Kirche pflegte zu sagen: "Gebt mir ein Kind bis zum Alter von sechs Jahren, und es wird für immer ein Katholik sein." Es stellt sich heraus, dass sie nur die ersten drei Jahre brauchen. Das ist beinahe das Ende der kritischen Periode, wenn wir so ziemlich zu dem werden, was wir für den Rest unseres Lebens sein werden. Wir werden entweder optimistisch oder pessimistisch, konzentriert oder zerstreut, aktiv oder nachdenklich; oder wir versuchen aufzugeben, orientieren uns nach außen oder nach innen, überwinden Hindernisse oder werden von Hindernissen überwältigt, schauen nach vorne oder zurück, sind zielgerichtet oder tappen herum, sind aggressiv oder passiv. Es gibt Leute, die immer hilfreich sind - ihr eigenes Bedürfnis nach Hilfe verleugnen, - im Gegensatz zu Leuten, die ständig Hilfe wollen, - also Hilflosigkeit ausagieren. Denken Sie daran, dass das Ausagieren  automatisch und unbewusst ist, weil auch das steuernde Gefühl so ist. Wenn wir also nie eine Mutter hatten, die uns half, bringen wir andere dazu es zu tun, und dann sind wir nicht einmal dankbar, weil wir es erwarten. Es gibt Leute, die durchs Leben gehen und versuchen, alte Bedürfnisse zu befriedigen, im Gegensatz zu denen, die aufgeben. Das Bedürfnis ist für jeden das gleiche, aber frühe Lebensumstände drehen uns in die eine oder andere Richtung. Weil wir in diesen entscheidenden Jahren weitgehend fühlende Geschöpfe sind, ohne die kognitiven Kräfte, die später kommen, wird der Kern des Selbst in hohem Maß durch "Kette und Schuß" präverbaler und nonverbaler Prozesse gestaltet. Darüber hinaus fangen auch die Krankheiten hier an, die uns befallen werden. Natürlich muss man bei jeder Krankheit genetische Faktoren in Betracht ziehen, aber ich habe herausgefunden, dass in den meisten Fällen Umweltfaktoren vorherrschend sind. Um es zu wiederholen: Weil wir die Zeit im Mutterleib übersehen haben, die wichtigsten neun Monate unseres Lebens hinsichtlich unserer Persönlichkeitsgestaltung, haben wir gezwungenermaßen Schlüsselereignisse ignoriert, die uns veränderten. Deshalb haben wir uns selbst in das genetische Kästchen hineinportraitiert, wo wir fälschlicherweise genetische Faktoren annehmen müssen für etwas, das mit größter Wahrscheinlichkeit durch die Zeit im Mutterleib, die Geburt und frühe Kindheit verursacht ist.

Die Auffassung der Prägung/Einprägung steht seit einigen Jahrzehnten im Mittelpunkt meiner Arbeit. Wenn ein frühes Trauma während der kritischen Entwicklungsperiode groß ist, wird es zu einer Einprägung - ein permanenter Zustand. Die Leidenskomponente, der

 

 

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Teil, der nicht integriert werden kann, weil es mehr ist, als man ertragen kann, wird abgeschnitten und gespeichert. Das ist die Einprägung, und sie nimmt in unserem Nervensystem ein Eigenleben an.

Sie wird zu einer fremden Macht, nicht wirklich ein Teil von uns, sie ist abgesondert und sucht dennoch nach Eingangswegen in unser volles Bewusstsein. Es ist diese fremde Macht, die unsere Gedanken und unser Verhalten formt. Einige Leute nehmen "fremde Mächte" in der Welt wahr; die sind nichts anderes als ihr eigener nach außen projizierter Schrecken. Die traumatische Einprägung geschieht aufgrund zweier wichtiger Gründe. Die erste ist eine schwierige Geburt, während die zweite eine fehlende liebevolle Beziehung zwischen zwei Leuten ist - zwischen Mutter und Kind und offensichtlich zwischen Vater und Kind. Jedoch ist es in der Regel die Mutter, die zuhause bleibt und sich um die Kinder kümmert.

Früher diskutierte ich, wie wichtig es ist, dass das mütterliche Gehirn mit dem ihres Kindes in Einklang steht, und sagte, was formt, ist eine Art wechselseitiger zerebraler Resonanz. Je mehr sich die Mutter in Synchronität mit dem rechten Gehirn des Babys befindet, umso besser organisiert ist das rechte Gehirn des Kindes. Wenn ihre Beziehung asynchron ist, sind die Grundlagen geschaffen für eine nachteilige Einprägung.

Es gibt viele Möglichkeiten, das Gefühl einzuprägen, man werde nicht geliebt. Zum Beispiel kann ein männliches Kind in einer Situation, wenn es gleich nach der Geburt keine Zuwendung bekommt, nicht gehalten oder zärtlich behandelt wird, mit "Ich bin ganz allein" geprägt werden, ein Gefühl, das sich erst Jahre später artikuliert. Irgendwann später geht eine Freundin, und er taumelt in eine tiefe Depression. Warum? Sie hat die Einprägung "Ich leide unter schrecklicher Verlassenheit" aus der Zeit unmitelbar nach der Geburt ausgelöst. Wenn er keine Ahnung hat, was nicht stimmt, mag er unter Depression leiden oder fühlt sich inmitten einer Menge entfremdet und von einer unbeschreiblichen Einsamkeit befallen. Das Gefühl totaler Verlassenheit kann jemanden überkommen, der auch nur für einen Nachmittag allein gelassen wird. Er kann nicht allein sein, kann das primäre Alleinsein nicht fühlen, das vernichtend war und ist. Gibt es eine "gute" Einprägung? Es gibt gute Erinnerungen, die uns formen und uns erlauben, dass wir uns normal entwickeln. Sie werden nicht im Unbewussten gespeichert, wie das bei schlechten Ereignissen der Fall ist. Sie sind zugänglich, weil es keinen Grund gab und gibt, sie zu verdrängen. Frühe Liebe wird einfach zu einem Teil von uns, wohingegen schlechte Ereignisse zu etwas Fremdem werden und dann gespeichert werden.

Forschungen an der UCLA und an der University of Toronto kamen zu dem Schluss, dass Depression vielleicht durch Fehlfunktion bestimmter Nervenschaltkreise verursacht wird, die das limbische System mit dem präfrontalen Kortex verbinden. Und natürlich finden wir das auch in unserer Arbeit mit Patienten; nur die Ursachen sind anders. Es ist keine Fehlfunktion, sondern eine entscheidende Funktion, damit wir unbewusst bleiben können. Das heißt, es gibt eine Trennung zwischen den zwei Systemen, die uns dabei hilft,

 

 

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dass wir von Schmerz-Input nicht überwältigt werden. Es ist ein Überlebensmechanismus, keine "Fehlfunktion."

Allein nicht zu kommen, wenn ein Kind ruft, übermittelt die Botschaft, dass es unwichtig ist, dass niemand sich kümmert. Ein Baby in der Wiege Stunde um Stunde ausschreien zu lassen, induziert letzlich ein Gefühl der Niederlage: "Was hat es für einen Zweck? Ich kann nicht mehr." Das Feeling kann die bereits bestehende Tendenz zu Resignation und Verzweiflung verschlimmern, die vom Geburtstrauma herrührt. Jede neue Erfahrung baut auf Einprägungen auf und formt die Persönlichkeit. Wir sehen das in der Forschung an Ratten bestätigt. Die Ratten, die von Anfang an nie berührt oder gestreichelt wurden, mit denen man sich in den ersten 21 Tagen nie beschäftigte, erfuhren lebenslange Auswirkungen dieser Deprivation. Sie konnten mit Stress nicht so gut umgehen wie die Ratten, mit denen man sich beschäftigt hatte.

Wenn die Einprägung "ungeliebt" erst existiert, kann niemand je erreichen, dass wir uns geliebt fühlen. Das ist eine Kerntatsache unseres Lebens, die ein jeder von uns in einer irren Jagd zu meiden sucht. Wir versuchen, uns von Freunden, Familie, Kindern (vor allem unseren eigenen Kindern) geliebt zu fühlen, und sogar vom Platzanweiser im Theater. Wenn der aus der Tatsache enstandene Schmerz, dass man in den ersten Wochen und Monaten des Lebens nicht geliebt wurde, sehr tief ist, können wir später einem Kult beitreten und an die bizarrsten Ideen glauben, - alles auf der Suche nach der Liebe, die wir nicht bekommen hatten. Die Einprägung von Hoffnungslosigkeit könnte den Glauben an eine Gottheit oder einen Guru ins Leben rufen, der Hoffnung anbietet. Ein Patient begann einen Inzest-Vorfall wiederzuerleben. Am Gipfelpunkt seines Fühlens setzte er sich auf und sagte, er habe Gott gefunden. Er sagte, er sei von Gott gerettet worden. Tatsächlich wurde er durch die Idee oder Vorstellung eines Gottes gerettet - eine Vorstellung, die ihm half, das schreckliche Feeling zu blockieren, das zu erfahren er im Begriffe war. Er wurde "gerettet" durch die gedankliche Vorstellung, dass er gerettet werde. Hier haben wir die von mir erwähnte Durchtrennung der Verknüpfung zwischen präfrontalen Gedanken und Gefühlen, die das limbische System birgt. Es ist ein Beispiel für die Entwicklung von Glaubensvorstellungen. Schmerzvolle Gefühle einer tieferen Ebene bewirken die Produktion von Gedanken und Glaubensvorstellungen, genau wie in der Evolution der Menschheit widrige Ereignisse die Schaffung eines frontalen Kortexes förderten, der schließlich Vorstellungen entwickeln konnte, um vor innerer Gefahr zu fliehen. Das gründet auf der Annahme, dass die Ontogenese (unsere persönliche Evolution) die Phylogenese (die Evolution der Spezies) rekapituliert. Mit der Entwicklung des präfrontalen Areals konnten wir endlich vor innerer Gefahr fliehen, was wir im Tierleben nicht konnten.

Unsere unbewussten Einprägungen ("Niemand will mich," "Zwecklos, sich um Liebe zu bemühen") haben uns jeden Tag fest im Griff, und unser Verhalten als Erwachsene ist die Entsprechung der Einprägung. Sie steckt in unserer Haltung, unserem Gesichtsausdruck und Gang. Vor allem steckt sie in den Entscheidungen, die wir treffen, in unseren Hobbys, in dem Beruf oder in der Arbeit, die wir wählen, und in den Menschen, auf die wir

 

 

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uns einlassen. Die Physiologie der Hoffnungslosigkeit ist das Grundglied einer ganzen Gefühlskette, die letztlich in Depression mündet. Wir können uns besiegt fühlen, lange bevor wir dafür Worte haben. Viele meiner Patienten berichten, dass sie als Resultat dieses Niederlagengefühls ihre schulischen Benmühungen aufgaben. Oder sie gaben den Versuch auf, im Leben einen Partner zu finden, wenn sie auf das geringste Hindernis stießen. Viele Entscheidungen, die wir im Leben treffen, fallen unter den Bereich solcher Paradigmen.

Wenn das verzweifelte Bedürfnis nach der Mutter in den ersten Monaten nach der Geburt vereitelt wird, verzichtet ein Mann vielleicht als Erwachsener auf jede Liebeschance, weil er immer noch im "Ich-brauche-meine-Mutter"-Modus feststeckt. Keine Frau kann ihm das Gefühl von Befriedigung geben, weil die Einprägung darin besteht, dass er sich unbefriedigt fühlt. Er geht von Frau zu Frau, fühlt sich nie befriedigt und denkt ständig, dass eine andere Frau die ideale für ihn sei. Was ist letztlich ein "Womanizer"? Einer, der eine Frau nach der anderen braucht, und es ist nie genug.

Das Fehlen einer liebevollen Mutter hat tiefgreifende Auswirkungen auf das kleine Mädchen, das Jahre später, wenn es erwachsen ist, herausfindet, dass sie die Milch nicht hat, die sie für ihr eigenes Baby braucht. Das kommt daher, dass eine geringere Menge des während ihrer frühen Kindheit produzierten Hormons Oxytozin die Fähigkeit der jetzt erwachsenen Mutter schwer beeinträchtigt hat, ihr eigenes Kind zu lieben und Milch zu produzieren. Es keine Willenssache, die eine Mutter vorzeitig zur Arbeit zurückkehren und ihr Kind vernachlässigen lässt. Sie wird vom gleichen Liebesmangel getrieben, unter dem ihr Baby leiden wird. Es ist so schwer zu glauben, dass das alles von vorgeburtlichen Ereignissen oder den ersten Wochen und Monaten des Lebens stammt. Wir gehorchen einfach diesen Erinnerungen und spulen sie ab, als hätten wir freien Willen; als würden wir uns bewusst entscheiden, so zu handeln. Aber leider ist es sklavischer Gehorsam gegenüber unsichtbaren und unbekannten Primärkräften, die unser Leben an sich reißen. Unser Erwachsenenleben ist größtenteils nur eine Rationalisierung für die Einprägung. Ich hatte eine Patientin, die nie zur Wahl ging, weil sie dachte, was sie wolle, würde niemals zählen. Und das traf bei ihren Eltern zu; die interessierte nicht einmal, was sie zum Mittagessen wollte. Also war sie sich sicher, dass ihre Stimme - wen sie wollte - keine Konsequenzen hatte.

EINPRÄGUNGEN UND NEUROPHYSIOLOGIE: WIE ERINNERUNG EINGEPRÄGT WIRD

Die Konzeption der Einprägung wird durch neue Forschungen bekräftigt, die zeigen, dass ein extremes frühes emotionales Trauma in unser System als physiologisches Ereignis eingeprägt und eingeschlossen wird und fortdauernde physiologische Auswirkungen hat. Aus genau diesem Grund ist ein präverbales Trauma, das sich ereignet, bevor das frontale denkende Areal gereift ist, entscheidend für unsere

 

 

 

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Entwicklung und fährt ein Leben lang fort, unsere Persönlichkeit, Verhalten und Gesundheit zu beeinflussen.

James Mc Gaugh von der University of California in Irvine führt aus, wie im Fall schwerer Emotionen Katecholamine (Alarmsubstanzen, die Neurosäfte der Wachsamkeit) abgesondert werden, die die Erinnerung tendenziell versiegeln; sie also tatsächlich ins Gehirn eingravieren. Sie wird in meiner Terminologie zur Einprägung. Es bedeutet, dass ein extremes emotionales Trauma in unser System als psychophysiologisches Ereignis eingeschlossen wird. Es ist nicht nur psychologisch oder nur körperlich sondern vielmehr beides zugleich, und es kann ein Leben lang andauern. "Keiner will mich" besteht zum Beispiel fort, weil es zu jener Zeit einfach zu viel war, als dass man es hätte fühlen und integrieren können. Die Einprägung verändert unser Gehirn und steuert unser Verhalten.

Forscher haben sowohl den Ort dieser traumatischen Einprägungen im Gehirn identifiziert als auch die Mechanismen, durch die sie permanent eingestempelt werden. Erinnern Sie sich, es gibt eine Kaskade physiologischer Reaktionen, die aus der zentralen Mitte eines Erlebnisses kommen. Die Einprägung setzt sich fort, bis wir in der Lage sind, in dieses Zentrum zurückzukehren, diese Reaktionen wiederzuerleben, sie bewusst zu machen und schließlich zu integrieren. Somit besteht keine Notwendigkeit mehr, physiologische Prozesse zu verzerren oder zu verlagern. Hoher Blutdruck wird durch die Erinnerung an ein Trauma in Gang gehalten, das ursprünglich Veränderungen des Blutdrucks einbezog. Er war Teil des Galvanisierungsapparats, um gegen die Intrusion eines Traumas anzukämpfen - zum Beispiel Strangulierung durch die Nabelschnur. Wenn man das mit Würgen und Ersticken verbundene Ereignis wiedererlebt und integriert, bedeutet dies, dass es nicht mehr nötig ist, das eingeprägte Ereignis zu bekämpfen. Je früher ein Trauma stattfindet, umso mehr wird das junge, rudimentäre Gehirn umstrukturiert und umso schwieriger lässt es sich wieder ändern. Deshalb sind Panikattacken so halsstarrig: sie setzen sich schon früh in der Schwangerschaft fest.

Einprägungen in der kritischen Periode werden in der rechten Hemisphäre des Gehirns und besonders im rechten limbischen System, im "fühlenden" Gehirn, eingraviert. Das rechte Gehirn entwickelt sich früher als das linke. Bei der Geburt ist unter den limbischen Strukturen die rechte Amygdala, die unbearbeitete Informationen bewertet, gemeinsam mit dem Hirnstamm aktiv, dessen Entwicklung von der frühen Schwangerschaft bis zu den ersten sechs Lebensmonaten währt. Der Rest des limbischen Systems wird bald danach aktiv, und das rechte limbische System befindet sich bis zum zweiten Lebensjahr des Babys in einer beschleunigten Wachstumsphase.Der Hippokampus, eine andere limbische Struktur, die als Fakt registriert, was mit uns ganz früh geschieht, ist etwa im Alter von 2 Jahren reif. Wenn es in den kritischen ersten Jahren ein Trauma gibt, helfen verschiedene Gehirnstrukturen, die mit Wachsamkeit zu tun haben, wie z. B. der locus caeruleus, bei der Organisation der chemischen Sekretionen für die Einprägung. Der Hippokampus

 

 

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hilft, die eingeprägte Erinnerung zu konsolidieren, während der innere Kern, das Wesentliche des Feelings von der Amygdala bereitgestellt wird. Zum Beispiel ist es die rechte Amygdala und der Hirnstamm, die jeden Unruhe- oder Erregungszustand eingravieren, in dem die Mutter sich befindet. Übrigens ist die Vorstellung vom "Kern des Feelings" meine Vermutung, die auf der Gesamtheit verschiedener Forschungsstudien beruht. Es ist induktive Logik, keine etablierte Tatsache. Vielleicht ist es einfach eine Metapher, aber es scheint keine andere Struktur zu geben, die diesem Anspruch genügen würde. Feelings sind gewiss die Eigenart des limbischen Systems, und die Amygdala vergrößert sich, wenn es ein präverbales Trauma gibt. Sie trägt die Hauptlast des Traumas und scheint aus den Nähten zu platzen.

Man muss sich auch fragen, warum die neurochemischen Alarmsubstanzen bei der Einprägung helfen. Zweifelsohne deshalb, weil man sich an große Gefahr als einen Führer für die Zukunft erinnern muss, als etwas, das man vermeiden muss. Und wenn wir später in Gefahr sind, durchforscht das Gehirn seine Geschichte nach den Schlüssel-Einprägungen und benutzt sie als Wegweiser.

EINPRÄGUNGEN VERBIEGEN UNS PHYSIOLOGISCH

Unsere Emotionen beeinflussen unser System viel eher, als unsere Denkprozesse dies tun. Es ist die rechte Seite, mit der wir von Anfang an Stress bewältigen, und das bestimmt vielleicht, wie das Gesamtsystem reagieren wird. Der Prototyp "verbiegt" unsere physiologischen Prozesse auf globaler Ebene. Es ist das Netz aus rechten limbischen Zellen und Hirnstammzellen, das die Hormonsekretion und andere physiologischen Prozesse beeinflusst; dort werden unsere Gefühle direkt in unsere Biochemie übersetzt. Auf diese Weise können unsere frühen Erlebnisse bestimmen, welche Hormone in zu hohem Maß und welche in zu geringem Maß abgesondert werden und welche Neurotransmitter-Spiegel normal und ausgeglichen sind oder nicht.

Für den (vom sympathischen Nervensystem mobilisierten) "Sympathen" scheint ein Übermaß an Sekretion zu gelten. Jemand ist vielleicht ziemlich oft "aufgedreht" aufgrund einer Übersekretion von Aggressionshormonen - zum Beispiel mehr Noradrenalin aufgrund von Einprägungen der ersten Ebene. Das kann später auch eine Rolle spielen bei der Entwicklung chauvinistischer Attitüden: "Wir müssen diese Bastarde kriegen!"

Vielleicht verursacht Aggressivität nicht mehr Adrenalin, sondern ein frühes Trauma erzeugt Aggression als Stil und zusammen damit einen höheren Spiegel aktivierender Hormone.

 

 

 

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Im Gegensatz dazu bleibt der (vom parasympathischen Nervensystem dominierte) Parasympath im "Hypo"-Modus. Viele seiner wesentlichen Hormone und Neurotransmitter liegen unterhalb des normalen Ausstoßes: Hypothyreoidismus, weniger Testosteron, niedrige Serotoninspiegel und so fort. Obgleich wir bei Parasympathen niedrige Testosteronwerte fanden, war bei Sympathen das Gegenteil der Fall. Als Resultat dieser Prototypen und ihrer systemischen Effekte tendiert der Parasympath vielleicht zu Impotenz; der Sympath hat vielleicht ein Problem mit vorzeitiger Ejakulation. (Bei sechs von uns untersuchten Männern mit Testosteronwerten von mehr als 600 Nanogramm je Deziliter verzeichneten wir nach sechsundzwanzig Therapiewochen ein Absinken zwischen 15 und 35 Prozent. Diejenigen mit niedrigen Startwerten zeigten einen Anstieg zwischen 20 und 35 Prozent.) All das rührt von biochemischen Sollwerten her, die vielleicht weit zurück in der frühen Kindheit oder bereits zuvor festgelegt worden waren. Persönlichkeit und Hormone marschieren im Gleichschritt, sie begleiten einander. Somit haben diejenigen mit hohen Testosteron- und Noradrenalinwerten tendenziell vielleicht eine aggressivere Persönlichkeit. Vielleicht verursacht Aggressivität nicht mehr Adrenalin, sondern ein frühes Trauma erzeugt Aggression als Stil und zusammen damit einen höheren Spiegel aktivierender Hormone.

Frühe Änderungen bei Hormonen und Neurotransmittern sind keine vorübergehende Angelegenheit. Sie gehören zu der Methode, wie Erinnerung eingeschrieben wird. Es besteht eine Gefahr: Mangel an Befriedigung. Und diese Gefahr, dass Bedürfnisse nicht befriedigt werden, wird von einer übermäßigen Sekretion von Stresshormonen begleitet. Ein dem Fetus und Kleinkind zugefügtes Trauma bedingt, dass das sympathische System einen Gang höher schaltet und mehr Adrenalin, Dopamin, Kortisol und Noradrenalin produziert. Wenn das Bedürfnis unbefriedigt bleibt, werden wir aktiviert. Wachsam zu sein ist Überlebenssache; die Flucht erfolgt vor uns selbst, vor unserem vollen Bewusstsein, vergessen Sie das nicht. Das ganze System befindet sich im Alarmzustand und bleibt dort, solange die Einprägung im System fixiert ist und Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Es ist nicht so, dass wir eine Erinnerung haben und dann Hormonänderungen erfolgen; diese Änderungen sind Teil des Erlebnisses. Und die Veränderungen in der Biochemie beeinflussen wiederum unsere Gedanken und Einstellungen und unser Verhalten. Weil Änderungen der Neurosäfte und Hormone Teil der Erfahrung sind, muss die volle ursprüngliche Erfahrung wieder erlebt werden, damit sie sich wiederum verändern können.

Zum Beispiel beeinflussen Gefühle den Hypothalamus, der über den Ausstoß der "Liebeshormone" Oxytozin und Vasopressin wacht. Diese Hormone helfen uns, liebevolle Beziehungen einzugehen, und sie funktionieren auch als partielle Schmerzkiller. Liebe kann das leisten. Liebe ist für ein kleines Kind der Hauptschmerzkiller, und somit ist es kein Zufall, dass unsere "Liebeshormone" im Fall früher Liebe in Hülle und Fülle vorhanden sind. Aber wenn niemand kam und uns früh im Leben liebhatte, als wir einsam waren oder uns vernachlässigt fühlten, werden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit chronisch

 

 

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unter einem niedrigen Ausstoß dieser Hormone leiden. Das zugrunde liegende Gefühl wird sein: "Niemand will mich" oder "Niemand liebt mich." Es war und ist hoffnungslos. Das Gefühl "Niemand will mich" regiert unser Leben. Es macht uns scheu in sozialen Situationen. Es kann ein Kind auch so zornig machen, dass es gewalttätig wird. Was anderes ist eine Gang als eine wirkliche Familie mit Führern, ein Ort, wo man hingehört und der einen Auslass bietet für den Zorn. Die Gang bietet Brüderschaft, Akzeptanz, Anerkennung und Kameradschaft. Letztlich brauchen wir vielleicht Tranquilizer, um das Gefühl zu unterdrücken, dass "niemand mich will." Dieses Gefühl tut weh - jedes vereitelte Bedürfnis tut weh.

Beweise für das, was ich gerade erörtere, findet man in der Forschung von Johannes Odendall aus Südafrika (Pretoria Technikon), der Tierbesitzer und ihre Haustiere untersuchte, die sich zusammen entspannten, und wo die Tiere liebkost und gestreichelt wurden. Dann nahm man Blutproben von Mensch und Tier. Das Ergebnis: Der Blutdruck fiel, während das Oxytozin sich verdoppelte. Es verdoppelte sich nicht nur bei den Hunden sondern auch bei den liebevollen Menschen! Für mich ist ganz klar, dass frühe Liebe uns zu entspannen hilft - ein Leben lang, und vielleicht macht sie dasselbe mit der Mutter.

Hormon- oder Neurotransmitter-Mangel kann auch Anfälligkeiten begründen, so dass ein späteres Trauma ein voll ausgewachsenes Leiden erzeugt. Wenn das Kind 5 Jahre alt ist, sehen wir keine offensichtliche Krankheit, aber die Saat ist bereits ausgestreut. Später sagen wir vielleicht: "Anorexie wird durch......zuviel Noradrenalin verursacht" oder zu wenig von diesem oder jenem. Aber das sind keine Ursachen; es sind Begleiterscheinungen des ursprünglichen Traumas - Weggenossen eines Traumas, das wir nicht mehr sehen können und uns in einer Person nicht mehr vorstellen können, die 40 Jahre alt ist. Die Einprägung erzeugt Abweichungen der Persönlichkeit und Physiologie, die letztendlich auf spezifische Symptome hinauslaufen. So kann der aggressive Sympath also ein Übermaß an Noradrenalin haben. Es verursacht Anorexie nicht; es ist Teil des Reaktions-Ensembles des Originalereignisses.

Gleichermaßen ist es nicht so, dass jemand, der deprimiert ist, seine oder ihre Wut unterdrückt, wie die Freudianer es gerne hätten. Es ist so, dass bei einem Parasympathen die Substanzen, die für Wut verantwortlich sind, vermindert sind, wogegen diejenigen, welche für Depression verantwortlich sind, erhöht sind, während seine Neurotransmitter im Kampf gegen seinen Schmerz tendenziell fallen. Chronisch Depressive haben zum Beispiel niedrige Serotoninspiegel, und sie verbrauchen wertvolle Vorräte im Verdrängungskampf.

Migräne beim Parasympathen ist ein anderes Beispiel. Mangelnde Anstrengung bei der Geburt war lebensrettend wegen des relativen Mangels an Sauerstoff, aber jetzt kann jeder Stress das Symptom aktivieren. Die Person verbleibt im Energiespar-Modus aufgrund der Einprägung des Sauerstoffmangels. Jede gegenwärtige Widrigkeit kann die alte Erinnerung an reduzierten Sauerstoff und die Migräne auslösen.

 

 

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Stellen Sie sich die Einprägung als Dirigent vor. Weil Erfahrung nahezu jedes unserer Systeme von den Muskeln über das Blut bis zu den Gehirnzellen beeinflusst, erzeugt die Einprägung zwangsweise überall ihre Wirkung. Jedes System spielt ein anderes Instrument, aber alle zusammen bilden sie ein vereintes Ganzes. Wenn wir nur der Violonabteilung Aufmerksamkeit zollen, werden wir das ganze Stück nie begreifen, noch sehen wir die wechselseitigen Verbindungen zwischen den verschiedenen Instrument-Sektionen; dasselbe trifft zu, wenn wir nur den Blutdruck untersuchen und den Menschen übersehen, dem die Blutgefäße gehören. Dieselbe Einprägung kann und wird das Zentralnervensystem beeinflussen, das Herz und den Blutzucker, und kann chronische Diabetes erzeugen. Es kann alle Überlebensfunktionen ändern, weil das Überleben auf dem Spiel stand. Wenn sich unser früher Schmerz durch spätere Erlebnisse verstärkt, werden Symptome manifest, hoher Blutdruck entsteht, Diabetes, Migräne-Kopfschmerz, Hypothyreoidismus und/oder Parkinsonsche Krankheit.

Die einfache Tatsache chronisch hoher Kortisolwerte, die die Einprägung etabliert hat, kann sich später im Leben schwer auf das Gedächtnis auswirken, ganz zu schweigen davon, dass es uns anfälliger macht für kardiovaskuläre Krankheiten. Wenn die stimulierenden Stresshormone überaktiv werden, wie es bei chronischem Schmerz der Fall ist, können sie sich auf Gehirnzellen auswirken und zum Zelltod führen - vielleicht nicht sofort aber mit der Zeit. Für das Gehirn ist früh in der Entwicklung erlebter extremer Schmerz wahrlich eine Sache auf Leben und Tod. Nichts alarmiert uns so sehr wie Schmerz - ein Schmerz, den wir nicht fühlen. Interessanterweise fand eine in Neuron veröffentlichte Studie, dass Amyloid-Plaques, ein Schlüssel-Verursacher bei Alzheimer, zunehmend in Mäusen erzeugt wird, wenn es zu einer Überstimulierung von Gehirnneuronen kommt.1 Das trifft besonders auf die Bereiche zu, die mit der Wiederauffindung von Erinnerungen zu tun haben (laut einer Humanstudie, die in der Science News vom Januar 2006 veröffentlicht wurde).2 Es gibt nur ein gewisses Maß an Stimulierung, das jedes Organ einschließlich der Gehirnzellen ertragen kann, besonders wenn diese Stimulierung sich über Jahrzehnte unseres Lebens erstreckt.

Wir haben Kenntnis von der Rolle der Einprägung bei der Orchestrierung von Funktions-Veränderungen bei multiplen Systemen einerseits daher, dass es nach dem Wiedererleben der Einprägung zu entscheidenden und positiven Änderungen bei vielen psychophysischen Systemen kommt - einschließlich der Überlebensfunktionen Herzschlag und Blutdruck. Anders gesagt ist Wiedererleben in vielen Fällen der Schlüssel zum Überleben. In unserer Forschung vor einigen Jahren fanden wir ein dramatisches Absinken der Herzfrequenz nach einem Jahr Therapie. Es scheint, dass das gesamte System im Kampf gegen die Erinnerung hochgefahren worden ist. Wenn es zum Wiedererleben der Erinnerung kommt, muss der Körper nicht mehr mobilisiert werden, und das ist der Grund für das Absinken der Herzfrequenz. Es ist eines von vielen Indizien dafür, wie Erinnerung gespeichert und permanent bekämpft wird. Mir scheint, dass die Verlangsamung des Herzschlags die Lebensdauer in nicht geringem Maße beeinflusst. Angenommen, dass die

 

 

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Tendenz für den Herzschlag-Sollwert schon vor der Geburt festgelegt werden kann, müssen wir mehr auf das vorgeburtliche Leben unserer Babys achten. Eine Mutter, die koffeinhaltiges Soda und Kaffee trinkt, wenn sie schwanger ist, stellt die Herzschlaggeschwindigkeit ihres Nachwuchses neu ein.

GESPRÄCHSTHERAPIEN: DER EINPRÄGUNG NICHT GEWACHSEN

Wir haben gesehen, wie das System immer wieder zum Prototypen zurückkehrt, der am bezeichnendsten der Prototyp aggressiven Strebens oder leichten Aufgebens angesichts der Herausforderungen des Lebens ist; wir haben gesehen, wie diejenigen, die emotional von anderen losgelöst sind, mit der Loslösung von sich selbst anfangen; und wie die früh im Leben ins System geschriebene Einprägung lebenslanges Ausagieren steuert wie z. B. wiederholt gescheiterte Beziehungen, Drogenkonsum oder glühender religiöser Eifer. Letztere sind nicht einfach Verhaltensweisen des Erwachsenen, die man in kognitiver Therapie oder Verhaltenstherapie umändern muss; ihre Wurzeln liegen tief in der Geschichte.

Der Prototyp, der während des präverbalen Lebens eingestempelt wird, kann durch verbale Mittel nicht umgekehrt werden. Der Prototyp wird weitgehend mit dem rechten Gehirn eingraviert; die Gedanken des linken Gehirns werden nicht viel helfen , wenn es darum geht, Änderungen herbeizuführen (ausgenommen natürlich, wenn das linke Gehirn an der Verknüpfung teilhat).

Sich besiegt zu fühlen ist real – eine reale Reaktion auf ein reales Ereignis, als man bei der Geburt aufgrund eines schweren Betäubungsmittels, das der Mutter verabreicht wurde,  jeder Chance zu kämpfen beraubt wurde – und keine neurotische Verirrung.

 

Wenn jemand isoliert und distanziert ist, können wir das spüren; wir kommen nicht wirklich zu ihm durch. Seine Abwehr lässt sich nicht durchdringen. Seine offenbare Reserviertheit ist Teil der Einprägung und nichts, das man in der kognitiven Therapie rekonditionieren oder wegargumentieren müsste. Wenn jemand leblos wird - sich verschließt - , wenn er oder sie sexuell erregt ist, ist das etwas, wogegen er oder sie nichts machen kann. Es kann die Analogie einer Geburt sein, bei der es Erregung und Kampf gab, dem unmittelbar die der Mutter (und deshalb dem Fetus) verabreichte Betäubung und die Stilllegung/das Verschließen des Systems folgte. Die Geburtssequenz ist ein Prototyp, der uns das ganze Leben lang auf dem Fuß folgt. In der Therapie sehen wir das an Patienten, die sich in den ersten Minuten der Sitzung schwer abmühen und dann aufgeben und sich hoffnungslos fühlen. Dementsprechend ist es real, sich besiegt zu fühlen, - eine reale Reaktion auf ein reales Ereignis, als man bei der Geburt aufgrund eines schweren Betäubungsmittels, das der Mutter verabreicht wurde, jeder Chance zu kämpfen beraubt wurde -

 

 

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und keine neurotische Verirrung! Wenn wir versuchen, diese Einstellung ("Was hat es für einen Zweck, es zu versuchen?") ohne die eingeprägte Erinnerung zu entfernen, schneiden wir lediglich die Spitzen des Unkrauts ab und berauben jemanden der Schlüsselaspekte der Überlebenserinnerung,

Einige Kaiserschnitt-Patienten, die wir gesehen haben, haben dieses Kampf-und-Scheitern-Syndrom, da ihnen nie gestattet wurde, den Geburtsprozess zu beenden. Eine Patientin fühlte sich immerzu "unfertig", als ob sie etwas tun müsste aber nie wüsste was, bis sie das prototypische Erlebnis hatte. Der Prototyp ist diktatorisch. Er erlaubt keine gegenwärtige Gnade, weil er zu Beginn bereits gnädig war, indem er erlaubte, dass Schlüsselschmerzen nicht bewusst wurden. Wir können nicht alles haben.

Im Sinne des prototypischen Bezugsrahmens sind die Scheu, Ängstlichkeit und Passivität des Parasympathen Abwehrmechanismen, keine Launen. Sie waren ursprünglich dafür konzipiert, den Schmerz auf Distanz zu halten Wir sind aus einem guten Grund neurotisch (abgewichen): Anpassung. Beim Parasympathen wendet sich sein ganzes System in Richtung "weniger" - weniger Dopamin, Testosteron, Noradrenalin, Serotonin, Schilddrüsenhormon und so fort. Die parasympathischen Reaktionen stammen im Grunde von der prototypischen "Gefrier"-Reaktion; die Unfähigkeit, voll zu reagieren. Das heißt, Einfrieren war eine Überlebensoption, die vom parasympathischen Nervensystem gesteuert wurde. Von Beginn an neigte das gesamte System zu diesem "Hypo"- Modus als Überlebensmechanismus. Es macht uns nach innen gerichtet, introspektiv, schüchtern, zögernd und konservativ. Die andere Option ist die impulsdominierte Person, die viel riskiert und weit mehr zu Spontanität neigt.

Weil die Einprägung eine Kaskade von Änderungen orchestriert, können wir das Problem mit Schilddrüsenhormonen oder allen möglichen anderen Medikamenten angehen, und sie werden alle helfen. Zum Beispiel kann es gegen Gefühle von Depression und Besiegtsein helfen, wenn man irgendeines dieser Bestandteile dem depravierten System hinzufügt. Deshalb hilft es oft, wenn man einem Depressiven Schilddrüsenhormon verabreicht oder ein Medikament, das die Wirkung von Serotonin verstärkt. Aber das sind keine Heilmittel. Hypnose wirkt bei Rauchen, aber es ist immer noch der Mensch da, der rauchen muss (jemand, der Bedürfnisse hat), und es wird im Anfälligkeitsbereich der Person zu mehr nachteiligen Reaktionen kommen. Hypnose hilft Wünsche zu unterdrücken aber nicht Bedürfnisse. Solche Wünsche sind das Ausagieren von Bedürfnissen. "Ich will eine Zigarette" kann das Ausagieren eines frühen Saug-Bedürfnisses sein. Ganz zu schweigen vom Bedürfnis, Schmerz zu unterdrücken.

Wir haben die Wahl: Symptome lindern oder Leute heilen. Entweder jede physikalische Veränderung neu regulieren (ein bisschen Schilddrüsenhormon hier, eine Prise Prozac dort, ein Nikotinpflaster, um einem Raucher zu helfen, mit der Gewohnheit zu brechen) oder sich mit dem Dirigenten befassen und alle physikalischen Änderungen zusammen verändern.

 

 

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Wenn jemand ein chronischer Raucher ist oder depressiv oder ein Stubenhocker, der Leute meidet, informiert sein ganzes System sein Verhalten, und sein System ist eine Funktion der Geschichte. Unsere therapeutische Aufgabe muss immer historisch sein. Die Geschichte ist ein wesentlicher Unterschied zwischen kognitiver und fühlender Therapie. Wenn wir eine Person als ahistorisch behandeln, können wir nur ihr sich gegenwärtig zeigendes Symptom behandeln, nicht ihre Persönlichkeit. Moderne kognitive Psychotherapie hört dort auf, wo auch der gedanklich-mentale Bereich endet. Sie ist auf das linke Frontalhirn begrenzt. Wie wir jedoch sehen werden, ist in der frühen Kindheit das rechte/fühlende Gehirn dominant, und es sind frühe Rechtshirn-Einprägungen, die ständig das Gehirn aktivieren. Genau dort finden wir die "Niederlage." Wir müssen uns daran machen, mit diesem wichtigen Feeling zu kämpfen, dass einen so großen Teil des späteren Lebens regiert. Der einzige Weg, dorthin zu gelangen, führt über das rechte Gehirn und das rechte limbische System und endet schließlich am Gipfelpunkt dieses Systems - am rechten orbitofrontalen Kortex (der rechte vordere Teil des obersten Gehirns).

Die Kognitions-Therapeuten haben die Gehirnhemisphären verwechselt und versuchen, dorthin mit einem Appell an die linke Seite zu gelangen. Wir können von hier aus nicht dorthin gelangen. Der linke frontale Bereich geht erst ‚online', nachdem die Schlüsseleinprägungen auf der rechten Seite verankert sind. Wenn etwas beweisen sollte, dass vielmehr Gedanken den Gefühlen folgen als umgekehrt, so ist es die Tatsache, dass die Gefühls-/Empfindungsbereiche des Gehirns lange vor den Gedanken in Kraft sind; noch dazu marschieren die Gefühle nach oben und vorne und erzeugen resonierende Vorstellungen-Gedanken, die die Gefühle "rationalisieren." Deshalb können wir in einer therapeutischen Sitzung eine gedankliche Vorstellung nehmen und dem Patienten helfen, ihr hinab zu frühen Gefühlen zu folgen. Zum Beispiel wird "Sie mögen mich nicht" zur Mutter, die das Kind verabscheute ("Bitte hasse mich nicht, Mama. Hab mich lieb!"). Die konitive Therapie befasst sich hauptsächlich mit den Wirkungen von Gefühlen auf die linke Seite, während Gefühle auf der rechten uns die ganze Zeit behelligen.

Wir haben die Wahl: Symptome lindern oder Menschen heilen.


Wenn das ganze Wesen eines Menschen von dem Gefühl durchdrungen ist, dass "niemand mich will," und das in dem Maße, dass er Drogen braucht, um den Schmerz abzutöten, so ist das nicht bloß ein Gedanke, den wir ändern müssen; es ist ein organischer Teil dieser Person. Gedanken sind nichts, das wir wohl oder übel produzieren. Wir haben nicht einfach Meinungsdifferenzen; wir haben Differenzen in der gesamten Persönlichkeit, die Meinungen entstehen lassen. Wenn dementsprechend der "Unterlassungs"- Modus eines Menschen darin besteht, dass er angesichts von Hindernissen aufgibt, dann reagiert er auf die tief in seinem Gehirn liegende Empfindung namens

 

 

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"Was hat es für einen Zweck, es zu versuchen?" Weil sie so tief drin liegt, hat sie eine tiefgreifende Wirkung. Die Worte, mit denen er seinen Zustand beschreibt, sind eine späte evolutionäre Entwicklung. Man darf sie nicht mit dem biologischen Zustand verwechseln; mit der Physiologie der Niederlage.

In der Valenz- oder Stärke-Hierarchie sind Worte die schwächsten, wenn man sie mit der Kraft dieser nonverbalen Einprägungen der ersten Linie vergleicht. Wir dürfen nicht glauben, dass wir tiefgreifende Veränderungen zustande bringen, wenn wir den Patienten mit Worten behandeln und die Etiketten auswechseln. Wir können neue (falsche) Gedanken auf alte Feelings kleben, aber das Feeling ändert sich überhaupt nicht. Alles, was in diesem Fall geschieht, ist, dass die zusätzliche Verdrängung des realen Gefühls mehr Stress für das System erzeugt. Einprägungen kann man nicht besiegen noch kann man sie überzeugen, dass sie sich ändern sollen. Vielleicht können wir jemanden überzeugen, dass er seine Gedanken/Vorstellungen ändert, aber es geschieht nie aus seiner Physiologie heraus. Unsere Aufgabe ist es, Gedanken und Gefühle in eine Linie zu bringen. Ich sollte sagen, es ist die Aufgabe des Patienten, weil seine Gefühle es von ganz alleine erledigen, wenn er sie empfindet.

Kein Patient, der aufrecht in einem Stuhl in einem komfortablen Büro sitzt, kann den Schrecken fühlen, den er nur in einem abgedunkelten, gepolsterten Raum fühlen kann. Es ist gerade diese Rahmenbedingung des Aufrechtsitzens, die den kognitiven Therapeuten davon abhält, Patienten in die Vergangenheit zurückzubringen. Erstens begründet ihre Theorie es nicht und zweitens verhindert es die Büroeinrichtung an sich. Die Organisation eines Büros erfolgt aus der Theorie. Es ist alles dafür vorgesehen, den Brennpunkt in der Gegenwart zu halten - oft auf die Worte des Therapeuten ausgerichtet. Unglücklicherweise kommt eine der größten Gefahren, der wir gegenüberstehen, aus unserer Vergangenheit und aus uns selbst, eine Erinnerung, die uns informiert, dass wir von unseren Eltern nicht geliebt werden, dass es nie so sein wird und dass alles hoffnungslos ist. Das zwingt uns zu allen möglichen Verhaltensweisen, um das Fühlen von Hoffnungslosigkeit zu vermeiden. Die Probleme, die wir haben, sind vielleicht zwischenmenschlich, aber die Lösung liegt im Inneren. Je näher man sich selbst ist, unso näher kann man anderen sein.

WIDERHALL IM GEHIRN

Eingeprägte Gefühle formen reverbierende oder zurückschwingende Schleifen neuraler Netze innerhalb des limbisch/hirnstammlichen Schaltkreises. Jedes Mal, wenn Eva sich in einer Situation hilflos fühlte, packte sie ihre Koffer und machte sich daran abzureisen - so dass sie sich nicht hilflos fühlte; nicht fühlte, dass sie nichts tun konnte. "Hilflos" war ein ständig reverbierender Schaltkreis in ihrem Gehirn. Der Gedanke, an Ort und Stelle zu bleiben und große Frustration zu ertragen, war zu viel für sie. Das Bedürfnis, sich sicher zu fühlen, das aus einem Gefühl der Unsicherheit geboren wurde, könnte uns dazu bringen, dass wir uns als Erwachsene verkrampft, gezwungen und nicht spontan verhalten. Ein Therapeut kann die Person ermahnen, sie solle spontan handeln und kreativ sein, wie es die Gestalttherapeuten machen, aber ihr ganzes System wird dagegen angehen.

 

 

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Die Furcht, eine falsche Bewegung zu machen, kann bei der Geburt beginnen und sich danach fortsetzen. Verhalten, das man sich ausdenkt (Gestalttherapie: "Sei frei; benimm dich wie ein Affe"), wird daran nichts ändern. Wir sind schon Affen; wir haben nur den Kontakt verloren. Das Gefühl, etwas Falsches zu machen, steckt so oft hinter der Unfähigkeit zu akzeptieren, dass man einen Fehler gemacht hat. Eine Frau, die per Steißgeburt zur Welt kam, hatte immer das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Sie wusste nie, was, aber es war einfach ein Gefühl, dass die Dinge schieflaufen würden, und sie schaffte es, dass es tatsächlich passierte. Jede Kritik, die ihr sagte, dass sie etwas falsch mache, lag oben auf dieser Geburtserfahrung auf, die durch Eltern verstärkt wurde, die sie gnadenlos kritisierten. Sie lenkte Tadel sofort auf die Umstände oder auf andere ab.

Eine andere Patientin wurde bei der Arbeit leicht kritisiert. Sie wurde ziemlich nervös und fühlte sich plötzlich wie eine Versagerin. Wir halfen ihr in das Gefühl: "Ich schaffe es nicht." Es begann mit einer Kaiserschnittgeburt, wo sie es beinahe nicht schaffte. Das begründete die Physiologie der Niederlage. Darüber schichtete sich die ständige Kritik ihres Vaters. Die Angst aus der leichten Kritik ihres Chefs war Terror der ersten Linie aus dem Geburtstrauma. Er verschlimmerte sich durch ihre Kindheit. Dieses neugeborene Mädchen kam ohne Puls zur Welt und wäre in der Tat fast gestorben. Es war eine unauslöschliche Erinnerung. Somit war die übermäßige Reaktion auf die Kritik nicht irrational. Die leichte Kritk raste die Nervenbahnen entlang, kam unten an und stieß auf den Ursprung, der die Gegenwartsreaktion so groß und exzessiv machte.

Diese Bahnen schleifen sich mit der Zeit ein wie ein gut ausgetretener Pfad, der Gefühle in spezifische Richtungen lenkt. Sie sind dafür verantwortlich, dass ein aktuelles Ereignis ("Bring den Müll hinaus") plötzlich zu prototypischen Grundereignissen bei der Geburt hinunterwandern und das Gefühl "Ich will nicht mehr arbeiten. Ich habe genug getan. Ich mach' es nicht." auslösen kann. Vor allem erklärt das, warum die gegenwärtige Erörterung eines Themas in einer Therapiesitzung plötzlich ein altes Feeling provoziert, das wiedererlebt werden muss. Deshalb kann auch die neutralste Bemerkung urplötzlich eine emotionale Explosion auslösen. Das passiert bei jemanden, der sehr schwache Schleusen hat. Schwache Schleusen sind gewöhnlich das Ergebnis einer schrecklichen Vorgeburtsphase und einer schlimmen Geburt, die sich durch ein liebloses frühes Elternhaus verschlimmerten.

Die Einprägung ist wirklich ein Reaktions-Ensemble, das gleichzeitig in das Gesamtsystem eingeprägt wird.

 

 

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Vergessen Sie nicht, dass jede höhere Ebene des Gehirns eine Ausarbeitung von Ereignissen tieferer Ebenen bedeutet. Wenn wir in einer Sitzung mit der Gegenwart beginnen, wird der Patient - vorausgesetzt, wir haben die richtigen Techniken - automatisch in die Vergangenheit getragen. Wenn die Schleusen aufgrund erheblicher Kindheitstraumen und fehlender Liebe schwach sind, geschieht der Abstieg zu plötzlich. Hier müssen wir kurzzeitlich Beruhigungsmittel einsetzen, um die Schleusung zu unterstützen. Bei Psychose versagen die Schleusen, und die erste und zweite Linie durchdringen die dritte. Die Person versinkt in ihrer Vergangenheit und weiß es nicht.

Ein Patient kam zu uns, gleich nachdem ihn seine Freundin verlassen hatte. Er begann sich verlassen zu fühlen und setzte sich dann abrupt auf und sagte, er könne mit der Sitzung nicht weitermachen. Er war zu ängstlich. Man setzte ihn für kurze Zeit auf Tranquilizer, um eine frühe Verlassenheit zurückzuschlagen - seine Mutter lief mit einem anderen Mann davon, als er 5 war. Er blieb bei einem deprimierten Vater zurück, der zu erschüttert war, als dass er in der Lage gewesen wäre, sich mit seinen Kindern zu befassen. Sein Leben war eigentlich an diesem Punkt vorbei. Es war absolut qualvoll; er konnte immer nur ein bisschen davon fühlen. Als seine Freundin ihn verließ, fing er an sie zu behelligen. Sie musste ein Unterlassungsurteil erwirken, um ihn fern zu halten. Er konnte das Verlassen-Werden jetzt und damals nicht hinnehmen und wurde paranoid. Sein präfrontaler Bereich war überwältigt, und er begann sich ein Szenario vorzustellen, das nur ein Produkt seines eigenen Geistes war. Wie es so oft geschieht, kann ein Patient eine gegenwärtige Verlassenheit fühlen, solange es keine große Vergangenheit voller Vernachlässigung gibt.

Die Einprägung ist wirklich ein Reaktions-Ensemble, das gleichzeitig in das Gesamtsystem eingeprägt wird. Es ist eine totale Erfahrung - anders als intellektuelles Erinnern, das weitgehend geistig ist, das heißt, eine Operation des linken frontalen Kortex. Wir sind vielleicht nicht in der Lage, uns an eine Einprägung intellektuell zu erinnern. Wir können sie nur mit unserem Gesamtsystem erinnern - mit unseren Muskeln, Eingeweiden und unserem Blutsystem - weil alle diese Komponenten eines jeden von uns in die ursprüngliche Erfahrung verwickelt waren; deshalb muss man sie mit allen Systemen wiedererleben, die ursprünglich involviert waren, als sie verankert wurde. Nicht nur das, sondern sie muss mit derselben Intensität wiedererlebt werden, mit der sie eingeprägt wurde, weshalb man sie kaum jemals in konventioneller oder kognitiver Therapie gesehen hat, wo die emotionale Ebene ziemlich unterjocht wird. Aus diesem Grund findet der Patient in unserer Therapie am Anfang selten Erinnerungen von hoher Leben-und-Tod-Valenz wieder. Wir haben einen Weg gefunden, um auf die Tiefen des Unbewussten in einer geordneten, methodischen Weise zuzugreifen, so dass der Patient nicht von Schmerz überwältigt wird. Wir wissen, dass der Schmerz von höherer Valenz tief im Nervensystem liegt, und deshalb umgehen wir am Anfang der Therapie jeden ‚Ausflug' zu dieser Ebene. Ich nenne Primärtherapie "umgekehrte Neurose," weil wir an der Evolutionskette entlang dorthin zurückgehen, wo alles begann. Wir suchen die Vergangenheit wieder in maßvollen Schritten auf:

 

 

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Kindheitsereignisse werden vor der Babyphase gefühlt, die Babyzeit vor der Geburt und die Geburt vor der Schwangerschaftsphase. Der Physiker David Bohm bemerkte, dass der Mensch ein Mikrokosmos des Universums sei; deshalb sei das Wesen des Menschen ein Fingerzeig zum Universum.

Das ist genau unser Standpunkt. Was der Mensch ist, ist, was der Mensch war, und im Inneren des menschlichen Gehirns können wir Überreste des Fisch- und Reptilienhirns finden. Das bedeutet, dass das, was wir sind, auf den erfolgreichsten Anpassungen dessen aufbaut, was wir waren. Wenn unsere Patienten in ihrem Wiedererlebnis zu den primitivsten Gehirnen zurückgehen, sehen wir diese uralten Gehirne in Funktion. Und ich könnte hinzufügen, dass es in diesen Wiedererlebnissen nie Worte gibt. Die Rolle des Therapeuten besteht darin, die Sprache des nonverbalen Gehirns zu "sprechen." Lange Zeit ruhig zu sein, während der Patient die Schmerzkette hinabgleitet und in seiner frühen Kindheit aufgeht. Eine Berührung hier oder dort, wenn es angemessen ist, Druck auf den Kopf, wenn die Zeichen da sind. Nervenschaltkreise sind durch Gefühle verbunden. Wenn man also gegenwärtige Verlassenheit fühlt, bringt dies ein früheres Erlebnis hoch und dann vielleicht wieder eines aus der Zeit gleich nach der Geburt, als das Neugeborene stundenlang allein und unbeachtet gelassen wurde. Letzteres Erlebnis ist die Art von Feelings, die gnadenlos eingraviert werden und uns auf eine gegenwärtige Situation übermäßig reagieren lassen. Das Problem ist, dass die Paranoia zu oft einzementiert wird und unnachgiebig gegen alles Bitten von außen ist.

Wir haben einen Weg gefunden, um auf die Tiefen des Unbewussten in einer geordneten, methodischen Weise zuzugreifen, so dass der Patient nicht von Schmerz überwältigt wird.



Wenn wir die Natur des Bewusstseins betrachten, müssen wir die Gehirne in Betracht ziehen, die uns vorausgingen, die Gehirne, die immer noch in uns wohnen. Schließlich mussten die niederen Tiere sich sehr gut dessen bewusst sein, wo Nahrung und Feinde waren. Sicher hatten sie eine Bewusstheit, und diese Art oder Ebene von Bewusstheit existiert noch immer in uns. Diese "Bewusstheiten" machen sicher modernes Bewusstsein aus. Etwas anderes zu denken bedeutet, eine anti-evolutionäre Haltung anzunehmen, zu denken, dass der sich spät entwickelnde Neokortex das Ein-und-Alles menschlichen Bewusstseins sei. Wenn wir den Ursprung des Universums verstehen wollen, sowohl des persönlichen als auch des phylogenetischen (der Menschheit), ist es hilfreich, tief in unsere innere Vergangenheit einzutauchen. Fühlen Tiere? Wir steigen in das alte limbische System hinab, von dem wir einen Teil mit den Tieren gemeinsam haben, und finden heraus, dass sie tatsächlich fühlen. Fühlen Hunde? Absolut.

 

 

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Wir richten und korrigieren nochmals die Abweichungen, die uns von frühen Traumen aufgezwungen wurden, indem wir die Ereignisse wiedererleben, welche die entscheidenden Abweichungen verursachten. Die Einprägung ist das Problem und die Lösung. Sie ist eine unentrinnbare Kraft. Die Saat der Auflösung liegt im Schmerz und nur dort. Zurückgehen und uns von unseren Eltern ungeliebt fühlen bedeutet, dass wir fühlen; erst wenn das getan ist, können wir Liebe hereinlassen. Limbisch festgehaltene Ereignisse erlauben uns, unsere Kindheit wieder aufzuspüren - Vaters Aftershave riechen, spüren, wie sich sein Bart anfühlt, unser Kindheits-Zuhause sehen und uns erinnern, wie wir uns zuhause beim Essen fühlten. Wir sehen die Szenen von Familienkämpfen, von früher Angst und frühem Schrecken. Wenn wir auf tiefere limbische Ebenen hinabsteigen, sehen wir deutlich die Farbe des Teppichs, wir sehen den Ausdruck in Vaters Gesicht, und wir spüren Mutters Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit. Wir sind wieder das verletzliche, sensible Kind. Patienten in einer primärtherapeutischen Sitzung können sich bis ins kleinste Detail an Szenen erinnern, als sie 6 Jahre alt oder jünger waren, Szenen, an die sie sich andernfalls nie hätten erinnern können. Alles, was draußen war, ist drinnen; es gibt Zugang zu allem, was Patienten fühlen müssen. Ich finde es erstaunlich, dass irgendwo in diesem Gehirn der Geruch von Vaters Pfeife steckt und unser Kindbedürfnis danach, dass er sich uns zuwendet und nur eine Minute mit uns spricht; eine gewisse Anerkennung , dass wir existieren und für jemanden wichtig sind. Wenn es nie geschah, hören wir auf zu erwarten, dass es geschieht. Wir machen uns wieder an unsere lieblosen Geschäfte.

Es reicht nicht, in der Therapie Schmerz zu fühlen, denn wir müssen verstehen, dass innerhalb des Schmerzes das Bedürfnis liegt, das Bedürfnis, das sich anfangs zu Schmerz wandelte, als es nicht erfüllt wurde.



Am bemerkenswertesten in unserer Therapie ist, dass biologisch kein Unterschied zu sein scheint, ob man das Kind von Beginn an liebt oder ob man den Liebesmangel später wiedererlebt. Es kommt zu einer Normalisierung des Systems. Was in primärtherapeutischen Sitzungen geschieht, ist eine Analogie unserer evolutionären Geschichte. Wenn ein Patient in die Tiefen der Hoffnungslosigkeit taucht, hinab auf den Grund seiner tiefen Depression, kommt es zu einem Wechsel, und es dominiert das sympathische System mit häufigem Urinieren, hohem Blutdruck, schnellem Herzschlag, Magenkrämpfen und Muskelspannung. Das System reagiert auf den eingeprägten Schmerz und ist in höchster Erregung. Das erwachsene System kann jetzt mit dem Schmerz fertig werden, wozu das System des Kleinkinds nicht fähig war. Der Schmerz kann jetzt erlebt werden, weil die kritische Periode vorbei ist.

Es reicht nicht, in der Therapie Schmerz zu fühlen, denn wir müssen verstehen, dass innerhalb des Schmerzes das Bedürfnis liegt, das Bedürfnis, das sich anfangs zu Schmerz wandelte,

 

 

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als es nicht erfüllt wurde. Es ist ein Bedürfnis, das letzlich voll erlebt werden muss. Zum Beispiel ist das Saugbedürfnis da - unartikuliert - sobald wir geboren sind. Wenn Mutter die Brust anbietet, gibt es Befriedigung und Entspannung. Ohne Befriedigung bleiben wir vielleicht in einem sympathetisch dominanten Zustand mit beschleunigten Funktionen zurück und haben immer noch das Bedürfnis zu saugen. Es gibt nichts in der Umgebung, das dem parasympathischen Nervensystem erlauben würde einzuschreiten und dieses Bedürfnis zu zerstreuen. Bedürfnisse sind fest installiert; sie beinhalten immer Überleben. Sie sind nicht dafür gedacht, sich zu ändern; noch sollten sie das. Das Ausagieren, das in diesem Fall vielleicht involviert, Frauen zu bekommen, die uns von vorne bis hinten bemuttern, sich um jede Hausarbeit kümmern, zur rechten Zeit Mahlzeiten auf den Tisch stellen, erinnert uns ständig daran. Wenn das Bedürfnis nicht erfüllt wird, agieren wir es symbolisch aus. Weil die Erfüllung symbolisch ist, ist es nie befriedigend oder lösend. Bei der kognitiven Therapie geht es darum, den Symbolismus zu behandeln. Das Bedürfnis zu rauchen ist ein Symbol des realen Bedürfnisses. Zu oft befasst man sich mit dem falschen Bedürfnis. Und wenn das falsche Bedürfnis in der Therapie abgewendet oder unterdrückt wird, wird das als Erfolg angesehen. Denken Sie daran, dass wir das Bedürfnis nie überwinden, egal, wie alt wir sind.

Das Bedürfnis zu fühlen ist die Grundlinie, weil es sich als Warnung in Schmerz verwandelt. Das Bedürfnis zu fühlen bedeutet, das Bedürfnis nach Sauerstoff zu fühlen, wenn er aufgrund von Anästhesie bei der Geburt fehlte. Die Patientin keucht und würgt vielleicht in dem Wiedererlebnis und läuft rot an. Sie erlebt das Bedürfnis wieder, ohne ein Wort zu reden. Das genügt. Der Schmerz lässt nicht locker, ehe das Grundbedürfnis nicht gefühlt ist. Ja, somit müssen wir Schmerz fühlen, aber dies ist nur eine Wegstation zum Bedürfnis. Wenn man "Hilf mir, Mama" immer wieder fühlt, beendet es das Ausagieren, dass Frauen uns bemuttern sollen. Wir können es nicht nur einmal fühlen und Veränderungen erwarten; wir müssen es oft fühlen und mit der Stärke der Deprivation zu jener Zeit. Um mich deutlich auszudrücken: Wir erleben jeweils nur ein kleines Stückchen des Leidens wieder, so dass es sich integrieren lässt. Wenn ein Patient versuchte, es alles auf einmal zu machen, würde er überwältigt werden und in die symbolische Stratosphäre abheben - in vergangene Leben zum Beispiel. Es ist dieselbe Erinnerung, aber es sind verschiedene Aspekte des Schmerzes.

Wir müssen die Gefühle mit der Kraft der Einprägung erleben; es gibt keine Abkürzung dahin. Das Bedürfnis wurde uns versagt und diese Deprivation verstärkt sich Jahr um Jahr. Es wird beinahe monolithisch. Wenn jemand versucht, es durch den Gebrauch von Drogen in seiner Gesamtheit zu fühlen, scheitert er nahezu sicher. Das System ist nicht dafür eingerichtet, sich mit überwältigenden Schmerz zu verknüpfen. Es ist dafür vorgesehen, ihn beiseite zu schieben und ihn in Symbolismus umzuwandeln; folglich wird eine Freundin zur Mutter.

Nach der Verknüpfung, nach dem Fühlen von "Niemand will mich. Sie wollten mich nie" kann das System zu einem parasympathisch-dominanten Zustand wechseln. Schließlich

 

 

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kann das System jetzt ausruhen, weil die Gefahr Vergangenheit ist (und in die Vergangenheit gehört sie). Wenn wir uns mit der Leidenskomponente der Erinnerung in Verbindung setzen und die fremde Kraft integriert wird, beginnt die "Kaskade" von Abweichungen in multiplen Körpersystemen sich zu normalisieren. Wenn man Schmerz und Bedürfnis voll wiedererlebt, bedeutet das, ein physiologisches System zu schaffen, das so funktioniert, als wäre dieses Bedürnis schon immer befriedigt worden. Es wird die Parasympathin befreien, so dass sich ihr Vorstellungsvermögen erweitert und sie mehr Chancen wahrnimmt. Es wird dem Sympathen erlauben, in seinem unaufhörlichen Kampf nachzulassen, der ihn nie entspannen lässt. Schließlich bringt es unser System wieder ins Gleichgewicht, so dass es wieder zur Homöostase finden kann. Wir sind nicht mehr Gefangene von Medikament um Medikament, Droge um Droge. Ein ausgeglichenes System bedeutet, dass der chronisch niedrige Testosteronspiegel des männlichen Parasympathen sich normalisiert - was wir nach einem Jahr Therapie gefunden haben. Es bedeutet, dass er jetzt positiver und weniger deprimiert ist. Ein ausgeglichenes System bedeutet, dass man keine fünf Tassen Kaffee am Tag trinken muss oder süchtig nach Cola ist. Es bedeutet, dass man nicht rauchen muss, eine Sucht, die letztlich unser Leben verkürzen wird. Das ist die wahre Bedeutung von "frei sein."

Wir sind beinahe alle Gefangene unseres Prototyps. Die kognitive Therapie geht davon aus, dass wir ein üppiges Maß an freiem Willen haben. Ich bin mir nicht so sicher. Wir können Entscheidungen innerhalb des Prototyps treffen, aber das ist eher ein enger Spielraum. Wir haben aber die Freiheit zurückzugehen und herauszufinden, wie alles begann. Genau das wird schließlich unseren Entscheidungs-Spielraum im Leben erweitern.

DEPRESSION ODER DIE PHYSIOLOGIE DER HOFFNUNGLOSIGKEIT

Depression ist ein Beispiel für die Wirkung der Einprägung. Reduzierter Sauerstoff bei der Geburt und zuvor (eine schwangere Mutter, die mindestens 10 Zigaretten am Tag raucht, und Anästhesie bei der Geburt) etabliert eine physiologische Aufzeichnung. Diese Aufzeichnung orchestriert eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen; jede Reaktion ist eine Anpassung an die Bedrohung des Überlebens. Somit kommt es zu einem niedrigeren Sauerstoff-Spiegel, der sich zum Beispiel durch ein chronisches Erschöpfungssyndrom ausdrückt, und zu vielen Phänomenen, die von Hirnstamm-Funktionen gesteuert werden, wie Schmetterlingen im Bauch, Benommenheit und vager Angst. Alle möglichen viszeralen Reaktionen können hier einbezogen sein. Diese Reaktionen werden von unserem primitiven oder uralten Nervensystem kontrolliert. Wenn sich früh im Leben Schrecken festsetzt, hat der Fetus oder das Neugeborene keine kortikale Fähigkeit, seine Auswirkungen abzuschwächen. Die Natur tiefen Terrors oder Schreckens ist so profund, dass man ihn im Wiedererlebnis Jahrzehnte später nur für jeweils kurze Augenblicke fühlen kann.

Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Verzweiflung und Resignation können durch verminderten Sauerstoff eingeprägt werden; alle diese realen Empfindungen begleiten die

 

 

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Erinnerung. Später nennt man es Depression, ein Zustand der sich durch ein diktatorisches Elternhaus verschlimmerte, wo das Kind niemanden hatte, an die oder den es sich mit seinen Gefühlen wenden hätte können. Es ist nicht unbedingt so, dass die Eltern die Gefühle des Kindes unterdrückten, sondern sie waren vielleicht emotional nicht präsent. Das Ergebnis ist das gleiche: Es gibt niemanden, dem wir unsere Gefühle mitteilen können. Wieder sind wir hilflos und hoffnungslos. Keine wesentliche Anstrengung zu machen, nicht für den Erfolg zu kämpfen, weil kämpfen bei der Geburt die Möglichkeit zu sterben bedeutete, ist auch Teil des Anpassungsprozesses - Energie sparen fürs Überleben.

Im ursprünglichen Zusammenhang konnte jeder Kampf - vielleicht gegen eine strangulierende Nabelschnur - fatal sein. Massive Drogen, die der Mutter bei der Geburt verabreicht werden, unterdrücken das System des Neugeborenen, lassen es mit einer physiologischen Erinnerung von Hoffnungslosigkeit und Machtlosigkeit zurück. Hoffnungslosigkeit wird dann als Teil eines Überlebenssyndroms installiert und durch kalte, distanzierte Eltern verschlimmert. Vielleicht erhält sie jahrzehntelang keinen Begriff. Wir können uns ohne ein Etikett hoffnungslos fühlen, aufgeben, ohne einen Begriff dafür zu haben, und von ihr dominiert werden, bevor wir erkennen, was es ist. Ich erinnere mich, dass ich in meinen psychoanalytischen Tagen Patienten sagte, sie hätten eine "maskierte Depression," weil sie nicht einmal wussten, dass sie sich deprimiert und hoffnungslos fühlten. Aber sie wussten es doch. Jetzt muss ich den Patienten gar nichts sagen. Sie finden es selbst heraus. Sie fühlen die frühe Hoffnungslosigkeit, die sich fast immer durch eine sehr niedrige Körpertemperatur ankündigt, und sie kommen langsam aus ihrer Depression heraus. Jetzt freuen sie sich auf ein fühlendes Leben.

FALLSTUDIE: KIKI

Als ich 15 war, hatte ich eine Operation. Eine Zyste wurde aus meinem rechten Eierstock entfernt. Als ich nach der Operation erwachte, war mir so kalt. Ich zitterte, und die Decken, die mir die Schwestern brachten, konnten es nicht beenden. Die erste Nacht nach meiner Operation hatte ich Angst, mich zu bewegen,weil mein Bauch sich offen anfühlte, als hätten sie vergessen, mich wieder zuzunähen. Ich hatte das Gefühl, sollte ich mich je bewegen, dann würden alle meine Eingeweide aus mir herausfallen. Ich vergaß die Operation. Sie wurde zu  einem weiteren dieser schwarzen Löcher.

Nach zwei Monaten in der Primärtherapie verschlimmerten sich meine vorher sehr schmerzvollen Perioden. Der Schmerz war diffus in meinem Becken mit gelegentlichen scharfen abdominalen Schmerzen. Obwohl der Schmerz nahezu unerträglich war, unternahm ich keine ernsthafte Anstrengung, ihn mit Schmerzmitteln zu lindern. Ich durchlitt ihn Monat um Monat, bis etwa ein Jahr in der Primärtherapie vergangen war. Dann begann ich Primals über meine Operation zu haben. Die Operationserinnerungen werden ausgelöst, wenn ich mich von Leuten extrem abgelehnt fühle, denen ich in meinem gegenwärtigen Leben nahestehe. Sofort beginnt meine Narbe zu schmerzen, mein Uterus verkrampft sich und ich fange an zu bluten.

 

 

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Wenn ich in das Feeling hineinfalle, habe ich Empfindungen darüber, wie im Inneren meine Organe grob angefasst und zur Seite geschoben werden. Ich spüre, wie etwas sehr Kaltes und Hartes in meine Vagina eingeführt wird. Ich fühle einen Schnitt und dann gewaltige Schmerzen, die sich überall in diesem Bereich ausbreiten. Es fühlt sich an, als ob etwas oder jemand dort gewaltigen Druck auf mich ausübt.Ich habe das Gefühl, als würde Luft in mein Inneres geblasen und als würde ich innerlich gleich platzen.

Ich spüre auch eine schreckliche Atmosphäre um mich herum: die Art von Atmosphäre, die entsteht, wenn Leute sehr gestresst sind und ohne Gespür oder Gefühl für den Menschen arbeiten, an dem sie die Operation vornehmen. Mir ist sehr kalt und ich beginne zu zittern. Das Gefühl ist äußerste Zurückweisung, die schrecklichste, die ich je fühlte. Ich denke, gegenwärtige Ablehnung löst sie aus. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass alles, was mit mir passiert, völlig falsch ist und dass ich nichts machen kann. Dieses Feeling "Ich kann nichts machen" agierte ich lange Zeit beim Wiedererleben aus, indem ich nicht einmal auf die Idee kam, dass ich etwas machen könnte, wie Pillen zu nehmen, um meinen Schmerz zu dämpfen.

Meine Haupteinsichten aus den Operations-Primals sind folgende:

1. Wie sehr ich es gebraucht hätte, dass man mich einfach körperlich warm hält (Kleidung oder höhere Temperatur im Operationsraum).

2. Wie sehr ich es gebraucht hätte, dass die Operateure vorsichtig mit mir umgehen, meine Organe im Inneren sanft bewegen.

3. Wie sehr ich jemanden gebraucht hätte, die oder der bei mir wäre, auch wenn ich narkotisiert war. Ich hätte jemanden gebraucht, der oder die mich sanft berührt, sanft mit mir redet und mich beruhigt, indem er oder sie einfach für mich da ist, ganz nah bei meinem Kopf. Ich vermute, in der ganzen Zeit, als ich narkotisiert war, schlief mein Verstand. Aber tief da unten in meinem Gehirn war meine Psyche lebendig, fühlte alles, was vor sich ging, erinnerte es in klaren Einprägungen, die ich jetzt erinnere und die ich liebend gern nie erlebt hätte.

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Hier sehen wir, dass alles, was die ursprüngliche kalte Sterilität des Operationsraums auslöste - eine zurückweisende, gleichgültige, kalte Atmosphäre in der Gegenwart - Kikis Operationserlebnis wachrufen konnte, das sie erst nach vielen Monaten in der Therapie wiedererlebte.

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FORTSETZUNG BUCH, SEITEN 107 - 140

TEIL I A , SEITEN 1 - 35         TEIL I B, SEITEN 36 - 70               TEIL I C , SEITEN 71 - 106 TEIL II A, SEITEN 107 - 140      TEIL II B, SEITEN 141 - 181     TEIL II C, SEITEN 182 - 208
TEIL III A, SEITEN 209 - 240                TEIL III B, SEITEN 241 - 272   BUCHÜBERSETZUNG: BÜCHER VON A. JANOV                                             HOME