Primal Healing 3A
 

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TEIL III A

KAPITEL 9

 BEWUSSTHEIT GEGEN BEWUSSTSEIN

 

 

 

Das Leitmotiv einer jeden intellektuellen Therapie ist, dass Bewusstheit uns dabei hilft, Fortschritte zu machen. Ich gestehe zu, dass intellektuelle Bewusstheit hilft; aber voll bewusst zu sein heilt. Solange wir in der Psychotherapie nicht in der Lage sind, volles Bewusstsein zu erreichen, können wir höchstens Wasser treten, uns der Illusion von Fortschritt ohne seine Essenz hingeben.

Wenn es darum geht, Fortschritt in der Psychotherapie zu messen, ist es von Bedeutung, ob man das ganze System misst oder nur Aspekte der Gehirnfunktion. Bewusstheit entspricht letzterem. Sie hat einen ganz bestimmten Platz im Gehirn - weitgehend im linken Frontalbereich des Gehirns. Ohne intakten präfrontalen Kortex kann man nicht bewusst sein. Im Gegensatz dazu gibt es keinen Sitz des (vollen) Bewusstseins. So banal es scheinen mag, Bewusstsein reflektiert unser Gesamtsystem - das gesamte Gehirn, wie es mit dem Körper interagiert.


Worauf wir aus sind, ist die Bewusstheit des Bewusstseins und das Bewusstsein der Bewusstheit.



Nach den Neurophysiologen Rudolfo Llineas und E. Roy John kann man Bewusstsein als weites Energiefeld sehen, das alle Teile des Gehirns und Zentralnervensystems verbindet. Bewusstsein hat damit zu tun, dass alle Gehirnebenen in Harmonie und mit fließendem Zugang untereinander zusammenarbeiten; die Gesamtsumme aller Systeme, wie sie sich in den Gehirnprozessen widerspiegelt. Es ist ein dauerhafter organischer

 

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Zustand; intellektuelle Bewusstheit ist das nicht. Bewusstheit ist eine Augenblick-zu-Augenblick-Angelegenheit mit einem bestimmten Inhalt. Es ist unbegrenzt in seiner Zahl. Bewusstsein ist einzig. Es gibt ein einziges Bewusstsein mit vielen Bewusstheiten, aber nicht umgekehrt. Bewusstsein hat keinen bestimmten Inhalt, dennoch wird ihm kein Inhalt vorenthalten. Bewusstsein bleibt auch im Schlaf, während Bewusstheit mit dem Schlaf verschwindet.

Bewusstheit und Bewusstsein sind zwei verschiedene Lebewesen. Bewusstheit und Gefühle liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Intellektuelle Bewusstheit ist, was wir oft benutzen, um das Unbewusste zu verbergen - eine Abwehr. Bewusstheit ohne Fühlen ist der Feind des (vollen) Bewusstseins. Worauf wir aus sind, ist die Bewusstheit des Bewusstseins - Bewusstheit der tieferen Bewusstseinsebenen und ihres Inhalts. Bewusstheit der Bewusstheit ist ein Solipsismus der dritten Linie; die linke präfrontale Zone, die mit sich selbst redet. Wenn der Patient sich während der Sitzung unwohl fühlt, nehmen Therapeuten typischerweise die Position ein, dass "wir mehr Einsichten brauchen. Er hat nicht genug Bewusstheit." Aber es ist nicht der Inhalt dieser Einsichten, was hilft; es ist die Tatsache der Einsicht - ein Glaubenssystem, das die Abwehrmechanismen bei ihrem Job unterstützt. Dennoch ist das, was auf tieferen Ebenen der Gehirnfunktion liegt, immun gegen jeden Gedanken. Wir können Angst und Bewusstheit haben aber nicht Angst und (volles) Bewusstsein.

Bewusstsein ist das Ende der Angst. Bewusstsein bedeutet die Verknüpfung mit den Kräften, die uns antreiben. Unverknüpfte Gefühle treiben uns ständig zu Geschäftigkeit und Eile. Ihre Energie findet man in Form von Geschwüren oder Reizdarm, in Phobien und in Konzentrationsunfähigkeit. Sie sind eine allgegenwärtige Gefahr, die ein Parallel-Selbst bildet - eine Persönlichkeit der Abwehrmechanismen und der Schmerzvermeidung; ein Selbst, das für immer in der Geschichte feststeckt. Es gibt tatsächlich ein paralleles Selbst, die irreale Fassade; und das reale Selbst, das fühlt und leidet. Somit gibt es Paralleluniversen, die die menschliche Bedingung ausmachen - das eine fühlt und leidet, das andere bedient sich einer guten Fassade. Letzteres, die Fassade, ist das, womit sich die meisten Psychotherapien befassen: die Psychologie der (äußeren) Erscheinungen versus Essenzen. Es bedeutet, dass man im falschen Universum navigiert.

Bewusstheit bedeutet, dass man sich nur mit der letzten neuronalen Entwicklung der Evolution befasst: mit dem präfrontalen Kortex. Es ist der Unterschied zwischen der obersten Ebene im Gegensatz zum Zusammenfluss aller drei Ebenen, der (volles) Bewusstsein ausmacht. Wenn wir voll bewusst sind, haben wir Worte, um unsere Gefühle zu erklären, aber Worte löschen sie nicht aus, sie erklären. Wir sind schon lange tief verwundet, ehe Worte in unserem Gehirn in Erscheinung treten. Worte sind weder das Problem noch die Lösung. Sie sind der letzte evolutionäre Schritt in der Verarbeitung des Gefühls oder der Empfindung. Sie sind die Begleiter der Gefühle.

Es gibt Bewusstheitstypen, die für unser Überleben wichtig sind. Intellektuelle Bewusstheit einer gesunden Ernährung ist auch bei Abwesenheit von vollem Bewusstsein entscheidend.

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Aber eine Bewusstheits-Therapie im Gegensatz zur Bewusstseins-Therapie hat einen wichtigen Unterschied in Hinsicht auf die globale Wirkung. In der Wissenschaft sind wir auf das Universelle aus, so dass wir unser Wissen auf andere Patienten anwenden können. Eine Therapie der Bedürfnisse lässt sich auf viele Patienten anwenden (wir haben alle ähnliche Bedürfnisse); eine Therapie der Gedanken lässt sich gewöhnlich nur auf einen bestimmten Patienten anwenden. Wenn wir versuchen, den Patienten von anderen Gedanken zu überzeugen (zum Bespiel: "Die Leute mögen dich tatsächlich"), schaffen wir keine universellen Gesetze. Es ist alles idiosynkratisch. Aber wenn wir uns mit den darunter liegenden Gefühlen befasen, können wir Lehrsätze schaffen, die allgemein zutreffen; zum Beispiel, dass entfesselter Schmerz paranoide Gedanken oder Zwänge erzeugen kann. Oder der frontale Kortex kann einfache Bedürfnisse und Gefühle in komplexe Irrealitäten umwandeln, indem er sie in ihr Gegenteil verkehrt.

Es gibt wirklich zwei Bewusstheiten ("Ich brauche niemanden. Ich schaffe es allein."). Eine ist links präfrontal - Bewusstheit unserer äußeren Umgebung. Die zweite ist rechts präfrontal - Bewusstheit unseres inneren Milieus. Wenn man sie zusammensetzt, wird die innere Bewusstheit zu einem Teil des vollen Bewusstseins. Wenn sie sich mit der linksseitigen Bewusstheit vereint, sind wir endlich voll bewusst. Es kommt dann zu einem qualitativen Sprung in Richtung eines inhaltsreicheren Zustands. Letzterer ist für eine radikale neurophysiologische und psychologische Veränderung verantwortlich.

Bewusstsein bedeutet denken, was wir fühlen, und fühlen, was wir denken; das Ende einer gespaltenen, heuchlerischen Existenz.


Eine Mann verdächtigt andere, dass sie ihn verletzen wollen, weil er so sehr von gefühllosen Eltern verletzt wurde; in Dans Fall von einer grausamen Mutter. Er projizierte diese Furcht auf andere, die ihn vermeintlich verletzen wollten. Dan war zu Beginn der Therapie leicht paranoid, stellte sogar die netten Dinge in Frage, die er zu hören bekam. "Hast du das wirklich so gemeint? Ich dachte, du willst mich auf den Arm nehmen." Sein Argwohn wanderte vom Persönlichen und Idiosynkratischen zum Allgemeinen (alle anderen in der Gegenwart). "Sie" versuchen mich zu verletzen. Als wir Dan vom universellen "sie" zurückholten und es in ein persönliches "ich" umwandelten, wurden die paranoiden Gedanken weniger oder verschwanden ganz. Das Allgemeine wurde zum Besonderen, das dann ein allgemeines Gesetz schuf.

 

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Bedürfnisse sind universell; Verhalten ist idiosynkratisch. In unserer Therapie stellen wir das Verhalten in einen universellen Zusammenhang. Ein Patient, der sich so oft erstickt oder stranguliert fühlt, kann eine Geburts-Einprägung ausdrücken. In der Tat ist eines der Kennzeichen dieser Einprägung das Gefühl des Erstickens in der Gegenwart. Dieses Gefühl, obgleich es spezifisch ist, deutet auf ein universelles Problem hin: Sauerstoffmangel während eines Geburtstraumas. Es trifft allgemein zu.

Es gibt mehrere Studien, die eine Verbindung zwischen Geburtstrauma und späterer Psychose nachweisen.1 Sauerstoffmangel und das nachfolgende Geburtstrauma  begründen am Lebensanfang eine solche Schmerzlast, dass ihr Übermaß den denkenden Kortex schwächt und überbeansprucht. Anders gesagt liegt der Ursprung der Psychose oft auf der ersten Ebene. Der "kortikale Damm" ist geschwächt, und später dann erledigen schwierige, lieblose Zeiten mit den Eltern den Rest. Sind Psychose und Depression verschiedene Krankheiten? Nur in dem Sinne, dass sehr großer Schmerz am Lebensanfang so viele physiologische Prozesse umwandelt, dass es wie eine andere Krankheit auszusehen beginnt. Natürlich gibt es viele Faktoren einschließlich der Gene, die bei Ihrer Entwicklung eine Rolle spielen, aber meine Überzeugung ist, dass frühen Traumen eine Hauptrolle zukommt.

Psychotherapie stand zu lange im Dienst der intellektuellen Bewusstheit. Seit den Tagen Freuds haben wir Einsichten vergöttert. Wir sind so gewohnt, an den allmächtigen frontalen Kortex zu appellieren, die Struktur, die uns zu den fortgeschrittenen menschlichen Wesen gemacht hat, die wir sind, dass wir unsere wertvollen Vorfahren, ihre Instinkte und Gefühle vergessen haben. Wir können immer wieder  betonen, dass sich unser Neokortex ja so sehr von anderen Tierformen unterscheide, während wir gleichzeitig  unseren Gefühlsapparat außer Acht lassen, den wir mit ihnen teilen. Wir brauchen eine Therapie des vollen Bewusstseins, nicht der Bewusstheit. Wenn wir glauben, dass wir ein schmorendes Es in uns haben, gibt es keine geeignete Behandlung, weil die Ursache ein Gespenst ist - ein Phantom, das nicht existiert. Oder schlimmer noch, sie ist eine genetische Kraft, die unveränderlich und deshalb unbehandelbar ist. In jedem Fall sind wir die Verlierer.

Es gibt keine Machtlosigkeit wie die, unbewusst zu sein; man irrt in einem Dilemma herum und weiß nicht, was man bei diesem oder jenem tun soll - bei Sexualproblemen, niedrigem Blutdruck, Depression und Temperamentausbrüchen. Es scheint alles so rätselhaft zu sein. Der Person, die Bewusstheit sucht, muss man alles sagen. Sie hört zu, gehorcht - und leidet. Bewusstheit macht uns nicht sensibel, empathisch oder liebevoll. Sie macht uns bewusst, warum wir all das nicht sein können. Es ist, als sei man sich eines Viruses bewusst. Es ist gut, wenn man weiß, was das Problem ist, aber es ändert sich nichts. Das Beste, das intellektuelle Bewusstheit tun kann, ist, Gedanken zu erzeugen, die Bedürfnis und Schmerz verleugnen.

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Bewusstheit heilt nicht; Bewusstsein heilt. Wahres volles Bewusstsein bedeutet Fühlen und deshalb Menschlichkeit. Dem voll bewusssten Menschen muss man nichts über seine geheimen Beweggründe sagen. Er fühlt sie, und sie sind kein Geheimnis mehr. Bewusstsein bedeutet denken, was wir fühlen, und fühlen, was wir denken; das Ende einer gespaltenen, heuchlerischen Existenz. Bewusstheit kann das nicht leisten, weil Bewusstheit sich jedes Mal ändern muss, wenn eine neue Situation eintritt. Aus diesem Grund ist konventionelle kognitive Einsichtstherapie so kompliziert. Sie muss jeder Kurve im Straßenverlauf folgen. Sie muss das Bedürfnis nach Drogen bekämpfen und dann die Unfähigkeit bekämpfen, einen Job beizubehalten, und dann versuchen zu verstehen, warum Beziehungen auseinanderbrechen. Das erklärt auch, warum konventionelle Therapie so lange dauert; jede Straße muss einzeln überquert werden. Bewusstsein ist global; es passt zu allen Situationen, umfasst alle diese Probleme zugleich. Die wahre Macht vollen Bewusstseins liegt darin, ein bewusstes Leben zu führen mit allem, was das bedeutet: keinem unkontrollierten Verhalten ausgeliefert zu sein und konzentrations- und lernfähig zu sein, still sitzen und entspannen können, gesunde Entscheidungen treffen und gesunde Partner wählen und vor allem lieben können.

Der voll bewusste Mensch kann traurig sein aber nicht deprimiert, denn das bedeutet verdrängt.


Bewusstheit kann den Janovschen Spalt vergrößern; sie täuscht uns und entfremdet uns von innerer Realität, bis die Realität uns sowohl psychisch als auch körperlich verstümmelt. Volles Bewusstsein verengt den Spalt, und das könnte ein längeres, gesünderes Leben bedeuten. Die voll bewusste Person, die jetzt in Kontakt mit dem Leben in ihr selbst steht, hat Ehrfurcht vor allem Leben. Nichts befreit mehr als volles Bewusstsein. Das bedeutet, dass jetzt endlich, nachdem wir die Tiefen unserer Traurigkeit gefühlt haben, die Möglichkeit besteht, Freude voll zu erleben. Diese Tiefen zu fühlen bedeutet fühlen, und genau das befreit.

Es ist nicht möglich, voll bewusst und deprimiert zu sein; es sind antithetische Zustände. Der voll bewusste Mensch kann traurig sein aber nicht deprimiert, denn das bedeutet verdrängt. Der Bewusstheits-Mensch kann eine falsche Art Befreiung mit einem fixierten Freude-Lächeln zeigen, aber es ist hohl. Wir können zur selben Zeit intellektuell bewusst und deprimiert sein. Tatsächlich unterstützt Bewusstheit allzu oft die Verdrängungsarbeit. Mit Bewusstheit können wir denken, dass wir das Nirwana gefunden haben, aber leider sind wir von Selbsttäuschung umzingelt. Wir haben einen Gedanken, eine Vorstellung gefunden - eine Bewusstheit - vom Nirwana, aber es ist ein

 

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Zustand, den die Serotonin-/Endorphin-Fabriken hergestellt haben, die Schmerz in Schach halten und falsche Gedanken sprießen lassen.

Wir brauchen uns nur Hypnose anzuschauen, um zu sehen, wie leicht es für Gedanken ist, Schmerz zu blockieren. Der Hypnotiseur sagt ein paar magische Worte, und Sie sehen zu, wie Ihre Hand mit einer Nadel gestochen wird, und fühlen es nicht oder wissen nicht einmal, dass es passiert ist. Ich führte Hypnose in seltenen Fällen aus. Wenn ich der Versuchsperson in den Finger stach und fragte, wo es weh tat, war sie verwirrt und zeigte dann auf ihr Knie. Ich abstrahierte die Person von ihrer physischen Erfahrung. Das kann es bewirken, wenn man in einem Paralleluniversum lebt, das auf Verleugnung beruht: einen Menschen schaffen, der von sich selbst abstrahiert ist, der keinen Schmerz fühlt. Es bedeutet einen Menschen, der nicht fühlt, kein Mitleid hat und nicht liebt.

Bei Hypnose oder Suggestion ist es möglich, kritische Bewusstheit einzulullen und sie durch einen neuen Satz von Gedanken zu ersetzen, um ein Pseudo-Bewusstsein zu erzeugen. Die Person kann dann eine Königin in einem früheren Leben sein. Oder noch wichtiger - sie fühlt, dass das Leben wunderbar ist; jeder Schmerz ist entfernt worden. Das ist das Paradigma für Neurose, eine großgeschriebene Hypnose. Hypnose kann deshalb eine Mini-Neurose sein. Wir können mit Hypnose nicht gesund werden, weil Gesundheit Bewusstsein bedeutet. Also bilden wir uns ein, gesund zu sein, leben in einem Zustand falschen Bewusstseins - ein imaginärer Zustand. Normal und unbewusst zu sein sind antithetische Auffassungen.

Hypnose scheint die linke Seite durcheinander zu bringen, so dass sie nicht mehr unterscheiden kann, was real ist. Sie blockiert die Integration des Fühlens, die ein Schlüsselelement der Besserung ist. Sie unterstützt die Gefühlsunterdrückung in der Amygdala, indem sie den linken Frontalbereich zwingt, neue Gedanken zu entwickeln, die nicht mit dem übereinstimmen, was weiter unten eingraviert ist. Dann kann jemand - wie bei jedem Gedankenspiel - ein Verhalten wie z. B. Rauchen aufgeben, aber welcher Preis ist für diese Bedürfnisleugnung zu zahlen? Das Rauchen zu beseitigen ändert kein reales Bedürfnis. Viele scheint das nicht zu bekümmern; alles, was wir wollen, ist, mit zwanghaftem Verhalten aufzuhören. Was wir nicht wissen, ist, dass zwingende, aufdringliche Bedürfnisse zwingendes oder zwanghaftes Verhalten antreiben. Noch einmal, das Bedürfnis zu rauchen ist ein Ableger eines realen Bedürfnisses. Verhaltensänderung ändert nichts am Bedürfnis. Wenn man mit dem Verhalten aufhört, bleiben alle diese Bedürfnisse zurück und wissen nicht mehr, wohin. Patienten sagen in den späteren Therapie-Phasen oft zu mir: "Wo war ich? Ich muss die meiste Zeit meines Lebens in einer Art Koma gewesen sein." Uns so war es größtenteils.

Ein ziemlich banales Beispiel: Einer meiner Patienten kam am Montag in eine Sitzung. Er sagte, er habe sich am Tag zuvor, ein Sonntag, den ganzen Tag über schlecht gefühlt und wisse nicht, warum. Von diesem Punkt an halfen wir ihm, der ganzen Spur hinab bis zu Folgendem nachzugehen: "Ja, mein ganzes Leben lang hasste ich Sonntage. Ich weiß nicht, warum. Jeden Sonntag ging meine Mutter aus, sah ihre Freunde und ließ

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mich vor dem Fernseher allein. Ich erinnerte mich, was ich mir anschaute. Ich schaute Lassie. Ich hasste diesen Hund! Gott, wie ich diesen Hund hasse!" (Patient ist jetzt wütend und in der Erinnerung zurück. Er ist jetzt das Kind vor dem Fernseher.) " Der Hund ist so gut, macht alles richtig, rettet immer jeden. So schlau. Also hat in jeder geliebt." (Pause-Tränen) "Genau das ist es. Er hat die ganze Liebe von allen bekommen." (Schluchzen) "Ich fühlte mich wie ein Hund.....aber niemand wollte mich." (Weinen) "Mama, bitte liebe mich." (Kinderstimme) "Ich bin genau so gut wie Lassie! Lass mich nicht jeden Sonntag ganz allein. Ich brauche dich!" Er wurde voll bewusst. Dieser Hass auf Lassie schien total irrational. Aber stellen Sie sich vor, ihn von etwas anderem überzeugen zu wollen, wo doch weiter unten alle diese Gefühle lagen. Er hasste diesen Hund, weil er geliebt werden wollte. Es schien wie irrationaler Hass, aber das Gefühl, das ihn steuerte, war völlig rational: Liebe mich! Darin liegt das Paradigma für Neurose; die Umleitung von Gefühlen in symbolische Kanäle.

Bewusstheit kann man manipulieren, wie bei Hypnose; man kann sie gegen Gefühle und gegen das Selbst richten, so dass sie einen Mangel an Harmonie erzeugen, der dazu dient, uns unbewusst zu halten; und als solche kann sie Schaden anrichten. Bewusstheit allein kann ohne volles Bewusstsein fatal sein. Wir können kurz vor einem Schlaganfall stehen, und es bleibt immer noch ein Geheimnis. In der kognitiven Therapie können wir umso weniger voll bewusst sein, je intellektueller wir durch Einsichten gemacht worden sind; der linke Frontalbereich wird zur Abwehr gegen volles Bewusstsein. Das bedeutet, dass es einen größeren Janovschen Spalt zwischen Gefühlen und Gedanken gibt. In der Therapie ist jede Bewusstheit verdächtig, die sich vor einem Feeling einstellt. Es bedeutet, dass die Evolution übertrumpft worden ist.

Volles Bewusstsein kann man nicht manipulieren oder gegen das Selbst richten, weil es aus dem Selbst hervorgeht. Es ist die Essenz innerer Harmonie.

Erinnern Sie sich bitte, dass analytische, kognitive und Freudsche Einsichten sich vom linken Gehirn ableiten. Wirkliche Einsichten entstehen aus Gefühlen im rechten Gehirn. Es sind mit dem linken Gehirn verknüpfte Rechtshirn-Einsichten, die Veränderungen bewirken. Sie entströmen dem Unbewussten. Linkshirn-Einsichten tun dies nicht; sie werden von Bewusstheit angetrieben. Jedes Gefühl, das in die Bewusstheit aufsteigt, bildet volles Bewusstsein, das damit zu tun hat, dass alle Gehirnteile in fließender Harmonie zusammenarbeiten.

Volles Bewusstsein bedeutet Anpassungsfähigkeit. Es ist grenzenlos, ein Seinszustand. Bewusstheit scheint vielleicht psychisch anpassungsfähig ("Ich weiß, welche Irrtümer ich vermeiden muss"), ist aber biologisch nicht anpassungsfähig. Die Geschichte legt die Reichweite von Bewusstheit fest; sie reicht nicht über die Kapazität des linken Frontalhirns hinaus. Es ist geistige Anpassung, ein imaginärer Zustand; ein Geisteszustand, der von unserem tiefsten Sein entfremdet ist. Die voll bewusste Person ist sexuell, was bei Bewusstheit nicht unbedingt der Fall ist. Bewusstheit befreit den Körper nicht.

 

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Alle Bewusstheit der Welt, die man in Gefängnis-Konfrontationsgruppen erlernt hat, ändern nichts am Drang nach Vergewaltigung oder Exhibition. Noch beendet sie das Verlangen nach Drogen; und ein Großteil der Gefangenen werden wegen Gebrauchs und Verkaufs von Drogen inhaftiert. Kriminelle nehmen Drogen, weil dieselbe Sache, die in ihnen Schmerz erzeugt - ungeliebt aufwachsen -, auch kriminelles Verhalten verursachen kann. Bewusstheit setzt dem Bedürfnis nach Drogen kein Ende. Es kann jemanden überzeugen, dass Drogen nicht mehr nötig sind: eine ganz andere Sache. Bewusstheit kann die innere Wirklichkeit nie ändern. Sie ist Millionen von Jahren der Evolution von dieser Wirklichkeit entfernt. Diese Wirklichkeit ist eine Erinnerung an unsere Bedürfnisse und Überlebensstrategien.

Unbewusstheit ist kein Fehlen von Bewusstsein; es ist ein aktiver Verdrängungsprozess und ein Prozess, der Bewusstsein in Schach hält. Es ist die Schlüsselabwehr, die allen anderen Abwehrmechanismen zugrunde liegt. Unbewusst werden ist ein Überlebensmechanismus. Deshalb ist bewusst werden nicht einfach ein Willensakt. Willenskraft hält uns davon ab, in das Unbewusste hinabzusteigen. Sie ist Teil des linken frontalen Abwehrapparats. Wir können jemanden intellektuell bewusst machen, aber wir können nie jemanden voll bewusst machen.

Wir können uns unserer impulsiven Tendenzen intellektuell-bewusst werden, aber uns weiterhin des "Warums" unbewusst sein. Dieses "Warum" müssen wir entdecken. "Warum" befreit uns, und das ist der Grund, dass ich sage, man solle sich vor jeder Therapie hüten, die kein "Warum" in sich hat. Wenn es leicht wäre, wären wir alle voll bewusst. Es ist viel leichter, intellektuell bewusst zu sein, viel schneller und doch viel oberflächlicher. Unsere ganze Geschichte, unsere Evolution und die Geschichte der Psychotherapie marschiert in Richtung Bewusstheit und verwechselt das mit vollem Bewusstsein.

Bewusstsein findet statt, wenn wir uns nicht angestrengt darum bemühen; wenn wir Gefühle hochkommen lassen, wenn wir eine Zeit lang auf einer niedrigeren Bewusstseinsebene leben. Um präzise zu sein, je mehr wir uns mit unserem Unbewussten verknüpfen, umso bewusster werden wir. In diesem Sinne ist Unbewusstheit die notwendige Bedingung für Bewusstsein. Um voll bewusst zu werden, müssen die eher intellektuell bewussten Gehirnteile, der präfrontale Kortex, zurückweichen. Kognitive Therapie macht das Gegenteil, indem sie Gedanken stimuliert und ihnen Dominanz verleiht.

DIE EVOLUTION DER GEFÜHLE

Die Auffassung, dass Gedanken an erster Stelle stehen und das Gehirn an zweiter, welche die intellektuelle Therapie von der Gefühlstherapie unterscheidet, geht auf den alten Streit zwischen den logischen Positivisten des 19ten Jahrhunderts zurück, die den Verstand als vorherrschend ansahen, und den Empiristen, die Erfahrung an erste Stelle setzten. Materie, das Gehirn, ging dem Verstand offensichtlich voraus. Es gab Milliarden Jahre organischen

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Lebens, bevor es ein denkendes Gehirn gab, das Gedanken und Vorstellungen ersinnen konnte. Die Kognitivisten glauben, dass Erfahrung keine Erfahrung ist, ausgenommen in der Art, wie wir sie interpretieren, dass Lebenserfahrung und äußere Umstände in uns keine Veränderung verursachen. Ich nehme deshalb an, dass unsere primitiven Vorfahren sich nicht aufgrund von Gegebenheiten in ihrer Umwelt veränderten; es war ihre Interpretation oder Bewusstheit von all dem. Folglich ist Evolution für die Kognitivisten eine Schimäre. Diese Therapeuten haben sich unwissentlich den Kreationisten angeschlossen. Für beide gibt es keine historischen Kräfte und keine Evolution. Vielleicht sind diejenigen, die keinen Zugang zu ihrer Geschichte haben, die nicht sehen, wie das Leben sie geformt hat, gezwungen, Überzeugungen anzunehmen, die dasselbe tun.

Was geschieht, wenn ein Tier seine Erfahrung nicht interpretieren kann, sich aber nichtsdestotrotz verändert? Was geschieht, wenn Tiere, die von früh auf nicht berührt wurden, weniger Dendriten und Synapsen haben, weniger Serotonin und Oxytozin? Was geschieht, wenn sie weniger neugierig sind und zögern, ihre Umgebung zu erforschen? Ist es ihre Interpretation oder ihre Erfahrung? Teilen wir nicht ähnliche tiefere Gehirnstrukturen mit diesen Tieren und reagieren wir nicht auf ähnliche Weise? Die intellektuellen Therapien glauben, wir könnten Erfahrung durch unsere Einstellung ändern. Dem ist nicht so. Wir können unsere Gedanken über die Erfahrung ändern, aber die Erfahrung selbst bleibt unverändert. Einsichten, Gedanken oder Kognition können frühe Einprägungen verwischen, vernebeln und verdrängen und uns dabei überzeugen, dass es uns besser geht, dass wir Fortschritte in der Therapie gemacht haben, dass wir nicht mehr unter Schmerz stehen, was oft nicht stimmt. Diese Täuschung kann und wird in jeder vorhandenen rationalen, kognitiven, auf Einsicht basierenden Therapie vollbracht. Wir wenden uns an den unverknüpften linken frontalen Kortex, damit er uns intellektuell bewusst macht - und im Namen der Bewusstheit werden wir unbewusst. Es ist schwer, Leute davon zu überzeugen, dass es ihnen nicht besser geht, wenn sie keinen Zugang zu Schmerz mehr haben. Und ich würde es nicht versuchen. Wir sind keine Priester, die jeden von der Erb- oder Ursünde oder in diesem Fall vom Urschmerz zu überzeugen versuchen. Aber wenn Leute die ganze Zeit krank sind, ist es an der Zeit, sich das Unbewusste gut anzusehen. Es ist jetzt möglich, einen ganz genauen Blick darauf zu werfen.

DIE MESSUNG VON STRESS

Was ich vorschlage, ist die Messung von Psychopathologie, nicht durch psychische Kennwerte, Gedanken und Wahrnehmungen, sondern durch Neurophysiologie, durch die biochemischen Substanzen, die in Bewusstsein und Unbewusstsein involviert sind, und durch die Gehirnwellen-Aktivität und Amplitudenmuster. Sehen Sie sich die hohen Kortisolspiegel bei denen an, die ein posttraumatisches Stresssyndrom erleiden. Tatsächlich erleben die meisten

 

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von uns mit einem Geburtstrauma - und das sind unzählig viele - ein posttraumatisches Stresssyndrom. Dieser Stress ist in unseren Knochen, Muskeln, Blut und Gehirn. Kein Teil von uns ist immun, das Immunsystem nicht ausgeschlossen. Wenn wir später an Krankheiten eines dieser Systeme leiden, reflektiert das den Stress, der eingeprägt wurde, und den Ort, zu dem er sich vielleicht begeben hat. Und ich schlage vor, dass wir diesen Stress messen können, dass es vielleicht möglich ist, ein Gitternetz des Schmerzes oder der Verdrängung zu entwickeln, das alle Wirkungen der Verdrängung auf verschiedene Systeme enthält. Ist der Stresshormon-Spiegel hoch? Ist die Gehirnwellen-Amplitude niedrig? Sind die Vitalwerte niedrig? Alles das sagt uns etwas über Bewusstsein und gibt uns ein Maß der Tiefe des Unbewussten, wie es bei unseren klinischen Beobachtungen der Fall ist. Wir müssen das wissen, damit wir zum Beispiel entscheiden können, welche Art von Tranquilizer und welche Dosis wir bei denen anwenden sollten, die zuviel Zugang haben; die von aufsteigendem Schmerz überwältigt werden.

Ich sah einen Patienten, der zum ersten Mal nach einem Selbstmordversuch kam, bei dem er massive Schmerzkiller benutzt hatte. Er schlief nur 15 Stunden, nachdem er eine Dosis genommen hatte, die jeden anderen getötet hätte. Der Grund: das enorme Ausmaß der Schmerzaktivierung des Gehirns, die das System elektrifiziert und in Wachsamkeit versetzt hat. Die Droge war auf einen Gegner gestoßen, der ihr gewachsen war, und sie war nicht stark genug, die elektrische Aktivität zu übertrumpfen und ihm das Licht auszublasen. Leute, die zum Beispiel sehr schmerzvollen Krebs gehabt haben und lange Zeit schwere Schmerztöter benutzt haben, sind so gut wie nie in der Lage, Selbstmord durch die Benutzung von Schmerzmitteln zu begehen. Wenn dieser Schmerz unbewusst ist, bezeichnet man diejenigen, die Schmerztöter benutzen, vielleicht als Drogensüchtige, nur weil wir ihr Leiden nicht sehen können und weil sie selbst es nicht sehen können. Und je tiefer die frühe Deprivation sitzt und /oder je stärker das Geburtstrauma ist (und wir sollten das nicht bagatellisieren), umso größer kann später das Verlangen nach Drogen sein. Der Drogenkonsument wird sich nur wohlfühlen, wenn die Droge der Schmerzmenge gewachsen ist.

DIE NATUR DER SUCHT

Wir müssen mit dem Begriff "süchtig" vorsichtig sein. Wenn wir uns den Arm brechen und eine Woche lang Schmerzmittel einnehmen, versteht jeder, wo der Schmerz ist, wie schlimm er sein könnte, und jeder versteht die Notwendigkeit, Schmerzmittel einzunehmen. Man nennt die Person nicht drogensüchtig. Aber was ist, wenn wir ein gebrochenes Herz haben? Was, wenn wir Schmerz haben, dessen man sich nicht bewusst ist, nicht einmal wir selbst? Ein Schmerz, der sich ereignete, ehe wir ein verbales Gedächtnis hatten? Ein Schmerz, der sich allein in neurochemischer Hinsicht und ohne Worte festsetzte? Ein Schmerz, der daher rührte, dass man gleich nach der Geburt aufgrund der Krankheit der Mutter verlassen worden war? Tief verwurzelt liegt hier ein massives Gefühl des Alleinseins und Schreckens; ein hilfloses, hoffnungsloses Feeling, das sich nicht

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artikulieren lässt. Wenn wir jetzt schmerzstillende Medikamente nehmen, bezeichnet man uns vielleicht als süchtig, weil wir versuchen, einen Schmerz abzutöten, den niemand erkennen kann. Und paradoxerweise sind es jene Schmerzen, jene präverbalen Schmerzen, die am schwersten sind und am wahrscheinlichsten Abhängigkeit verursachen.

Tatsache ist, dass das Fühlen von Schmerz oft das Bedürfnis nach Schmerztötern beseitigt.


In biochemischer Hinsicht befassen sich die Drogen mit dem Schmerz auf seiner jeweiligen Ebene. Chemischer Schmerz, chemische Erleichterung. Süchtige unterdrücken Schmerzen, bei denen es um Leben und Tod ging, und so ist es oft eine Sache auf Leben und Tod, diese Drogen zu bekommen. Natürlich lügt man oder fälscht ein Arztrezept. Es ist eine Sache großer Dringlichkeit. Übrigens sah ich neulich eine Patientin, die das schreckliche Alleinsein gleich nach der Geburt wiedererlebte, und sie erkannte, dass sie ihr Kind hatte, um sich nie allein zu fühlen. Sie wurde viel abhängiger von ihrem Kind als das Kind von der Mutter.

Im Prinzip setzt volles Bewusstsein dem Verlangen nach Drogen ein Ende. Wir sagen nicht, dass wir jeden Drogensüchtigen heilen. Es gibt Leute, die so depraviert wurden, dass Heilung unmöglich ist. Keine intellektuelle Bewusstheit der Welt kann diese Sucht antasten. Volles Bewusstsein kann es durchaus. Bewusstheit macht das, worin sie gut ist: Selbsttäuschung. Natürlich müssen wir unserer Umwelt bewusst sein - welche Nahrungsmittel wir essen sollten und was für unser System toxisch ist. Aber ich schreibe hier in einem anderen Zusammenhang: Es geht hier um intellektuelle Bewusstheit als Abwehr.

Wir können Bedürfnisse niemals zum Narren halten. Die Bedeutung dieser Tatsache liegt darin, dass die voll bewusste Person sich als Objekt nehmen und deshalb ojektiv sein kann. Die intellektuell bewusste Person, die nicht voll bewusst ist, kann völlig in unbewussten Feelings versunken und deshalb nicht objektiv sein. Wir können nicht einer Sache gegenüber objektiv sein, die wir nicht sehen können.

Neurose ist in gewissem Sinn eine funktionelle Kommissurotomie, eine Spaltung der Verbindungsfasern vom rechten zum linken Gehirn; wir können dann intellektuell bewusst und doch völlig unbewusst sein. Der Integrationsmechanismus der zwei Seiten ist geschwächt. Ein Grund dafür ist ein frühes Trauma, das diese Schwächung erzeugt. Unbewusstheit stellt einen Zusammenbruch der integrativen Fähigkeiten des Gehirns dar. Sie resultiert aus einer Überlastung - zu viel Input, als dass er reibungslos integriert werden könnte. Diese Überlast an Leiden bleibt im

 

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Unbewussten. Impulse, die normalerweise bestimmte frontal-kortikale Verknüpfungen haben, um uns voll bewusst zu machen, können zu stark sein und werden dann auf tiefere Zentren umgeleitet, um uns unbewusst zu machen. Tatsächlich kommen viele Symptome von Überlastung mit psychischem oder körperlichem Input.

Um den Kernunterschied zwischen intellektueller Bewusstheit und vollem Bewusstsein zu veranschaulichen, sehen wir uns das Beispiel eines wohlbekannten Experiments in der Zahnheilkunde an. Ein Zahnarzt gab seinen Patienten eine wirkungslose Placebo-Pille und sagte ihnen, sie bekämen einen Schmerztöter. Dann bohrte er in einen Zahn, was hätte weh tun müssen, es aber nicht tat. Die Patienten reagierten vielmehr auf die Vorstellung oder den Gedanken eines Schmerztöters als auf den Bohrschmerz. Sie waren sich des Bohrens (des Ereignisses) bewusst, aber des Schmerzes unbewusst.

Hier sehen wir den ganzen Unterschied zwischen vollem Bewusstsein und intellektueller Bewusstheit zusammengefasst. Der Patient kann in den Zahnarzt-Spiegel schauen und sehen, wie der Bohrer den Zahn berührt, spürt aber dennoch nichts; ein Beispiel, wie Schmerz aus dem vollen Bewusstsein ausgeschlossen wird. Der Gedanke oder die Vorstellung von der Macht der Pille hatte die Sekretion innerer Schmerztöter provoziert, und zwar genau so, als wären sie injiziert worden. Sie können stärker sein als ein Bohrer an einem Nerv. Gedanken - intellektuelle Bewusstheit - können Wunder bewirken, wenn es darum geht, uns unbewusst zu machen, was das Vergnügen der kognitiven Therapie ist. Intellektuelle Bewusstheit lässt uns denken, wir seien voll bewusst, während wir unbewusst bleiben. Sie hilft uns, intellektuelle Bewusstheit mit vollem Bewusstsein zu verwechseln. Wie ich betont habe, gibt es keinen Willensakt, der uns bewusst machen kann; aber das gilt nicht für intellektuelle Bewusstheit.

Um dauerhaftere Heilung zu erreichen, müssen wir an die Einprägung herankommen, die das Ungleichgewicht verursacht hat, so dass wir das System auf natürliche Weise normalisieren können.



Wenn jemand Drogen oder Alkohol aufgibt und einen neuen Glauben annimmt, stellt sich das Gehirn darauf ein, als wäre er oder sie noch immer auf Drogen. Heilung ist eine kollektive Kraft, die in gewisser Hinsicht von der Erinnerung an Gesundheit abhängt: es geht darum, dass man wieder zu seinem natürlichen Zustand zurück gelangt. Der teuflische Aspekt kognitiver Ansätze liegt darin, dass sie sich wie Heilung anfühlen können, weil das vorübergehende Ergebnis eben ist, dass man sich besser fühlt. Die übliche Antwort ist: "Wen kümmerts, so lange ich mich besser fühle?" Und, wie ich an früherer Stelle gesagt habe, jedem sein oder ihr eigenes Leben. Wenn Sie sich eine Weile besser fühlen wollen und wissen, dass Sie später dafür einen Preis zu bezahlen haben, dann sei es so. Zumindest sollten wir uns des Preises und der Täuschung bewusst sein. Danach ist es

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die individuelle Entscheidung jedes Einzelnen. Es sollte eine informierte Wahl sein. Sobald Gedanken als vorherrschender Modus einer Therapie involviert sind, macht sich unsere innere Drogenfabrik an die Arbeit. Wie könnten wir jemanden überzeugen, dass die Therapie nicht wirkt, wenn sie es tatsächlich tat? Wenn sie dazu führte, dass die Person sich besser fühlte? Welche anderen Kriterien hat der Patient? Wir wollen uns alle besser fühlen, und das erwarten wir von der Therapie. Es ist dasselbe, wie wenn man Tranquilizer nimmt, die die realen Gefühle notdürftig zudecken. Es ist ein Preis zu zahlen, und offensichtlich sind die meisten Individuen willig, ihn zu zahlen. Was ich betonen will, sind die Kosten intellektueller Bewusstheit im Gegensatz zur Belohnung des vollen Bewusstseins.

Es ist ein komplexes Problem, weil früher Schmerz die Produktion von Neuroinhibitoren (Endorphine und Serotonin) permanent destabilisieren kann. Nichtsdestoweniger kann die Einnahme einer Medizin, die das Defizit aufbessert, in der Tat dazu führen, dass man sich besser fühlt. Aber um dauerhaftere Heilung zu erreichen, müssen wir an die Einprägung herankommen, die das Ungleichgewicht verursacht hat, so dass wir das System auf natürliche Weise normalisieren können. Dann muss das System nicht lebenslang von unnatürlichen, künstlichen Mitteln und vielleicht von Tranquilizern abhängen. Bei unseren vergangenen Forschungsarbeiten fanden wir heraus, dass die Tiefe des Weinens mit Heilung in Zusammenhang stand. Weil der Gebrauch von Tranquilizern tiefes Weinen blockieren kann, kann er auch den Heilungsprozess verzögern.

Um Neurose zu ändern, müssen wir Bewusstsein ändern oder es zumindest zulassen. Das ist von größter Bedeutung; denn es geht nicht darum, Gedanken oder kognitive Auffassungen zu ändern, es geht darum, den Seinszustand zu ändern. Gedanken sind kurzlebig und lassen sich leicht ändern. Denken Sie daran: Neurose ist ein veränderter Bewusstseinszustand, ein deformiertes Bewusstsein, wenn Sie so wollen. Die Wirklichkeit ist tief im Gehirn vergraben worden, und ein neues falsches Bewusstsein hat ihren Platz eingenommen. Das falsche Bewusstsein nennt man vielleicht (intellektuelle) Bewusstheit, weil die kognitiven Einsichtstherapeuten dazu neigen, es mit wirklichem Bewusstsein zu verwechseln. Es ist ein Pseudo-Bewusstsein, das jedem möglichen Glauben, irrationalen Gedanken und falschen Wahrnehmungen ausgeliefert ist. Für jede unterdrückte Wahrheit muss eine falsche Wahrheit deren Platz einnehmen. Das ist der Ursprung von Pseudo-Einsichten, der scheinbar realistische Blick in uns selbst, aber es ist  eine weitere erfundene und seichte Rationalisierung.

Der Grund, warum eine Vernunftbegründung realistisch scheinen kann, ist, weil sie vom abgetrennten linken Gehirn ohne emotionalen Bezugsrahmen fabriziert wird. Die linke Seite sieht sie als vernünftig an, weil die linke Seite sie erfunden hat, und niemand hat etwas gegen ihr Baby. Der frontale Kortex verabscheut ein Vakuum, eine Leerzeit und einen Leeraum in seiner fortlaufenden Funktion. Wenn er zu lange leer bleibt, könnte Schmerz hereinkommen. Er braucht die Gedanken als Abwehr. Sie müssen so lange da sei, wie der Schmerz weiter unten brodelt. Pseudo-Einsichten werden der Aufgabe gerecht. In der Therapie helfen sie, den Schmerz abzutöten und täuschen deshalb den Patienten dahingehend, dass er oder sie glaubt, es gehe ihm oder ihr besser.

 

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Was anderes ist das Unbewusste als schmerzvolle Erinnerungen? Bewusst zu sein bedeutet, zu diesen Erinnerungen Zugang zu haben und in der Lage zu sein, uns von diesen unbewussten Antriebskräften zu befreien - voll bewusst zu werden - das Unbewusste bewusst zu machen. Wenn wir im Inneren ein verzweifeltes Bedürfnis haben und dieses Bedürfnis dennoch verleugnen, haben wir ein falsches Bewusstsein für ein reales eingesetzt. Wenn meine Patienten wieder als Kinder um Liebe bitten, werden sie bewusst, ihres Bedürfnisses bewusst, so einfach das klingen mag. Deshalb ist Bewusstsein nicht ein geheimnisvolles Wesen, das die Hilfe intellektueller Philosophen erfordert, sondern es geht dabei darum, das Bedürfnis zu erfahren. In der kognitiven Therapie kann man jemandem helfen, sich des Bedürfnisses intellektuell bewusst aber nie voll bewusst zu sein; voll bewusst bedeutet leiden. Da gibt es keinen Ausweg. Kognitive Therapie bedeutet, dass man in der falschen Bewusstseinswelt navigiert.

Ich hatte einen Patienten, der ständig helle Lichter am Himmel sah und überzeugt war, es sei ein UFO. Monate später hatte er ein Geburtsprimal, wie er in den Kreißsaal mit ausnahmslos hellen Lichtern kam, die ihn traumatisierten. Das blieb als Einprägung. Er war auf UFOs mit großen Scheinwerfern fixiert. Er sah seine Geschichte, deren er sich völlig unbewusst war.

Unsere Patienten haben anfangs gleichbleibend hohe Kortisolwerte, die oft mit der Angsterfahrung einhergehen. Wenn jemand eine schwere Angst-Episode erlebt, nennt man es vielleicht eine Panikattacke; in Wirklichkeit ist es eine Attacke des vollen Bewusstseins. Nahezu jeder Schmerz ist diese Art von Attacke. Genau das lässt die Alarmglocken läuten. Wir reagieren mit Panik, weil tiefe Gefühle auf dem Weg zum vollen Bewusstsein sind. Sie sagen: "Pass auf. Wir müssen hier etwas machen." Wir wollen etwas machen, wenn wir nur wüssten, was. Aber alle Anstrengungen zielen gewöhnlich darauf ab, die Angst zu erleichtern, indem man das Warnsignal vertreibt, anstatt dass man herauszufinden versucht, wovor es uns warnt. Oder wir gehen zu einer Einsichtstherapie und versuchen zu "verstehen," was die Angst und die Panik verursacht. Entweder verknüpfen wir uns mit dem Schmerz oder wir fliehen. Dazwischen gibt es nichts. Wenn wir das Warnsignal beseitigen, eliminieren wir die (intellektuelle) Bewusstheit von der Gefahr, nicht die Gefahr selbst. Das lässt uns umso abwehrloser zurück.

ERSCHEINUNG UND WESEN

Eine andere Art der Betrachtung des Unterschieds zwischen intellektueller Bewusstheit und vollem Bewusstsein ist die der äußeren Erscheinung versus inneres Wesen - der Phänotyp (Erscheinung) im Gegensatz zum Genotyp (generierende Ursache). Eine Methode, die auf Erscheinung basiert, ist immer individuell, während eine, die auf dem Wesen gründet, universell ist und universelle Gesetze schafft. Das Wesen, die Essenz ist stabil, während Erscheinungen vorübergehend sind. Das Wesen ist

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historisch; Erscheinungen sind ahistorisch. Essenzen gibt es wenige; Erscheinungen sind vielzählig (eine endlose Suche entlang der komplexesten, labyrinthischten Verhaltensweisen). Essenzen führen zum Bewusstsein, zum Zusammenfließen tieferer Zentren mit frontal-kortikalen Strukturen. Erscheinungen führen zu (intellektueller) Bewusstheit ohne Bewusstsein. Essenzen bedeuten notwendigerweise das Verständnis konkreter Widersprüche zwischen den Kräften des Schmerzes und der Verdrängung, weil das die Essenz des Problems der Neurose ist. Essenzen bedeuten, dass man sich mit der Quantität der Verletzung befasst, die zu neuen Seins-Qualitäten führt. Es bedeutet, holistisch und systemisch zu verfahren. Erscheinungen bedeuten Fragmentierung des Patienten, Isolation seines Symptoms von ihm selbst - Behandlung des Augenscheinlichen. Fortschritt in der Psychotherapie wird in Begriffe der äußeren Erscheinung gefasst anstatt in die der Essenzen; und das ist der Haken an der Sache.

Der Grund, warum die Freudianer und andere Einsichtstherapien keine universellen Gesetze schaffen, liegt darin, dass sich auf Erscheinungen konzentrieren und nicht auf Essenzen, auf Fragmente, nicht auf Systeme. Ich sollte sagen, dass sie manchmal allgemeine Hypothesen aufstellen, aber sie können ausnahmslos nicht überprüft und verifiziert werden, weil sie keine wissenschaftliche Basis haben. Es ist sehr schwer, eine universelles psychologisches Gesetz aus individuellem, idiosynkratischen Verhalten aufzustellen, das nur auf eine Person zutrifft, oder aus einem Es oder düsteren Kräften, die niemand sehen oder verifizieren kann. Kognitive Ansätze scheinen Menschen - ihrer Natur - psychologische Gesetze aufzupfropfen. Im Gegensatz dazu glauben wir, dass wir die Naturgesetze durch sorgfältige Beobachtung entdecken und sie auf Menschen anwenden können; letztlich leiten sie sich von Menschen ab. Biologische Wahrheiten sind die der Essenz.

In der Primärtherapie unternehmen wir jede Anstrengung, um unsere Beobachtungen und unsere eigene Forschung und aktuelle neurobiologische Forschung miteinander zu verschmelzen. Wir tun dies, indem wir nicht zu viele vorgefasste Vorstellungen vom Patienten haben und uns eine empirische Einstellung bewahren. Wir behandeln nicht jedes Symptom als isoliertes Wesen, das beseitigt werden muss. Vielmehr wissen wir, dass es ein Ensemble von Symptomen gibt, die durch etwas aneinander gebunden sind, das sie verknüpft. An dieses "Etwas" müssen wir in der Therapie herankommen; es gehört zur Essenz. Somit müssen wir das Ganze sehen und keine Verhaltens-Bruchstücke. Um das Ganze zu sehen, müssen wir die Geschichte erforschen, die den Kontext für ihr Verständnis bildet. Wir müssen über eine Aufzug-Phobie hinausschauen und historische Ereignisse sehen (vielleicht, dass man in einen Inkubator gelegt wurde), die sie entstehen ließen. In dem Moment, in dem wir der Geschichte beraubt werden, fehlen uns generierende Ursachen und deshalb Essenzen. Wir bleiben im Dunkeln.

Die Freudianer behaupten, eine tiefendynamische Therapie zu haben, aber sie unterlassen es, den Patienten in alte, infantile Gehirne zu tauchen, wo die Lösung liegt. Auch sie

 

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verlassen sich auf das Hier-und-Jetzt, auf gegenwärtige Gedanken über die Vergangenheit. Die Vergangenheit wiedererleben und einen Gedanken über die Vergangenheit haben ist nicht dasselbe. Das eine ist heilsam, das andere nicht. Das eine involviert intellektuelle Bewusstheit, das andere volles Bewusstsein. Sogar die Tränen in der Psychoanalyse sind abgeleitet. In der Therapie gibt es ein "Weinen über": Erwachsene, die auf ihr Leben zurückblicken und weinen. Aber es ist nicht das Baby-Weinen jenes Kindes und das Bedürfnis jenes Kindes, etwas Tiefes, das sich nicht beschreiben lässt und eine Stunde oder länger andauern kann. Beim "Weinen über" gibt es niemals das Baby-Weinen, das wir so oft in unseren Patienten hören - ein Zeichen, dass ein anders Gehirn in Funktion ist, ein anderes Gehirnsystem, das seine Probleme auf seine eigene Art löst. Der Patient in der im Hier-und-Jetzt und auf das Ego zentrierten Therapie wandelt in seiner Geschichte herum, während der Therapeut sich auf die Gegenwart konzentriert. Der Patient kann physisch anwesend sein, aber seine Emotionen sind in der Vergangenheit.

Was wir bei den kognitiven Einsichtstherapeuten entdecken und besonders bei den televangelistischen Psychologen, ist, dass sie alte Homilien, Moralpredigten und religiöse Ideale annehmen, die im Zeitgeist liegen; sie mischen sie mit einer Art Psychojargon und übergeben sie mit einer volkstümlichen Haltung nach Art von "Ich weiß, was du brauchst." Zu oft läuft das alles auf "Komm darüber hinweg!" hinaus. Und wir alle rufen: "Ja, klar!" Denn auch wir denken, andere sollten sich einfach an ihre Arbeit machen und mit dem Wehklagen aufhören. Das ist das George S.Patton-Syndrom. Entwickle eine positive Einstellung und du fühlst dich nicht wie ein Verlierer. Aber es ist schwer zu fühlen, dass man fähig ist und Erfolg haben kann, wenn man ein Leben mit Eltern verbracht hat, die uns immer wieder erinnerten, was für Versager wir doch sind.

Jede Einsichtstherapie hat die implizite Grundlage, dass Bewusstheit zu Besserung führt. Es gründet auf der Auffassung, das wir die notwendigen Veränderungen vollziehen können, wenn wir erst intellektuell bewusst sind. Bewusstheit kann uns intellektuell bewusst machen, und das ist ein positiver Schritt. Aber sie kann die Persönlichkeit, die organisch ist, nicht ändern und sie kann uns nie voll bewusst machen. Wir können uns intellektuell bewusst sein, dass wir zu unserem Ehepartner zu kritisch sind. Vielleicht können wir dieses Verhalten ändern, wenn wir uns anstrengen. Aber wenn wir den Begriff der Einprägung verstehen, dann wissen wir, dass alles, was die eingeprägte Erinnerung nicht direkt angreift, keine permanente Veränderung bewirken kann. Wir können uns bewusst sein, dass wir zu hart arbeiten und unsere Familie vernachlässigen, aber wenn in uns ein Motor läuft, der uns gnadenlos antreibt, ist diese  Bewusstheit nutzlos. Gedanken sind kein ebenbürtiger Gegner für die Gewalt der Kräfte in Hirnstamm und limbischem System, die, woran ich den Leser erinnern möchte, in jeder Hinsicht mit Überleben zu tun haben. Es gibt immer eine Vernunfterklärung für unser Verhalten: "Ich muss fortgehen und hart arbeiten, um meine Familie richtig zu unterstützen." Wir haben dieser Art von Neurose in unserer Kultur zugestimmt, die harte Arbeit, Ehrgeiz und gnadenlose Anstrengung bewundert. Getrieben-Sein gehört zu den am weitesten verbreiteten Formen der Neurose. Wenn wir nur wüssten, wie man die Gleichung zu Ende bringt: getrieben

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von.............. (Antwort: Bedürfnis). Übersetzung: Ich wurde in meiner Kindheit nicht geliebt, und ich stehe unter Schmerz, der mich unaufhörlich antreibt. Und außerdem kann ich nicht aufhören, weil meine Geburtseinprägung so beschaffen war, dass aufzuhören gleichbedeutend mit Sterben war. Ich muss weitermachen, damit ich mich nicht hilflos fühle - nichts machen zu können. Das sind die Wahrheiten, die wir finden, wenn wir unsere Einprägungen fühlen - die Wahrheiten, die, wenn sie gefühlt worden sind, unser Getrieben-Sein beenden und uns ermöglichen, endlich zu entspannen.

Warum ist kognitive Therapie heutzutage so weit verbreitet? Zum großen Teil, weil es viel leichter und schneller (und billiger) ist, einen Gedanken auszutauschen als ein Feeling. Auf Einsicht und Kognition beruhende Ansätze appellieren tendenziell an Leute, die "in ihrem Kopf leben." Das trifft auf Patient und Therapeut zu. Wahrscheinlich erkennen weder der Patient noch der Therapeut das Ausmaß der Geschichte, die wir mit uns herumtragen, und wie sie unser Denken beeinflusst. Wie sonst könnten wir die fürchterlichen Dinge ignorieren, die unseren Patienten in ihrer Kindheit widerfahren? Nirgendwo in der kognitiven Literatur habe ich eine Diskussion von basalen Bedürfnissen als entscheidenden Faktor für die Persönlichkeitentwicklung gesehen, eine Diskussion darüber, warum die Person impulsives Verhalten nicht zügeln kann. Wie ich erwähnt habe, alarmieren die von unten aufsteigenden Fasern, die vom Hirnstamm und den assoziierten limbischen Netzen ausgehen, den Kortex bei Gefahr; sie sind zahlreicher und stärker und agieren schneller als die absteigenden hemmenden oder inhibitorischen Fasern, die, wie wir wissen, erst später in der Evolution auftauchen. Hier sehen wir in rein neurologischen Begriffen, dass Gefühle stärker als Gedanken sind.

Früher Liebesmangel bedeutet, dass es zu einer weiteren Degradierung dieses absteigenden Hemmungssystems kommt, nicht nur wegen kortikaler Schwäche, sondern auch, weil die limbisch-amygdalischen Kräfte, die die Einprägung beinhalten, von enormer Gewalt sind und den Kortex drängen, die Botschaft zu akzeptieren. Die aufgestaute Amaygdala platzt förmlich aus allen Nähten und will ihre Gefühlslast loslassen. Die vorherrschende Richtung, in die sie gehen kann, wird von der Evolution bestimmt - nach oben und außen - womit sie sich auf den frontalen Kortex auswirkt. Es gibt nur eine Richtung, in die Verdrängung marschieren kann - und die ist nach unten, um diese Gefühle zurückzuhalten. Gedanken können genau wie Tranquilizer bei dieser Aufgabe helfen. Ich vermute, dass Therapeuten, die Therapien praktizieren, die Geschichte verleugnen und Einprägungen und Biologie verleugnen, ironischerweise als Funktion ihrer eigenen Geschichte von solchen Therapien angezogen werden. Solange Verknüpfung und Zugang schwach ausgeprägt sind, ist der Therapeut offen für jede Art von Gedanken, die ihn intellektuell ansprechen. Und was ihn intellektuell anspricht, ist, was von seinem Unbewussten diktiert wird. Und das bedeutet, dass er eine Therapie wählen könnte, die auf der Basis von Verleugnung funktioniert, wie z.B. die kognitive, weil er selbst auf der Basis von Verleugnung funktioniert. Er trifft therapeutische Entscheidungen, die diesem Diktat gehorchen.

 

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Wenn ein Therapeut unbewusst ein Bedürfnis nach Macht hat, neigt er dazu, über den Patienten zu bestimmen; es können Anleitungen für Lebensführung, Beziehungen, Entscheidungen sein und vor allem Einsichten. Er wird dem Patienten seine Gedanken, seine Verhaltensinterpretation aufdrängen. Das Wichtigste an seiner Therapie ist, was er sagt, und nicht, was der Patient fühlt.

Wenn der Therapeut das Bedürfnis hat, hilfreich zu sein und "Liebe" vom Patienten zu bekommen, kann er das in der Therapie ausagieren. Ich erinnere mich noch, dass ich das Bedürfnis hatte, Therapeut zu werden und zu helfen, weil ich symbolisch versuchte, meiner psychisch kranken Mutter zu helfen, dass sie gesund wird und eine wirkliche Mutter sein kann. Niemand ist frei von symbolischem Verhalten. Und es ist für einen Patienten sicherlich bequemer, seine Bedürfnisse auszuagieren und sie in der Therapie (symbolisch) erfüllt zu bekommen und sich vorzustellen, er werde damit irgendwas erreichen, als den Schmerz über mangelnde Befriedigung zu fühlen. Es ist verständlich, dass die Vorstellung, weinend und schreiend auf einem Mattenboden zu liegen, einigen Leuten nicht gefällt. Schmerz ist nicht immer eine verlockende Aussicht. Somit kann sich der kognitive Einsichtstherapeut ähnlich wie der Patient täuschen lassen und sich in dieselbe Illusion verheddern: Beide bekommen Liebe dafür, dass sie klug sind. Es ist ein unbewusster wechselseitiger Täuschungspakt.

Jedesmal, wenn wir nicht in Gefühlen verankert sind, sind wir für alles und jeden zu haben - jeder Gedanke erfüllt den Zweck. Es ist gut, dass der linke frontale Kortex formbar ist, aber schlecht, weil er zu formbar ist. Es ist der Unterschied, wenn man einen offenen Geist hat, und wenn man einen Geist hat, der so offen wie ein Sieb ist. Der Unterschied besteht darin, einen linken frontalen Kortex zu haben, der für das rechte Gehirn offen ist, im Gegensatz zu einem Geist, der für andere und ihre Suggestionen zu offen ist, eben weil er für seine bessere Hälfte nicht offen ist. Aus diesem Grund kann ein Wissenschaftler eine Menge über Neurologie verstehen, aber eine Therapie praktizieren, die nichts mit dem Gehirn zu tun hat, was ich immer wieder gesehen habe - die Gabelung des Bewusstseins. Was er oder sie wissenschaftlich weiß, lässt sich wegen der Nicht-Vernüpfung oder Dissoziation nicht auf die andere Kopfseite übertragen. Er/sie kann äußerst intellektuell-bewusst und gleichzeitig äußerst unbewusst im Sinne verknüpften (vollen) Bewusstseins sein.

Bei den Therapien der (äußeren) Erscheinung bleibt die Therapie ziemlich dieselbe, egal, was nicht stimmt. Die Freudianer "haben sich" mit Entwicklung und Pathologie. Dem folgen sie ohne Rücksicht darauf, was mit dem Patienten nicht stimmt, und es summiert sich alles zu Einsichten und noch mehr Einsichten. Andere Therapeuten spezialisieren sich auf Traumanalyse. Sie machen das ohne irgendeinen Beweis ihrer Wirksamkeit außer Patientenberichten. Es gibt keine physiologischen Messungen. Sie vernachlässigen die Tatsache, dass sich Erfahrung neurophysiologisch festsetzt und nicht nur als Gedanke; sie vernachlässigen die Essenz, das Wesentliche.

Ein anderes Beispiel für Essenz versus Erscheinung: Wir können einen Tranquilizer nehmen, um besser zu schlafen, Schlafprobleme zu vermeiden, Ausagieren zu unterdrücken,

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keine Angst mehr zu fühlen, weniger aggressiv zu sein und weniger deprimiert, Bettnässen und vorzeitige Ejakulation zu beenden und mit Alkohogebrauch und Drogenkonsum aufzuhören. Eine spezifische Schmerzpille kann diese universelle Aufgabe erledigen. Warum? Weil die Essenz, der Schmerz, hinter all diesen unterschiedlichen Symptomen steckt.

Schmerz bleibt immer Schmerz, egal, welches Etikett wir ihm anheften oder wie wir ihn verleugnen wollen. Ob wir uns ignoriert oder erniedrigt oder ungeliebt fühlen, der Schmerz ist derselbe und wird von den denselben Strukturen verarbeitet. Der frontale Kortex verpasst ihm verschiedene Aufkleber, und wir agieren verschieden aus, aber die Schmerzzentren behandeln ihn als ein- und dasselbe. Ist es nicht sonderbar, dass wir denselben Tranquilizer benutzen, um Depression und Bettnässen von Kindern zu bessern? Vielleicht ist es eine einzige Krankheit mit verschiedenen Manifestationen, und wenn wir die generierende Ursache mit Medikamenten behandeln, verschwinden die ganzen Manifestationen für kurze Zeit. Von Prozac sollten wir eine ziemlich offensichtliche Lektion lernen: Es blockiert jegliche Art von Symptom. Wenn deshalb auch wir in der Gefühlstherapie die verursachenden Kräfte attackieren, können wir alle diese unterschiedlichen Symptome unnötig machen und beseitigen. Zu beachten ist auch, dass es sich um eine nonverbale Medikation handelt, die zwanghaftes Denken beruhigt. Es sagt uns auch etwas über die Beziehung tieferer Zentren, wo es keine Gedanken gibt, zu Gedankenprozessen höherer Ebene, die mit Vorstellungen und Gedanken zu tun haben.

Bei einer anti-dialektischen Methode, welche die der  Erscheinungen ist, gibt es keine zentrale Motivationskraft. Es gibt keinen Kampf entgegengesetzter Kräfte, die uns bewegen und lenken. Es bleibt alles an der Oberfläche - statisch. Und weil die Methode die tiefen widerstreitenden Kräfte nicht beachtet, die uns bewegen, besteht kein Grund, die Geschichte des Patienten zu erforschen. Alles ist nicht-dynamisch. Behandlung auf Grundlage dialektischer Prinzipien bedeutet, dass es kein Ego oder mystische Kräfte geben kann, die aus heiterem Himmel enstehen und eine mechanische, vererbte "Gegebenheit" enthalten. Wenn man die Dynamik außer Acht lässt, hat die Therapie keine andere Wahl als mechanisch zu sein.

Ich habe Patienten gesehen, die jahrelang Marihuana geraucht haben. Oft sind sie leicht paranoid, wenn sie zu uns kommen. Sie rauchen sich in eine partielle Lobotomie, weil auf der rechten Seite durch Marihuana Gefühle aktiviert werden, während die Kontrollmechanismen der linken Seite sich verringern. Das entfesselt Gefühle, die zum präfrontalen Kortex aufsteigen und dort zu sonderbaren, höchst argwöhnischen Gedanken verdreht werden. Diese Gedanken sind ein Versuch, mit den hochbrandenden inneren Kräften fertig zu werden. Wie beschaffen sind diese Kräfte? Wenn sich jemand zum Beispiel von früh auf ungeliebt fühlt, wird Marihuana diese Gefühle freisetzen. Sie steigen auf, aber nicht direkt; vielmehr werden sie gefiltert. Das Gefühl "Nicht nur, dass sie mich nicht lieben - sie wollen mich sogar verletzen" wird zu "Der Eismann hat einen Anschlag auf mich vor. Er will mich verletzen." Oder in milderer Form: "Mein Freund war nicht sehr nett heute; vielleicht

 

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hat er was gegen mich." Oder wenn ein Freund/Freundin helfen will, nimmt er/sie es als Zeichen, dass er oder sie schwach und hilflos ist.

Vertauschungen gibt es ohne Ende, aber daraus filtert sich ein knapper Satz von Bedürfnissen und Schmerzen heraus. Wenn wir nicht sehen können, wie argwöhnische Gedanken aus entfesselten Gefühlen entstehen, werden wir Paranoia nie verstehen - wie der frontale Kortex ein einfaches Bedürfnis ("Liebe mich, Mama! Ich fühle mich so ungeliebt") nehmen kann und es verdreht zu: "Sie mögen mich wirklich nicht. Sie haben etwas gegen mich." Das "sie" in seinem Kopf ist wirklich Mutter, die ihn nicht mag. Das ist so schmerzvoll, dass es als "sie" verallgemeinert wird.

"Nun," sagt vielleicht der kognitive Therapeut, "sie haben nichts gezeigt, das darauf hindeuten würde, dass sie Sie nicht mögen, warum also kommen Sie nicht einfach darüber hinweg?" Oder: "Muss Sie jeder lieben? Können Sie ohne Zustimmung der ganzen Welt nicht zurecht kommen?" Oder: "Schauen Sie, es stimmt wirklich nicht. Hat er Sie nicht gestern angerufen und gefragt, wie Sie sich fühlen?"

"Ich denke, das stimmt," sagt der Patient. Aber das Gefühl im Inneren des Patienten sagt: "Ich fühle mich noch immer ungeliebt."

In einem Buch von Ervin, Bankert und DuPaul gibt es ein Kapitel über ADD (Attention Defizit Disorder). Nicht unerwartet beginnen sie, indem sie behaupten, ADD stehe in Verbindung mit kognitiven Defiziten einschließlich einem "Mangelbewusstsein des eigenen Verhaltens." Sie raten, Kindern beizubringen, Aspekte ihres Verhaltens zu beobachten und sie aufzuzeichnen. Keine schlechte Idee, aber nicht als Therapie sondern vielmehr als erster Schritt in der Therapie. Sie räumen ein, dass ADD auch ein Problem schlechter Impulskontrolle und mangelhafter Selbstregulierung sei. Lösung: "Ihr eigenes Verhalten durch die Verstärkung sozial akzeptierter verbaler-nonverbaler Beziehungen zu kontrollieren."2 Was sie vorschlagen, ist die Unterstützung des kortikalen Kontrollsystems von oben nach unten und nicht von unten nach oben - um (intellektuelle) Bewusstheit zu stärken und gegen die Evolution zu arbeiten, nicht mit ihr. Sie nehmen es als gegeben, dass es unkontrollierbare Impulse gibt, und machen sich daran, Kontrolle zu lehren. Wenn Evolution vernachlässigt wird, gibt es nichts mehr, was als Beziehung zwischen dem Vorhergehenden und dem sich Ergebenden bekannt ist. In diesem Sinn sind sie der Freudschen Position nahe, die eine Ableitung der religiösen Auffassung ist: Wir werden von Dämonen bewohnt (ES: negative Impulse oder Schattenkräfte), und wir müssen sie kontrollieren, damit sie uns nicht besiegen. Die Kognitivisten würden nie zugeben, dass sie Freudianer sind, aber wenn sie Impulse als Gegebenheit nehmen, sind sie es.

Religion verleiht unseren verborgenen "teuflischen" Kräften eine moralische Färbung, aber es läuft auf dasselbe hinaus. Psychologie wird zur Religion mit anderem Namen. Wenn nicht, was sind diese Impulse? Woher kommen sie? Sind es unveränderliche

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Kräfte, die man nicht beeinflussen kann? Wenn nicht, wie verändern wir sie? Ihr Leitmotiv ist, dass in uns Dämonen leben, die unabänderlich und namenlos bleiben, eine Art genetisches Böses. Wir werden damit geboren, und genau das ist es. Hierin schließen sich die Kognitivisten den Freudianern an, die sich den Jungianern anschließen, die sich den Priestern anschließen in der Ansicht, dass es unsere Hauptaufgabe sei, diese düsteren, teuflischen Schattenkräfte unter Kontrolle zu halten. Der Grund, dass so viele Psychologen diese negativen Kräfte als unveränderbar betrachten, ist, dass es wirklich keinen Weg gibt sie zu verändern, wenn man keinen Zugang in die Tiefe hat, und folglich sind sie unveränderbar. Das ist ein Beispiel für zirkuläre Logik.

Eine Studie ergab, dass kognitive Behandlung nicht besser abschnitt, als wenn man kortikale Stimulanzien verabreichte, die den Kortex effizienter machten. Mit anderen Worten leisten Drogen und Worte dasselbe. Die Impulse jedoch sind nicht unveränderbar, sondern vielmehr in hohem Maße veränderbar, wenn wir sie erst verstehen. Aufgrund einer lieblosen, traumatischen frühen Kindheit kann die Person der Amygdala oder dem Hirnstamm nicht Einhalt gebieten, weil sie die neurologische Ausrüstung nicht hat; sie hat einen geschwächten präfrontalen Kortex, der dafür zuständig wäre. Der Kognitivist fügt sein frontal-kortikales Gewicht dem des Patienten hinzu, so dass ihre zusammengeschweissten Gedanken zur Kontrolle tiefer liegender Kräfte beitragen. "Du bist stark. Du kannst Erfolg haben. Ich helfe dir, es zu versuchen. Du denkst nur, du seist ein Versager, aber du bist keiner. Du bist ein wirklich guter Mensch, nicht der böse, der du zu sein glaubst." Wir sehen das in einem Experiment, über das in einer Ausgabe (2002) von Nature berichtet wurde, wobei elektronische Stimulierung des präfrontalen Kortex Ratten davon abhielt zu erstarren, nachdem sie konditioniert worden waren, dies zu tun, sobald sie einen bestimmten Ton hörten (der mit einem elektrischen Schlag kombiniert war).3 Wenn der Therapeut und der Patient ihre Gedanken in einer Einsichts-Sitzung kombinieren, unterscheidet sich das nicht von einer elektrischen Stimulierung dieses Bereichs. Kurz gesagt blockiert es die Erfahrung von Schrecken und Schmerz.

Wie unterscheidet sich diese psychologische Auffassung von der religiösen? Der Unterschied ist, dass Psychologen nicht das Wort teuflisch benutzen sondern von negativen Kräften reden. Zurechtgestutztist es ein und dieselbe Sache. Und natürlich sind die meisten gegenwärtigen Fernseh-Psychologen Televangelisten in psychologischem Gewand. Sie erfreuen sich großer Beliebtheit, weil sie aktuelle religiöse Gebote mit Psycho-Jargon kombinieren (Denken Sie an Wayne Dyer). Es konfrontiert niemanden; es bestärkt die Leute nur in ihren Vorurteilen. Es bietet ihnen den amtlichen Stempel.

Dann gibt es die Drogentherapien. Man verabreicht Patienten eine Vielzahl von Drogen für nahezu jeden Zustand. Mit dem Patienten zu reden, ist zweitrangig. Patienten sind ängstlich, also gibt man ihnen eine bestimmte Art Droge. Sie sind deprimiert, und man gibt ihnen eine andere Art Droge. Und oft haben die Drogen dieselbe Wirkung auf das Gehirn: Sie töten Schmerz. Und wenn die Drogen, die wir Patienten verabreichen,

 

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nicht wirken, erhöhen wir die Dosis. Und wenn das nicht funktioniert, wechseln wir die Droge/das Medikament. Unterdessen unternimmt man keinen Versuch herauszufinden und sich darum zu kümmern, warum sie deprimiert sind. Auch wenn wir verzweifelt versuchen, genetische Ursachen zu finden, ist Depression kein notwendiger Bestandteil der menschlichen Bedingung.

Vor kurzem konnte man in einem Zeitungsartikel über eine Frau lesen, die gegen ihren Psychiater klagt, weil ihr Ehemann suizidal war und sein Arzt ständig seine Medikamente wechselte. Sie sagte, dass es ihm daraufhin schlechter ging. Die Ärzte verließen sich auf Erscheinungen anstatt auf Essenzen und ließen sich möglicherweise dazu verleiten. Sie behauptet, dass niemand mit ihm redete. Hier ist ein Fall, wo auch nur ein bisschen Reden und etwas Sympathie geholfen hätte. Das hat seinen Platz. Vielleicht waren Drogen nicht die richtige Antwort. Die Methode erspart die Mühsal, sich mit der Vergangenheit des Patienten und seinem Lebensanfang auseinanderzusetzen. Es erspart die anstrengende Bemühung, mit dem Patienten zu reden und mit ihm mitzuleiden. Gerade das, für den Patienten etwas zu empfinden, kann Empathie vermitteln und therapeutisch sein.

Eine Behandlung, die hauptsächlich die Verabreichung von Drogen involviert, betrachtet den Patienten als "Fall." Nach einigen wenigen flüchtigen Fragen gibt es keine persönliche Interaktion. "Erzählen Sie mir von ihrem Symptom aber nicht von ihrem Leben. Erzählen Sie mir davon, nicht von sich selbst." Das ist kein gutes Gefühl. Aber dann sind da die wirtschaftlichen Gründe. Wenn man jede Stunde viele Patienten sieht, wird es schwer, Mitleid zu fühlen oder viel über den Patienten in Erfahrung zu bringen. Nachdem wir einen langen Fragebogen ausgefüllt haben, sehen wir den Arzt den Behandlungsraum betreten und die Liste durchgehen; er ist gar nicht in der Lage, das Wesentliche über uns aufzunehmen. Geschichte ist ein weiteres Opfer in der Therapie der Gegenwart, sowohl in der medizinischen als auch in der psychologischen. Heutzutage ist die Psychiatrie zu einem Zweig der pharmazeutischen Industrie geworden. Sie sagen uns, welche Drogen wirken, und wir benutzen sie. Die Versicherungsgesellschaften zahlen nicht dafür, dass wir in der Geschichte des Patienten forschen, uns Zeit nehmen, etwas über sie oder ihn herauszufinden. Sie zahlen für sofortige Ergebnisse. Die Schlussfolgerung: Wir entwickeln neue therapeutische Theorien, um uns der Vergötterung der intellektuellen, auf Drogen basierenden, im Hier-und-Jetzt operierenden Methoden anzupassen. Wir haben unsere Rechtschaffenheit gegen Bezahlung abgetreten. Wir tun es nicht bewusst, aber wir ernähren unsere Familien nicht, wenn wir uns der neuen Realität nicht anpassen.

Natürlich sind kognitive Ansätze ideal, weil der Therapeut im Wesentlichen sagen kann: "Kommen Sie darüber hinweg" und "Danke, dass Sie gekommen sind." Im neuen Zeitgeist ist es das Ziel der kognitiven Therapie, dem Patienten darüber hinweg zu helfen und nicht, die grundlegende Dynamik zu verstehen. Grundlegend im Menschen ist sein Reservoir an Schmerz und wie es sein Verhalten steuert. Sobald wir Grundbedürfnisse übersehen, werden wir in intellektuelle Bewusstheit geworfen, weil sie Anfang und Ende des verknüpften Bewusstseins sind. Wir können das Reservoir nicht sehen, wenn wir uns allein auf intellektuelle Bewusstheit konzentrieren.

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Deshalb können wir den Grund nicht sehen, warum so viele Leute auf Drogen sind - legale und illegale. Wir versuchen das Bedürfnis mit Worten auszustanzen, aber wir verlieren diesen Krieg, weil das Bedürfnis stärker als irgendjemand oder irgendetwas ist. Es wird nicht unterdrückt bleiben. Niemand ist stärker oder ‚heller' als sein oder ihr Bedürfnis, weil das Bedürfnis unentwirrbar mit Überleben verstrickt ist, und Überleben regiert. Wenn wir das Verlangen nach Drogen beenden wollen, müssen wir uns basalen Kindheitsbedürfnissen zuwenden und mit der Art und Weise beginnen, wie wir unsere Kinder zur Welt bringen.

AUF DEM GEFÄHRT DES FÜHLENS FAHREN

Wir müssen Gedanken als Teil eines Kraft-Gegenkraft-Gleichgewichts betrachten. Gedanke und Glaube sind oft ein Versuch, ein Gegengewicht zu tieferen Gefühlen zu schaffen. Ein schlechtes Gefühl weiter unten kann einen ausgleichenden Gedanken weiter oben erzwingen. Hoffnungslosigkeit in der Tiefe lässt vielleicht ganz oben religiöse Gedanken entstehen, die Hoffnung verkörpern. Die Gedanken eines Menschen sind oft ein - wenn auch unbewusster - Versuch, eine Lösung zu finden - sich zu normalisieren. Das Gefühl absoluter Hoffnungslosigkeit zwingt jemanden, irgendwo Hoffnung zu finden, so dass man nicht in selbstzerstörerischen Gedanken versinkt.

Sehen wir uns an, wie das physiologisch funktionieren kann: Ein Kind, ein Junge, hat keine Hoffnung, jemals die Liebe seiner Mutter zu bekommen. Er weiß es nicht, aber sein Verhalten zeigt es. Um zu verhindern, dass dieses schmerzvolle Gefühl verknüpft und bewusst wird, kommt es zu einem Anstieg des Serotonin-Ausstoßes. Dieses Serotonin kontrolliert vielleicht auch die Dopamin-Freisetzung, die hoffnungsvollen Gedanken zugrunde liegen kann. So schaltet sich Serotonin ein, um Hoffnungslosigkeit zu blockieren, dann wird Dopamin abgesondert, um die Produktion von Glaubensüberzeugungen zu unterstützen, die Optimismus und Hoffnung beinhalten. Übrigens gibt es Beweise, dass Süchtige weniger Dopamin-Rezeptoren als normal haben. Frühe Traumen destabilisieren vielleicht die Dopamin-Sollwerte und erzeugen unter anderem Anhedonie - völlige Genuss-Unfähigkeit. Auch der Tranquilizer-Gebrauch einer schwangeren Mutter kann dies zustande bringen.

In den 1940er und1950er Jahren versuchten wir Patienten aus ihren bizarren Gedanken herauszureden, weil wir dachten, es handle sich um Geisteskrankheit. Also benutzten wir geistige Techniken. Wir waren uns sicher, ihr Problem war, dass sie irrationale Gedanken beherbergten. Alles, was Patienten tun mussten, war, vernünftig zu werden. Der Körper, in dem diese Gedanken lebten, fand keine Erwähnung. Jetzt wissen wir, dass diese Gedanken einen Sinn ergeben, wenn man sie mit den generierenden Ursachen verknüpft, die ihnen Leben einhauchten. Muss ich es wieder sagen? Worte allein genügen nicht!

An früherer Stelle erwähnte ich einen Patienten namens Dan, der, da er von einer grausamen Mutter verletzt worden war, sich einbildete, andere wollten ihn ebenso verletzen. In einer Sitzung am Anfang der Therapie erzählte Dan von einer Geschichte über ein Erlebnis, das er

 

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bei einer Hochzeit hatte. Er saß im Auto und eine Freundin ging auf die Kirche zu. Sie winkte ihm zu und ging weiter. Er wurde wütend, weil sie nicht wartete, bis er eingeparkt hatte. Er redete kein Wort mit ihr während und nach der Hochzeit. Als in einer Sitzung sich die Gefühle entlang seiner ‚Wutkette' nach unten bewegten, kam die Erinnerung an seine Mutter ins Bild; die Wut auf sie, weil sie sie ihm die ganze Zeit Schmerz zugefügt hatte, überkam ihn. Dann, tief unten, inmitten einer Flut von Tränen und mit kindlicher Stimme: "Schau mich an, Mama! Tu mir nicht mehr weh. Bitte!" Jedes Zeichen, das dieses Feeling auslöste, produzierte paranoide Gedanken wie: "Sie mögen mich nicht."Seine Eltern schickten ihn mit 7 Jahren aufs Internat, weil sie ihn wirklich nicht mochten. Er hatte das Gefühl, dass ihn niemand mochte. Er suchte nach Anzeichen, die dieses unbewusste Gefühl bestätigten und fand sie. Er konnte gut zurecht kommen, bis es dann auch nur eine leise Andeutung von Gleichgültigkeit gab, die das alte Feeling auslösen konnte.

Primärtherapie ist eine Reise zu den archaischen Festungen der Seele.



Nehmen wir an, wir wollten kognitive Einsichtstherapie auf ihn anwenden und erzählten ihm, dass der Grund für seinen Argwohn und seine Überempfindlichkeit darin bestehe, dass seine Eltern ihn nicht liebten. "Oh," würde er ausrufen, "ich glaube, Sie haben Recht." Er wusste, dass seine Eltern ihn nicht sehr mochten und ihn weggeschickt hatten, weil er ihnen im Weg war. Sie ließen sich scheiden und machten das Kind dafür verantwortlich. Um über diese Paranoia hinwegzukommen und mit mit anderen zurecht zu kommen, musste er sich in der Therapie zuerst ungeliebt fühlen; sie bitten, ihn nicht wegzuschicken; sagen, wie sehr er verletzt ist; die Qual dieser Verletzung im Kontext fühlen; und dann und nur dann konnte er aufhören, paranoide Gedanken zu entwickeln.

Ich weiß, es klingt sonderbar, dass ein erwachsener Mann seine Eltern bitten muss, ihn 30 Jahre früher nicht wegzuschicken, aber dieses Bitten ist dort mitsamt der Verletzung noch immer eingraviert. Wenn der Patient mit zusammengepressten Händen auf die Knie fällt und mit kindlicher Stimme fleht, strömen die Tränen. Wenn Patienten ihre Eltern um Hilfe bitten, werden ihre Stimmen die kleiner Kinder, nicht weil man sie so anweist, sondern weil sie im Griff dieses Gehirns sind, das sich damals mit den Emotionen befasste. Und wegen der all der damals nicht vergossenen Tränen müssen sie diese jetzt verströmen; das Weinen geht lange Zeit weiter. Bleiben sie im Inneren, machen sie uns schließlich krank. Tränen sind ein natürlicher Prozess; die Blockierung natürlicher Prozesse macht das System unnatürlich.

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Dr. Goodman erinnert mich, dass im Buch der Psalmen Gott Hezekias Tränen in einer Flasche aufbewahrt und ihm dann ein längeres Leben gewährt. Jemand wusste, dass Tränen wichtig sind.

 

DER PATIENT HAT DIE MACHT

 

Neurotisch sein ist eine lebenslange Strafe, aber wir können diese Strafe kürzen. Primärtherapie ist eine Reise zu den archaischen Festungen der Seele. Das Wundervolle an der Erforschung der Bewusstseins-Tiefen in unserer Therapie ist, dass wir es geschafft haben, in die tiefsten Ebenen des Gehirns hinab zu spähen. Das bedeutet, dass wir über die Natur des Menschen nicht mehr theoretisieren müssen; wir können sie in ihrem geheimnisvollen Urzustand beobachten. Das Problem liegt darin, dass wir nicht gewusst haben, welche Bedürfnisse es gibt und wie früh sie beginnen. Wir wissen jetzt, dass basale Überlebensbedürfnisse im Mutterleib beginnen - wenn wir sehen können, was mütterliche Depression dem Fetus antut oder was ein Autounfall dem Baby in utero antut. Wir sehen, wie Terror eingeprägt wird; deshalb wissen wir, woher Angst kommt. Wir haben herausgefunden, das das Bedürfnis nach Sauerstoff vordringlich ist. Das ist das frühe Schlüsselbedürfnis, denn es geht dabei um Leben und Tod. Wir sehen die Anfänge von Persönlichkeit und Neurose, was früher nicht möglich war. Wir wissen, was emotionalen Schmerz verursacht. Wir wissen, was für eine fürchterliche Macht er hat; und das lässt uns wissen, wie er körperliche Krankheit erzeugen kann. Meines Wissens ist es das erste Mal, dass wir einen so profunden Einblick in die Natur des Menschen haben. Es hilft uns zu verstehen, welchen Beitrag zur menschlichen Bedingung Erziehung leisten kann und was die wahre Natur des Menschen ist. Ist er im Grunde gewalttätig? Es scheint, dass er, wenn seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, die eingebaute Fähigkeit zur Gewalt hat. Wenn sie erfüllt werden, scheinen Menschen empathisch, freundlich und liebevoll zu sein. Was wir in den Tiefen des Bewusstseins gefunden haben, ist ein Wegweiser für richtige Kindererziehung.

Jedesmal, wenn wir in der Primärtherapie die Gefühlsblockaden beseitigen, kommt es zu beträchtlicher Bewusstseinserweiterung, da es zur Verknüpfung mit dem linken präfrontalen Areal kommt. Jeder Aspekt eines Feelings muss voll wiedererlebt werden, wenn Heilung erreicht werden soll. Auch unsere Empfindungen (zum Beispiel der Grund, warum wir außer Atem sind oder Erstickungsgefühle haben) müssen schließlich intellektuell- bewusst und verknüpft-bewusst werden. Wenn wir es in der Therapie mit diesen Empfindungen zu tun haben, helfen wir dem Patienten, falls er so weit ist, in sie hinein, so dass er sie in den richtigen Zusammenhang bringen kann. Ich sollte diesen Punkt betonen: der Patient liefert den Zusammenhang. Wir beobachten und helfen. Es macht nicht immer Spaß, aber gewiss ist es erleichternd. Und wenn sich das Bewusstsein erweitert, kommt es auch zu tieferer (intellektueller) Bewusstheit, und die Fähigkeit zu fühlen nimmt zu. Verknüpftes Bewusstsein bedeutet Integration. Integration bedeutet

 

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Balance, ein Zustand, der physiologische Entsprechungen hat und sich an unserer Biochemie und am Muster unserer Gehirnwellen ablesen lässt. Nichts davon ist durch intellektuelle Bewusstheit möglich. Sie gleitet in behaglicher Umnachtung an der Oberfläche entlang. Allzu oft ist Bewusstheit ein theoretisches Konstrukt; die Theorie oder Auffassung eines anderen, was mit uns nicht stimmt und was normal ist.

Der Patient, nicht der Therapeut, ist in unserer Therapie das Zentrum der Macht. Er entscheidet, wann er kommt, wann er an diesem Tag geht und wann er die Therapie auf Dauer verlässt. Wenn der Patient Probleme hat, wird sie oder er in die Personalsitzung eingeladen, damit sie als Gleichwertige, nicht als Fall, ihre Situation erörtern. Wir hören dem zu, was sie oder er sagt, weil ich herausgefunden habe, dass Patienten, wenn sie einmal Zugang haben, sehr gut beurteilen können, welche Art von Therapie sie brauchen. Nicht immer, aber oft. All das geschieht nicht aus Rechthaberei sondern zum Wohl aller Patienten. Es lässt sich leicht machen. Es hat damit zu tun, Leben zu retten. Vor allem entscheidet der Patient, was Einsichten sind. Alles, was er lernen muss, liegt bereits in ihm; er muss es nur ‚anzapfen.' Und wenn es herauskommt, entdeckt er, welches Verhalten und welche Gedanken real waren und welche nicht real waren. Mit Gefühlen vereinte Gedanken harmonisieren das System.

Nach der Therapie sollte es vorhersagbare Veränderungen in Verhalten und Physiologie geben, die man mit der Zeit messen kann; das ist ein Standard, der für alle Therapieformen gelten sollte.


Nach der Therapie sollte es vorhersagbare Veränderungen in Verhalten und Physiologie geben, die man mit der Zeit messen kann; das ist ein Standard, der für alle Therapieformen gelten sollte.

Primärtherapie, die aus zahlreichen Forschungsstudien und Jahrzehnten klinischer Erfahrung entstand, zeigt, dass wir eine traumatische Geschichte tatsächlich umkehren können, indem wir Patienten zurückgehen und die überwältigende Szene/Gefühl/Bedürfnis aus der Kindheit wiedererleben lassen. Indem wir dies tun, können wir das Maß inneren Schmerzes und deshalb auch die Abhängigkeit von Schmerztötern verringern.

Wir haben bei unserer Forschung EEGs (Elektroenzephalogramme) benutzt, und sie können die relative Stärke und Position elektrischer Aktivität in verschiedenen Gehirnregionen bestimmen. Indem wir Veränderungen verfolgen, die sich bei dieser Aktivität im Verlauf der Therapie bei einem Patienten ergeben, können wir Gehirnareale und Aktivitätsmuster bestimmen, die Drogenabhängigkeit und verwandte suchtartige Phänomene kennzeichnen. Primärtherapie ändert ebenso die biochemischen Substanzen, die wir in unserem System tragen.

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Zum Beispiel erzeugt das aktivierende Hormon Noradrenalin tendenziell Wachsamkeit und Aktivierung, während Serotonin bremsend wirkt. Noradrenalin beinhaltende Axone entwachsen hauptsächlich dem Locus ceruleus, der in gewisser Hinsicht das Terror-Zentrum des Gehirns ist. Unsere Forschung über die aktivierenden Hormone Adrenalin und Noradrenalin (Neurohormone, die mit dem Schmerz einhergehen) ergibt ein Absinken der Werte  um bis zu 66 Prozent nach 6 Monaten Primärtherapie.4 Nach Ablauf von 26 Wochen Primärtherapie ergab sich ein Anstieg des Wachstumshormon-Spiegels um mehr als 200 Prozent, während der Adrenalin-Spiegel um 30 Prozent fiel. In derselben Zeitperiode ergab sich bei Leuten, die nicht in tiefe Gefühle fallen konnten, ein signifikanter Fall dieser Werte.

Nach der Therapie sollte es vorhersagbare Veränderungen in Verhalten und Physiologie geben, die man mit der Zeit messen kann; das ist ein Standard, der für alle Therapieformen gelten sollte. Es ist nicht möglich, Sucht oder Abhängigkeit aufzulösen oder zu beseitigen, ohne über Veränderungen bei neurophysiologischen Zuständen Rechenschaft abzulegen. Zum Beispiel sollte es charakteristische Änderungen der Serotonin-Werte geben, so dass das Individum keine Tranquilizer mehr benötigt. Und natürlich sollte der Stresshormon-Ausstoß signifikant verringert sein. Wenn wir den Serotonin-Spiegel normalisieren, beseitigt das zweifellos das Bedürfnis nach Tranquilizern, deren Hauptzweck darin besteht, das System mit Serotonin zu versorgen.

Wir sind alle aus einem Stück, Teil eines organischen Ganzen. Somit können wir keinen Einzelfaktor wie zum Beispiel Serotonin isolieren, oder einen anderen Faktor wie drogenfreie Zeit, um definitive Aussagen über Sucht oder Genesung zu machen. Man kann das Gehirn nicht mehr als isoliertes Organ betrachten, das vom Schädel umschlossen ist, sondern muss es als Teil eines physiologischen Gesamtsystems sehen. Wenn der Körper also unter Schmerz steht, kann man diesen Schmerz nicht nur im Gehirn finden, sondern ebenso in Hormonen und im Blutsystem. Die Primärtherapie hat nachgewiesen, dass Drogensucht größtenteils auf frühem Schmerz (fehlende Liebe) gründet und dass Schmerz seine Gegenkraft in Gang setzt, nämlich Verdrängung. Wenn das System zwar verdrängt, die Verdrängung aber fehlerhaft ist oder versagt, wenn die Serotonin-Endorphin-Systeme der Aufgabe nicht gewachsen sind, mit dem Schmerz fertig zu werden, dann leidet das Individuum und braucht Hilfe von außen in Form von Drogen, um dieses Leiden zu mildern. Oft sind die äußeren Drogen eine exakte Nachahmung der Biochemikalien, die intern produziert werden sollten. Die schwer Süchtigen, die ich behandelt habe (einschließlich schwerer Raucher) waren von Schmerz der ersten Linie durchsiebt.

Die Stärke einer Einprägung lässt sich oft anhand ihres Gegenspielers - des Verdrängungssystems - messen. Es ist meine Überzeugung, dass Psychotherapie die Verpflichtung hat, Schmerz, seine Verdrängung und seine Wirkung auf die Neurotransmitter-

 

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und Neurohormon-Systeme zu messen. Sie alle bilden ein Gitter, dass einen Index der Suchtanfälligkeit begründet; es schließt Verhaltensfaktoren ein,zum Beispiel die Fähigkeit eines Patienten, von Drogen und Alkohol Abstand zu nehmen, ist aber nicht darauf begrenzt. Verhalten sagt uns nicht genug, aber die Körperchemie jederzeit.

FALLSTUDIE: CARYN

Es waren erst zwei Monate vergangen, nachdem ich mit Primärtherapie begonnen hatte, als mein Therapeut mir vorschlug, ich solle einen Tranquilizer nehmen. Ich tobte. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich Medikamente genommen. Ich hatte immer versucht, ohne sie zurecht zu kommen und durchlitt lieber enormen physischen Schmerz, bevor ich auch nur einen simplen Schmerztöter genommen hätte.

Was ich nicht wusste aber später in meiner Therapie herausfand, war, dass meine Phobie gegen Medikamente auf genau derselben frühen schmerzvollen Ereigniskette gründete, die es jetzt erforderlich machte, dass ich Medikamente nahm: meine Geburt unter Drogen. Aber nach zwei Monaten Therapie hatte ich noch keine Ahnung.

Zwei Hauptgefühle steuerten meine Phobie gegen Medikamente. Das erste war, dass ich fähig bin, es allein ohne Hilfe zu schaffen und dass ich nichts und niemanden brauche. So bin ich in meinem Leben immer klar gekommen, und es ist die kontraphobische Reaktion gegen die Hilflosigkeit, die ich erlebte, als ich gerade geboren wurde. Meine Mutter war so betäubt, dass sie keine Ahnung hatte, wie ich eigentlich aus ihr herausgekommen bin, und ich war so betäubt, dass ich in meinen ersten vier Lebenswochen unfähig war zu saugen oder auch nur aufzuwachen. Bilder von mir in diesem Alter zeigen mich betäubt, sehr krank aussehend und unfähig, Milch in mir zu behalten. Alles lief geradewegs durch mich hindurch und wieder hinaus. Das andere Feeling, das meine Phobie gegen Medikamente in Gang hielt, war, dass ich äußerst überzeugt davon war, dass alles, was in meinen Körper eindrang, mich vergiften und mich von mir selbst entfernen würde. Das Lachgas, das meine Mutter während der Wegen einatmete und die abschließende Spritze mit einem Anästhetikum, als ich im Begriff war, geboren zu werden, machten in der Tat genau das. Sie vergifteten mich, machten mich bewusstlos und schnitten mich von meinem eigenen Körper ab. Sie ließen mich hilflos und mit dem Tode ringend zurück. Es ging mir schlecht mit großgeschriebenem S.

Aber nach sechs Wochen Primärtherapie hatte ich keine Ahnung von all dem. Für mich war es völlig real und natürlich, dass ich es selbst schaffen und niemals Medikamente in meinen Körper lassen würde. Ich war weiterhin entschieden gegen Medikation, und mein Therapeut schlug sie weitere sechs Monate vor. Dann brach ein traumatisches Ereignis in meinem

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Leben meinen Widerstand, und ich eilte in die Notaufnahme einer Klinik, um Medikamente zu bekommen. Ich brauchte einfach eine Ruhepause von dem Schmerz; ich wollte einfach schlafen.

Ich begann Prozac zu nehmen, in den ersten Tagen 5 mg täglich, erhöhte dann auf 10 mg täglich. Die Indikation war Depression (Schlaflosigkeit, Energiemangel, und dass ich unfähig war, etwas Positives zu erleben). Ich kam nie damit zurecht. Nach drei Tagen auf 5 mg Prozac und meinem ersten Tag auf 10 mg war ich nahezu psychotisch geworden. Ich wachte nachts auf, fühlte mich wie eine kleine Kugel, von allem losgelöst, und ich hatte das Gefühl zu sterben. Nach dieser Erfahrung war ich so schockiert, dass ich aufhörte, das Medikament zu nehmen. In den folgenden Monaten verschrieb man mir noch zwei andere SSRIs. Bei keinem blieb ich dabei. Bei allen hatte ich das Gefühl, verrückt zu werden. Schließlich verschrieb man mir 0,6 mg Zyprexa täglich - eine extrem niedrige Dosis. Ich hatte speziell darum gebeten, denn einer Primal-Freundin mit Symptomen wie bei mir hatte es geholfen. Nach der ersten Einnahme schlief ich die ganze Nacht durch, was seit über 15 Monaten nicht mehr passiert war. Ich blieb bei Zyprexa,.

Die Einnahme von Zyprexa half mir weiterhin, zu schlafen, was mein Arzt nicht glauben wollte. Die Indikation bei Zyprexa ist nicht Schlaflosigkeit sondern Schizophrenie. Was er nicht verstand, war, dass Zyprexa meinen Hirnstamm (erste Linie) beruhigte, was der Grund ist, dass ich die Nächte durchschlief und auch das Übrige bekam, das ich so sehr brauchte. Es ging mir allmählich ein wenig besser, aber ich war weiterhin ständig überwältigt in meinem Leben und unfähig, etwas Gutes zu erleben.

Nach weiteren vier Monaten verbrachte ich die meisten Nächten wieder schlaflos und war in einen ständigen Kampf mit meinem Therapeuten verwickelt, der nach meiner Auffassung die ganze Zeit alles falsch machte. Ich steckte schon wieder in einer Depression. Dann verschrieb man mir zusätzlich zu den 0,6 mg Zyprexa 4,25mg Prozac. Die Indikation war Depression - diese Behandlungskombination war eine neu entdeckte Methode, um Depression zu behandeln.

Und es wirkte Wunder. Nach ungefähr einem Monat begann ich mich anders zu fühlen, verspürte mehr Energie und war weniger negativ. Meine Sitzungen begannen sich zu ändern. Ich erlebte jeweils nur ein Feeling und nicht mehr 10 Feelings, die zugleich hochschnellten. Nach einem Feeling brauchte ich fünf, 10, manchmal 30 Minuten, und dann spürte ich, dass ich wirklich aus dem Gefühl heraus war. Ich hatte zugemacht! Das war mir nie zuvor passiert. Es versetzte mich in die Lage, auf der dritten Ebene wirklich über meine Gefühlserlebnisse nachzudenken

 

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und sie zu integrieren. Mein gegenwärtiges Leben konnte jetzt nicht mehr so leicht alte Gefühle auslösen und mir war plötzlich langweilig, weil ich nicht mehr ständig eifrig mit Gefühlen kämpfte und darum, in sie zu gelangen; das heißt darum, bis zur nächsten Sitzung zu überleben. Ich litt nicht mehr ständig, und ich war überrascht, weil es für mich der normale Seinszustand war. Ich dachte, es müsse so sein. Jetzt hatte ich in meinem Leben Zeit übrig, und zuerst war ich es nicht gewohnt, so dass ich nicht wusste, was ich tun sollte! Aber dann begann ich, wirklich mehr vom Leben zu haben! Das gab mir die Kraft, wie nie zuvor in schlechte Feelings zu fallen, weil ich jetzt fähig war, wieder aus ihnen herauszukommen, zu einem besseren Leben zurückzukehren und eine Erholungspause einzulegen, bevor das nächste Feeling hochdrängen würde.

Weil mir die Medikation half, nach Gefühlen zuzumachen und Gefühle schärfer umrissen anzugehen, konnte ich plötzlich auch erkennen, wann was in meinem Leben was auslöste. Ich konnte es der Person sagen, die etwas in mir auslöste, und um eine Auszeit bitten, so dass ich es fühlen konnte.

Bevor ich Medikamente nahm, war ich, da in mir ständig alte Gefühle ausgelöst wurden, dauernd in bedeutungslose, erschöpfende Kämpfe mit Leuten verwickelt oder musste mich isolieren, um diese Auslösung zu verhindern.

Das Erstaunlichste aber, das diese kombinierte medizinische Behandlung in mir bewirkt hat, ist, dass es mir half, die Erinnerungs-Ebenen auseinander zu halten. Bevor ich Medikamente nahm, war ich so überwältigt, dass ich eine Sitzung mit Weinen ohne Zusammenhang begann und dann geradewegs in Reaktionen der ersten Linie fiel; das heißt, nicht atmen, sich erdrückt fühlen, etc. Ich konnte kaum separate Emotionen aus Kindheitsereignissen fühlen (zweite Linie). Alles wandelte sich geradewegs in Geburtsfeelings, aber sie verknüpften sich kaum mit Emotionen in meiner Kindheit oder in meinem gegenwärtigen Leben. Das bedeutet, dass ich nicht wirklich fähig war, meine Gefühle oder vielmehr Empfindungen zu integrieren, und dass ich wenige Einsichten hatte, die ich als Grundlage für Veränderungen in meinem Leben nutzen hätte können. Monatelang litt ich einfach weiter in meinem chaotischen Leben. Ich erreichte buchstäblich nichts, was dann wiederum alte Gefühle auslöste. Mit Hilfe der Medikamente begann ich, in meinen Sitzungen etwas zu erreichen - ich bekam Zugang zu meiner zweiten Ebene und fing an sie aufzulösen, und ich fing an, in meinem Leben etwas zu erreichen - durch Veränderungen , die auf Einsichten aus meinen Sitzungen beruhten.

Ein Beispiel dafür, wie medikationsgestützte Primärtherapie meinen Gefühlszugang auf zweiter Ebene verändert hat, sind meine Trennungsgefühle. Als mein erster Freund mich verließ oder als ich den Anruf erhielt, dass mein Vater gestorben war, konnte ich nichts fühlen, sondern war gelähmt. Das waren alles

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Situationen, als ich damals ohne Medikamente nicht reagieren konnte. Die Erfahrung der Trennung, eines plötzlichen Einschnitts, löste immer und sofort meine erste Ebene aus und sorgte dafür, dass ich mich verschloss und überwältigt war. Das Einzige, was ich wusste, war, was ich in Trennungssituationen mit meinem Freund oder Vater fühlte: von einem Moment zum anderen konnte ich kaum noch atmen. Mir wurde extrem übel, meine Knie wurden so schwach, dass ich kaum stehen konnte, und ich wurde beinahe bewusstlos. Ich spürte, wie mich ein "Auslösch"-Gefühl durchzuckte und sekundenlang von mir Besitz ergriff; mir schien es wie eine Ewigkeit. Nach einer solchen Attacke war ich stundenlang desorientiert und saß bewegungsunfähig in einer Ecke. Alle diese beschriebenen Empfindungen sind das, was ich jetzt als Geburtsempfindungen der ersten Linie erlebe.

Dank der Drogen kann ich jetzt in der Primärtherapie nachgeburtliche Trennungssituationen wiederaufsuchen, ohne gleichzeitig von diesem "Auslösch"-Gefühl (das in Wirklichkeit die Empfindung eines plötzlichen Sauerstoffentzugs ist) überwältigt zu werden. Endlich und zm ersten Mal bin ich fähig, das eigentliche Gefühl auf der zweiten Ebene zu erleben: die Verzweiflung über den endgültigen Verlust eines Menschen, den ich unbedingt noch gebraucht hätte: meinen Freund, meinen Vater. Den Verlust und die Trauer hätte ich fühlen sollen, als sie ursprünglich geschahen - wäre ich seit meiner Geburt nicht immer so extrem überwältigt gewesen und wären die Einprägungen in meinem Hirnstamm nicht so leicht auszulösen gewesen. Drogen halfen mir wiederherzustellen, was mir in erster Linie eine liebevolle, drogenfreie und mit Sauerstoff gesättigte Geburt hätte geben sollen: eine gute Gehirnchemie, um darauf eine gesunde Gehirnentwicklung aufzubauen, die es mir ermöglicht hätte, auf Verluste später in meinem Leben angemessen, das heißt, auf fühlende Weise zu reagieren.

Jetzt in der Primärtherapie suche ich mit Hilfe der Medikamente alle diese Trennungssituationen wieder auf. Endlich trenne ich mich von ihnen und von meinen Gefühlen, indem ich sie ausdrücke und die äußerste Verlassenheit und Angst fühle. Endlich kann ich loslassen. Auch häufe ich in meinem gegenwärtigen Leben keine ungefühlten Reaktionen auf Trennungen mehr an, denn wenn ich jetzt in meinem Leben mit einer Trennung konfrontiert bin, kann ich sie tatsächlich geradewegs fühlen, wenn sie passiert.

Jetzt, etwa eineinhalb Jahre, nachdem ich zugelassen habe, dass Drogen mir dabei helfen, strukturierten Zugang zu meinen blockierten Kindheitsgefühlen zu gewinnen, bin ich auf dem Weg, die Drogen langsam und allmählich ausklingen zu lassen. Ich habe jetzt mein eigenes wahres Leben gefunden.                  ----------------------

 

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DROGEN LASSEN NEUROSE FUNKTIONIEREN

Neurose ist eine Krankheit des Unbewusstseins. Wenn wir voll bewusst sind, sind wir nicht neurotisch. Noch einmal: Bewusstsein bedeutet, dass alle drei Ebenen der Gehirnfunktion in fließender Harmonie zusammenwirken. Die meisten Gegenwartstherapien arbeiten darauf hin, Bewusstsein zu reduzieren und dadurch Neurose zu verstärken, wenn auch unabsichtlich. Eine Neurose, die funktioniert, bewirkt, dass wir uns wohl fühlen. Das bedeutet nicht, dass wir normal oder glücklich oder auch nur zufrieden sind, ungeachtet dessen, was wir denken. Medikamente und Drogen lassen Neurose funktionieren und das gilt auch für die kognitive Therapie - sie reduziert Bewusstsein; erstere durch chemische Unterdrückung, letztere durch Einsichten, neue Gedanken und mental-verbale Gymnastik, die letzlich alle zu chemischer Unterdrückung oder Verdrängung werden. Wir bauen entweder Abwehr auf oder verringern das Bedürfnis nach ihr. Entweder geben wir jemandem einen Schuss Morphin und besänftigen den Schmerz, oder wir bieten Einsichten an und eine neue Betrachtungsweise der Dinge, die gleichbedeutend sind mit einer von innen injizierten Morphin- (Endorphin-)-Spritze und schließlich zu einer solchen werden. In letzterem Fall, bei dem wir neue sogenannte "gesunde" Gedanken annehmen, gibt der frontale Kortex durch diese Gedanken und Rationalisierungen eine Bestellung für mehr Schmerzkiller auf. Wir glauben, es seien die Gedanken, die uns besser fühlen lassen, aber wahrscheinlicher ist, dass es die inneren Drogen sind, deren Sekretion durch die Gedanken ausgelöst wird. Gedanken/Einsichten sind sind das Vehikel für die Sekretion intern produzierter Drogen, besonders der Morphine, die wir herstellen.

In der Primärtherapie werden die Frontallappen befreit, so dass wir unsere Lebensleistung optimieren können. Sie leistet das, indem sie der Person hilft, Zugang zu ihren Gefühlsschaltkreisen zu gewinnen und deshalb ein langes und glückliches Leben zu führen, das frei von Spannung, Angst und Drogen ist. Es bedeutet ein liebevolles Leben, ein aufrichtig tief gefühltes und bdeutungsvolles. Primärtherapie stellt den Königsweg zum Unbewussten bereit. Sie stärkt in hohem Maß das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, Geheimnisse der Psyche aufzudecken, die vorher tief in uns weggeschlossen waren. Wenn das geschieht, brauchen wir keine Drogen, um zu fühlen und/oder zu entspannen. Der Zugang, den wir haben, indem wir die tiefsten Gehirnebenen erreichen, stärkt unsere psychische Gesundheit und erfüllt uns mit einem totalen Wohlgefühl.

Wir hoffen, dass wir die Liebeshormone- Oxytozin und Vasopressin - untersuchen können, um zu sehen, wie sie sich als Ergebnis unserer Therapie verändern. Wir wissen, dass Menschen, die Schmerz fühlen, wieder fühlen können, und das bedeutet, dass sie wieder lieben können. Wir müssen uns jetzt die Frage stellen: "In welchem Maß sind Postprimärmenschen liebesfähig?"

 

Fortsetzung Buch Seiten 241 - 272

 

TEIL I A , SEITEN 1 - 35         TEIL I B, SEITEN 36 - 70               TEIL I C , SEITEN 71 - 106 TEIL II A, SEITEN 107 - 140      TEIL II B, SEITEN 141 - 181     TEIL II C, SEITEN 182 - 208
TEIL III A, SEITEN 209 - 240                TEIL III B, SEITEN 241 - 272   BUCHÜBERSETZUNG: BÜCHER VON A. JANOV                                             HOME