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Diese Seite soll ein Ansatz sein, wesentliche Aspekte ontogenetischen Wissens an einem Ort zusammenzubringen. Angesichts der ständig wachsenden Flut wissenschaftlicher Studien und Publikationen kann das, was Sie hier lesen werden, nur eine sehr begrenzte Teilauswahl an Information darstellen. Und es ist eine höchst subjektive Selektion. Ich habe hier auf der Grundlage meiner subjektiven Erfahrung meine persönliche Wahl getroffen. Ich konzentriere mich auf das, was mir selbst wichtig erscheint. Wie Sie schnell herausfinden werden, widme ich den meisten Raum dem amerikanischen Psychologen Dr. Arthur Janov, einem unbeirrbaren Wissenschaftler, der seiner Zeit um Jahrzehnte vorausgeeilt war und dessen in zehn Büchern veröffentlichte Primärtheorie in zunehmendem Maß von der aktuellen Forschung bestätigt wird, und dem französischen Mediziner und Geburtsforscher Michel Odent, dessen großes Verdienst es ist, die Physiologie des Gebärens (wieder-)entdeckt zu haben. .
Die Bedeutung mancher Autoren erschließt sich nicht auf Anhieb. Michel Odents Publikationen hatte ich früher eher flüchtig gelesen und als "nebensächlich" eingestuft. Inzwischen scheint es mir, dass seine Büchern langfristig zu den positivsten Umwälzungen menschlicher Gesellschaften führen könnten, die es in der Geschichte der Zivilisation jemals gegeben hat. Vielleicht wird es in Zukunft zu einer Zweiteilung der Welt kommen. Ein Teil der Menschheit könnte weiterhin ungebremst auf den düsteren Abgrund der Selbstzerstörung zumarschieren. Der andere Teil hat vielleicht verstanden , dass die Bedingungen am Lebensanfang so zu gestalten sind, dass in Zukunft mehr Kinder die Chance auf eine gute Zeit im Mutterleib und auf eine sichere Mutter-Kind-Bindung haben, die auf einer unbeeinträchtigten Ausschüttung von Geburtshormonen beruhen könnte. Anfang gut - Alles gut. Ein guter Lebensanfang ist wie ein psychophysisches Bollwerk, das selbst ein massiver Ansturm späterer Widrigkeiten nicht zum Einsturz bringen kann. Wir werden dann viel weniger depravierte Erwachsene haben, solche, die die meiste Zeit ihres Lebens auf die eine oder andere Weise frühen Schmerz ausagieren oder einagieren oder betäuben oder weiß der Teufel was müssen und viel mehr zufriedene, gelassene und rundherum gesündere Menschen, die mehr Zugang zur Welt des Fühlens haben.
Es ist eine teuflische Sache, wenn Menschen unter den Qualen einer schlechten Zeit im Mutterleib, einer traumatischen Geburt und/oder früher unbefriedigter Bedürfnisse leiden, ohne sich dessen bewusst zu sein. Manche haben sich aufgemacht, den ganzen Planeten auf der Suche nach der Zufriedenheit und Glück verheißenden Goldader umzupflügen, ohne jemals fündig zu werden. Manche suchen endlos nach dem Quell der Gesundheit, der ihre Symptome lindert. Wieder andere leiden einfach demütig und schicksalsergeben. Vielen dieser Pflügenden, Suchenden und Leidenden könnte das tiefe Schürfen in den Schmerzminen ihrer Nervennetzwerke weiterhelfen, aber vielen scheint dieser Weg aufwendig und mühselig - was er oft auch ist -, und sie ziehen es vor, an anderen Orten zu suchen, finden zum Beispiel Unterstützung in einer der vielen Glaubensgemeinschaften oder bei Psychotherapeuten, oder sie greifen zu Alkohol, Zigaretten oder Psychopharmaka.
Können zivilisierte Gesellschaften "neue" Menschen schaffen? Müssen sie das überhaupt? Besteht überhaupt Grund, sich Sorgen zu machen? Zuerst einmal muss man sagen, dass sich verschiedene Gesellschaften in verschiedenen Zuständen präsentieren können. Die Probleme der Deutschen müssen zum Beispiel nicht unbedingt die Probleme der Holländer sein und umgekehrt. Dann wird es in jeder Gesellschaft unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen psychophysischen Merkmalen geben. Zudem dürfte es a priori unmöglich sein, "die Gesellschaft zu ändern." Veränderung beginnt immer bei Leuten, die sich sehr viele Gedanken machen, auch darüber, wie es den Kindern ergeht. Das Befinden der Kinder könnte ein wichtiger Indikator sein für den Zustand der gesamten Population und für die eingeschlagene Richtung. Geht es ihnen gut oder weisen sie in zunehmendem Maß schwere Symptome auf? Kinderärzte, Psychologen, Pädagogen und Sozialarbeiter müssten wissen, wohin die Reise geht. Am Zustand der Kinder lässt sich am ehesten erkennen, ob eine Gesellschaft stabil bleibt oder ob sie zunehmend von Zerrüttung und Auflösung bedroht ist. Wenn sich hier bedenkliche Tendenzen zeigen, dann ist es an der Zeit, dass alle gesellschaftlichen Kräfte, die "sich Gedanken machen", ihr Augenmerk auch auf den Lebensanfang richten.
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VORGEBURTLICHE PRÄGUNG - EIN GEWÖHNUNGSBEDÜRFTIGER ASPEKT
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Wissenschaft vom Menschen entscheidende Fortschritte gemacht. Fachleute auf dem Feld der Psychologie, Neurobiologie, Medizin und anderer Disziplinen zeigen in ihren Publikationen auf, dass die Erfahrungen früher Lebensphasen einen gewichtigen Einfluss auf unser erwachsenes Leben, unsere psychophysische Gesundheit, unsere Liebes- und Bindungsfähigkeit, unser Gefühlsleben haben. Zahlreiche Studien laufen zu einer Erkenntnis zusammen, die vermutlich noch vor wenigen Jahrzehnten als höchst umstrittene und gewagte Hypothese gegolten hätte: Der entstehende Mensch wird bereits lange vor seiner Geburt durch seine Umwelt beeinflusst. Die Welt im Uterus ist kein Schutzraum, der den heranwachsenden Fetus vor allen Widrigkeiten abschirmt und ihn als "unbeschriebenes Blatt", als "tabula rasa" zur Welt kommen lässt. Die emotionale Verfassung der werdenden Mutter, ihr gesamter psychophysischer Zustand, die Belastungen, denen sie ausgesetzt ist, ihre Ernährung und Lebensweise werden sich auf den Fetus und die Entfaltung seiner Gene auswirken, im positiven wie im negativen Sinne. Wie Peter Nathanielsz1 (Foto), Leiter des Laboratory of Pregnancy and Newborn Research (Labor für Schwangerschafts- und Neugeborenenforschung) an der Cornell Universität in New York in seinem Buch "Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit" [Mosaik/Goldmann, 2003] darlegt, scheint sich die Auffassung von der "vorgeburtlichen Prägung" in der Wissenschaft fest etabliert zu haben:
"Kurz gesagt beeinflusst die vorgeburtliche Prägung jeden Aspekt unserer körperlichen und geistigen Gesundheit in jedem Lebensabschnitt. Ich formuliere es gerne folgendermaßen: Wie und wann wir diese Welt verlassen, ist weitgehend dadurch geprägt, wie wir auf die Welt gekommen sind. Diese neue Denkweise verändert radikal die bisherigen Annahmen darüber, wie die Umgebung im Mutterleib das Baby in seiner Entwicklung beeinflusst. Möglicherweise finden Sie diese Vorstellungen auf den ersten Blick unheimlich oder beängstigend; sie scheinen eine völlig neue Möglichkeit zu sein, Müttern die Schuld für die Probleme ihrer Kinder zuzuschieben. Aber Schuldzuweisungen sollten nicht die Quintessenz dieses Wissens sein. Zunächst einmal ist die gesamte Familie für den guten Verlauf einer Schwangerschaft verantwortlich. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen: Die Verantwortung für gesunde Neugeborene liegt bei der Gesellschaft insgesamt." [Nathanielsz, Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit, Mosaik/Goldmann, München, 2003, s. 28, 29]
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Ein zentrales Thema des im Jahr 2000 erschienenen Buchs The Biology of Love des amerikanischen Psychologen und Therapeuten Arthur Janov 3 (Foto) ist "Womblife, Memory, and the Imprint" ["Leben im Mutterleib, Erinnerung und Prägung"]. Auch Janovs jüngstes Buch Life Before Birth, das voraussichtlich 2010 erscheinen wird befasst sich mit der vielleicht wichtigsten und folgenschwersten Zeit unseres Lebens - mit der Zeit im Mutterleib.
"Die wichtigste Phase der Kindererziehung spielt sich in den neun Monaten der Schwangerschaft ab. Die Ereignisse in dieser Zeit scheinen dauerhafte Auswirkungen zu haben, weil sie in ein naives und verletzliches Nervensystem eingeprägt werden. Durch Autopsien an Psychotikern steht uns Forschungsmaterial zur Verfügung, aber so, wie es scheint, führt die Spur jeglicher Art Symptome und abweichenden Verhaltens in erster Instanz auf pränatale Ereignisse zurück. [.............] Liebe beginnt in den neun Monaten im Mutterleib. Gesundheitsbewusste Ernährung, Abstinenz von Zigaretten und Alkohol und ein ruhiges, ausgeglichenes Leben sind die ersten Schritte zu positiver fetaler Entwicklung. Es geht nicht nur um die fetale Entwicklung; hier werden die Fundamente für unser ganzes übriges Leben gelegt." [Übersetzt aus: Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, s. 198, 199]
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Er zitiert im Kapitel 11 seiner Biology of Love ("Womblife: Prelude to Real Life") eine Reihe von Studien, die darauf hindeuten, dass die primären Ursachen körperlicher und psychischer Leiden in den vorgeburtlichen Bedingungen liegen können. Neurose als psychophysischer Zustand, der durch Unausgewogenheit, Verschiebungen und Funktionsstörungen innerhalb des Systems gekennzeichnet ist, kann ihren Anfang in utero haben. Janov erwähnt auch eine autoptische Untersuchung an Schizophrenen, die ergab, dass bei vielen dieser Individuen - wahrscheinlich aufgrund pränataler Einflüsse - bestimmte Nervenzellen des limbischen Systems buchstäblich "auf dem Kopf standen." Hier wird die wortwörtliche Bedeutung von "verrückt" offensichtlich: Man ist verrückt, weil die Zellen verrückt worden sind, das heißt, aus ihrer normalen Lage verschoben worden sind.
Bereits in früheren Büchern hatte sich Janov ausführlicher mit vorgeburtlichen Einflüssen auf den psychophysischen Gesundheitszustand der Erwachsenenpopulation befasst. (Das befreite Kind, Fischer, 1977; Frühe Prägungen, Fischer, 1984, s. 29-102; Why you get sick - How you get well, Dove Books, 1996, s. 30-42; diese Bücher stehen zur Zeit online zur Verfügung). In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf den aktuellen Artikel "Leben vor der Geburt" von Arthur Janov hinweisen, den Sie hier unter der Rubrik "Neue Beiträge" finden und ganz aktuell natürlich auf Janovs jüngstes Buch "Life before Birth", das der Scorpio-Verlag in deutscher Übersetzung auf den Markt gebracht hat (Arthur Janov, Vorgeburtliches Bewusstsein, Scorpio-Verlag, München, 2012; Übersetzung: Wiebke Krabbe)
Auch der französische Arzt und Geburtsforscher Michel Odent 2 (Foto) weist in seinen Publikationen auf Studien hin, die solche pränatalen Einflüsse nahelegen. Er kommt zu dem Schluss, dass "die Liebesfähigkeit in hohem Maße durch frühe Erfahrungen im Mutterleib und in der Geburtsphase bestimmt ist." [Odent, Die Wurzeln der Liebe, Walter, Düsseldorf, 2001]. In der Online-Datenbank seines Primal Health Research Centre finden sich viele Untersuchungen, die auf Zusammenhänge zwischen vorgeburtlichen Umständen und Erscheinungen in der Erwachsenengesellschaft hindeuten.
Es gibt sogar eine "International Society for Pre- and Perinatal Psychology and Medicine" (ISPPM), deren Präsident Dr. Sven Hildebrandt ist. Der Fetus ist sozusagen in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Endgültig vorbei ist die Zeit, da man Feten und Neugeborene für empfindungslose Protoplasmaklümpchen hielt, die von ihrer Umwelt nichts mitbekommen und kaum zu nennenswerten Reaktionen fähig sind. Nathanielsz zeigt in seinem Buch "Leben im Mutterleib" [List, 1995], dass Feten "für ihr Alter ganz schön schlau" sind und durchaus in der Lage, sich an Veränderungen ihrer Umgebung anzupassen. So setzt das fetale System vor allem im zweiten und letzten Drittel der Schwangerschaft im Fall von Nährstoff- oder Sauerstoffengpässen Prioritäten und bestimmt, welche Organe und Teilsysteme vorrangig versorgt werden. (In erster Linie Gehirn und Nervensystem).
Vor allem die umfangreichen epidemiologischen Untersuchungen des britischen Medizinwissenschaft- lers David Barker, auf die Peter Nathanielsz in seinem Buch "Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit" ausführlicher eingeht, legen Zusammenhänge nahe zwischen der Ernährung während der Schwanger- schaft und der Wahrscheinlichkeit, als Erwachsener unter Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, hohem Cholesterinspiegel oder unter Diabetes zu leiden. Ein auffallend geringes Geburtsgewicht oder ein im Vergleich zur Kopfgröße auffallend kleiner Bauchumfang eines Neugeborenen lassen auf Mangelernährung im Mutterleib schließen. Mangelhafte Ernährung in utero kann laut Nathanielsz dazu führen, dass sich bestimmte Organe nicht voll entwickeln bzw. nicht optimal mit Blutgefäßen versorgt werden ("strukturelle Prägung"). Eine logische Folge davon wäre, dass das betreffende Organ seine genetisch festgelegte volle Größe und Leistungsfähigkeit niemals erreicht.
Das Bedenkliche an den Resultaten der Barker-Studie ist, dass solche offensichtlichen pränatalen Defizite im Mutterleib gerade bei den "unteren" Gesellschaftsschichten besonders häufig auftraten (Barkers Studie untersuchte Menschen, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren worden waren). Nachdenklich macht auch die Aussage eines anderen Wissenschaftlers, Dr. Berry Brazelton, dass "keine Generation von Kindern schlechter ernährt und schlechter auf das Leben vorbereitet gewesen [sei], als die Babys, die heute zur Welt kommen." [Leben im Mutterleib, s. 248]. Soll man aus dieser Aussage schließen, dass in diesen modernen Zeiten des Überflusses, in denen Jugendwahn, Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit auf der gesellschaftlichen Werteskala ganz weit oben rangieren, viele Frauen auf die Idee kommen, sie müssten in der Schwangerschaft eine Diät machen, um die dickmachenden Effekte des fetalen Wachstums zu mindern?
Nathanielszs Leser erfahren auch, dass das Gehirn des Fetus selbst über eine Hormonkaskade, die in seinem Hypothalamus beginnt, an der Einleitung des Geburtsvorgangs beteiligt ist. Bereits 1933 hatte der Gynäkologe Percy Malpas einen Artikel veröffentlicht, in dem er beschrieb, dass es im Fall von Anenzephalie (dem Fehlen wesentlicher Gehirnteile) bei menschlichen Feten zu verlängerten Schwangerschaften kommt. Auch mehrere Tierstudien führten zu dem Schluss, dass eine Schädigung der Hypothalamus-Hypophysen-Achse im Gehirn der Feten deutlich verlängerte Tragzeiten oder das völlige Ausbleiben der Geburt bedingt. Somit scheint ein wesentliches Startsignal für die Geburt vom Hypothalamus des Fetus auszugehen. Der Hypothalamus schickt seinen "Boten", das Hormon CRH, zur Hypophyse, die sodann den Botenstoff ACTH freisetzt, welcher die Nebennierenrinde anweist, Kortisol zu produzieren. Kortisol wiederum regt die Plazenta zur Erzeugung von Enzymen an, die den Wehenhemmer Progesteron in den Wehenförderer Östrogen umwandeln. Diese bei Schafen nachgewiesene Reaktionskette ist bestimmt nicht das "ganze Geheimnis" der Geburtseinleitung, aber es scheint eine wesentliche Komponente zu sein. Experimente an Affen legen nahe, dass die Abläufe bei Primaten ähnlich sind, mit dem Unterschied, dass an Stelle von Kortisol das Nebennieren-Hormon DHEAS tritt, das in der Plazenta wiederum zu Östrogen umgewandelt wird. [Siehe hierzu Nathanielsz, Leben im Mutterleib, List, München, 1995, Kapitel 12, s. 192-212].
Mich erinnert der hier beschriebene Vorgang ein wenig an die biblische Geschichte von der "Vertreibung aus dem Paradies". Der "Apfelbaum" entspräche dem Hypothalamus und die "verbotene Frucht" dem Hormon CRH (Corticotropin releasing hormone), das seinen "angestammten" Platz verlässt und dadurch letztlich die Wehen in Gang setzt, die zur "Vertreibung" aus dem Mutterleib führen.
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DIE GEBURT - EIN VERWINKELTER WEG MIT HINDERNISSEN?
Um die Geburt selbst schlingen sich viele Theorien. Der Psychoanalytiker und Mitarbeiter Freuds, Otto Rank 14 (1884-1939), hielt sie für ein grundsätzlich traumatisches Ereignis. Er war der Überzeugung, die Menschen seien ihr ganzes Leben lang durch den Schock der frühen Trennung gezeichnet und sehnten sich insgeheim danach, wieder in den Mutterleib zurückzukehren. Andere Wissenschaftler bezeichneten die Geburt als das potentiell lebensbedrohlichste Ereignis im Dasein des Individuums. Nie wieder komme der Mensch dem Tod so nahe wie in dieser Übergangsphase zwischen Mutterleib und extra-uteriner Welt.
Sowohl Janus als auch Odent weisen auf einen evolutionären Konflikt hin, der sich aus dem Gehirnwachstum einerseits und dem aufrechten Gang andererseits ergab. Das wachsende Gehirn bedeutete einen größeren Kopfumfang des Fetus bei der Geburt. Andererseits erforderte der aufrechte Gang ein möglichst enges Becken und, wie Janus sagt, "eine Einbuchtung durch die S-förmige Wirbelsäule". Das Resultat ist ein "abgeknickter Geburtskanal, der im oberen Durchmessser queroval und im unteren längsoval ist." Odent schreibt in seinem jüngsten Buch "The Caesarean" 2, die Geburt sei beim Menschen ein "komplexes asymmetrisches Phänomen", bei dem es zu einer "leichten Verformung des kindlichen Schädels" kommen kann. Im Gegensatz zum Menschen beanspruche der Kopf des Schimpansenbabys wesentlich weniger Platz im mütterlichen Becken und die "Vulva der [Schimpansen-]Mutter [sei] perfekt zentriert, sodass die Geburt des Babykopfes so symmetrisch und direkt wie möglich erfolgen kann."
Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet, ob die Geburt zwangsweise ein traumatisches Ereignis sein muss. Ich glaube es nicht. Wenn eine Frau sich auf die physiologischen Vorgänge bei der Geburt voll einlassen kann, wenn ihr System keine Abwehrmaßnahmen gegen diese Vorgänge in Gang setzt, dann wird die Geburt für Mutter und Kind zwar sehr anstrengend sein, aber nicht zwangsweise kompliziert und traumatisch. Leider ist diese "Abwehr" gegen physiologische Vorgänge, die von tieferen Gehirnzentren organisiert werden, bei vielen neurotischen Menschen ein automatischer Vorgang, besonders wenn diese Vorgänge mit "Erregung", "Konvulsion" , "Freisetzung" , "Öffnung" zu tun haben. Diese Abwehr tritt umso leichter und intensiver in Kraft, je weniger auf die "physiologischen Bedürfnisse" gebärender Frauen, auf die Michel Odent in seinen Büchern immer wieder hinweist, Rücksicht genommen wird. Sein oberster "Lehrsatz" lautet: "Stimuliere nie den Neokortex einer Frau, die sich in den Wehen befindet!" Das bedeutet für Odent in der Praxis: Kein helles Licht, keine unnötigen Fragen an die Gebärende, kein Umfeld, in dem sie sich beobachtet fühlt, sondern eine Umgebung, in der sie sich wirklich sicher fühlt. Odent hält eine Hebamme, die selbst autonom und natürlich geboren hat und sich im Hintergrund zu halten weiß, für die ideale Geburtshelferin. Er macht kein Hehl aus seiner Überzeugung, die seiner langjährigen Erfahrung als Geburtsmediziner an der Pithiviers-Klinik in der Nähe von Paris und als "männliche Hebamme", die viele Hausgeburten begleitet hat, entspringt, nämlich dass wir langfristig wieder " zu unseren Wurzeln", zu einer Hausgeburts- , Geburtshaus- und Hebammenkultur zurückfinden müssen. Odent sagt auch ganz deutlich, dass er den "foetus ejection reflex", den "Fötus-Auswurf-Reflex" und das Phänomen, dass Gebärende sich "auf einem anderen Planeten" (auf einer anderen Bewusstseinsebene) zu befinden scheinen, nur bei Hausgeburten erlebt hat. Dabei scheint es gerade dieses durch neokortikale Kontrolle und Abwehr und durch künstliche Eingriffe nicht beeinträchtigte Gebären "auf einem anderen Planeten" zu sein, dass die Hormone freisetzt, die zu einer sicheren Mutter-Kind-Bindung führen. Gerade hier schlägt die Liebe oft ihre Wurzeln.
"Die von Ethologen eingeführten Konzepte werden jetzt durch Forschung untermauert, die die Verhaltenseffekte der vielen Hormone untersucht, die in die Geburt und auch in die verschiedenen Facetten der Liebe involviert sind. Gemäß unserem aktuellen Wissen muss eine Frau einen komplexen Cocktail an Liebeshormonen freisetzen, wenn sie gebärt. Die von Mutter und Fötus während der Wehen und Geburt freigesetzten Hormone werden nicht sofort eliminiert, und jedem von ihnen kommt bei der Interaktion zwischen Mutter und Neugeborenem in der Stunde unmittelbar nach der Geburt eine spezielle Rolle zu." Übersetzt aus: Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, p. 37]
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Dass die Geburt grundsätzlich einen anhaltenden Trennungsschock verursache, wie Otto Rank es postuliert hat, scheint wie eine isolierte psychologische Theorie. Biologisch macht das wenig Sinn. Wenn in einer bestimmten Phase im Leben eines Menschen alle Bedürfnisse ordentlich erfüllt worden sind (bei der Geburt angemessene Stimulierung durch Uteruskontraktionen, ungestörter Fluss von Geburtshormonen und ausreichende Versorgung mit Sauerstoff), dann kann darauf eine neue Entwicklungsstufe aufbauen und sich entfalten, ohne dass die Ereignisse der vorherigen Phasen sich hinderlich einmischen würden.
Nur eine tatsächlich traumatisch verlaufende Geburt kann beeinträchtigende Auswirkungen auf alle folgenden Lebensabschnitte haben, eben weil sie als lebendiges, energiegeladenes Trauma ins Gehirn eingeprägt wird. Das ist dann keine "Erinnerungsleiche", die irgendwo in den dunklen Katakomben des Gehirns herumliegt, sondern ein echtes "Kraftpaket", das dem Organismus größte Probleme bereiten kann. Eine traumatische Geburt besitzt eine Prägegewalt, die man in Anbetracht der kurzen zeitlichen Dauer dieses Ereignisses oder Lebensabschnittes als geradezu ehrfurchtgebietend bezeichnen muss. Wie Arthur Janov in seinen Büchern ausführt, kann der Verlauf der Geburt zum Beispiel wesentlichen Einfluss darauf haben, wie jemand als Erwachsener tendenziell auf Lebensprobleme reagiert, ob passiv-resignativ, oder aktiv-kämpferisch, und er kann mitentscheiden, welche Krankheiten im Erwachsenenalter auftreten werden. Janov ist in seiner klinischen Praxis seit mehr als dreißig Jahren mit den Langzeitfolgen traumatischer Geburten konfrontiert:
"Wer hätte sich je träumen lassen, dass Migränen, Neurose, Phobien und sexuelle Probleme im Erwachsenenalter aufgrund eines Traumas oder schlechter Sauerstoffversorgung schon bei der Geburt ihren Anfang nehmen könnten, oder dass diese Krankheiten durch das Wiedererleben des frühen Traumas umgekehrt werden könnten?" [ Übersetzt aus: Janov, Why You Get Sick - How You Get Well, Dove Books, West Hollywood, CA, 1996, Einleitung ]
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DIE BEDEUTUNG EINER SICHEREN MUTTER-KIND-BINDUNG
Die Erfahrungen der ersten Monate und Jahre nach der Geburt werden wesentlichen Einfluss darauf haben, wie sich das Gehirn des Babys entwickelt, wie dicht "das Netz der Persönlichkeit" 4 gewoben wird. Wie der Psychoanalytiker und Neurobiologe Allan Schore 5 (Foto) in seinem Werk "Affect Regulation and the Origin of the Self" ausführt, wird eine sichere Bindung, die Befriedigung elementarer Bedürfnisse und eine gute emotionale Abstimmung zwischen Mutter und Kind dazu beitragen, wichtige Schaltkreise herauszubilden, die dem Kind und Erwachsenen helfen, emotional stabil zu bleiben und ein gutes Gleichgewicht zwischen sympathetischen Erregungsphasen und parasympathetischer Entspannung zu bewahren. Und sie wird eine frühe Erinnerung an Liebe ins Gehirn eingravieren. Schore betont die Wichtigkeit der Mutter-Kind-Beziehung in den ersten zwei Lebensjahren:
"Unter optimalen Umständen geht die Bezugsperson [die Mutter] eine anhaltende kommunikative Beziehung mit dem Kind ein, in der sie dafür empfänglich ist, verschiedene Typen affektregulierender Funktionen auszuüben. Die Einstimmung auf die inneren Zustände des Kindes und auf die Veränderungen in diesen Zuständen erfordert ein signifikantes Maß an empathischer Aufmerksamkeit und an emotionalem Engagement auf Seite der primären Bezugsperson. Ihre Beteiligung an intimen, ineinander aufgehenden Gesicht-zu-Gesicht-Erfahrungen erzeugt und stützt ein ausreichendes Niveau positiven Affekts, das trophisch zum Wachstum neuer Verbindungen zwischen Neuronen führt. [..........] Als dem Gegenteil dieser optimalen Bedingungen bin ich den Langzeit-Wirkungen schlecht abgestimmter affektiver Interaktionen zwischen dem Kleinkind und einer nicht-empathischen Bezugsperson nachgegangen. Diese unsicheren Bindungen werden in neuronalen Schablonen im limbischen System gespeichert und sind mit einer späteren Anfälligkeit für verschiedene psychiatrische und psychosomatische Störungen assoziiert. Die Schlussfolgerungen dieses Werkes echoen und vergrößern kürzlich von Bretherton (1992) geäußerte "sorgenvolle" Bedenken über das experimentell nachgewiesene Risiko unsicherer Bindungen, wenn die Tagesbetreuung, wie sie typischerweise in der gegenwärtigen amerikanischen Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird, im ersten Jahr beginnt und von extensiver Dauer ist. In einer Reihe von Studien kommt Belsky zu dem Schluss, dass extensive nicht-mütterliche (und nicht-väterliche) Betreuung in diesem ersten Jahr ein Risiokofaktor für die verstärkte Entwicklung unsicherer Beziehungsmuster ist (Belsky & Rovine, 1988), und dass unsicher-vermeidende Kleinkinder mit solcher Betreuung mehr negative Gefühle ausdrücken und sich in Wiedervereinigungsperioden mit der Mutter weniger im Objekt-Spiel engagieren (Belsky & Braungart, 1991). [................] Diese frühen Erfahrungen mit einer suboptimalen frühen Umwelt resultieren in der Einprägung (Bowlby, 1969) dauerhafter unsicherer Beziehungsmuster, die "in das Nervensystem eingebaut werden" (Ainsworth, 1967) und auf die unter emotional stressreichen Umständen in der späteren Kindheit weiterhin zugegriffen wird (Sroufe et al. , 1983, 1984). [.......] Die Angelegenheit der Betreuung ist nicht nur in den ersten paar Monaten sondern in den ersten zwei Lebensjahren ein wesentliches Problem für die Zukunft menschlicher Gesellschaften." [ Übersetzt aus: Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self, Lawrence Erlbaum, Hillsdale, New Jersey, 1994, s. 540, 541].
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Der entscheidende Punkt hier ist, dass es um die Qualität der Beziehung geht. Wichtig ist, dass tatsächlich Liebe vorhanden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Kinder von Müttern und Vätern, die eine emotionale Bindung zu ihrem Nachwuchs haben, auch dann zu psychisch und körperlich stabilen, ausgeglichenen, gefühlvollen und sozialverträglichen Jugendlichen und Erwachsenen entwickeln, wenn die Kinder aus beruflichen Gründen relativ frühzeitig (nach einem Jahr) in außerfamiliäre Tagesbetreuung gegeben werden müssen, vorausgesetzt, diese Betreuung geschieht durch empathische und emotional engagierte Personen. In den täglichen "Wiedervereinigungsperioden" bleibt genug Zeit, um eine bereits bestehende emotionale Bindung zu festigen. Im Gegensatz dazu kann die permanente Anwesenheit solcher Eltern, die ihren Kindern von Anfang an mit Gleichgültigkeit, Ablehnung, mangelndem Einfühlungsvermögen oder Agressivität begegnen, nur schlechte Ergebnisse bringen. Die Neurobiologin Lise Eliot 6 (Foto) weist in ihrem Buch "Was geht da drinnen vor" (Berlin-Verlag, 2001) auf die Ergebnisse eines umfassenden Forschungsprojekts hin, das das US-amerikanische National Institute of Child Health and Human Development 1991 initierte. Die bisherigen Resultate belegen genau diesen Punkt: Entscheidend ist die Qualität der Beziehung, nicht die Quantität. Nichtsdestotrotz kann es kein guter Zustand sein, Kinder bereits während oder am Ende des ersten Lebensjahres in kontinuierliche außerfamiliäre Tagesbetreung zu geben. Wie Schore betont, birgt dieser Zustand Risiken und kann immer nur als Notlösung angesehen werden.
Das Titelthema der Januarausgabe (Januar 2005) der Fachzeitschrift "Psychologie Heute" 15 ("Bindung und Lebensglück - Der lange Schatten der Kindheit") betont unter Bezugnahme auf die Studien und Werke diverser Autoren (Klaus und Karin Grossmann et al.) ebenfalls die Langzeitwirkungen der frühen Lebenserfahrungen der ersten drei Jahre. Bindungsforscher sollten vielleicht einmal der Frage nachgehen, ob sich zwischen Bindungstyp und Geburt (schwierig und lange oder glatt und unkompliziert, künstliche Eingriffe, Anästhesie, Kaiserschnitt, Zange) signifikante Zusammenhange finden lassen.
Janov kennt die Folgen mangelhafter Bedürfnisbefriedigung aus jahrzehntelanger psychotherapeutischer Praxis:
"In den letzten dreißig Jahren habe ich sehr viel über Menschen gelernt und darüber, was sie bewegt. So banal es scheinen mag, was ich gefunden habe, ist eine einzige und dennoch komplexe Emotion namens Liebe. Nicht die romantische Liebe in Romanen, sondern eine fundamentale Liebe – die Liebe der Eltern zu ihrem Kind. Wenn ein Kind Liebe und Fürsorge entbehrt, so erzeugt das Schmerz, gleich wie diese Entbehrung sich manifestiert, und wenn dieser Schmerz nicht „gefühlt“ oder ins System integriert wird, wird er seinerseits im späteren Leben physische und emotionale Krankheit verursachen." [ Janov, Why You Get Sick - How You Get Well, Dove Books, West Hollywood, CA, 1996, Einleitung]
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DIE GEBURT IM INDUSTRIEZEITALTER - SCHLECHTE CHANCEN FÜR GEFÜHLE, INSTINKTE UND HORMONE
Wie der französische Arzt und Geburtsforscher Michel Odent (Foto), der heute zusammen mit Frederick Leboyer als Hauptrepräsentant einer alternativen "Geburtsbewegung" gilt, ausführt, ist die in den meisten modernen Gesellschaften zur Norm gewordene Art des "industrialisierten Gebärens" mit ihren künstlichen Eingriffen in den Geburtsablauf und dem relativ hohen Anteil an Schnittentbindungen und anästhetisierten Geburten ( Epiduralanästhesie, systemische Analgesie) einer sicheren Mutter-Kind-Bindung nicht zuträglich. Es scheint, dass durch die medizinischen Eingriffe die natürliche pulsatorische Ausschüttung von Oxytozin, eines Hormons, das zusammen mit anderen Hormonen die Kontraktionen der Gebärmutter bewirkt, - auch als "Liebes"- oder "Bindungshormon" bezeichnet - in vielen Fällen gehemmt oder nahezu völlig unterbunden wird. Sie wird oft durch Infusionen mit synthetischem Oxytozin ersetzt , die die Wehen künstlich "steuern" sollen. Betrachtet man Mutter und Baby bei der Geburt als "biologische Einheit", dann ist es durchaus berechtigt zu behaupten, dass hier störend in ein komplexes endokrines und, wie Odent darlegt, auch olfaktorisches System eingegriffen wird.
Ein Resultat von Tierversuchen war, dass Schafe nach einer Geburt unter Epiduralanästhesie ihre Jungen nicht annehmen. Bekannt ist in der Tiermedizin auch, dass bei Makaken und Rhesusäffchen sich die Mütter nach einem Kaiserschnitt nicht um ihre Jungen kümmern. Allen Einwänden hinsichtlich der Unterschiedlichkeit von Mensch und Tier zum Trotz sollten diese Forschungsergebnisse in jedem Fall zum Nachdenken veranlassen. Letztlich haben wir alle älteren Gehirnstrukturen mit den Säugetieren gemeinsam und unterscheiden uns lediglich durch unseren "überquellenden" Neokortex und durch den aufrechten Gang von ihnen. Die Frage, die sich stellt, ist die, ob neokortikal gesteuertes Verhalten die gleiche Qualität hat wie Verhalten, das aus der Tiefe des Gehirns kommt.
Laut Odent ist bei Menschen der Einfluss der Hormone auf das Verhalten nicht so unmittelbar wie bei Tieren. Eine Frau, die ein Kind erwartet, könne das mütterliche Verhalten, das sie später zeigen wird, schon vorwegnehmen. Nichtsdestotrotz, so sagt er, könnten uns Säugetiere wichtige Lektionen über uns selbst erteilen.
In der Datenbank seines Primal Health Research Centre hat Michel Odent eine Vielzahl von Studien gesammelt, die allesamt Zusammenhänge zwischen prä-, peri- und postnatalen Umständen/Ereignissen einerseits und Phänomenen/Störungen/Krankheiten in der Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter andererseits nachweisen. Eine dieser Studien (Datenbank-Entry-Nr. 0012) stammt von der japanischen Wissenschaftlerin Ryoko Hattori.
Frau Hattori war den Ursachen von Autismus nachgegangen und hatte herausgefunden, dass bei Kindern, die in einem bestimmten Krankenhaus geboren wurden, auffällig oft eine autistische Erkrankung diagnostiziert wurde. Es stellte sich heraus, dass man in dieser Klinik routinemäßig die Wehen eine Woche vor dem erwarteten Geburtstermin künstlich einleitete und den Frauen zudem bei der Geburt "eine komplexe Mischung von Sedativa, Anästhetika und Analgetika" (Odent, 2002) verabreichte.
Im Resultat dieser Studie liegt eine wichtige Lektion: Künstliche Weheneinleitung und medikamentöse Eingriffe in den Geburtsverlauf sollten nach Möglichkeit vermieden werden (Odent weist darauf hin, dass sich die Effekte der Weheneinleitung und der Anästhesie in dieser Studie nicht auseinanderdividieren lassen), und wenn Medikamente erforderlich sind, sollten sie vorsichtig dosiert werden. Es hat keinen Sinn, sich Illusionen zu machen: Wir leben in einer völlig von Neurose durchsetzten Welt.
Ein grundsätzliches Problem bei der Geburt besteht darin, dass Menschen die schmerzvollen Erfahrungen ihrer frühen Geschichte in sich tragen (Arthur Janov doziert seit über dreißig Jahren darüber )3. Das gilt selbstverständlich auch für schwangere und gebärende Frauen. Eine Frau kann nicht schnell mal ihre Physiologie und Psyche verändern, weil sie gerade schwanger ist und die Geburt bevorsteht.
"Es hilft nichts, einer neurotischen Schwangeren zu sagen, dass sie Stress vermeiden soll, denn das kann sie ebensowenig tun, wie vor ihrer eigenen Physiologie davonlaufen. Unglücklicherweise gibt es keinen Willensakt, keine Motivation, keinen Grad von Aufrichtigkeit, der für sich allein die unvermeidlichen Wirkungen der Neurose der Mutter aufheben kann. Daher sind die Alternativen sehr begrenzt: eine Frau muss sich entweder voll und ganz mit ihrem eigenen Urschmerz auseinandersetzen, bevor sie ein Kind empfängt, oder ein sehr hohes Risiko eingehen, ihre Neurose an das Kind weiterzugeben. Der Versuch, ihre Neurose durch irgendeine neunmonatige Schnelltherapie zu beseitigen, während sie schwanger ist, wird die Dinge wahrscheinlich nur noch verschlimmern." [Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 100/101]
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Bei der Geburt, einem Vorgang, der es erfordert, sich ohne Hemmung und Abwehr auf ein körperliches Geschehen einzulassen, das laut Odent auf einer tieferen, subkortikalen, instinktgesteuerten Bewusstseinsebene abläuft, ist dieser frühe eingeprägte Schmerz mitsamt den physiologischen Abwehrmechanismen, die seiner Freisetzung entgegenwirken, oft ein erhebliches Hindernis. Wie Janov des öfteren betont, funktioniert die Abwehr des Körpers eher undifferenziert und global, sie unterscheidet nicht zwischen Urschmerz3 und gegenwärtiger Situation (Geburt) und so kann es sein, dass das Gehirn in der speziellen Geburtssituation, in der der Neokortex die Kontrolle zu verlieren droht, "Ausbruchsgefahr" (was den Urschmerz betrifft) registriert und in seiner undifferenzierten Verteidigungsanstrengung auch gegen die Wehentätigkeit Abwehrmaßnahmen aufbaut, was sich dann im Extremfall in einer chronisch angespannten Uterusmuskulatur ausdrückt. Die Folge wäre völlige schmerzhafte Verkrampfung der Gebärenden und eine Situation, in der "nichts mehr weitergeht" ("failure to progress"-Situation), sodass der Fetus nach und nach unter bedrohlichen Sauerstoffmangel geraten kann. Diese Abwehrmaßnahmen des Organismus werden umso intensiver sein, je weniger die Geburtsvorbereitung und die Geburtsatmosphäre geeignet sind, Angst zu reduzieren und Ausdruck zuzulassen, und umgekehrt umso geringer ausfallen, je weniger Angst im Spiel ist und je besser die Chance, auf das Geburtsgeschehen und den Geburtsschmerz instinktiv, hemmungslos und vielleicht sogar hysterisch zu reagieren.
Betrachtet man die Situation genauer, erkennt man, dass Schwangere und Gebärende leicht in Zwickmühlen geraten. Zum einen obliegt ihnen die Aufgabe, das werdende Leben auszutragen und auf die Welt zu setzen. Von ihnen wird - zu Recht - in zunehmenden Maß verlangt, dass sie sich der Bedeutung der frühen Lebensphasen bewusst sind und sich ungeachtet ihrer Vorbelastungen dementsprechend verhalten ("Rauche nicht, trinke nicht, habe keinen Stress, entspanne dich, gebäre ohne Medikamente, schütte genügend Oxytozin aus, binde und stille dein Kind"). Zum anderen aber finden sie bei der Geburt nicht die Bedingungen vor, die der in der spezifischen Situation gegebenen Notwendigkeit der Hemmungslosigkeit, des Ausdrucks und der Freisetzung gerecht werden würde. In den Kliniken wird von den Frauen in der Regel erwartet, dass sie sich kontrolliert, diszipliniert und tapfer verhalten, nicht hysterisch, laut und widerspenstig, und dass sie "neokortikal voll aktiviert" sind. Die typischen Parameter einer Klinikgeburt sind neokortikale Kontrolle, Überwachung und Steuerung. Mit anderen Worten unterscheidet sich eine Geburt im Krankenhaus erheblich von einer Geburt, wie sie nach Odents Beschreibung verlaufen würde, wenn eine gering neurotische Frau in intimer, zurückgezogener Sphäre gebären würde. Sie würde sich zurückziehen und "auf einen anderen Planeten" (auf eine andere Bewusstseinsebene) begeben.
"Der Schlüssel für die Wiederentdeckung der universellen Bedürfnisse von Frauen, die sich in den Wehen befinden, liegt darin, ein Phänomen zu interpretieren, dass einigen Müttern und Hebammen, die mit ungestörten Geburten Erfahrungen haben, wohl bekannt ist. Es ist die Tatsache, dass es, wenn eine Frau ohne Medikamente autonom gebärt, eine Phase gibt, in der sie eine offensichtliche Neigung zeigt, sich selbst von unserer Welt abzusondern, als begebe sie sich auf einen anderen Planeten. Sie wagt, was sie in ihrem täglichen sozialen Leben nie zu tun wagen würde, zum Beispiel schreien oder fluchen. Sie kann sich selbst in den unerwartetsten Haltungen wiederfinden, die unerwartetsten Laute von sich geben. Das bedeutet, dass sie die Kontrolle durch ihren Neokortex reduziert. Diese Reduzierung neokortikaler Aktivität ist von einem praktischen Gesichtspunkt aus betrachtet der wichtigste Aspekt der Geburtsphysiologie. Das lässt uns begreifen, dass eine gebärende Frau zuerst vor jeder Art von Stimulierung ihres Neokortex geschützt werden muss. Man kann es in Begriffe von Geboten und Verboten übersetzen: STIMULIERE NIE DEN NEOKORTEX EINER FRAU, DIE SICH IN DEN WEHEN BEFINDET!" [Übersetzt aus Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, s. 18/19]
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"Eine neurotische Mutter, die sich darauf einstellt, dem Schmerz "nachzugeben", erleichtert den Geburtsvorgang, und damit fallen einige Faktoren fort, die eine neurotisierende Wirkung auf ihr Kind haben könnten. Bei Frauen, denen bewußt ist, daß sie bei der Geburt vor Schmerzen schreien können und sollen, werden sich Schuldgefühle und innere Spannungen vermindern. Stattdessen werden Frauen jedoch aufgefordert, sich "tapfer" zu verhalten, "sich entsprechend ihrem Alter zu verhalten" usw. Sie geraten buchstäblich in eine "Double-bind"-Situation [..]. Sie empfinden das Bedürfnis, ihren Schmerzen durch Schreie Ausdruck zu geben, und zugleich bereitet es ihnen Schmerzen, daß sie die Äußerung des ursprünglichen Schmerzes unterdrücken müssen. Diese Unterdrückung verstärkt die Spannungen und intensiviert mithin das Geburtstrauma. Gerade die Schmerzensschreie würden Erleichterung und Entspannung bringen, der Gesamtschmerz würde geringer, erträglicher, und das wäre schon ein Vorteil. Zum Ausdruck gebrachter Schmerz kann besser verkraftet werden. Sich gegen den Ausdruck von Schmerz sträuben hat schädliche Folgen." [Janov, Das befreite Kind, Fischer Taschenbuch, 1977, s. 41]
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"Frauen kommen normalerweise zu mir, weil sie aus Angst vor Schmerzen wie gelähmt sind, und sie bezahlen mich dafür, daß ich ihnen eine Methode beibringe, die ihre Schmerzen mäßigen hilft. Keiner von uns ist je auf den Gedanken gekommen, daß Schmerzen ertragen werden könnten, wenn man ihnen Ausdruck verleiht. Ein Teil der Verkrampfung rührt nicht so sehr vom Schmerz her als vielmehr von der Angst, ihm Ausdruck zu verleihen. Ich weiß, wir werden es mit den Ärzten schwer haben, weil sie auf Medikamente zurückgreifen, sobald geschrien wird. Also müssen wir alle umlernen, und zwar grundlegend." [Patti Nicholas, Geburtsberaterin, zitiert in Janov, Anatomie der Neurose, FischerTaschenbuch 1976, s. 168]
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Einer optimalen Geburtsvorbereitung steht die Tatsache im Weg, dass Schwangerschaft und Geburt in den meisten westlichen Industriegesellschaften von der Apparate-Medizin kontrolliert wird und es viel zu wenige freie, selbstständige Hebammen gibt, die die Frauen während der Schwangerschaft und bei der Geburt intensiver betreuen könnten. Von den Hebammen wird verlangt, dass sie sich den Geburtsmedizinern unterordnen und sich in einem Metier, das schon in der Antike* Domäne der Frauen war, mit Nebenrollen zufriedengeben. Kurz gesagt liegt das Problem hier im System. Solange die Gesellschaft den Hebammen nicht wieder ihren ursprünglichen Status als freier, unabhängiger Stand zugesteht, wird sich an der unzulänglichen Schwangerenbetreuung wenig ändern. Eine Schwangere hat nicht viel von einer Hebamme, die im Auftrag des Gynäkologen eine Ultraschall-Untersuchung durchführt.
* Zur Geschichte der Geburtshilfe u. Geburtsmedizin siehe Rockenschaub, Gebären ohne Aberglauben, Facultas, Wien, 2001. Das Buch ist im Kern ein medizinisch-physiologisches Lehrbuch. |
Der Geburtsforscher Odent wendet sich in seinen Büchern immer wieder gegen die Vielzahl der Vorsorgeuntersuchungen, denen sich Schwangere heutzutage unterziehen sollen. Das Resultat ist seiner Ansicht nach eindeutig ein "Nocebo-Effekt", eine schädliche Wirkung auf den emotionalen Zustand der Schwangeren. Keine schwangere Frau scheint heute aufgrund der modernen Untersuchungsmethoden "ungeschoren" davonzukommen, mindestens eine schwere Sorge muss sie bis zur Geburt mit sich herumschleppen, zum Beispiel, dass ihr Blutdruck zu niedrig oder zu hoch sei, dass sie zu viel oder zu wenig an Gewicht zunehme, dass sie anämisch sei, dass sie eine Blutung erleiden könnte, weil die Zahl ihrer Bluttplättchen zu gering sei, dass sie Schwangerschaftsdiabetes habe, dass ihr Baby zu klein oder zu groß sei, und so weiter und so fort. Odent schließt die Auflistung mit der Frage: "Ist es da noch möglich, eine 'normale' Frau zu sein?"
"In einer idealen Welt sollte das Hauptaugenmerk von Ärzten und anderer Fachleute im Gesundheitswesen, die mit pränataler Vorsorge befasst sind, darauf gerichtet sein, die emotionale Verfassung schwangerer Frauen zu schützen. [.................] In derselben idealen Welt sollte sich die werdende Mutter von einer primären praktischen Frage leiten lassen: 'Was kann der Arzt für mich und mein Baby tun?' Wenn wir den normalen Fall einer Frau betrachten, die weiß, dass sie schwanger ist, und die in etwa weiß, wann die Empfängnis stattfand, sollte die bescheidene Antwort lauten: 'Nicht viel, außer dass er eine grobe Abnormalität entdeckt und eine Abtreibung anbietet.' [......................................] Zu den Bedürfnissen schwangerer Frauen gehören Geselligkeit und Gemeinschaftserlebnisse. Es ist leicht, dafür Gelegenheiten zu schaffen: Schwimmen, Yoga, vorgeburtliche Übungsstunden..... Ich erinnere mich noch gut an die Atmosphäre wachsender Glücklichkeit, die während der Gesangstreffen in der Entbindungsstation der Pithiviers-Klinik in Frankreich zustande kam. Diese Singstunden hatten wahrscheinlich mehr positive Wirkungen auf die Entwicklung der Babys im Mutterleib und auch auf den Geburtsprozess als eine Reihe von Ultraschall-Untersuchungen." [Übersetzt aus: Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, s. 112/119]
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Ein Beispiel eines Routinetests, auf den Odent näher eingeht, ist die Messung der Hämoglobinkonzentration. Aufgrund der Testergebnisse wird Millionen von schwangeren Frauen mitgeteilt, sie leiden unter Blutarmut, und man verschreibt ihnen Eisenpräparate. Tatsächlich aber nimmt das Blutvolumen schwangerer Frauen enorm zu, und die Hämoglobin-Konzentration zeigt lediglich den Grad der Blutverdünnung an, eine Wirkung plazentaler Aktivität. Odent schreibt, dass die Hämoglobin-Konzentration sogar unter den Wert 10,5 fallen müsse, weil sonst ein erhöhtes Risiko für niedriges Geburtgewicht, Frühgeburt und Präklampsie bestehe. Er weist darauf hin, dass die Eisenpräparate Nebenwirkungen haben können und außerdem die Zink-Aufnahme im Organismus behindern und die Produktion freier Radikaler begünstigen können, wodurch sich das Risiko für Präklampsie erhöhen könne.
Was eine Schwangere braucht, ist eine geburtserfahrene Begleiterin. (Im Idealfall eine fachkompetente Frau, die selbst auf natürliche Weise entbunden hat und charakterlich/psychisch in der Lage ist, einer Gebärenden mütterlichen Schutz zu gewähren). Mit anderen Worten geht es langfristig darum, die Geburtshilfe wieder in die Hände der Frauen zu legen. Die Aufgabe der Medizin in der Schwangerschaft und bei der Geburt sollte es sein, sich für die seltenen echten Notfälle bereit zu halten.
"Im Allgemeinen besteht die Rolle der Ärzte nicht darin, direkt an physiologischen Prozessen teilzuhaben. Ihre Rolle ist die des Experten für ungewöhnliche und pathologische Situationen." [Übersetzt aus Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, s. 132]
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Für Frau Hattori hatte die Untersuchung übrigens Folgen: Sie verlor ihren Arbeitsplatz. Das sollte nicht weiter verwundern. Wer das medizinische Establishment provoziert, darf mit keinerlei Toleranz rechnen. Was die moderne Medizin zu bieten hat, dient schließlich alles unserem Wohl und dem "Fortschritt". Es bleibt zu hoffen, dass Frau Hattoris Untersuchung auch für das betroffene Krankenhaus Folgen hatte, in dem Sinne, dass die verantwortlichen Mediziner von den beschriebenen Geburtspraktiken Abstand nahmen, die auch als "Universität- Kitasato-Methode" bekannt wurden.
Quellen: Michel Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004 Odent, Im Einklang mit der Natur - Neue Ansätze der sanften Geburt, Patmos/Walter, Düsseldorf, 2004
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DIE ATEMBERAUBENDE KARRIERE DER SECTIO CAESAREA
Eine Entwicklung, die einigen Leuten Atemprobleme bescheren könnte, hat die Kaiserschnitt-Geburt genommen. Wie Odent in seinem jüngsten Buch "The Caesarean" 2 ausführt, ist aus der ursprünglichen "großartigen Rettungsoperation" ein "Konsumgut" geworden. In Brasilien ist der Anteil der Kaiserschnitt-Geburt bereits auf über 50% angestiegen. Odent sagt, wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird sich die gleiche Statistik auch bald für viele andere Länder ergeben, für Indien, China, Taiwan, Thailand, Singapur, Südkorea, für die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder, aber vielleicht auch für die Türkei, für Griechenland, Spanien und Portugal. In den USA liegt die Quote bei 26%, in England, Frankreich, Schweiz, Ungarn, Australien und Neuseeeland liegt die Quote zwischen 20% und 25%. In Deutschland hat die Kaiserschnitt-Quote nach jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamts inzwischen die 25% - Marke überschritten. Es fällt auf, dass in allen Ländern, in denen die Sectio-Quoten in die Höhe schnellen, die Anzahl der ärztlichen Geburtshelfer die Zahl der Hebammen um ein Vielfaches übersteigt, bzw., dass dort die Hebammen nahezu völlig verschwunden sind. Es scheint, dass überall dort, wo männliches "Geburtshandwerk" ( Rockenschaub) sich ungehindert entfalten kann, der Kaiserschnitt langfristig unweigerlich zur Standardgeburt zu werden droht.
Theoretiker denken bereits über eine neue Dimension des Gehirnwachstums nach, da ja das Hindernis des engen vaginalen Geburtskanals durch die Kaiserschnitt-Technologie umgangen werden kann, sodass der Geburt von "Babys mit Riesengehirn" nichts mehr im Weg steht. Es ist vielleicht etwas einfältig, zu denken, ein größeres Gehirn sei gleichbedeutend mit höherer Intelligenz. Vermutlich schleppt jede(r) von uns bereits jetzt einen beachtlichen Haufen an Nervenzellen mit sich herum, die wir überhaupt nicht nutzen können, weil sie synaptisch unzureichend miteinander verknüpft sind. Es ist bekannt, dass das Gehirn in bestimmten kritischen Perioden in den ersten Jahren nach der Geburt die Vernetzung seiner Zellen organisiert. Welche Bereiche in welchem Ausmaß synaptisch verknüpft werden, hängt von der Umwelt ab, genauer gesagt, vom emotionalen Engagement, das die Bezugsperson (die Mutter) ihrem Kind entgegenbringen kann (Siehe hierzu Allan Schore5 und andere).
Kurz gesagt ist eine sichere Mutter-Kind-Bindung in der Regel der Garant für ein in vielerlei Hinsicht helles Köpfchen. Und in diesem Punkt könnten Kinder, die durch geplanten Kaiserschnitt (bei dem die Stimulierung des fetalen Systems durch Wehen völlig unterbleibt und auch keine fetale und mütterliche Hormonausschüttung zustandekommt) zur Welt kommen, im Nachteil sein, weil die Möglichkeit einer geburtshormonell induzierten und fundierten Mutter-Kind-Bindung nicht gegeben ist. Es könnte auch sein, dass die Wehen eine Art Startrampe für wichtige neuroendokrine Systeme bedeuten, zum Beispiel für das Dopaminsystem. Wenn die Stimulierung des Nervensystems durch die Wehen ausfällt, könnte das vielleicht Auswirkungen auf die spätere Fähigkeit haben, sich zu konzentrieren und beharrlich an einem Projekt zu arbeiten. Alles in allem sollte es nicht verwundern, wenn der evolutionsbeschleunigende Schuss mit der Kaiserschnitt-Kanone voll nach hinten losgeht.
Auch im deutschsprachigen Raum entscheidet sich eine zunehmende Zahl von Frauen ohne medizinische Indikation für eine Sectio, nachdem eine zunehmende Zahl von Medizinern die Wunschsectio in ihr "Standardprogramm" aufgenommen hat. Natürlich gibt es medizinische Indikationen, die eine Sectio zwingend erforderlich machen. Aber diese Fälle sind sehr selten. Odent nennt unter anderem die plazenta praevia (die Plazenta versperrt den Ausgang) oder die Querlage des Fetus. In diesen Fällen besteht keine Chance auf eine vaginale Geburt. Meistens aber geht es um "debatable indications", um strittige Indikationen, zum Beispiel bei Steißlagen. Bei diesen verkehrten Kindslagen gibt es heute kaum noch Geburtsmediziner, die die Verantwortung einer vaginalen Entbindung auf sich nehmen wollen. (Wie ich aus gewissen Anmerkungen Odents und aus Kommentaren auf Internet-Seiten schließe, ist die Angst vor Gerichtsprozessen ein wesentlicher Faktor, der zu Verkrampfung und Verspannung in der aktuellen klinischen Geburtssituation beiträgt. Odent weist darauf hin, dass die Geburt ein natürlicher Vorgang ist, der manchmal furchtbar schieflaufen kann. Es ist nicht so, dass im Fall von Komplikationen immer ein Verschulden von Geburtshelfern vorliegen muss. Das ist ein Punkt, über den sich "Konsumenten" medizinischer Dienstleistungen im Klaren sein müssen).
Die laut Odent weitaus häufigste strittige Indikation und der Hauptgrund für eine Sectio innerhalb der Wehen ist "failure to progress" (wörtlich: "Das Versagen/ Misslingen/Scheitern, fortzuschreiten/ voranzukommen/weiterzumachen") und eng damit verknüpft der "foetal distress", die Notlage des Fetus.
"Die meisten Fälle
des 'failure to progress' stehen mit der gegenwärtigen weitverbreiteten
falschen Auffassung der Geburtsphysiologie in Beziehung. Es wird
Jahrzehnte dauern, bis man wiederentdeckt, dass Menschen Säugetiere sind,
und dass das basale Bedürfnis gebärender Säugetiere Zurückgezogenheit
ist. Es wird Jahrzehnte dauern, bis man erkennt, dass eine Hebamme
ursprünglich eine Mutterfigur war, das heißt, die Art von Mensch, bei
dem man sich sicher fühlt, ohne sich beobachtet und beurteilt zu fühlen.
Im gegenwärtigen Kontext wäre es gefährlich, eine Reduktion der
Kaiserschnittquote als primäres Ziel festzulegen. Der unmittelbare
Effekt wäre, dass sich die riskanten Interventionen auf der vaginalen
Route vervielfachen und dass sich die Zahl der Babys erhöht, die in die
Kinderheilkunde überwiesen werden müssen. Inzwischen müssen wir
akzeptieren, dass die meisten Kaiserschnitte im Zeitalter der
industrialisierten Geburt unvermeidlich sind und dass 'failure to
progress' die häufigste Indikation ist."
[Übersetzt aus: Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, s. 76/77] |
Odent steht mit seiner Einschätzung, dass die meisten Kaiserschnitte heute unvermeidlich seien, in deutlichem Widerspruch zu Rockenschaub, der auch heute noch eine Sectio-Rate von 1% für angemessen hält (Zu Rockenschaub weiter unten im Text). Odent nennt hier bereits einen seiner Ansicht nach wesentlichen Grund für die häufige 'failure to progress' - Situation: die nicht verstandenen physiologischen Bedürfnisse gebärender Frauen. Ein weiter Grund für die Probleme, die Frauen bei der Geburt haben, scheint Neurose zu sein. So schreibt Janov in der Einleitung einer längeren Fallgeschichte:
"Sams Mutter war frigide. Der Brennpunkt eines Großteils ihrer Spannung lag im unteren Mittelbereich ihres Körpers. Als sie gebar, öffnete sich ihr widerwilliges System schließlich doch. Sam kämpfte viele Stunden, um herauszukommen und hatte schließlich Erfolg. [Übersetzt aus: Janov, Why you get sick - How you get well, Dove Books, West Hollywood, CA, 1996, s. 55/56]
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Eine normale Geburt mit ihren Wehen und ihrem "Hormonmix" bereitet das System des Babys (und der Mutter) angemessen auf den neuen extrauterinen Lebensabschnitt vor. Bei einem Kaiserschnitt, der durchgeführt wird, bevor die Wehen überhaupt eingesetzt haben, scheint etwas Wesentliches zu fehlen, und es sollte nicht verwundern, wenn viele dieser Individuen als Kinder und Erwachsene in bestimmten Bereichen signifikant mehr Probleme aufweisen als Normalgeborene. In einem auf der Internetseite geburtskanal (unter Aktuelles, "Zur Renaissance der Geburtshilfe") veröffentlichten Interview geht Prof. Alfred Rockenschaub, ehemaliger Chefarzt der Ignaz-Semmelweis-Klinik in Wien und Buchautor, mit der heutigen Geburtsmedizin hart ins Gericht. Er hält eine Kaiserschnittquote von circa 1% für angemessen. ((Die Quote, die die Semmelweis-Klinik unter seiner Leitung (1965-1985) bei einer Gesamtzahl von rund 45.000 Geburten aufweisen konnte)). "Was darüber hinausgeht, ist gemacht" (Rockenschaub). Er deutet einen Zusammenhang zwischen der modernen Geburtstechnologie und Phänomenen der Gegenwarts-Gesellschaft an: "Bemerkenswerterweise ist, seit die Kaiserschnittrate so offensichtlich anstieg, die Zahl der pädagogisch einer Sonderförderung bedürftigen Schulanfänger um ein Drittel angestiegen!" Das ist aber vorerst Spekulation. Eine genaue Untersuchung müsste zeigen, ob Zusammenhänge zwischen Lern- und Verhaltensstörung und Geburtsverlauf bestehen.
Bemerkenswert ist auch, dass Rockenschaubs exzellente Bilanzen an der Semmelweis - Klinik in Wien ( mit einem Minimum an künstlichen Eingriffen in den Geburtsverlauf) nach seinen eigenen Angaben darauf zurückzuführen ist, dass er die amtierenden Oberärzte "vergraulte" und alle Hebammen auf seiner Seite hatte: "Es war irgendwie erquickend und zugleich erschütternd, wie man mit ein paar klugen und geschickten Hebammen ein halbes Dutzend geburtsmedizinisch indoktrinierter Kliniker ins Leere laufen lassen kann - und dies noch dazu nur zum Vorteil der Gebärenden." (Rockenschaub). Eine wichtige Lehre daraus könnte sein, dass Frauen für die Geburtshilfe grundsätzlich besser geeignet sind und bessere Ergebnisse erzielen als Männer, und das sogar ohne mehrjähriges akademisches Studium. So erbrachte eine kalifornische Studie, die von 1959-1966 in einer ländlichen Gegend (Madera County) durchgeführt wurde, folgendes nur scheinbar verblüffendes Ergebnis: Säuglingssterblichkeit in der Bevölkerungsgruppe, in der die Schwangeren ausschließlich von Gynäkologen und ärztlichen Geburtshelfern betreut wurden: 32,1 je 1000; vorzeitige Entbindungen in dieser Gruppe: 9,8%; in der ausschließlich von Allgemeinmedizinern betreuten Gruppe: 23,9 je 1000 und 11%; in der ausschließlich von Hebammen betreuten Gruppe: 10,3 (!) je 1000 und 6,4% (!). Eine Reihe weiterer Studien (auch ein Vergleich zwischen dem "Ärztebezirk" Wien IX und dem dünn besiedelten Osttirol) bestätigt dieses Resultat. (Quelle: Rockenschaub, Gebären ohne Aberglaube, Facultas, Wien, 2001, s. 11 und s. 35).
Rockenschaub bietet für dieses Phänomen folgende Erklärung an: Geburtsmediziner neigen wesentlich schneller als Hebammen dazu, eine fetale Notsituation zu diagnostizieren und die Schwangerschaft vorzeitig durch operativen Eingriff zu beenden. ( Angst vor Gerichtsprozessen?). Folglich steigt die Quote der vorzeitigen Entbindungen und, da einige der Säuglinge diesen künstlichen Eingriff nur kurzfristig überleben, auch die Quote der Säuglingssterblichkeit. Wäre die von den Ärzten gestellte Diagnose einer fetalen Notlage in den meisten Fällen zutreffend, dann könnte man erwarten, dass in der von Hebammen betreuten Schwangerengruppe die Säuglingssterblichkeit deutlich über der Quote der von Ärzten betreuten Gruppe liegt, da Hebammen ja nicht befugt sind, operativ (Sectio) zur Beendigung des 'fetal distress' einzugreifen, und somit ein wesentlich höheres Risiko hätten, tote Babys zu "produzieren". Aber das Gegenteil ist der Fall: Hebammen erzielen eine Quote, die deutlich niedriger ist als die der Mediziner. Den Gesetzen der Logik zufolge bleibt nur der Schluss, dass es sich bei den vermuteten akuten fetalen Notlagen in den meisten Fällen um Fehldiagnosen handelt und dass die künstlichen Eingriffe die Ursache für die höhere neonatale Mortalität sind.
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In Odents Datenbank befindet sich eine Reihe von Untersuchungen, die folgende statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Geburtsphänomenen, Geburtseingriffen und späteren Störungen nachweisen. Bei folgenden Studien sind auch Schnittentbindungen involviert:
Datenbank-Entry-Nr. 0293: Niedriges Geburtsgewicht/Kaiserschnitt Atmungsprobleme bei Säuglingen (nicht näher beschrieben); (siehe Studie Nr. 35 in der Studiensammlung); 0314: Kaiserschnitt, Vakuumextraktion, andere Eingriffe Asthma im Kindesalter; (siehe Studie Nr. 32 in der Studiensammlung) 0326: Kaiserschnitt Asthma bei Erwachsenen; (siehe Studie Nr. 32 in der Studiensammlung); 0420: Kaiserschnitt/Vakuum/Zange Asthma/allergische Nasenschleimhautentzündung im Erwachsenenalter; (siehe Studie Nr. 34 in der Studiensammlung); 0442: Kaiserschnitt Asthma im Kindesalter; (siehe Studie Nr. 33 in der Studiensammlung); 0446: Kaiserschnitt Lebensmittelallergie bei Kindern, deren Mutter allergisch vorbelastet ist; ( siehe Studie Nr. 38 in der Studiensammlung); (siehe hierzu auch die weiter unten erwähnte Studie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Nr. 37 in der Studiensammlung);
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Was sich aus diesen wenigen Studien bis jetzt klar herauskristallisiert, ist, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Kaiserschnitt-Geburt und dem verstärkten Auftreten von Atemwegsproblemen. Wie Odent anmerkt, unterscheiden diese Studien leider nicht zwischen einer Sectio ohne Wehen und einer Sectio mit Wehen. Odents Vermutung geht dahin, dass ein geplanter Kaiserschnitt ohne Wehen wesentlich häufiger Atemprobleme nach sich zieht als eine Sectio mit Wehen bzw. eine Vaginalgeburt. Er weist darauf hin, dass man heute davon ausgeht, dass der Fetus an der Einleitung der Wehen beteiligt ist. Eine wahrscheinliche Möglichkeit sei, dass er eine Signal-Substanz in die Amnionflüssigkeit absondere, die anzeige, dass seine Lungen reif sind. Außerdem, so sagt er, leisten die während der Wehen abgesonderten fetalen und mütterlichen Hormone wahrscheinlich einen wichtigen letzten Beitrag zur Reifung der Lungen.
Die folgenden Zitate verschiedener Autoren sollen verdeutlichen, dass eine Kaiserschnitt-Geburt, vor allem eine geplante, bei der dem Kind keine einzige Wehenkontraktion zugestanden wird, eine Reihe von Problemen nach sich ziehen kann:
"Es könnte den Anschein haben, als wäre die Geburt durch Kaiserschnitt die leichteste und am wenigsten traumatische Art, geboren zu werden, da das Kind nicht die Härten zu langer Wehen oder eines engen Geburtskanals zu überstehen braucht, sondern einfach herausgehoben wird. Leider haben wir festgestellt, dass Traumata, die das Kind bei einem Kaiserschnitt erleidet, zwar anders, aber keineswegs leichter sind als die Traumata, die bei einer schwierigen Entbindung durch den Geburtskanal auftreten. [.............] Wenn es zu keinen Kontraktionen kommt - und ein für den Arzt oder die Mutter passendes Entbindungsdatum festgesetzt wird -, versäumt das Kind den ganzen Kontraktionsprozess. Wir wissen nun, dass die Kontraktionen ein wichtiges Entwicklungsstadium des Kindes einleiten und das periphere Nervensystem stimulieren, das Impulse an das Gehirn weiterleitet und letzten Endes alle wichtigen Systeme beeinflusst. Ohne diesen Prozess kann das Nervensystem nur unzulänglich aktiviert werden, was unter Umständen Folgen für die spätere Entwicklung des Kindes hat. Wie schon früher erwähnt, gibt es kritische Zeiten in der Entwicklung des Gehirns, in denen es gewisse Reize empfangen muss, um richtig zu wachsen. Kritische Zeiten, das muss hervorgehoben werden, denn die massive Stimulation und die Kompression, die durch die Uteruskontraktionen hervorgerufen werden, sind zu diesem, und nur zu diesem, Zeitpunkt notwendig. Keine spätere Art von Stimulation und Kompression kann diesen Mangel in der Entwicklung ausgleichen. Ein weiters subtiles Trauma tritt in Verbindung mit dem Kaiserschnitt auf. Das Fruchtwasser hat "oberflächenaktive Eigenschaften", die es zum Schäumen bringen können, wenn das Kind zu atmen beginnt. Obwohl nicht offen sichtbar sein mag, dass das Kind am Ersticken ist, können seine Lungen tatsächlich voll Schaum sein. Das kommt gewöhnlich bei normalen Geburten nicht vor, weil die Kontraktionen während der Wehen der Mutter eine Art Massage ausüben, die die Flüssigkeit aus den Lungen des Kindes treibt. Bei einem Kaiserschnitt dagegen muss die verstopfte Luftröhre des Kindes vom Arzt mechanisch geöffnet werden. Geschieht das nicht augenblicklich, kann das Kind aus Sauerstoffmangel zu ersticken beginnen und blau werden." [Janov, Frühe Prägungen, Fischer, 1984, s.107/108]
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"Bei richtiger Vorbereitung und ausreichender Gesundheitsvorsorge während der Schwangerschaft ist die Geburt in der Regel ein durchaus natürlicher Vorgang, sofern das Baby vollständig ausgetragen ist. Tatsächlich spricht manches dafür, dass die vielfältigen Stresssituationen einer vaginalen Geburt dem Baby sogar guttun - es wird auf diese Weise meist besser auf das Leben außerhalb des Uterus vorbereitet als ein Baby, das durch Kaiserschnitt zur Welt kommt. Eine Kaiserschnittgeburt torpediert den Vorbereitungsprozess - die wiederholten Stimulationsphasen aufgrund der Wehen finden nicht statt. Erst künftige Forschungsarbeiten werden uns zeigen, welche Auswirkungen die jeweiligen Geburtsarten auf die weitere Entwicklung des Neugeborenen haben, vielleicht sogar bis ins Erwachsenenalter. Es könnte sich zeigen, dass die Wehen noch weitere Aufgaben erfüllen als lediglich die Austreibung des Babys durch den Gebärmutterhals und in medizinischer Hinsicht nicht minder geheimnisvoll sind." [Nathanielsz, Leben im Mutterleib, List, 1995, s. 217]
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"Macht man sich die Mühe, die Schwangeren auf natürliche Geburten einzustellen, bedarf es in je 100 Geburten eines Kaiserschnitts, zweier Extraktionen und einiger Episiotomien. Wie kommt es nun, dass in den modernen Gebärkliniken die Frequenz der Kaiserschnitt- und Zangenentbindungen zwischen 20% und 50% beträgt? Mehr als 90% dieser Operationen erfolgen aufgrund der Annahme oder Vorgabe einer kindlichen Indikation. Oft wird zur Unterstützung der vagen kindlichen eine ebenso vage mütterliche Indikation beigefügt. Alle diese Indikationen sind so vage, dass jene, die sich ihrer nicht bedienen, die besseren Resultate aufzuweisen haben. Wieso? Auf der einen Seite ist das Schicksal tatsächlich gefährdeter Kinder durch eine Kaiserschnitt-Entbindung kaum einmal zu beeinflussen. Denn entweder sind die als gefährdet eingestuften Kinder so wohlauf, dass ein Kaiserschnitt nicht notwendig gewesen wäre; oder sie sterben so unvermittelt ab, dass sie bereits tot sind, bevor der Kaiserschnitt vollziehbar ist. Da ein Kind, das eine Schnittentbindung überlebt, nicht gefährdet war, und ein toter Fetus diese ausschließt, ist der Kaiserschnitt aus fetaler Indikation eine hinfällige Rettungsaktion. Auf der anderen Seite bringt die Kaiserschnitt-Entbindung an sich für das Kind zwei beachtliche Nachteile mit sich: Erstens ergibt bei der allgemein üblichen Technik der Schnitt im Uterus eine Öffnung, deren Durchmesser 9 cm kaum überschreitet, sodass der Durchtritt des Kopfes keineswegs als schonend betrachtet werden kann. Zweitens ist die vor dem Kaiserschnitt stattfindende Wehentätigkeit oft viel zu kurz, als dass eine entsprechende Umstellung des fetalen Anpassungssystems für die neonatalen Erfordernisse gewährleistet wäre. Während also auf der einen Seite wirklich bedrohte Kinder durch eine Kaiserschnittentbindung kaum einmal zu "retten" sind, bringt auf der anderen Seite die Kaiserschnittentbindung an sich auch für das Kind ernstzunehmende Nachteile mit sich. Beim derzeitigen Stand unseres Wissens stellen die Fehldiagnosen und fetalen Belastungen durch die Kaiserschnittentbindung hinsichtlich des Säuglingstodes ein höheres Risiko dar als die Gefahren, die man mit ihnen zu beheben vorgibt." [ Rockenschaub, Gebären ohne Aberglaube, Facultas, Wien, 2001, s. 462/463]
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"Die Uteruskontraktionen dienen auch dazu, die Haut des Säuglings zu stimulieren. Es gibt Beweise dafür, das dies äußerst wichtig ist. Es wird angenommen, dass ohne diese Stimulation das gastrointestinale, das urogenitale und das respiratorische System nicht voll funktionieren können. [.................] Daher erhalten Frühgeburten (die normalerweise nach kurzen Wehen geboren werden) oder Säuglinge, die durch einen Kaiserschnitt zur Welt kommen, weniger Stimulationen. Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Kinder mehr Schwierigkeiten beim Atmen haben und später unter größeren Schwierigkeiten ihre Blase und die Schließmuskeln kontrollieren lernen." [Patti Nicholas, Geburtsberaterin, in Janov, Anatomie der Neurose, Fischer Taschenbuch, 1974, s. 163/164]
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"Es gibt eine
Reihe von Daten, die bestätigen, dass ein durch Kaiserschnitt
geborenes Baby (besonders ein Baby, das nach einem Kaiserschnitt ohne
Wehen auf die Welt kam) sich im Allgemeinen von einem Baby unterscheidet,
das vaginal geboren wurde. Die Lungen und das Herz funktionieren nicht auf
dieselbe Weise. Die Glukose-Spiegel sind tendenziell niedriger. Babys, die
durch Wunschkaiserschnitt geboren wurden, tendieren in den ersten 90
Minuten nach der Geburt zu einer niedrigeren Körpertemperatur, verglichen
mit Babys, die auf vaginalem Weg oder durch einen Kaiserschnitt innerhalb
der Wehen geboren wurden."
[Übersetzt aus Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, s. 67/68] |
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"Solange
der Stress nicht exzessiv ist, sind Stresshormone sowohl während als auch
nach der Geburt hilfreich. Kaiserschnitt-Babys, denen der natürliche
Geburtsprozess vorenthalten wurde, haben im späteren Leben tendenziell
weit mehr Probleme mit dem Atmungssystem. Bei der Geburt unterstützen die
Katecholamine die Absorption von Lungenflüssigkeit und helfen, die
Alveolen der Lunge zu reinigen. Einige Patienten, die die Geburt
wiedererleben, erbrechen so viel Flüssigkeit, dass man mehrere Tassen
damit füllen könnte. Ihre Reinigungsmechanismen sind offensichtlich
defekt und zeigen ein mögliches Geburtstrauma an."
[Übersetzt aus: Janov, Why you get sick-How you get well, Dove Books, West Hollywood, CA., 1996, s. 36] |
Eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität in München unter Leitung von Dr. Sybille Koletzko an 865 Neugeborenen, die alle vier Monate lang gestillt wurden und deren Eltern alle unter einer Allergie litten, führte zu dem Ergebnis, dass die durch Kaiserschnitt entbundenen Kinder ein um annähernd 50% erhöhtes Risiko für Durchfallerkrankungen und ein um mehr als 100% höheres Risiko für eine Lebensmittelallergie gegenüber den vaginal geborenen Babys hatten.
Studie erwähnt unter: http://www.allergietherapie.de/texte/laien/pe/2004/
Ursprüngliche Quelle: Sybille Koletzko
et al., "Caesarean section and gastrointestinal symptoms,
atopic dermatitis, and sensitisation during the first year of life",
Archives of
Disease in Childhood, 2004; 89: s. 993-997; |
Die Wissenschaftler sind der Überzeugung, dass der beim Kaiserschnitt fehlende Kontakt mit mütterlichen vaginalen Bakterien, die bei der normalen Geburt während der Passage durch den Geburtskanal auf das fetale System übergreifen und die Darmflora des Babys widerstandsfähiger machen, die Ursache für die auftretenden Nachteile bei den Sectio-Kindern sind.
Man muss sich deutlich vor Augen halten, was diese Resultate aussagen: Deprivation (auch wenn es sich hier "nur" um vorenthaltene mütterliche Bakterien handelt) in einer kurzen kritischen Periode hat beachtliche Langzeitfolgen, ein Prinzip, das für alle frühen Lebensphasen und Bedürfnisse gilt. Wenn die Vorenthaltung mütterlicher Bakterien solche Wirkungen nach sich zieht, welche Langzeiteffekte hat dann vielleicht die Versagung mütterlicher Wehen?
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Über die psychischen Auswirkungen von Kaiserschnitt-Geburten finden sich bei Janov folgende Angaben:
1) Patienten, die ihre Geburt wiedererleben, versuchen durch Umsichschlagen und wilde Bewegungen, ein "Entwicklungsdefizit auszugleichen" oder "die biologische Deprivation zu fühlen, die sie erlitten, als ihnen die Kompressionen der normalen Geburt vorenthalten wurden." 2) Viele Patienten "haben das Gefühl, sie müßten an den Ausgangspunkt zurückkehren, um sich vollständig zu fühlen. Sie haben ein allgemeines Gefühl der Unvollständigkeit- daß nichts im Leben 'geregelt' ist." 3) Viele sind unfähig, "unerwartete Änderungen hinzunehmen. Die Änderungen von Plänen aller Art löst übertriebenen Zorn und Angst aus." 4) Ein generalisiertes Gefühl des Unheils, "Konservatismus und ein Abscheu vor plötzlichen Veränderungen aller Art." Angst, Neues auszuprobieren. [Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 109/263/267/281]
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Dem Geburtsforscher Odent ist an Brasilien, "einem Land, in dem die Kaiserschnittquoten in die Höhe schießen und die Pro-Kaiserschnitt-Mentalität alldurchdringend geworden ist" [Odent, 2004], zum einen aufgefallen, dass ein enormer staatlicher Aufwand (durch Gesetzgebung als auch durch Medienkampagnen) betrieben wird, um das Stillen der Babys zu fördern. Seine Vermutung aus einer "physiologischen Perspektive" geht dahin, dass in einer Kaiserschnitt-Kultur Müttern längerfristiges Stillen nicht leicht fällt. Tatsächlich ergab eine Umfrage, dass gerade jene weiblichen Gesundheitsexpertinnen, deren spezielle Aufgabe es ist, den Müttern ausschließliches Stillen für mindestens sechs Monate zu empfehlen, im Schnitt selbst nur 98 Tage stillten. Eine andere Umfrage in Nordost-Brasilien ergab, dass die Frauen im Durchnitt bereits nach 24 Tagen anfangen, ihre Babys (zusätzlich oder ausschließlich) mit 'anderer' Milch zu füttern. Ein anderes Detail der erstgenannten Umfrage war, dass unter den Akademikerinnen im Brasiliens Gesundheitswesen die Sectio-Quote satte 85,7% (!!) beträgt.
Zum anderen fiel ihm auf, dass in Brasilien in den letzten 10 Jahren die Anzahl der plastischen ('Schönheits'-) Operationen jährlich um 10-20 Prozent zugenommen hat. (Auch in China, einer anderen Kaiserschnitt-Hochburg, sind die Leute laut Information einer TV-Nachrichtensendung zunehmend auf solche 'plastischen Korrekturen' versessen). Eine brasilianische Umfrage unter 346 normalgewichtigen Männern und Frauen brachte an den Tag, dass 50% der Befragten mit ihrem Körper unzufrieden waren und dass sich 67% der Frauen und 28 % der Männer gerne einer plastischen Operation unterziehen würden. Kommentar der Psychologin, die die Untersuchung initiierte: "Einige von ihnen laufen von Arzt zu Arzt....aber sie sind nie mit ihrem Aussehen zufrieden." Odents Frage: "Ist das ein Ausdruck der weitverbreitet geschwächten Fähigkeit zur Selbstliebe?" Man könnte weiter fragen: Versuchen diese Individuen, im Nachhinein symbolisch den Liebesmangel auszugleichen, der ihnen in einer kritischen Periode am Lebensanfang widerfahren war? Versuchen sie, "ein allgemeines Gefühl der Unvollständigkeit" zu beheben, wie bei Janov beschrieben? Die implizite Hoffnung mag sein: "Nach der Schönheitsoperation werde ich endlich geliebt." Versuchen diese Individuen letztendlich symbolisch, durch eine zweite (jetzt plastische) Operation die defizitären Folgen einer ersten Operation (Sectio) zu egalisieren? Es wird ein endloses Unterfangen sein, da sich in frühen kritischen Perioden Versäumtes später kaum nachholen lässt. Und so kann es nicht verwundern, dass diese Menschen von Arzt zu Arzt rennen, ohne je zufrieden zu sein. Die einzige Alternative wäre, in die Vergangenheit (auf eine tiefere Bewusstseinsebene) zurückzukehren und den Schmerz der Deprivation zu fühlen.
Odents Datenbank wächst von Jahr zu Jahr. "Primärforschung" als eine Wissenschaft, die frühe Erfahrungen und deren mögliche Langzeitwirkungen untersucht, ist ein relativ junges Forschungsfeld. Odent steht unter dem Eindruck, dass Studien, die die Geburt betreffen, gegen die "political correctness" verstoßen und in der wissenschaftlich-medizinischen Welt oft auf starken Widerstand oder auf Desinteresse stoßen, wohingegen Untersuchungen, die sich auf die pränatale Phase konzentrieren, in der Regel problemlos akzeptiert werden. Das sollte nicht weiter verwundern, zumal bei der Geburt Ärzte, Geburtshelfer, Kliniken viel stärker involviert sind als in der Phase der Schwangerschaft. Es geht hier um das Image der modernen Medizin. Unter diesem Gesichtspunkt macht es einen Sinn, wenn versucht wird, solche Studien abzublocken oder ins Leere laufen zu lassen. Keine Klinik, kein Arzt möchte einen Beleg präsentiert bekommen, der Zusammenhänge zwischen ihren/seinen Geburtspraktiken und dem verstärkten Auftreten bestimmter Symptome nachweist. Das Problem - nicht nur bei der Geburt - besteht darin, dass in natürliche Abläufe eingegriffen wird, ohne dass ein ausreichendes Wissen darüber vorhanden ist, ob mit Langzeitfolgen zu rechnen ist oder nicht und wie beschaffen diese Folgen sind. Das alles geschieht entweder in dem Glauben, dass "menschliche Intelligenz" der "natürlichen Intelligenz" haushoch überlegen ist und dass deshalb alle Eingriffe nur zum Besten der Menschheit und des gesamten Planeten sein könnten, oder es entspringt einer hochgradig egoistischen, kurzsichtig-profitorientierten und bequemen "Nach-uns-die-Sintflut"- Haltung.
Es gibt Skeptiker, die mutmaßen, dass wir uns mit unseren "gekonnten" Eingriffen in natürliche Prozesse und Lebensräume letztlich unser eigenes Grab schaufeln. Neurotische Gesellschaften neigen dazu, alles im Übermaß zu betreiben, weil ihre Mitglieder nahezu permanent damit beschäftigt sind, die Löcher zu füllen, die frühkindliche Deprivation gegraben hat. Neurotische Gesellschaften tragen das Potential zu ihrer eigenen Zerstörung in sich, aber in ihnen liegt auch die Macht, von Grund auf gesunde und langfristig überlebensfähige Individuen hervorzubringen. Janov spricht von einem Konflikt zwischen den "realen" und den "irrealen" Kräften einer Gesellschaft, und er lässt die Frage offen, wer schließlich den Sieg davontragen wird. Fest steht aber, dass die "Irrealen" eine imposante Übermacht aufweisen können, und dass die "Realen" vor der schwierigen Aufgabe stehen, diesen im wahrsten Sinn des Wortes "ver-rückten", asymmetrischen Zustand in Richtung einer größeren Ausgeglichenheit zu verändern.
"Die Menschheit nähert sich dem Zeitpunkt, da es entweder eine reale Welt oder keine Welt mehr geben wird. Ich glaube, es besteht eine Chance für diese reale Welt; und das ist kein utopischer Glaube[...........]. Die realen Elemente der Gesellschaft werden sich zusammenschließen, um die Veränderung hervorzubringen, doch das unreale System, darauf bedacht, sie zu vernichten, wird sich ihnen unweigerlich entgegenstellen[...........]. Sind diejenigen, die an der Macht sind, die das unreale System kontrollieren, grausam und böse? Wollen sie wirklich Smog und Krieg ? Das zu bejahen, hieße, ein soziales Problem zu psychologisieren. Die Politik der Rüstungs- und Ölindustrie bleibt die gleiche, wer auch immer ihre Vertreter sein mögen[..........]. Es geht nicht darum, Kopf und Verstand der Menschen zu ändern, ebensowenig wie es darum geht, Kopf und Verstand eines Drogenabhängigen zu ändern, damit er Drogen als Übel betrachte. Es geht vielmehr darum, ein all dem zugrunde liegendes System zu verändern. Um es zusammenzufassen: Neurose ist aus einem Guß. Sie bestimmt nicht nur das innere Leben, sondern formt auch die soziale Philosophie eines Menschen. Nur eine Änderung dieser inneren Verfassung schafft die Basis für eine Veränderung sozialer Zielsetzungen; und das ist die Hoffnung - die Umwandlung der Mitglieder einer Gesellschaft ist unausweichlich die Umwandlung dieser Gesellschaft. Diese Welt liegt innerhalb unserer Reichweite, denn in einer unrealen Gesellschaft ist die einfache Wahrheit revolutionär." [Janov, Revolution der Psyche, Fischer, Frankfurt, 1976, s. 280 - 293]
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Es ist durchaus angebracht, sich über die Merkmale und Eigenheiten einer nicht länger fiktiven Population Gedanken zu machen, in der die überwiegende Mehrheit durch einen geplanten Kaiserschnitt geboren wurde. Wenn man die Hinweise aufgreift, die Janov in seinen Büchern gibt, und die Fakten zur Hand nimmt, die Odent in seiner Datenbank und seinen Büchern anbietet, unter anderem auch die, dass Frauen, die durch Kaiserschnitt geboren wurden, ein sechsfach höheres Risiko haben, bei der Geburt ihrer eigenen Kinder auf dem vaginalen Weg zu scheitern und nur durch Kaiserschnitt entbinden zu können, und auch die, dass männliche Englische Bulldoggen (eine Rasse, die zu über 90% per geplante Sectio geboren wird) zeugungsunfähig sind, sodass der Fortbestand der Rasse nur durch künstliche Befruchtung gewährleistet werden kann, dann ist die Vision eines kränkelnden, schwächelnden depravierten, lieblosen, leidenden Volkes, das innerhalb weniger Generationen am Rand der Selbstauslöschung steht, vielleicht gar nicht so absurd. Man könnte zynisch werden und sagen, dass Brasilien, China, Indien und andere Staaten mit dem systematischen, geplanten Kaiserschnitt jetzt endlich eine zuverlässige Methode gefunden haben, um der Bevölkerungsexplosion langfristig endgültig Herr zu werden, aber die durchaus realistischen Qualen depravierter Individuen, die vielleicht ihr gesamtes Leben lang mit dem Versuch beschäftigt sind, die Defizite ihrer Sectio-Geburt und des daraus vielleicht resultierenden mangelhaften 'Bondings' auszugleichen, lassen jeden Ansatz von Zynismus unangemessen erscheinen.
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ODENTS REVOLUTION UND SEINE REFORMVORSCHLÄGE FÜR DIE GEGENWART UND UNMITTELBARE ZUKUNFT
A) Die Reformvorschläge
Vorauszuschicken ist, dass die aktuelle deutsche Geburtskultur eine nahezu reine Klinik-Kultur ist. 98 Prozent aller Geburten finden in Kliniken statt. Vermutlich variieren die Bedingungen, die Schwangere für die Geburt vorfinden. Es lohnt sich für werdende Eltern, hier eine kritische Haltung einzunehmen.
Odent warnt Geburtmediziner und Kliniken davor, die Anzahl der Sectios "mit Gewalt" reduzieren zu wollen. Es gebe viele Berichte, die besagen, dass Geburtshelfer "alles" versuchten, einen Kaiserschnitt zu verhindern, künstliches Oxytozin, Epiduralanästhesie, und letztlich endete die Geburt mit einem Zangeneingriff inklusive Dammschnitt oder doch mit einem Not-Kaiserschnitt, wenn auch der Versuch mit der Zange vergeblich war. Die Zange, so sagt er, gehört ins Museum. Nach einer britischen Studie ist der Einsatz der Zange nach langen schweren Wehen das gefährlichste Szenario für schwere Verletzungen des weiblichen Dammes einschließlich Läsionen des analen Schließmuskels. Das Risiko perinealer Verletzungen einschließlich dem Risiko urinaler oder analer Inkontinenz bei Geburten ist ein Thema, das man nicht verschweigen darf. Odent bezieht sich unter anderem auf eine norwegischen Studie, die auf einer Umfrage unter 15.000 Frauen basiert. Nach dieser Studie beträgt das Risiko urinaler Inkontinenz unter Stress nach Vaginalgeburten 12,2%, nach einem Kaiserschnitt 6,9%, bei kinderlosen Frauen 4,7%. Nach Odents Ansicht ließen sich solche Risiken minimieren, wenn auf die physiologischen Bedürfnisse gebärender Frauen mehr Rücksicht genommen würde und eine Atmosphäre geschaffen würde, die den "Fötus-Auswurf-Reflex" begünstigt.
Er schlägt den Kliniken für die Gegenwart und unmittelbare Zukunft eine zweigeteilte Strategie vor:
Der Geburts-Pool-Test
Die Gebärende soll in ein Geburts-Wasserbecken gehen, dessen Temperatur exakt 37° beträgt, keinesfalls darüber, aber nicht bevor sich die Cervix der Gebärmutter auf 5cm erweitert hat. Odent sieht es sogar als neuen Aspekt der Hebammenkunst an, die Frau in den Wehen davon abzuhalten, schon eher ins Wasserbecken zu gehen. Laut Odent tritt im Wasser unverzüglich Schmerzerleichterung ein, und die Stresshormon-Spiegel sinken, während gleichzeitig die Oxytozinwerte kurzfristig ansteigen, was kurzfristig zu effektiveren Kontraktionen und zu einem deutlichen Fortschreiten der Cervix-Dilatation führt. Kommt es innerhalb von ein oder zwei Stunden nach dem Eintritt ins Wasserbecken zu einer solchen deutlich erkennbaren Erweiterung, kann die Frau vaginal gebären. Sie soll sich aber nicht von vorneherein auf eine Wassergeburt festlegen oder festgelegt werden, denn das könnte laut Odent zu übermäßig langen zweiten und dritten Wehenphasen führen, da nach ein oder zwei Stunden im warmen Wasser ein Feedback-Mechanismus in Kraft tritt, der die Kontraktionen abschwächt.
Schreitet jedoch die Erweiterung der Cervix trotz des Eintauchens ins warme Wasser und trotz einer ruhigen, den Neokortex nicht stimulierenden Atmosphäre (kein helles Licht, keine Kamera!) nicht erkennbar fort, dann kann die Frau nach Odents Erfahrung NICHT vaginal gebären.
In diesen Fällen ist laut Odent ein Kaiserschnitt innerhalb der Wehen die beste Lösung. Wird das negative Resultat des Geburtspool-Tests ignoriert, dann droht nach seinen Angaben ein äußerst ungünstiges Szenario: Lange und schwere Wehen, Medikation, Zange oder Vakuum und letztlich oft doch der Not-Kaiserschnitt. Odent erzählt die Geschichte einer Laien-Hebamme (Doula), die den Pool-Test kannte, und die, nachdem sie sah, dass bei der von ihr betreuten Gebärenden mehr als eine Stunde nach dem Eintauchen ins Wasser kein Fortschreiten der Dilatation feststellbar war, darauf beharrte, dass die Frau nicht vaginal gebären könne. Tatsächlich diagnostizierte der herbeigerufene Oberarzt eine Stirn-Präsentation ('brow presentation') des kindlichen Kopfes, die eine Vaginalgeburt unmöglich macht.
Odent ist der Überzeugung, dass der Geburtspool mit seinen positiven Wirkungen auf Hormonausschüttung und Kontraktionsstärke und mit seinem schmerzerleichternden Effekt durchaus mit der Epiduralanästhesie und mit synthetischem Oxytozin konkurrieren kann. Er sieht es als neuen Aspekt der Hebammenkunst, den Frauen zu helfen, geduldig zu sein und das Wasserbecken zum richtigen Zeitpunkt zu betreten. Für ihn ist es eine Methode, die Anzahl der Frauen zu erhöhen, die während des Geburtsprozesses Hormone der Liebe freisetzen.
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B) Die Revolution
Ich muss vorausschicken, dass ich das ungute Gefühl nicht loswerde, mich "zwischen alle Stühle" zu setzen und mir den geballten Unmut von Hebammen und Geburtsmedizinern zuzuziehen, wenn ich hier Michel Odents revolutionäre Thesen an meine Webseite nagle. Aber seine Forderungen ergeben für mich einen kompletten Sinn. Ich glaube nicht, dass er sich "wichtig machen" will. Er gehört nach meiner Überzeugung zu den wenigen Persönlichkeiten der Gegenwart, denen man "abkaufen" kann, dass das langfristige Wohlergehen der Gesellschaft ihr Anliegen ist.
Für Odent ist die langfristige Strategie klar: Möglichst viele Frauen sollen vaginal gebären. Bei einer ungestörten Vaginalgeburt in einem Umfeld, das auf die physiologischen Bedürfnisse gebärender Frauen Rücksicht nimmt, sind die Chancen am besten, dass es zu einem "ungestörten Fließen von Liebeshormonen" kommt. Aber dazu müssten sich viel mehr Geburtshelfer im Klaren sein, dass die Geburt ein physiologischer Vorgang ist, der auf einer tieferen Bewusstseinsebene abläuft, dass jede Stimulierung des Neokortex störend wirkt, und dass der Prozess am besten in Zurückgezogenheit funktioniert unter der Sicherheit gewährenden Gegenwart einer mütterlichen Hebamme, die sich im Hintergrund zu halten weiß. Die Kernpunkte der Odentschen Revolution sind folgende:
Punkt 1: Die Anzahl der Geburtsmediziner muss drastisch reduziert werden: "Echte Geburtsmediziner sollten nicht die Zeit haben, jede Geburt zu kontrollieren. Sie sollten nur auf Anforderung in Erscheinung treten." (Odent, 2004) Punkt 2: Die Anzahl der Hebammen muss sich entsprechend erhöhen. Punkt 3: Die Zulassungskriterien für die Hebammenschulen müssen neu festgelegt werden: "Die Voraussetzung zur Zulassung an einer Hebammenschule sollte sein, dass eine Frau Mutter ist mit der persönlichen Erfahrung einer ungestörten Geburt ohne Medikation." Hier ist der nächste heftige Widerstand vorprogrammiert. Odent sagt: Wir alle "kennen wundervolle Hebammen, die keine Mütter sind." Aber: Er will eine Garantie anbieten, für die diese Selektion unverzichtbar ist. Er sagt: "Ich garantiere euch persönlich, dass an dem Tag, an dem alle Hebammen Mütter mit der Erfahrung einer aktiven Geburt ohne Intervention oder Medikation sind, die gegenwärtigen Kaiserschnitt- Raten der Geschichte angehören werden." (Odent, 2004) Punkt 4: In einer unvermeidlichen Übergangsphase ist die Unterstützung durch Laienhebammen (Doulas), für die genannten Kriterien gelten, unverzichtbar. In vielen Ländern ist es im Zeitalter des industrialisierten Gebärens unglaublich schwierig geworden, überhaupt noch Frauen mit der Erfahrung einer ungestörten, autonomen Geburt zu finden. Alle diese Frauen müssen systematisch gesucht und ermutigt werden, eine Zeit lang als Laienhebamme zu arbeiten. Nicht alle werden dazu bereit sein oder charakterlich-psychisch für diese Aufgabe geeignet sein, aber es wird reichen, um positive Effekte zu erzielen: "Wenn die Doula die Mutterfigur ist, auf die sich eine junge Frau in der gesamten Phase um die Geburt verlassen kann, wird das Doula-Phänomen zu einer effektiven Möglichkeit werden, die Wiederentdeckung echter Hebammen-Geburtshilfe zu beschleunigen." (Odent 2004) Punkt 5: Die Zulassung von Ärzten, die sich in Geburtsmedizin spezialisieren wollen, muss durch enge Kriterien eingeschränkt werden. Zulassungsvoraussetzung sollte sein, dass ein Mediziner/eine Medizinerin "Mutter mit der persönlichen Erfahrung einer ungestörten Vaginalgeburt ist." "Gute Statistiken, die mit Kaiserschnitt-Raten von unter 10 Prozent einhergehen, sind nicht utopisch, wenn wir klar genug im Kopf sind, die 'political correctness' zu zerschmettern." Hier ist der heftigste aller Widerstände vorprogrammiert.
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Wir sehen an den Ländern, in denen die Hebammen nahezu völlig verschwunden sind, wohin es führt, wenn sich männliche Technologie ungehindert entfalten kann: In die Höhe schnellende (Plan-)Sectio-Raten oder, abstrakter ausgedrückt, eine neue, nie dagewesene Dimension der Deprivation, deren Folgen langfristig gesehen verheerend sein können; ein "breakdown scenario", wie Odent es nennt. Er hält eine Wende zum Positiven durchaus für möglich, ......"wenn die lebenswichtige Dringlichkeit, die Geburt zu ändern, auch außerhalb spezialisierter Kreise erkannt wird." (Odent, 2004)
Wenn das bestehende System der männlich dominierten Geburtshilfe weiterhin unangetastet bleibt, dann werden wir uns alle die bange Frage stellen müssen, mit der Odent sein Buch abschließt:
"KANN DIE MENSCHHEIT DEN SICHEREN KAISERSCHNITT ÜBERLEBEN?"
Quelle: Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004 |
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DAS PHÄNOMEN DER VBAC - MÜTTER
Lange Zeit galt in der Geburtsmedizin der Lehrsatz, dass eine Vaginalgeburt nach einer Kaiserschnitt-Geburt (VBAC: Vaginal birth after caesarean) zu gefährlich sei. Tatsächlich lag laut Odent zu Zeiten der klassischen Operationstechnik (langer Vertikalschnitt) das Risiko für einen lebensgefährlichen Uterus-Riss durch eine nachfolgende Vaginalgeburt bei 12 Prozent. Ab 1950 setzte sich die neue Operationstechnik durch (kleiner waagrechter Schnitt durch eine dünne Zone des Uterushalses, die als 'low segment' [niederes, schwaches Segment] bezeichnet wird), die das Risiko wesentlich verringerte. Dennoch blieben die Ärzte vorsichtig und rieten weiterhin grundsätzlich von einer Vaginalgeburt nach einer Sectio ab. So lag in den USA die VBAC-Quote 1980 bei 3,4%.
Als in den USA die Sectio-Raten anstiegen, gab es immer mehr Mütter, die während der nächsten Schwangerschaft den dringenden Wunsch äußerten, vaginal gebären zu wollen. (Bei vielen Frauen scheint der Kaiserschnitt ein traumatisches Defizit zu hinterlassen. Äußerungen von Frauen, die nach einem Kaiserschnitt erfolgreich vaginal gebaren, deuten in diese Richtung. Sie sagen, dass sie sich nach der Vaginalgeburt wieder 'ganz', 'gestärkt', 'geheilt', 'normal', oder 'wieder als Frau' fühlen.) Das große Problem bestand nun darin, dass diese Frauen so gut wie keinen ärztlichen Geburtshelfer finden konnten, der sich auf eine VBAC-Geburt einlassen wollte, wodurch VBAC nahezu ausschließlich als "von einer Laienhebamme assistierte Hausgeburt" (Odent, 2004) ablief. (Woraus ich schließe, dass sich auch Profi-Hebammen in dieser Hinsicht wenig kooperativ zeigten.) In diesem Zusammenhang organisierte das US National Institute of Health eine Konferenz, in der man zu dem Ergebnis kam, dass VBAC eine geeignete Möglichkeit sei, die Sectio-Raten in Grenzen zu halten. Eine Reihe von Studien belegte die relative Sicherheit von VBAC, und so kam es, dass die Quote erfolgreicher VBAC-Geburten in den USA von 3,4% in 1980 auf 28,3% in 1996 kletterte. Sie fiel dann wieder bis auf 12,7% in 2002, nachdem das American College of Obstetricians and Gynecologists empfohlen hatte, bei VBAC-Versuchen solle grundsätzlich ein Arzt mit Überwachungsgeräten zugegen sein.
Es gibt laut Odent Studien, die belegen, dass der Versuch einer VBAC in 70-80 Prozent aller Fälle erfolgreich endet. Das Risiko eines Uterus-Risses während einer VBAC liege bei 0,5% (1 Fall bei 200 Versuchen) unter der Voraussetzung, dass keine künstliche Weheneinleitung vorgenommen wird. Nach der jüngsten Studie vervielfacht sich das Risiko um das 15,6fache, wenn die Wehen künstlich durch Prostaglandine induziert werden und um das 4,9fache, wenn die Einleitung ohne Prostaglandine vorgenommen wird. Als weitere risikoerhöhende Umstände gelten: (1) die Frau ist älter als 35; (2) dem Kaiserschnitt folgte eine fiebrige Erkrankung; (3) das Intervall zwischen den zwei Geburten beträgt weniger als 18 Monate. Das Risiko der perinatalen Säuglingssterblichkeit bei VBAC belaufe sich nach einer schottischen Studie an 15.500 Frauen auf 12,9 je 10.000 Fälle, laut Odent ein akzeptables Risiko, auch wenn es fast 11 Mal höher sei als bei einem zweiten geplanten Kaiserschnitt.
Eine dieser VBAC-Mütter ist Pam England. Nach ihrer Kaiserschnittgeburt war sie zu Odent nach Pithiviers in Frankreich gekommen, um ihn um Rat zu fragen, wie sie es anstellen müsse, um beim nächsten Mal vaginal gebären zu können. Er überlegte nur kurz und riet ihr, sich bei der nächsten Geburt ins Badezimmer einzuschließen und niemanden hineinzulassen, nicht einmal die Hebamme. Pam England war zuerst konsterniert. Mit dieser 'erschöpfenden' und 'vereinsamenden' fachmännischen Auskunft hatte sie nicht gerechnet. Aber sie vertraute ihm und befolgte seinen Rat. Und es ging gut. Wie sie in einem Brief an Odent (auszugsweise veröffentlicht in The Caesarean) schreibt, hüllte sie sich in das 'Dunkle Feminine' ein und fühlte in dieser ungestörten Atmosphäre ihren Weg durch den Prozess, anstatt sich hindurchzudenken. Ihre Erfahrung hat sie in einem Gemälde ausgedrückt, das sie bei der Geburt ihre zweiten Kindes auf allen Vieren unter der Maske eines brüllenden Löwen zeigt:
"Ich betrat mein
Lucy-Gehirn, ich betrat das Göttlich-Weibliche und ließ alle Hoffnung
und alle Kontrolle fahren (in dem Gemälde repräsentiert die weiße
Zickzack-Linie die Ur-Lebenskraft, die mich durchbrandete). Als ich
Luc [ihr zweites Kind] hinausschob, krümmte ich meinen Rücken und
'brüllte'; ich fühlte damals, dass ich die Wildheit eines brüllenden
Löwen verkörperte. Luc war Minuten später geboren. Zu Hause normal zu
gebären war die Vervollständigung der 'Geburtslektion', als die ich die
Geburt ansah; und ich war nie wieder dieselbe."
[Pam England, zitiert in Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004, s. 109] |
"Lucy" gehört zu Australopithecus afarensis, Vorfahren des homo sapiens, und lebte vor etwa 3 Millionen Jahren in Ostafrika.
Quelle: Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004 |
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DER FETUS-AUSWURF-REFLEX
Der Fetus-Auswurf-Reflex (Fetus-Ejektionsreflex, Fetus-Ausscheide-Reflex) ist ein Phänomen, das in Odents Büchern immer wieder auftaucht. Dieser Begriff war ursprünglich von der Wissenschaftlerin Niles Newton geprägt worden, als sie sich mit den Eigenheiten der Mäusegeburt beschäftigte. Odent beschreibt diesen Reflex als "kurze Serie unwiderstehlicher, unkontrollierbarer Kontraktionen, die keinen Raum für willkürliche Bewegungen lassen." Die gebärende Frau könne die ungewöhnlichsten Körperhaltungen annehmen. Dem Reflex voraus gehe in der Regel eine kurze Phase plötzlicher Angst, oft sogar Todesangst, die verbal ausgedrückt wird ("Töte mich...Lass mich sterben," etc.), und damit verbunden das Bedürfnis, nach etwas zu greifen und sich aufzurichten. Diese kurze Phase der Angst gehe mit einem starken Anstieg der Adrenalinspiegel einher. Odent sagt, er habe diesen Fetus-Auswurf-Reflex nur bei Hausgeburten erlebt in der Gegenwart einer ruhigen, mütterlichen Hebamme, die sich im Hintergrund zu halten weiß, aber nie in Anwesenheit des Vaters. In den meisten Fällen trete der Reflex überhaupt nicht auf, da die Voraussetzungen der Privacy, einer Atmosphäre der Zurückgezogenheit und Ungestörtheit, die die Dominanz subkortikaler Prozesse begünstigt, nicht gegeben sind.
Oft scheint ein Gläschen Champagner diesen Reflex zu begünstigen, aber vermutlich nur, wenn die Umstände an sich nicht 'kontraproduktiv' sind. Odent berichtet von einer Hausgeburtshebamme in Frankreich, die den Champagner geschickt und gezielt einzusetzen weiß, um eine Geburt zu beschleunigen. Er warnt aber davor, daraus eine Routinemethode zu machen.
Nach einem authentischen Fetus-Ejektionsreflex habe er nie den Damm einer Gebärenden nähen müssen. Er führt das auch darauf zurück, dass die Frauen oft eine nach vorne gebeugte Körperhaltung einnehmen, auf Hände und Knie abgestützt, und diese Haltung begünstige einen schnelleren und glatteren Austritt des Kindes.
Odent erwähnt noch, dass Niles Newton nachgewiesen habe, dass sowohl der Milch-Ejektionsreflex als auch der Sperma-Ejektionsreflex und der Fötus-Ejektionsreflex mit einer explosionsartigen Freisetzung von Oxytozin, dem berühmten Liebes-und Bindungshormon, verbunden ist.
Quelle: Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004 |
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WAS IST EINE UNGESTÖRTE GEBURT?
Störfaktoren, die den Geburtsprozess beeinträchtigen, können von innen und von außen kommen. Ein Umfeld, das von Nervosität, Hektik, Ungeduld, heller Beleuchtung, Disziplin, Kontrolle, Hemmung des Ausdrucks und des Fühlens und von Geburtshelfern geprägt ist, die sich während der Geburt nicht zurücknehmen können und sich nach der Geburt eifrig am Neugeborenen zu schaffen machen, anstatt einen ungestörten ersten Kontakt zwischen Mutter und Kind zu gewährleisten, ist laut Odent ein Szenario, das den physiologischen Bedürfnissen gebärender Frauen völlig zuwiderläuft und die Chancen auf eine geburtshormonell induzierte Bindung zwischen Mutter und Kind erheblich mindert. Hier haben wir es mit äußeren Störfaktoren zu tun.
Ein innerer Störfaktor, den Odent offensichtlich völlig ignoriert, ist Neurose. Wie bereits erwähnt, sind Menschen biologische Systeme, die frühe traumatische, für den jungen Organismus oft lebensbedrohliche Erfahrungen speichern. Das impliziert, dass die Kraft, die Valenz des ursprünglichen Traumas auch Jahrzehnte später noch immer vorhanden ist. Arthur Janov schreibt darüber seit Jahrzehnten.
Bei der Geburt, einem Vorgang, der es erfordert, sich voll zu öffnen, sich ohne Hemmung und Abwehr auf ein körperliches Geschehen einzulassen, das auf einer tieferen, subkortikalen, instinktgesteuerten Bewusstseinsebene abläuft, kann diese eingeprägte Trauma-Energie mitsamt den physiologischen Abwehrmechanismen, die ihrer Freisetzung entgegenwirken, zu einem bedeutsamen Hindernis werden. Wie Janov des öfteren betont, funktioniert die Abwehr des Körpers eher undifferenziert und global, sie unterscheidet nicht zwischen frühem Trauma und gegenwärtiger Situation (Geburt) und so kann es sein, dass das Gehirn in der speziellen Geburtssituation, in der der Neokortex die Kontrolle zu verlieren droht, "Ausbruchsgefahr" (was die gespeicherte traumatische Energie betrifft) registriert und in seiner undifferenzierten Verteidigungsanstrengung globale Abwehrmaßnahmen aufbaut, die auch gegen die Wehentätigkeit gerichtet sind.
Wenn jetzt (1) ein allgemein ungünstiges Schwangerschafts-Szenario (z. B. Dauerkonflikte mit dem Partner, finanzielle Sorgen, keine Unterstützung durch eine geburtserfahrene Frau), (2) ein ungünstiges äußeres Geburts-Szenario, das auf Geburtsphysiologie keine Rücksicht nimmt, und (3) das innere Szenario der Neurose zusammentreffen, dann scheint die 'failure to progress'-Situation und in der Folge eine übermäßig schwierige, für Mutter und Kind traumatische Vaginalgeburt oder der Kaiserschnitt fast schon vorprogrammiert, und der neurotische Kreis schließt sich: Die Mutter "überträgt" bei der Geburt ihre Neurose auf das Kind, das heißt, sie bürdet dem jungen, verletzlichen Organismus des Kindes eine erhebliche Schmerzlast auf (falls das nicht bereits in der Schwangerschaft geschehen ist).
Ich glaube, wenn eine Frau zu neurotisch ist, oder wenn die Lebensumstände für sie zu schwierig sind oder wenn sie gar kein Kind will, dann wird sie bei der Geburt kaum Liebeshormone freisetzen, schon gar nicht, wenn sie ihrem Kind bereits im Mutterleib "mitgeteilt" hat, dass es nicht willkommen ist. Menschen sind keine Automaten, die man bei der Geburt einfach "auf Liebe programmieren" kann. Aber es muss ja nicht immer funktionieren. Wichtig ist, dass es wirklich funktionieren kann. Odent weiß es. Er hat es oft genug beobachtet. Diejenigen Mütter, die es am eigenen Leib erfahren haben, wissen es auch. Kein Zweifel: Es gibt diese geburtshormonell herbeigeführte Mutter-Kind-Bindung. Das ist bei Menschen genauso, wie es bei den Säugetieren ist.
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Eine Webseite im Internet gewährt Einblicke in US-amerikanische Verhältnisse. "Birthing the Future" heißt die kraftvolle Initiative von Suzanne Arms (www.birthingthefuture.com). "Die Zukunft gebären."
Photo by Suzanne Arms "If we want to create a less violent world, we must begin by paying close attention to the "primal period." This means all of the experiences that a human being has from conception to his or her first birthday, and all of the experiences the mother has during that time. Why is this time different from all others and more important? Because during this time every baby and its mother are actually one biological system. And what happens to the two of them during this period shapes the rest of their lives." [Suzanne Arms] "Wenn wir eine gewaltlosere Welt schaffen wollen, müssen wir damit anfangen, dass wir der "Primärperiode" große Beachtung schenken. Dies bedeutet all die Erfahrungen, die ein Mensch von der Empfängnis bis zu seinem oder ihrem ersten Geburtstag macht, und alle Erfahrungen, die die Mutter in dieser Zeit macht. Warum ist diese Zeit von allen anderen verschieden und wichtiger? Weil jedes Baby und seine Mutter während dieser Zeit tatsächlich ein einziges biologisches System sind. Und was mit den beiden in dieser Phase geschieht, formt den Rest ihres Lebens." [Suzanne Arms]
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Ein wesentlicher Schritt, um das von schwerer Havarie bedrohte Geburtsschiff in freundlichere Gewässer umzuleiten - und hier stimmen Rockenschaub und Odent überein-, muss sein, dass die Hebammen nach und nach wieder mehr Einfluss in der Geburtshilfe gewinnen und letztlich dieses Metier wieder ganz in eigener Regie übernehmen. Männer setzen nun mal keine Babys auf die Welt. Nichtsdestotrotz dominieren sie heute "natürlich" in der Geburtshilfe in nahezu der gesamten Zivilisation (Holland stellt eine der wenigen Ausnahmen dar). Ihr allumfassendes "natürliches" Dominanzbestreben hat auch letztlich vor der Geburtshilfe nicht Halt gemacht, einer Disziplin, der sie sich über lange Phasen enthielten. Wie Rockenschaub in seinem Buch Gebären ohne Aberglauben (Facultas, Wien, 2001) darlegt, glich das Eingreifen der männlichen "Geburtshelfer" in früheren Zeiten phasenweise eher einem "Massaker, dem der hygienische und soziale Fortschritt nach und nach ein Ende machte.". (Rockenschaub, 2001, s. 459). Eine Zeit lang drehten sie die Kinder im Mutterleib zuerst einmal von der richtigen Lage in die verkehrte um (ein "Trick", den sie sich von einer berüchtigten Hebamme, der Justine Siegemundin abgeschaut hatten), um dann die Kinder an den Füßen zu packen und herauszuzerren. "Denn alles ging wie eine Schlacht vor sich. Und spießte sich etwas, zerstückelten sie das Kind." (Rockenschaub, 2001). Später, im 18. Jahrhundert, kam die Zange zum Einsatz. Ein Herr Osiander , Leiter der Göttinger Gebäranstalt, holte 40% der Kinder mit der Zange heraus. "Ohne Narkose und Asepsis!" (Rockenschaub, 2001). Die Verbrechen, die in jenen Zeiten an Müttern und Kindern begangen wurden, lassen sich mit Worten nicht beschreiben. Es ist ein Wunder, dass es nicht zum Aussterben ganzer Völker kam.
In der heutigen Zeit ist das Kaiserschnitt-Skalpell das Instrument, das leider nicht nur dann zum Einsatz kommt, wenn es unbedingt sein muss, sondern in vielen Ländern geplant, systematisch und routinemäßig Verwendung findet, um der Natur zu zeigen, wie 'man' es richtig macht. In Brasilien dürfte es für Frauen zunehmend schwerer werden, dem Messer der Geburtsmediziner überhaupt noch zu entkommen. Rockenschaub bezeichnet die männliche Geburtsmedizin als "militärisch organisiertes Metier" und weiß, dass die Hebammen es schwer haben werden, sich gegen das männliche "Geburtshandwerk" durchzusetzen. Nichtsdestotrotz ist für ihn klar, dass "die Hebammenkunst durch geburtsmedizinische Entbindungstechnik nicht annähernd zu ersetzen [ist]".
Odents revolutionäre Forderungen wurden bereits genannt.
Ich glaube, die wahren Koryphäen der Geburtshilfe waren die früheren Landhebammen (vielleicht gibt es noch ein paar), die von einer Hausgeburt zur anderen unterwegs waren. Sie hatten keine Anästhesisten und Chirurgen zur Seite und mussten auf sich gestellt die richtigen Diagnosen stellen und mit jeder Situation fertig werden. Das Können und der Erfahrungsschatz dieser Hebammen trägt sie weit über die Fähigkeiten der heutigen High-Tech-Geburtsmediziner hinaus, und vor allem, es führte zu guten Langzeitergebnissen, zu einer Vielzahl körperlich und seelisch stabiler Individuen. In der Gegend, aus der ich komme, konnte man, wenn jemand ein respektables Alter erreicht hatte und schließlich starb, oft den folgenden Ausspruch hören: "Na, daran ist die Hebamme aber auch nicht mehr schuld!" Dieser Spruch ist bemerkenswert, zumal er einen Zusammenhang zwischen einem frühen Ereignis (Geburt) und der Lebensdauer des Individuums bzw. dem Auftreten von Krankheiten nahelegt, die zum vorzeitigen Ableben führen können.
Wie Rockenschaub in seinem Buch erläutert, war die Hebammenkunst "im Altertum [....] ein hochangesehenes Metier." Die Hebamme (Obstetrix) im alten Rom genoss hohes soziales Ansehen ("Nobilitas obstetricum"; Nobilitas: Adel, Aristokratie). Nur freie Frauen durften diesen Beruf ausüben, wohingegen die medizinischen Berufe auch Sklavinnen offen stand. Auch bei den Griechen war die Hebamme, die Maia, eine hochgeschätzte Person. Gleiches gilt für die Heve-amma der Germanen. Den Beginn des männlichen "Entbindungshandwerks" datiert Rockenschaub etwa 300 Jahre zurück, als sich die vom Ärztestand geringeschätzten Hebammen mit den ebenfalls verachteten "Feldscheren" (Chirurgen, Wundärzte) solidarisierten. Für Rockenschaub der Anfang vom Ende: "Mit der Einmischung der Wundärzte in die Geburt vor gut 300 Jahren verkam die Hebammenkunst zum Entbindungshandwerk.. Dieses besteht bis heute in nichts anderem, als die Feten durch die Scheide oder eine Schnittöffnung des Bauches (Kaiserschnitt) mit wechselndem Geschick aus dem Mutterleib herauszuziehen." (Rockenschaub, 2001, s. 459) Rockenschaub fordert die Gesellschaft der Gegenwart auf, die 'Nobilitas obstetricum' wiederherzustellen:
"Wem der Fortschritt der Geburtshilfe ein Anliegen ist, wird sich auf die soziale Kraft der Hebamme besinnen und für diese eine Ausbildung und ein Berufsprogramm modernen Stils ins Auge fassen - um die Frau "in anderen Umständen" in erster Linie wieder in ihre Hand zu geben. Werden dafür die Hebammen zu einer entsprechenden Organisationsform finden können?" [Rockenschaub, Gebären ohne Aberglauben, Facultas, Wien, 2001, s. 66/67]
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Wenn Frauen unter sich sind, dann sind die Chancen wahrscheinlich größer, dass sich viele Gebärende "auf einen anderen Planeten" begeben können - auf eine andere Bewusstseinsebene, die von Instinkten dominiert wird (vorausgesetzt, die Hebamme versteht etwas von Geburtsphysiologie und ist keine eifrige "Geburtsmanagerin") . Ein Geburtshaus stelle ich mir im Idealfall als eine Insel in dieser überkontrollierten Gesellschaft vor, auf der die allgegenwärtige Herrschaft des Neokortex situationsbedingt außer Kraft gesetzt ist. Kurz gesagt als einen Ort, der natürliche, instinktive Reaktionen auf ein natürliches Ereignis wie die Geburt zulässt, und der es prinzipiell gestattet, dass die Geburt von Anfang bis Ende ohne künstliche Eingriffe abläuft.
Letzten Endes wäre es Aufgabe der gesamten Gesellschaft, eine Geburtsatmosphäre zu schaffen, die der Physiologie des Gebärens entspricht. Aber einer hochneurotischen Gesellschaft, in der männliches Macht- und Profitstreben in nahezu allen Bereichen dominiert, in der neokortikale Kontrolle als höchstes Gut gilt, in der es keine Institutionen und Orte gibt, die Gefühle und Instinkte zulassen würden, in der die Hauptbeschäftigung so vieler Leute darin besteht, auf irgendeine Weise den nicht erfüllten Bedürfnissen ihrer eigenen Kindheit hinterherzurennen, und in der so wenig Leute in der Lage sind, in Zusammenhängen zu denken, die Ereignisse und Umstände des Lebensanfangs mit den psychophysischen Merkmalen einer Erwachsenenpopulation zu verbinden, wird es sehr schwer fallen, den Bedürfnissen von Föten und Babys gerecht zu werden.
Wenn man heute öffentliche Diskussionen in den Medien verfolgt, dann scheint es, sofern das Wohl der Kinder überhaupt jemals zur Debatte steht, immer nur darum zu gehen, wie sich deren intellektuelle Leistungen verbessern lassen. Letztlich werden die Erfahrungen der frühen Lebensphasen auch auf die spätere intellektuelle Leistungsfähigkeit erheblichen Einfluss haben. Ein Kind, das sich in diesen frühen Lebensphasen viel Schmerz und Defizite (an Wehenstimulation, an Liebeshormonen, an Nährstoffen, Sauerstoff, Körperkontakt, emotionaler Zuwendung) "eingehandelt" hat, wird vielleicht unter Aufmerksamkeitsstörungen oder Hyperaktivität leiden und größte Probleme haben, nicht unter das intellektuelle Niveau anderer, weniger belasteter Kinder zu fallen. Es ist erstaunlich, welche Schwierigkeiten diese Gesellschaft , die so enormen Wert auf den neokortikalen Intellekt legt, im Wirtschafts- und Arbeitsleben, im Gesundheitswesen, in der Kindererziehung hat. Diese Gesellschaft scheint in vielerlei Hinsicht so von kleinkariertem, kurzsichtigem Egoismus und jämmerlicher Gier durchdrungen, dass sie zwangsläufig von Jahr zu Jahr mehr Probleme bekommen muss. Es scheint, dass für intelligentes Verhalten wesentlich mehr erforderlich ist als nur ein hochentwickelter Intellekt.
"Das
Interesse am Wohlergehen des Neugeborenen [..........] wird sich
als eine Macht von ungeheurem Ausmaß erweisen, stärker als
alles, was der böse Mensch je zum Zwecke der Tötung des Lebens
erfunden hat."
[Wilhelm Reich, zitiert in Odent, Die Wurzeln der Liebe, ] |
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INTERVENTION UND AGGRESSION
Leboyer-Baby
Wenn sich zwei ein Kind wünschen und um die Bedeutung der frühen Lebensphasen wissen, werden sie von Anfang mit der nötigen Sorgfalt "zu Werke gehen". Wenn in den zukünftigen Eltern eine frühe Erinnerung an Liebe vorhanden ist, wenn ihre Belastung durch frühen Schmerz3 gering ist, werden sie instinktiv das Richtige tun. Aber auch unter den gegebenen Voraussetzungen einer Gesellschaft, in der die meisten wenig Liebe und viel Schmerz und Entbehrung erfahren hatten, ließen sich durch eine allgemeine Bewusstwerdung positive Veränderungen erzielen. Gesundheitspolitik müsste ganz früh im menschlichen Leben ansetzen.
Das würde bedeuten, dass die Intimsphäre zwischen Mutter und Kind in der Schwangerschaft, bei der Geburt und in den ersten Monaten danach besser geschützt werden muss. Das impliziert zum einen "allgemeine Aufklärung". Vielleicht muss man vielen Leuten explizit erklären, dass sich das Verhalten einer schwangeren Frau auf ihren Fetus auswirkt, vielleicht denken sie wirklich, der Minimensch sei da drinnen vor allem absolut geschützt. Lise Eliot, Neurobiologin und Mutter dreier Kinder, sagt in ihrem Buch "Was geht da drinnen vor?"6 , dass in den USA die Zahl der Frauen steigt, die sich in der Schwangerschaft sorgfältig ernähren und auf Zigaretten und Alkohol verzichten. Der Anteil der Babys mit geringem Geburtsgewicht (unter 2,5 kg) sei zwischen 1970 und 1988 von 16 auf 6 Prozent gesunken. Das zeigt, dass eine entsprechende staatliche Gesundheitspolitik durchaus Früchte trägt und zu verantwortungsvollerem Verhalten in der Bevölkerung führt, und es demonstriert, wie wichtig Betreuung in der Schwangerschaft ist, nicht die Betreuung mittels Apparate und Untersuchungstermine, sondern durch eine - idealerweise mit medizinischem Fachwissen ausgerüstete - geburtserfahrene "Person des Vertrauens", die in der Lage ist, die eventuelle Angst der werdenden Mutter vor einer normalen, natürlichen Geburt zu reduzieren und alle Probleme und Besorgnisse der Schwangeren in empathischer und fachkompetenter Weise zu besprechen.
Folgt man Odent und auch Rockenschaub, bedeutet der Schutz der Intimspäre auch, dass die moderne Medizin in den Hintergrund tritt und ihr routinemäßiges Eingreifen in den Schwangerschafts- und Geburtsverlauf auf die seltenen Fälle reduziert, in denen eine Intervention tatsächlich notwendig ist. Odent legt dar, dass sich das Eingreifen in den Geburtsvorgang oder das Intervenieren unmittelbar nach der Geburt bei den meisten Völkern auf diesem Planeten beobachten ließ und lässt, auch bei vielen der sogenannten "primitiven." Als Extrembeispiel nennt er die alten Spartaner, die männliche Neugeborene gleich nach der Geburt auf den Boden warfen, um deren Tauglichkeit zu testen. Überlebten sie die Prozedur, galten sie als zukünftige "gute Krieger." Odent sieht in diesem Intervenieren eine wesentliche Wurzel für Aggression und Gewalt in der Erwachsenengesellschaft.
Er glaubt, das Ziel dieses Eingreifens sei es immer gewesen, eine intensive Mutter-Kind-Bindung und somit Sanftmut und Liebesfähigkeit in den Mitgliedern einer Gesellschaft zu verhindern und die Aggressionsbereitschaft zum Zwecke des Überlebens zu fördern. Der Rückblick in die Jahrtausende der Geschichte zeigt, dass dieses Ziel fast immer übertroffen wurde. Es scheint nie einen Mangel an kriegslüsternen Gestalten gegeben zu haben, die willig waren, sich unter der Befehlsgewalt eines Führers zusammenzurotten und unter Zuhilfenahme von allerlei zweckdienlichen technischen Erfindungen auf friedliche Zeitgenossen loszugehen, oder sich in ausdauernden Duellen mit ebenso kriegslüsternen Kontrahenten einer Gegenpartei um Kopf, Kragen oder Gliedmaßen zu bringen, wobei man fairerweise anfügen sollte, dass es vermutlich oft nicht Aggressionslust war, sondern pure Existenznot und nicht zu unterschätzende Gruppenzwänge, die so manchen dazu brachten, in den Krieg zu ziehen. Manche Biologen sehen in Kriegen ganz einfach biologische Reduktionsmechanismen, deren Funktion im Allgemeinen darin besteht, die Anzahl der Individuen einer Spezies in gewissen Grenzen zu halten.
In der berichteten Geschichte der Zivilisation scheint die Eroberung und das Beherrschen der Natur und anderer Völker ein wesentlicher Kernpunkt zu sein. Aggression und Krieg waren über die Jahrhunderte so selbstverständlich, dass nur wenige es wagten, deren Sinn und Zweck in Frage zu stellen. Auch heute ist eine solche Dimension des Krieges, dass Hunderttausende oder Millionen eines Volkes in oder ohne Uniformen innerhalb oder außerhalb der Heimat über andere Leute herzufallen, die ihnen nichts getan haben und einfach nur leben wollen, jederzeit denkbar und möglich. Es gibt genug Beispiele in jüngerer Vergangenheit. Nichtsdestotrotz scheint an Stelle weltübergreifender Massengemetzel heute zunehmend die gezielte militärische Intervention zum Zwecke der "Befreiung" und "Demokratisierung" von "tyrannisierten" Völkern in Mode zu kommen, die eigentlich gar nicht um Hilfe gebeten haben.
Grundsätzlich besteht immer die Gefahr, dass man depravierten Individuen, in deren Gehirnen sich viel Urschmerz und Urwut vom Lebensanfang und aus der Kindheit angesammelt hat, leicht vormachen kann, der Grund für seine/ihre Misere sei der böse "Ausländer", der Russe, Amerikaner, Deutsche, Franzose, Engländer, Chinese, Jude, der Moslem, der Ungläubige, der Bolschewik, der Kommunist, der Kapitalist, der Faschist oder wer oder was auch immer. Die Fähigkeit, aggressiv und wütend zu reagieren, gehört ebenso zum genetisch verankerten biologischen Repertoire des Menschen wie seine Fähigkeit zu Sanftmut und Liebe. Aber ob jemand in der Gegenwart angemessen reagiert oder in die eine oder andere Richtung völlig überzogen, das hängt auch von seinen eingeprägten frühen Erfahrungen ab.
Wenn sich Leute zusammenrotten, die ein hohes Maß an eingeprägter Wut in sich tragen und deren Affektkontrollmechanismen aufgrund früher Traumen beschädigt sind, dann kann es sehr schnell gefährlich werden. Laut einem Artikel des Magazins Stern (Nr. 11, 2005, s. 50)17 gehen Kriminologen davon aus, dass in Deutschland mindestens 1000 Kinder in den vergangenen 10 Jahren so schwer misshandelt oder vernachlässigt wurden, dass sie an den Folgen starben. Jetzt kommen aber, so der Stern, nach einer Unicef-Studie auf einen Fall von Kindstötung "mehrere hundert belegte Fälle schwerer Misshandlungen, die oft traumatische Folgen haben." Rechnet man zu diesen Fällen pro belegten Fall ein Vielfaches nicht belegter Fälle tagtäglicher psychischer und körperlicher Gewalt gegen Kinder hinzu, dann lässt sich leicht ausmalen, was sich hierzulande hinter verschlossenen Türen abspielt und welches Aggressionspotential sich hier zusammenbrauen kann. Die Vorstellung, dass die Anfänge gespeicherter Wut bis zur Geburt oder noch weiter zurückreichen können, scheint den meisten wahrscheinlich absurd, ist aber ein gemeinsamer Nenner vieler therapeutischer Geburts-Wiedererlebnisse:
"Eine der emotionalen Folgen langer, schwerer Wehen ist ein allgemeines Gefühl der Wut und der Widerspenstigkeit. Viele Patienten berichten von dieser wahnsinnigen Frustration, nicht hinauszukönnen - sie macht das Kind einfach wütend. Es benutzte seine Wut, um sich seinen Weg hinaus zu erkämpfen, und seine Wut brachte es durch. Man kann diese wütenden Bewegungen bei Geburts-Primals sehen: ein wildes Umsichschlagen und Zähneknirschen, unbeherrschte Körperbewegungen und den Ausdruck von Wut in den Gesichtern der Patienten. Die Wut ist lebensrettend." [Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 270]
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"Zorn ist mein Leben lang meine Abwehr gewesen. Er begann im Mutterschoß als ein Mittel, am Leben zu bleiben. Tatsächlich war diese Aggressivität das einzige, was mich am Leben erhielt. Ich kämpfte und rang darum, mich bei der Geburt verständlich zu machen zu verstehen zu geben, daß ich starb. Später begann ich zu denken, daß meine Mutter sehr dumm ist. Aber immer, wenn irgendwer etwas tut, was mir dumm vorkommt, werde ich einfach verrückt. Ich werde wütend, wenn mich jemand nicht auf der Stelle versteht." [Eine primärtherapeutische Patientin, zitiert in Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 22]
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Lise Eliot, Neurobiologin und Mutter dreier Kinder, schreibt in ihrem Buch "Was geht da drinnen vor?"6 Folgendes zum Thema 'Geburt und Anästhesie':
"In der Geburtshilfe spielt die Anästhesie heute eine unverzichtbare Rolle - ihr ist es zu verdanken, dass die Entbindung für Frauen heute nicht mehr lebensbedrohlich wird. Doch aus der Sicht des Babys wird von dieser Möglichkeit vielleicht zu viel Gebrauch gemacht, und es erginge vielen Babys besser, wenn weniger Frauen während der Entbindung unter dem Einfluss von Medikamenten stünden." [Lise Eliot, Was geht da drinnen vor?, Berlin-Verlag, Berlin, 2001, s. 176]
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Kann Anästhesie an sich außerhalb des Kaiserschnitts eine für die Mutter lebensbedrohliche Geburt in eine weniger gefährliche verwandeln? Kann Anästhesie helfen, eine lebensbedrohliche Blockade zu lösen? Gibt es auch für Anästhesie absolute Indikationen? Liegt der Äußerung Eliots die weitverbreitete Vorstellung zugrunde, die Geburt sei grundsätzlich eine äußerst lebensbedrohliche Angelegenheit? Suzanne Arms sagt auf ihrer Website, dass die Frauen in USA "exzessive Angst" vor der Geburt hätten. In den USA mag das spezielle Problem bestehen, dass dort die Geburtstechnologie 'auf die Spitze getrieben wurde' und die heutigen gebärfähigen Frauen bereits die zweite oder dritte Generation repräsentieren, die unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln geboren wurde, und das kann tatsächlich der Grund sein, dass für viele US-Amerikannerinnen "Anästhesie heute eine unverzichtbare Rolle [spielt]" .
Eliot sagt, dass bei Studien über Periduralanästhesie mögliche nachteilige Wirkungen vielleicht unterschätzt werden, weil als Kontrollgruppen nur Geburten herangezogen werden, bei denen eine andere Art von Medikation angewendet wird. Sie meint, es gebe einfach zu wenige "natürliche Geburten", als dass man sie für eine Vergleichsstudie heranziehen könnte.
"Außerdem besteht Grund zur Annahme, dass eine Periduralanästhesie in der Tat die Wehen verlangsamt: Anästhetika entspannen die Beckenmuskeln, senken den Drang und die Fähigkeit der Mutter zu pressen und hemmen vielleicht auch die Bewegungen des Babys - die Kopfdrehungen und Krümmungen des ganzen Körpers, die ihm helfen, sich in die optimale Lage für die Entbindung zu bringen. Unabhängig davon, aus welchem Grund die Geburt sich verlangsamt, kann die Tatsache, dass bei einer PDA der Mutter das Baby durchschnittlichlich länger braucht, um zur Welt zu kommen, das Risiko eines Traumas und einer Hypoxie erhöhen." [Lise Eliot, Was geht da drinnen vor?, Berlin-Verlag, 2001, s. 173]
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Für den Therapeuten Arthur Janov, der das Wiedererleben von Geburtstraumen seit über dreißig Jahren in seiner klinischen Praxis beobachtet hat, ist klar, dass schwere Medikation bei der Geburt sowie alle ungewöhnlich schweren und langen Geburten bei Frauen, deren System sich nicht öffnet, zwei große Gefahren für das Kind bergen: Sauerstoffdeprivation und Verschiebung des physiologischen Gleichgewichts zur parasympathetischen Seite. Ersteres ist laut Janov die Hauptursache für die weitverbreitete Migräne im Erwachsenenalter (Vasokonstriktion mit anschließender Vasodilatation als eingeprägte ursprüngliche Reaktion auf den Sauerstoffmangel, auf die der Organismus in gegenwärtigen Stress-Situationen immer wieder zurückgreift), und letzteres prägt laut Janov den sogenannten Parasympathetiker (im Gegensatz zum Sympathetiker), einen Persönlichkeitstyp, der stark zu energielosem, resignativ-depressivem Verhalten/Reagieren neigt.
Der Psychoanalytiker Schore diskutiert in seinem Werk Affect Regulation and the Origin of the Self ebenfalls diese unterschiedlichen Persönlichkeitstypen. Während nach Janovs Theorie im wesentlichen die Geburtserfahrung den Persönlichkeitstypus bestimmt (die dann durch die folgenden Erfahrungen entweder abgemildert oder verstärkt wird), begründet Schore, der sich mit geburtlichen und vorgeburtlichen Einflüssen überhaupt nicht befasst, das Zustandekommen unterschiedlicher physiologischer und psychologischer Charaktermerkmale unter Bezugnahme auf diverse Autoren ausschließlich durch unterschiedliche frühe Erfahrungen des Kleinkinds mit der Bezugsperson in den ersten zwei Lebensjahren. Schore weist darauf hin, dass diese unterschiedlichen Physiotypen bereits 1915 beschrieben worden waren:
"Das Studium von Persönlichkeitsdifferenzen im psychophysiologischen Ausdruck emotionalen Verhaltens lässt sich bis zur Arbeit von Eppinger und Hess (1915) zurückverfolgen, die entdeckten, dass Individuen hinsichtlich ihrer psychopharmakologischen Reaktion auf sympathetische bzw. parasympathetische Wirksubstanzen in zwei ausgeprägte Kategorietypen fallen und sich dabei in ihrer physiologischen Reaktion auf Stress des autonomen Systems unterscheiden. Ein "sympathetikotonischer Typ war durch Dominanz sympathetischer Reaktionen wie schnellen Herzschlag, vergrößerte Pupillen und leicht erregbares Temperament charakterisiert. Ein zweites "vagotonisches" Muster reflektierte eine erhöhte Bereitschaft (eine Tendenz), mit dem Vagusnerv und dem parasympathetischen Zweig des autonomen Nervensystems zu reagieren, was sich in niedriger Herzfrequenz und kleinen Pupillen widerspiegelte." [Übersetzt aus: Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self, L. Erlbaum, Hillsdale, New Jersey, 1994, s. 278]
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In Reinform treten diese Persönlichkeitstypen selten auf. Es geht fast immer um Tendenzen in die eine oder andere Richtung. Im Folgenden gebe ich Janovs Schilderung einer unter dem Einfluss von Medikamenten ablaufenden Geburt wieder. Er differenziert hier nicht, welche Art von Medikation in welcher Dosierung angewendet wird. Es geht um "Geburt und Anästhesie". Die Passage erinnert zum Teil an Eliots oben zitierte Beschreibung, ist aber insgesamt wesentlich drastischer:
"Nach der Verabreichung von Medikamenten werden die uterinen Kontraktionen schwächer. Schlimmer noch, die Drogen blockieren wichtige neurale Botschaften, sodass auch die Sequenz der Kontraktionen von hinten nach vorne geändert wird. Das bedeutet, dass das Baby nicht mehr so glatt vorwärtsgetrieben wird. In den meisten Fällen wird es durch die asynchronen Kontraktionen gequetscht und zusammengedrückt - ein wenig so, als würde es durch eine Kompaktiermaschine gehen. Der Uterus funktioniert demgemäß wie eine Kontraktionskammer, deren Bewegungen stark genug sind, um starken Druck auszuüben, aber nicht rhythmisch oder kräftig genug, um das Baby zügig nach unten und außen zu treiben. Als nächstes kann sich der Kopf des Babys am vorderen Teil des Kanals nicht richtig ausrichten. Das bedeutet, dass die amniotische Flüssigkeit, die durch kraftvolle Kontraktionen vorangetrieben wird, in Mund, Lungen, Luftröhre und Magen des Babys gepresst wird. Es wird zerquetscht, es erstickt, und - ganz wesentlich - es ertrinkt. Da auch das Baby betäubt ist, ist sein Atmungssystem geschwächt (Anästhetika beeinträchtigen die Atmung schwer), und es hat nicht die Muskelkraft, sich dorthin zu bewegen, wo es weniger weh tut - nämlich in die richtige Geburtsposition. Wäre das Baby nicht so schwer betäubt, könnte es instinktiv handeln, um bei seiner eigenen Geburt mitzuhelfen. Es könnte seine Muskeln anspannen, um sich nach außen voranzukämpfen; es könnte eine torpedoähnliche, gut 'zusammengepackte' Position annehmen, um maximalen Vortrieb zu erreichen; und es könnte seinen Körper zu einer einzigen Einheit machen - Brust und Bauch eins. Unter der Einwirkung des Medikaments befindet sich der Körper in einer "losen" und fragmentierten Position, sodass zum Beispiel die Hände und Arme gefangen sind. Und während der Körper gefangen ist, geht ihm der Sauerstoff aus. Es ist dieser Sauerstoffmangel, den wir so oft bei unseren Patienten sehen. Der Patient, den ich jetzt sehe, läuft während des Anoxie-Primals länger als eine halbe Stunde lang knallrot an. Bei Anoxie kann das Herz des Babys kurz aussetzen, der Blutdruck kann auf radikale Weise steigen oder fallen, und in einigen Fällen kommt es zu einem milden Schlaganfall, von dem sich das Baby schnell erholt, der aber gewisse neurale Defizite zurücklassen kann, die vielleicht zu einem späteren Schlaganfall führen. Föten schlucken im plazentalen Sack amniotische Flüssigkeit. Sie wird vom Darm resorbiert. Wenn dieser Prozess gestört wird - wenn die Mutter zum Beispiel Beruhigungsmittel oder Schmerztöter nimmt - kann es zum Ertrinken kommen. Ich habe so viele Patienten gesehen, die die Geburt wiedererleben und zu ertrinken scheinen." [ Übersetzt aus: Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, s. 253/254]
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Nach Janovs Angaben ist Sauerstoffmangel nahezu eine Konstante in allen Geburtstraumen, die seine Patienten erleben. Patienten scheinen zu ersticken, haben hochrote Gesichter und weisen ein Muster "schnellen, raspelnden, lokomotivähnlichen Atmens, das tief im Gehirn organisiert wird," auf. (Janov, 1996). Dieser Mangel tritt nach Ansicht einiger Wissenschaftler bei nahezu allen Geburten auf. Die Forscher Lagercrantz und Slotkin stellten fest: „Beinahe jedes Neugeborene hat eine Sauerstoffschuld, die der eines Sprinters nach einem Lauf gleicht.“ (Lagercrantz u. Slotkin: "The Stress of Being Born", Scientific American 254, 1986, s. 100; Quelle: Janov, 1996). Man muss allerdings dazu sagen, dass Lagercrantz und Slotkin vermutlich nur Geburten untersucht haben, die im klinisch-technologischen Umfeld des industrialisierten Gebärens (Odent, 2002) abliefen. Odent betont immer wieder, dass in diesem Umfeld kaum Rücksicht auf die physiologischen Bedürfnisse gebärender Frauen genommen wird. Nathanielsz ist der Ansicht, die Anpassungsmechanismen und Reserven des Fetus seien ausreichend, um die Belastungen der Geburt inklusive kurzer Phasen fehlender oder unzureichender Sauerstoffzufuhr unbeschadet zu überstehen. (Nathanielsz, 1995).
In jedem Fall muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Geburt auch unter günstigen Bedingungen für Mutter und Baby ein sehr anstrengender Prozess ist, und dass die Kinder nach der Geburt jede Menge Körperkontakt und Trost gebrauchen können. Hier scheint sich in den Kliniken durch das "Rooming in" vieles zum Besseren gewendet zu haben. Die günstigsten nachgeburtlichen Bedingungen bestehen natürlich dann, wenn es bei der Geburt zu einem ausreichenden Fließen von Liebeshormonen gekommen ist. (Odent, 2004)
In Odents und Leboyers Heimatland Frankreich ist die Quote der geburtlichen PDAs (Periduralanästhesien) laut Auskunft der Österreichischen Hebammenzeitung (Artikel: "Die PDA und ihr Einfluss auf die Mutter-Kind-Beziehung" in der Ausgabe 2/00 von 2000; http://zeitung.hebammen.at/ ; im Archiv) von 4% im Jahr 1981 auf sagenhafte 70-80% im Jahr 1999 gestiegen! Laut dem Artikel hat die französische Frauenbewegung das gesetzlich garantierte Recht auf diese Schmerzbehandlung durchgesetzt. Eine Hebamme (Sophie) sagte allerdings auch, dass in Frankreich nunmehr auf die Frauen seitens vieler Kliniken massiv Druck ausgeübt werde, die PDA zu akzeptieren, und dass den Frauen dort zwingend die liegende Position bei der Geburt vorgeschrieben werde. Des weiteren sagt sie, die PDA werde "wie eine Gewalt gegen die Frauen" eingesetzt und es werde jetzt öfters interveniert (Infusionen, Vakkum, Zange, Schnittentbindung). Aus diesen Äußerungen geht einmal mehr hervor, dass die Systeme, die die Individuen einer Gesellschaft sich schaffen, letztlich wie Zwangsjacken wirken, aus denen es kaum noch ein Entkommen gibt. Neurotische Individuen produzieren neurotische Systeme, und diese Systeme führen ihrerseits in verstärktem Maße zur Produktion neurotischer Individuen.
Es ist diese eskalierende Wechselwirkung zwischen Individuum und System, welche innerhalb eines Zeitraums, der nur wenige Generationen umfasst, zu solchen Belastungen und Schäden führen kann, dass die Voraussetzungen für den Fortbestand eines funktionierendes Gemeinwesen vielleicht gefährdet sind, einfach weil ein Großteil der Individuen letztlich so beeinträchtigt sein kann, dass diese Menschen weder körperlich noch geistig in der Lage sind, einen Beitrag zur Weiterexistenz der Gesellschaft zu leisten. Der Geburtsforscher Michel Odent hat zum Beispiel in Paris festgestellt, dass Amerikanerinnen, die der zweiten oder dritten unter Medikation geborenen Generation angehören, gar nicht mehr in der Lage sind, natürlich zu gebären. Sie können es einfach nicht mehr. Aus und vorbei. Auch unter diesem Gesichtspunkt muss es nicht weiter verwundern, dass die weltweite Sectio-Rate von Jahr zu Jahr steigt. Der zunehmenden Zahl gebährunfähiger Frauen steht eine wachsende Zahl asexueller Männer mit äußerst geringer Libido gegenüber. Sowohl bei Männern als auch bei Frauen ist der vom linksseitigen und frontalen Neokortex dominierte Typus mit minimalen Verknüpfungen zu tieferen Bereichen, die Fühlen, Instinkt und Antrieb vermitteln, auf dem Vormarsch, ein intellektueller Menschentyp, der in das winzige Kämmerlein seines frontalen Neokortex eingesperrt ist - sozusagen der 'perfekt zersplitterte und verdrängte' Mensch. Noch eine kurze Passage aus dem Artikel:
"Nach Sophies Erfahrung sind die "PDA-Mütter" nach der Geburt ungeduldiger, was das Stillen, was z.B. Schmerzen mit der Naht, wunden Brustwarzen etc. angeht. Sophie kennt diese Ungeduld von der Geburt: Die Frauen hören Walkman, spielen Karten oder schlafen während der Wehen. Wenn sie die Frauen in der Austreibungsphase dazu bringen will, mehr mitzupressen, hört sie oft: "Dann holen Sie´s eben raus! Wie lang soll das denn noch gehen?" Die Geburt wird weniger zum Problem der Frau und mehr zum Problem des Personals. Die PDA fördert eine gewisse Konsumhaltung. Sophie und andere Kolleginnen glauben erraten zu können, welches Kind unter PDA auf die Welt gekommen ist, wenn sie ein Wöchnerinnenzimmer betreten: die Mütter hätten weniger Körperkontakt zum Baby." [Österreichische Hebammenzeitung, "Die PDA und ihr Einfluss auf die Mutter-Kind-Beziehung" , 6. Jg, Ausg. 2/00, April 2000]
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Wenn Janovs klinische Beobachtungen zutreffen, dass Geburten, die unter dem Einfluss von Medikamenten ablaufen, dazu tendieren, einen Persönlichkeitstypus zu erzeugen , dessen inneres Gleichgewicht zur parasympathetischen Seite verschoben ist, und der deshalb verstärkt zu depressiv-resignativen Verhaltensmustern neigt, dann müssen sich die Franzosen in den nächsten Jahrzehnten auf einen erheblichen Anstieg der Zahl depressiver Neurosen in der Population gefasst machen. Es wäre aber auch denkbar, dass die zu Depressionen neigenden Janov-Patienten allesamt aus einer Ära stammen, in der man mit der Medikamenten-Keule ganz besonders grob zugeschlagen hat. Da man heute mit der Dosierung in der Regel doch wesentlich vorsichtiger zu sein scheint, könnten sich die adulten Nachwirkungen vielleicht als nicht ganz so dramatisch erweisen. Es wird sich herausstellen. Es ist halt so, dass das eine Manko oft das andere nach sich zieht. Wie der Artikel in der Hebammenzeitung andeutet, scheint die PDA das erhöhte Risiko einer unzulänglichen Mutter-Kind-Bindung zu bedingen, und so kommt es zu dem Janovschen "compounding of pain" (siehe unten angefügte Notiz).
Man hört sehr oft, dass die depressiven Erkrankungen* in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen haben, von einer "Volkskrankheit" ist die Rede, und ich frage mich, ob die Ausbreitung von Depressionen in einem Zusammenhang steht mit der Veränderung der Geburtspraktiken von "primitiv" zu "modern", sprich hin zu verstärktem Einsatz von Medikamenten und Geräten. Bei Depressionen spielen auch vorgeburtliche Einflüsse und natürlich auch Kindheitserfahrungen eine Rolle. Wie Janov in seinen Büchern darlegt, kann Depression eine Funktion des gesamten frühen eingeprägten Schmerzes und dessen Verdrängung sein **. Sie spiegelt vielleicht den Kampf zweier einander entgegengesetzter Kräfte wider. Der in höhere Bewusstseinsebenen aufsteigende Urschmerz kämpft gegen das Abwehrsystem oder umgekehrt, und der daraus resultierende Zustand ist ein bleiern-schweres, niederdrückendes, energieloses Feeling, das oft von innerer Unruhe und Agitiertheit begleitet wird. Antidepressiva (z.B. Prozac) greifen in diesen Kampf ein, indem sie die Präsenz eines wichtigen biochemischen Verdrängungsagenten, Serotonin, erhöhen, sodass der Ansturm des Urschmerzes oft erfolgreich zurückgeworfen wird und der innere Druck merklich nachlässt.Vielleicht haben auch die Gene einen gewissen Einfluss darauf, wie anfällig jemand für eine Depression ist, aber nichtsdestotrotz frage ich mich: Wie ist die Geburt von Menschen verlaufen, die chronisch oder ständig wiederkehrend unter Depressionen leiden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Anästhesie oder anderen Eingriffen bei der Geburt und dem Auftreten von Depression im Erwachsenenalter?
* Siehe zum Thema "Depression" auch den folgenden Link, auf den mich Sieglinde Alexander, Kalifornien, USA, hingewiesen hat. Sieglinde Alexander ist Urheberin von (http://www..org/): http://www.stern.de/wissenschaft/gesund_leben/medizin/538014.html?nv=cp_L1_tt_al
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** Grundsätzlich gilt: Es ist immer die Gesamtsumme aller Erfahrungen aus allen frühen Lebensphasen, die den Menschen prägt. Der Schmerz der einen Phase kann den Schmerz einer anderen Phase verstärken und zu katastrophalen Ergebnissen führen (z. B. Psychose). Janov spricht vom "compounding of pain". Andererseits kann die gute Erfahrung der einen Periode die schlechte Erfahrung einer anderen deutlich abmildern, wenn auch nicht eliminieren. |
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GEBURTSSYSTEME, FRÜHER SCHMERZ UND SYMPTOME
Die interessante Frage lautet allgemein: Können neurotische Gesellschaften die Bedingungen am Lebensanfang so gestalten, dass die Kinder der Zukunft mit weniger frühem Schmerz bzw. Deprivation (pränatal, perinatal, postnatal) belastet werden, als es in der Vergangenheit der Fall war und gegenwärtig zum Teil in zunehmendem Maß der Fall ist? Können neurotische Gesellschaften auf breiter Ebene die Voraussetzungen schaffen, die zu gesünderen Erwachsenen führen, und somit langfristig ihr Überleben sichern?
"If we want to produce new human beings with a solid brain we need to change the birth practices in accordance with Drs. Leboyer and Odent. We need to take great care in prebirth and, of course, in the first months after birth. That is when the brain is forming new synapses and dendrites; its communication system is developing that will allow the child to be more than competent in many spheres, physical, artistic, and intellectual. I have seen children born to mothers who are very careful and loving in prebirth, birth, and afterward. These children are different. They are alert, smart physically advanced, not sick, not whiny, creative, warm, and cuddly. Who would want more than that? They have every chance in life, which is the reason for writing this book - to give society a chance to create a new kind of human being. It is not so difficult at all. It is the way to avoid later alcoholism and addiction, criminality and psychosis. It is a way to produce humans who care about their brothers and sisters in society." [Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, p. 323] "Wenn wir neue menschliche Geschöpfe mit einem soliden Gehirn erzeugen wollen, müssen wir die Geburtspraktiken in Übereinstimmung mit den Drs. Leboyer und Odent ändern. Wir müssen in der vorgeburtlichen Phase und natürlich in den ersten Monaten nach der Geburt große Sorgfalt walten lassen. Das heißt, in einer Zeit, in der das Gehirn neue Synapsen und Dendriten bildet; sein Kommunikationssystem entwickelt sich, das dem Kind erlaubt, in vielen Bereichen - körperlich, künstlerisch und intellektuell - mehr als kompetent zu sein. Ich habe Kinder gesehen, die von Müttern geboren wurden, die vor, während und nach der Geburt sehr sorgfältig und liebevoll waren. Diese Kinder sind anders. Sie sind rege, klug, körperlich fortgeschritten, nicht krank, nicht weinerlich, sie sind kreativ, warmherzig und kuschelig. Wer wollte noch mehr? Sie haben alle Chancen im Leben, und aus diesem Grund wurde dieses Buch geschrieben - um der Gesellschaft die Chance zu geben, eine neue Art Mensch zu schaffen. Es ist gar nicht so schwierig. Es ist eine Methode, wie wir späteren Alkoholismus und spätere Sucht, Kriminalität und Psychose vermeiden. Es ist eine Methode, Menschen zu schaffen, die sich um ihre Brüder und Schwestern in der Gesellschaft kümmern." [Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, s. 323]
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Könnte es sein, dass das, was im Allgemeinen als "Gesundheitswesen" bezeichnet wird, in Wirklichkeit in weiten Bereichen ein gigantisches Symptomverwaltungssystem ist, das mit einem ständig größer werdenden Einsatz von Mensch ("Gesundheitsberufe"), Material (pharmazeutische Produkte) und Technik (alle Arten medizinischer und biotechnischer Apparate) versucht, die schädlichen psychischen und körperlichen Auswirkungen früher Prägungen und früher Schmerzen unter Kontrolle zu halten? Wird dies auch in Zukunft gelingen? Sind Schmerzverdrängung und Symptomkontrolle als Fundamente stark genug, um die Gesellschaft der Zukunft zu tragen, oder wird es zu drastischen Einbrüchen kommen?
In einem Interview in der "Psychologie Heute" (Januar 2005) 16 sagt der Psychiater und Sozialhistoriker Klaus Dörner, dass die chronisch Kranken zusammen mit den Alterskranken und Altersverwirrten allmählich "die Mehrheit der Bevölkerung" zu stellen drohen. Auf der anderen Seite arbeiten "4,2 Millionen Bundesbürger direkt oder indirekt im Gesundheitswesen, der einzigen Wirtschaftsbranche, die boomt. 4,2 Millionen, die ein ungeheures Interesse daran haben, ihren Arbeitsplatz zu behalten." (Dörner). Ironisch überspitzt ausgedrückt könnte die Gesellschaft der Zukunft so aussehen, dass 60 Prozent chronisch krank sind, und die restlichen 40 Prozent auf die eine oder andere Weise ihr Geld mit diesen Kranken verdienen. Je höher die Umsätze und Gewinne sind, die in dieser Branche gemacht werden, je mehr Leute von der Verwaltung von Krankheiten profitieren, umso geringer ist das Interesse an robusten, stabilen und widerstandsfähigen Menschen. Wie Dörner in dem Interview ausführt, kann es nicht das Anliegen der Gesundheitsindustrie sein, gesunde Individuen hervorzubringen. Kein Wirtschaftszweig kann daran interessiert sein, sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Es gehört zu den faszinierenden Eigenschaften des homo neuroticus, aus ausnahmslos jeder Situation Profit schlagen zu wollen. Nichts ist ihm heilig. Und so lautet die Frage oberster Priorität in einer neurotischen Gesellschaft nicht etwa "Wie können wir gesündere Menschen schaffen?" sondern: "Wie lassen sich Menschen, die ein ausgedehntes Spektrum der unterschiedlichsten Symptome aufweisen, optimal vermarkten?"
Das System, das moderne Gesellschaften sich selbst geschaffen haben, hält ihre Individuen gefangen, es kontrolliert das Leben von Anfang an und versucht, seine hochentwickelten Techniken routinemäßig überall einzusetzen:
"Die Konzentration von
Entbindungen in großen Kliniken ist nicht das einzige
Kennzeichen des industrialisierten Gebärens. Auffallend ist auch eine Tendenz
zur Standardisierung. 'Routineablauf' und 'Standardverfahren' sind deshalb
Schlüsselbegriffe der modernen Geburtshilfe. Viele Ärzte gehen von der
Vorstellung aus, dass neben der Kaiserschnittentbindung, für die man sich
während der Wehen entscheiden kann, das folgende Standardverfahren der
Entbindung die 'normale' Version darstellt: Die Frau erhält eine
Epiduralanästhesie und eine Oxytozin-Infusion, während die Herzfrequenz des
Babys elektronisch überwacht wird. Zu dieser Methode gehört üblicherweise
auch, dass in die Harnröhre ein Katheder gesetzt wird, um die Blase zu
entleeren. Während der letzten Kontraktionen wird eine Saugglocke (oder
Geburtszange) verwendet und ein Dammschnitt gesetzt. Sobald das Baby entbunden
ist, bekommt die Mutter routinemäßig ein Medikament, das Kontraktionen der
Gebärmutter auslöst, damit es zu einer sicheren Entbindung der Plazenta kommt.
Im Zeitalter des industrialisierten Gebärens bleibt der Mutter nichts zu tun.
Sie ist eine 'Patientin'."
[Odent, Im Einklang mit der Natur, Patmos/Walter, 2004, s. 43/44]. |
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"Besamungstechnologie
und die Perinataltechnologie heißen die geburtmedizinischen Trugbilder
der Westlichen Welt am Beginn des dritten Jahrtausends. Es ging
primär um ein Geschäft mit Proband(inn)en, die spontan einer
Fortpflanzung nicht fähig sind. Jetzt gehen manche dieser Technologen
bereits dazu über, alle Frauen als gebährunfähig zu betrachten, und
schlagen vor, die Geburt generell durch die Kaiserschnittentbindung zu
ersetzen."
[Rockenschaub, Gebären ohne Aberglauben, Facultas, Wien, 2001, s. 465] |
Es stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß die hier geschilderten hochtechnisierten 'Standardverfahren' und Technologien in den Kliniken tatsächlich angewandt werden. Ich gehe davon aus, dass in vielen Kliniken seit längerem dem wachsenden allgemeinen Unbehagen über die geburtsmedizinischen Technologien Rechnung getragen wird und ein gewisser Bewusstseins- und in Richtung einer Geburtsatmosphäre, die die physiologischen Bedürfnisse gebärender Frauen besser berücksichtigt, im Gange ist. Sobald es Kliniken gibt oder Geburtszentren, die vom 'Standardverfahren' abweichen, haben Eltern, die sich der Bedeutung der frühen Lebensphasen bewusst sind, eine Alternative.
Bei Lise Eliot 6 liest man folgendes:
"Wenn Jessica mit ihrer Mutter spricht, wird ihr klar, wie sehr sich die Geburtspraktiken in den Jahren, seit sie selbst geboren wurde, verändert haben. Statt sich beim ersten Anzeichen einer Kontraktion schleunigst ins Krankenhaus zu begeben, um sich für die gesamte Dauer der Wehen unter Narkose setzen zu lassen, plant sie mit Dave als moralischer und physischer Unterstützung an ihrer Seite, eine aktive Rolle bei der Geburt ihres Kindes zu spielen, in der Hoffnung auf eine Erfahrung von der Art, wie sie dem spirituellen Staunen über ein neues Leben entspricht. Dank einiger lang fälliger Veränderungen sind Eltern heute in der Tat aktiver an der Geburt ihrer Kinder beteiligt. Geburtshelfer und Entbindungspfleger nehmen Rücksicht auf die Präferenzen der Eltern und besprechen mit ihnen die verschiedenen Möglichkeiten.........." [Lise Eliot, Was geht da drinnen vor?, Berlin-Verlag, 2001, s. 160/161]
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Wer Odent liest, weiß allerdings, dass er der Anwesenheit von vielen "Geburtshelfern und Entbindungspflegern" und Vätern bei der Geburt äußerst kritisch gegenübersteht. Seine Erfahrung: Je intimer und ruhiger die Sphäre bei der Geburt, umso leichter fällt es den Frauen, ihr Baby auf die Welt zu setzen. Er lässt durchblicken, dass er es für ideal hält, "wenn niemand dabei ist als eine erfahrene, mütterliche und sich im Hintergrund haltende Hebamme." Odent erzählt von dem Fall, in dem die Geburt in Anwesenheit des Vaters überhaupt nicht vorangehen wollte. Als der Vater kurz den Raum verließ, ging alles wie von selbst: "Sobald er aus der Tür war, begann die in den Wehen liegende Frau laut zu schreien, erleichterte sich, und nach einer kurzen Serie starker und unaufhaltsamer Kontraktionen der Gebärmutter (ich nenne das den Fötus-Ejektionsreflex) war das Baby dann da." [Odent, Im Einklang mit der Natur, Walter, 2004, s. 111] Die Erfahrung ist, dass die Anwesenheit vieler "vernunftorientiert agierender" oder aufgeregter Menschen die Gebärende daran hindert, sich auf eine tiefere Bewusstseinsebene zu begeben. Odent meint auch, viele Männer könnten das sexuelle Interesse an ihren Frauen verlieren, wenn sie bei der Geburt anwesend seien und zusähen, wie der weibliche Schoß gleichsam alle seine Geheimnisse preisgibt.
Odent erklärt das Phänomen der bei der Geburt anwesenden Väter damit, dass die Väter im Zeitalter des industrialisierten Gebärens oft die einzigen Vertrauenspersonen der Schwangeren waren oder noch immer sind. Man stelle sich diese Entfremdung vor: In der gesamten Schwangerschaft hat die Frau kam eine Chance, einer anderen Frau mit der Erfahrung einer ungestörten Geburt zu begegnen, sie hat lediglich kurze Arzttermine und eine Reihe von Tests, und dann soll sie in die Klinik zu Fach-Leuten, die, und in ein Umfeld, das sie kaum kennt!
Arthur Janov setzte sich bereits vor Jahrzehnten vehement für eine Änderung der Geburtspraktiken ein:
"Ich praktiziere nun seit
mehr als dreißig Jahren und habe jede mögliche Kombination von
geistig-seelischen Erkrankungen gesehen. Ich habe gesehen, was schlechte
Familienverhältnisse, was Waisenhäuser und Ablehnung, was Vergewaltigung und
Inzest anrichten können. Und ich bin immer noch der Überzeugung, dass Geburts-
und Vorgeburtstraumata stärker sind als beinahe jede Art von späterem Trauma.
Denn beim Geburtsvorgang wird festgelegt, was wir später aus unserem Leben
machen werden. Persönlichkeitmerkmale werden eingraviert, die Art, die Welt zu
sehen, wird eingeprägt, Einstellungen werden geformt. Was wir werden, ist in
der Geburtsmatrix schon zu sehen.......... Es ist eines der großen Paradoxa der
menschlichen Gesellschaft, dass unsere angeblich fortschrittlichsten Methoden
die primitivsten Ergebnisse hervorgebracht haben und dass wir bei den
primitivsten Völkern die fortschrittlichste (das heißt, natürlichste und
vorteilhafteste] Entbindungspraktik finden: die einfache Methode des
Niederhockens und Gebärens. Die moderne Technologie sollte nicht
natürliche Prozesse verhindern, sondern dazu verwendet werden, diese Prozesse
zu unterstützen. Die Eltern sollten bei ihrer Suche nach einem Arzt und einer
Klinik, die ihrem Kind den besten Eintritt in diese Welt gewährleisten können,
nicht eingeschüchtert werden. Sie müssen auf den bestmöglichen
Entbindungspraktiken bestehen. Sie dürfen sich angesichts herkömmlicher
Verfahren in den Kliniken, autoritärer Ärzte oder der Starrheit lang
überlieferter Praktiken nicht geschlagen geben. Sie kämpfen für das Leben
eines Menschen und haben jedes Recht, es beharrlich zu tun. Denn gleichzeitig
kämpfen sie gegen die körperlichen Krankheiten ihres Kindes, gegen die
späteren Lern- und Verhaltensprobleme, gegen die spätere Neurose und
Geisteskrankheit ihres Kindes als Erwachsener. Gegen ungeeignete
Entbindungspraktiken kämpfen, heißt für das Leben kämpfen - auf die
konstruktivste und dauerhafteste Weise."
[Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s.400/401/402] |
Er macht hier den Fehler, dass er den Frauen vorschreibt, was die "fortschrittlichste" und "vorteilhafteste" Geburtspraktik sei (Niederhocken). Wenn die Geburt jedoch ein physiologischer Vorgang ist, der auf einer tieferen Gehirnebene abläuft, wird die beste Praktik oder Haltung immer die sein, die eine gebärende Frau jeweils instinktiv für sich wählt. Es geht im Grunde nicht um Geburtsmethoden oder "Entbindungspraktiken", nicht um "Hockgeburt" oder "Wassergeburt" oder "Liegegeburt", sondern um ein Umfeld, das Privacy (Odent, 2004), Reduzierung neokortikaler Dominanz und hemmungslosen Ausdruck begünstigt. Janov schreibt in seinen Büchern immer wieder, dass seine Patienten auf tieferen Bewusstseinsebenen operieren, wenn sie ihre Wiedererlebnisse (Primals) haben.
"Wir
können sehen, wie unsere Patienten aus dem tiefen Unbewussten (dem
Primal-Koma) zurück ins volle Bewusstsein [conscious awareness] kommen.
Sie öffnen langsam ihre Augen, blinzeln ein paar Mal und sehen so aus,
als kämen sie gerade aus einer fernen Zeit. Und das tun sie tatsächlich;
sie kommen aus einer Zeit, die Jahre in ihrer eigenen und Jahrmillionen in
der phylogenetischen Geschichte zurückliegt. Sie haben sich während der
Sitzung auf tieferen Bewusstseinsebenen befunden."
[Übersetzt aus: Janov, Why you get sick-How you get well, Dove Books, West Hollywood, CA., 1996, s. 218] |
Odent sagt, eine Gebärende begebe sich (im Idealfall einer von innen und außen ungestörten Geburt) auf einen anderen Planeten. Eine Gebärende, die ihr Kind auf die Welt setzt, und Primärpatienten, die ein eingeprägtes frühes Trauma (z. B. ihr Geburtstrauma) "gebären", scheinen einiges miteinander gemein zu haben. Sie alle reduzieren die neokortikale Kontrolle und vertrauen sich physiologischen Vorgängen an, die überwiegend durch die stammesgeschichtlich älteren Strukturen des limbischen Systems und des Hirnstamms vermittelt werden. Bei der Gebärenden kommen die Wehen in Gang, bei den Primärpatienten die in reverbierenden Kreisprozessen gespeicherte Erinnerungssequenz. In beiden Fällen funktioniert es am besten in Gegenwart einer Vertrauensperson, die sich im Hintergrund hält, und in einem Umfeld, das Fühlen und Ausdruck begünstigt. Sowohl der Primärtherapeut als auch die Hebamme/der Geburtshelfer können den Prozess erheblich stören oder sogar vereiteln, etwa, indem sie ständig Anweisungen erteilen, denn der Neokortex ist zwar zeitweise unteraktiv, kann aber mit etwas "Nachhilfe" von außen jederzeit wieder zur dominierenden Kontrollinstanz werden.
Die Amerikanerin Jean Liedloff 9 (Foto), die im Dschungel Venezuelas zweieinhalb Jahre bei den Yequana-Indianern lebte, schreibt in ihrem Buch "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" [Originaltitel: The Continuum Concept] zum Thema Geburt:
"Was das Phänomen des
Geburtstraumas bei zivilisierten Menschen betrifft, so legt das
Kontinuum-Prinzip nahe, dass die Gründe dafür in der Benutzung von
Stahlinstrumenten, hellem Licht, Gummihandschuhen, dem Geruch von Antiseptika
und Narkosemitteln, lauten Stimmen oder den Geräuschen von Geräten liegen
könnten. Bei einer Geburt ohne Trauma müssen die Erfahrungen des Babies genau
die und nur die sein, die seinen und der Mutter uralten Erwartungen entsprechen.
Viele gute, gesunde Kulturen überlassen es der Mutter, ihr Baby ohne jegliche
Hilfe zu bekommen, während andere, nicht minder gesunde, darauf bestehen, dass
ihr Hilfe zuteil wird. In jedem Fall bleibt das Baby vom Augenblick seines
Austritts aus dem Mutterleib in engem Kontakt mit dem Körper der Mutter. Wenn
es selbständig zu atmen begonnen hat und friedlich auf seiner Mutter ausruht,
nachdem es von ihr gestreichelt wurde bis es ganz ruhig ist, und wenn die
Nableschnur gänzlich aufgehört hat zu pulsieren und danach durchgeschnitten
wurde, wird das kleine Wesen an die Brust gelegt, ohne Verzögerungen
irgendwelcher Art - sei es zum Waschen, Wiegen, Untersuchen oder was auch sonst.
Genau zu diesem Zeitpunkt, sobald die Geburt vollendet ist, wenn Mutter und Baby
einander zum erstenmal als getrennte Einzelwesen begegnen, muss das folgenreiche
Ereignis der Prägung stattfinden."
[J. Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, Beck -Verlag, München, 1980, s. 80/81]. |
Frederick Leboyer (Foto) beschreibt in seinem Buch "Geburt ohne Gewalt" die Geburt und ihre möglichen Folgen in poetischen Sätzen:
"Geburt ist
Leiden. / Nicht nur das Gebären, / auch geboren zu werden, / ist schmerzhaft. /
...........................Man sagt, man glaubt, dass das Neugeborene nichts
spürt. / Es spürt alles ! / Alles, total, ohne Filter, ohne
Unterschied, wahllos, / schutzlos. / Die Geburt ist ein Sturm, ein Orkan.
/ Das Kind kommt an wie ein Schiffbrüchiger, / erschöpft und abgekämpft, /
und wird überschwemmt / von einer Springflut der Empfindungen, / die es nicht
einordnen kann. /........................Das also ist die Geburt. / Die
Hinrichtung eines Unschuldigen. / Welch ein Elend. / Sind wir wirklich so naiv
zu meinen, / dass eine solche Katastrophe keine Spuren hinterlässt? / Dabei
findet man sie überall. / Auf der Haut, am Rücken, in den Knochen, / in den
Alpträumen, / im Wahnsinn, /, in unseren Wahnsinnstaten; Folter und Gefängnis.
/ Die Mythen, die heiligen Schriften / erzählen von nichts anderem / als von
dieser tragischen Odyssee."
[Leboyer, Geburt ohne Gewalt, Mosaik/Goldmann, München, 1999, s. 33-47] |
Arthur Janov geht in seinem Buch "Frühe Prägungen" (Fischer, 1984) ausführlich auf Geburten nach der Methode Frederick Leboyers ein:
"Es gab keine Zange und keine Drehungen, keine Narkosemittel, keinen Lärm, keine künstlichen Eingriffe, keine Trennung von der Mutter. Dem Kind wird ein kontinuierlicher Übergang vom Schoß zum Leib der Mutter ermöglicht. Alles ist Liebe, Wärme, Zärtlichkeit und Berührung. [.........] Ich habe viele Leboyer-Kinder gesehen. Sie unterscheiden sich offensichtlich von anderen Kindern. Sie sind klug und aufgeweckt von einem Alter von nur wenigen Monaten an. Sie sind neugierig und lebhaft. Sie lachen laut. Sie weinen nur selten. Sie wimmern nicht. Ihre Augen glänzen, und sie haben keine Angst. Sie strecken ihre Arme nach Fremden aus. Ihre Gesichter drücken Intelligenz aus, und sie haben eine große Ruhe an sich. Sie sehen gesund aus. Sie schlafen weniger als andere Kinder, und ich glaube, sie schlafen besser. Tatsächlich beweisen Untersuchungen, dass Leboyer-Kinder in vielerlei Hinsicht gesünder sind. Bei einer Studie, die Daniele Rapaport vom Französischen Nationalen Zentrum für Wissenschaftliche Forschung durchführte, wurde festgestellt, dass sich Leboyer-Kinder körperlich rascher und besser entwickelten. Sie begannen früher zu gehen, hatten weniger Schwierigkeiten bei der Erziehung zur Reinlichkeit und begannen früher, selbst zu essen. Sie litten nicht an Koliken wie andere Kinder. Und eine seltsame Entdeckung: die meisten waren beidhändig. [................] Mütter, die ein Kind nach der herkömmlichen und eines nach der Leboyer-Methode bekamen, berichteten von einem großen Unterschied zwischen den beiden Kindern. Meine eigenen Beobachtungen an Kindern, die eine Leboyer-Geburt, und solchen, die eine konventionelle Geburt hatten, zwingen mich, dem voll und ganz zuzustimmen. Es scheint, dass Kinder spätere Traumata zweimal so gut verkraften können, wenn sie eine gute Geburt hatten." [Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984, s. 124/125)
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Janovs Beschreibung von Leboyer-Kindern lässt vermuten, dass die Argumente und Methoden der Befürworter einer "sanften Geburt" im Kern richtig sind und sich nicht so einfach mit einem kräftigen Handstreich vom Tisch fegen lassen, wie das der Münchner Frauenarzt Dr. Prinz in seinem in der Medical Tribune 23/92 veröffentlichten Artikel "Ein Sumpf von falschen Vorstellungen" versucht.
Senthil Kumar: "Fetus"
Wenn ich in die ländliche Gegend meiner Kindheit zurückkehre, über meine eigenen Eltern und viele Zeitgenossen aus ihrer Generation nachdenke, dann staune ich, wie "unverwüstlich" diese Menschen auch im höheren Alter zu sein scheinen. Gewiss war ihnen in ihrer Kindheit ein hohes Maß an Deprivation widerfahren - gerade in rauhen Zeiten und in rauhen ländlichen Gegenden galten die Bedürfnisse von Babys und Kindern äußerst wenig; man war im Gegenteil sehr darauf aus, sie nicht zu verwöhnen, um sie somit an das harte Leben "anzupassen" - gewiss weisen sie psychische und physische Symptome des eingeprägten frühen Schmerzes auf, gewiss haben sie ihre Deprivation und ihre Neurose an ihre eigenen Kinder weitergegeben. Nichtsdestotrotz scheinen sie in jenen Zeiten des allgemeinen Mangels eine ordentliche Zeit im Mutterleib gehabt zu haben, und sie sind bestimmt auf "primitivere", natürlichere Weise geboren worden, in einem Geburtsvorgang, in dessen Mittelpunkt die aktiv gebärende Frau stand, assistiert von der Hebamme, vielleicht manchmal vom Landarzt, ohne Medikamente oder Techniken, die die moderne Medizin offensichtlich heute verbreitet routinemäßig auf den Geburtsvorgang anwendet, und es ist vermutlich diese "primitive" Geburt, die ihnen diese erstaunliche seelische und körperliche Stabilität beschert hat. Paradoxerweise haben in früheren Zeiten gerade jene ländlichen Gegenden, in denen die "Ärzte- und Krankenhaus-Dichte" extrem niedrig war, eine Vielzahl robuster und resistenter Individuen hervorgebracht, welche - ich übertreibe - "ihr Leben lang keinen Arzt oder Apotheker gebraucht haben."
In der Gesellschaft der heutigen Zeit dagegen mit ihrer Vielzahl an Fachkliniken, an Allgemeinmedizinern und Spezialisten, mit ihrem Übermaß an pharmazeutischen Produkten, mit den Milliardensummen, die in die medizinisch-pharmazeutische Forschung investiert werden, mit einer nie dagewesenen Dichte an Heilpraktikern, Psychologen und Psychotherapeuten, an Physio-, Logo-, Ergotherapeuten nebst vielen weiteren Gesundheitsberuflern sehen wir uns mit der rätselhaften Tatsache konfrontiert, dass die Anzahl chronisch kranker Individuen von Jahr zu Jahr unaufhaltsam steigt. Immer mehr Diabetiker, immer mehr Krebskranke, Depressive, Allergiker, Alzheimer-Kranke, immer mehr chronisch von Schmerztötern und Psychopharmaka Abhängige, immer mehr chronisch kranke, lernbehinderte oder stark übergewichtige Kinder und Jugendliche. Das ist genau das, was Janov als "Vorangaloppieren der Neurose" bezeichnet:
"Die Neurose ist auf dem Vormarsch. Sie galoppiert in vollem Tempo voran, und keiner scheint zu wissen, was sich abspielt oder warum. Vor allem scheint niemand zu wissen, wie man diesen unerbittlichen Marsch in die Zerstörung aufhalten kann. Jahr um Jahr gibt es mehr Krankheiten, Selbstmorde, mehr Gewalt, mehr Alkoholismus und Drogensucht. Die Welt fällt an den Rändern auseinander. Valium ist der Leim, der sie zusammenhält." [Janov, Der neue Urschrei, Fischer, 1993, s. 23]
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Die Gesellschaft kann und wird natürlich versuchen, ihre Symptome unter Kontrolle zu halten. Das kann zeit- und teilweise ganz gut gelingen. Soweit ich weiß, ist zum Beispiel die Zahl der Suizide in Deutschland leicht rückläufig, was auf ein verbessertes Hilfsangebot zurückzuführen ist. Bei Krebs, um ein anderes Beispiel zu nennen, steigt die Zahl der Neuerkrankungen seit vielen Jahren kontinuierlich an; die Zahl der durch Krebs verursachten Todesfälle pro Jahr bleibt jedoch konstant, weil die Medizin ihre Methoden und Techniken verfeinern kann, mittels derer sie die Krankheit besser in den Griff bekommt. Letzten Endes bleibt der Gesellschaft nichts anderes übrig, als zu versuchen, alle Probleme "in den Griff" zu bekommen, zumal sich über deren Ursachen der schwere Deckmantel des kollektiven Unbewussten ausgebreitet hat. Es herrscht in der Population ein allgemeiner Konsens, dass es keinen Urschmerz, keine frühen Prägungen mit Langzeitwirkungen gibt. Diesem Konsens entsprechend werden die Erscheinungen der Erwachsenengesellschaft interpretiert: Rauchen und Trinken, zum Beispiel, sind "schlechte Angewohnheiten", die man sich auch wieder "abgewöhnen" kann. Krebs und andere Leiden sind "heimtückische Krankheiten", die jeden "aus heiterem Himmel" treffen können.
Das Tragische an neurotischen Gesellschaften ist die Unbewusstheit ihrer Mitglieder, diese Blindheit für Zusammenhänge zwischen prä-, peri- und postnatalen Umständen und Phänomenen der Erwachsenenpopulation, diese Blindheit gegenüber den sich aufschaukelndenWechselwirkungen zwischen neurotischen Individuen und den von ihnen geschaffenen Systemen, die auch politische, wissenschaftliche und medizinische Kreise noch immer nahezu vollständig durchdringt. Und letztlich ist es diese allumfassende Unbewusstheit, die die Gefahr birgt, dass dem "Marsch in die Zerstörung" der weitere Weg bereitet wird.
Um zur Geburt zurückzukehren: Es sollte in Zukunft nicht darum gehen, auf die Errungenschaften der modernen Medizin und Technik zu verzichten, sondern darum, diese zum Einsatz zu bringen, wenn die Situation es erfordert. Vermutlich ist in bestimmten Fällen eine Medikation der bessere Weg für Mutter und Kind, sicher ist in einer Reihe von Fällen der Kaiserschnitt die einzige Möglichkeit, aber grundsätzlich sind Schwangerschaft und Geburt natürliche, "primitive" Vorgänge, in die "man" nur situationsbedingt, nicht aber routinemäßig eingreifen sollte. Wir behandeln die Natur als eine "Idiotin", die "man" zum einen ständig und in allen Lebenslagen korrigieren muss, und zum anderen nach Herzenslust aussaugen darf, und brauchen uns deshalb nicht zu wundern, wenn wir eines Tages die bittere Wahrheit präsentiert bekommen: dass nämlich wir die "Idioten" sind, die sich den Boden unter den Füßen weggezogen haben und nicht mehr in der Lage sind, ein funktionierendes Gemeinwesen zu betreiben. Die modernen Gesellschaften mit ihren hochentwickelten Techniken, mittels derer sie der Natur von Anfang an "auf den Leib rücken", sind bereits auf dem besten Weg, sich selbst größten Schaden zuzufügen. Unsere "Gesundheitssysteme" produzieren keine psychisch und körperlich stabilen Individuen, sondern eine ständig wachsende Zahl von Personen, die chronisch von medizinischen, pharmazeutischen und psychotherapeutischen Dienstleistungen abhängig sind.
Eine andere Variante menschlicher "Eingriffe" oder "Korrekturen" ist die rasante lokale und globale Veränderung der Erdoberfläche und Atmosphäre einschließlich der Ausbeutung aller auffindbaren Ressourcen, eine Erscheinung, die allzu bekannt ist, als dass sie hier weiter ausgeführt werden müsste. Hier haben wir es mit dem hochriskanten Einsatz von Lokalstrategen und 'Global Playern" zu tun. Es scheint, dass es in diesem Spiel nur Verlierer geben kann.
Odent glaubt, es werde viele Jahrzehnte dauern, bis sich in der Fachwelt als auch unter Laien ein besseres Verständnis der Physiologie des Gebärens entwickelt. Dementsprechend ist eine schnelle Änderung der gegenwärtigen männlich dominierten Geburtshilfe in Richtung Etablierung eines neuen geburtshilflichen Systems, das auf einer besseren Schwangerenbetreuung durch professionelle Hebammen und Laienhebammen fundiert und dessen Ziel ist, es mehr Frauen zu ermöglichen, unter der ('low profile'-) Assistenz eben dieser Vertrauenspersonen in Privacy zu gebären, natürlich eine Illusion. Es geht hier auch um Profit, um Macht, um gesellschaftlichen Einfluss. Das medizinische Establishment wird alles in seiner Macht Stehende tun, um die Hebammen nicht hochkommen zu lassen, und die einzige Chance , hier etwas zu ändern, liegt darin, dass sich (werdende) Eltern gegenseitig helfen. Durch Informations- und Erfahrungsaustausch bietet sich die Möglichkeit, bestimmte Orte und Geburtshelfer(innen) zu bevorzugen und andere zu meiden, und das wird manche Ärzte und Kliniken zu Veränderungen veranlassen.
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BEWUSSTSEINSWANDEL
Leboyer-Baby
Odent glaubt, dass viele der heutigen Frauen im gebärfähigen Alter wissen, dass die Umstände und Bedingungen der Geburt einen gewichtigen Einfluss ausüben, und dass das "neue Bewusstsein" bei ihnen bereits vorhanden ist. Wir befinden uns, so sagt er, in einer Übergangsphase zum postindustriellen Zeitalter. Überall gebe es Menschen, die sich "der herrschenden Sichtweise" entgegenstellen. Sie schlössen sich zu Gruppen zusammen und würden Schwangeren helfen herauszufinden, in welcher Klinik/welchem Geburtshaus in der jeweiligen Region die besten Bedingungen für die Geburt anzutreffen sind.
In deutschsprachigen Ländern, sagt er, seien viele unabhängige Geburtszentren (Geburtshäuser) 10 entstanden. Die Institution spezieller Geburtshäuser sei älter als die Hausgeburt selbst. In vielen traditionellen Gesellschaften hätten die Frauen ihre Kinder nicht zu Hause sondern in besonderen Hütten zur Welt gebracht.
Bei einer Hausgeburt ließen sich laut Odent die Vorzüge einer intimen, ungestörten Atmosphäre mit der Sicherheit moderner Medizin verbinden. Viele Frauen lebten in städtischen Umgebungen, und im Falle einer Komplikation sei der Weg ins Krankenhaus nicht weit. Wenn die Frauen grundsätzlich möglichst lange zu Hause blieben, auch wenn sie nicht zu Hause gebären wollen, würde einer der häufigsten Gründe für schwierige Geburten wegfallen, nämlich dass die Schwangere zu früh in die Klinik geht, noch bevor die Eröffnungswehen richtig eingesetzt haben, und dann "sehr sensibel auf die dortigen Umgebungseinflüsse reagiert." Dieses Prinzip, so Odent, würde allerdings den Einsatz von Laienhebammen (Doulas) erforderlich machen, die er für eine Übergangszeit sowieso für unentbehrlich hält.
Auch heute noch - oder heute bereits wieder - gebe es Frauen, die es wagten, autonom zu gebären. Sie fänden einen Weg, um sich gegen das Heer von Unterstützungspersonen, Helfern, Spezialisten abzuschirmen, ohne die nach herrschender Doktrin eine Geburt unmöglich, in jedem Fall aber völlig verantwortungslos sei. Diese Frauen "wissen intuitiv, dass Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und absolute Abgeschiedenheit die besten Voraussetzungen für eine leichte Geburt sind." Odent sagt sinngemäß: "Schaut euch genau an, was diese Frauen tun, denn von ihnen könnt ihr lernen, wie beschaffen die physiologischen Bedürfnisse einer Gebärenden sind!" Bei industrialisierten Geburten spielen oft die Geburtshelfer mitsamt ihrem technischen Equipment die Hauptrolle, während die Gebärende eine Statistin ist. Im Idealfall - wenn die Geburt durch innere Faktoren (Neurose, Urschmerz, Angst) nicht schwer beeinträchtigt wird - ist die äußere Präsenz einer Hebamme, die sich im Hintergrund zu halten weiß, ausreichend.
"Selbst nach
Jahrtausenden des kulturell reglementierten Gebärens gibt es noch immer
Frauen, die von ihren archaischsten Säugetierbedürfnissen nicht
entfremdet sind. Im Mittelpunkt einer biodynamischen Sichtweise des
Gebärens stehen die elementaren Bedürfnisse der Frau in den Wehen und
nicht Aufgaben, die andere bei der Entbindung zu erfüllen haben. Wer vor
dem Jahr 2034 als Geburtshelfer oder Hebamme arbeitet, sollte genau
beobachten, was diese Frauen tun."
[Odent, Im Einklang mit der Natur, Patmos/Walter, 2004, s. 135] |
Auch unter den ärztlichen Geburtshelfern gibt es laut Odent solche, die mit dem aktuellen System der Geburtshilfe einschließlich der "Intensivvorsorge", der sich die Schwangere zu unterziehen hat, nicht einverstanden sind. Oft seien sie auf sich allein gestellt, manchmal fänden sie Gleichgesinnte und schlössen sich zu Gruppen zusammen. In Korea, zum Beispiel, gründeten Ärzte die Vereinigung "Better Birth". Korea scheint eine better birth dringend nötig zu haben. Die Kaiserschnittquote liegt bei über 40%, die Hebammen sind ausgestorben, und die Schwangeren und ihre Feten werden in weltmeisterlichem Eifer mit Ultraschall durchsucht. Odent sagt immer wieder: "Reduziert diese Schwangerschaftstest auf ein sinnvolles Maß. Alles, was dabei rauskommt, ist ein Nocebo-Effekt. Es schadet mehr, als es nützt! In diesem Zusammenhang ist wohl Rockenschaubs Polypragmasie, die Vielgeschäftigkeit, die er der modernen Medizin bescheinigt, eine akkurate Diagnose.
Holland zeigt, dass sich die Sache mit der Geburt von Grund auf anders gestalten lässt. Laut Odents Angaben sind dort 80% der Hebammen unabhängig, der Anteil der Hausgeburten liegt bei 30% (Gesamtquote aller anderen Industieländer: 2%), weniger als 5% aller Frauen benötigen bei der Geburt eine Epiduralanästhesie und die Kaiserschnittquote liegt bei 10% (niedrigste in Westeuropa).2 Rockenschaub war 1947 bei einem Besuch in Holland von der Kunst der einheimischen Hebammen beeindruckt (damals lag die Quote der Hausgeburten noch bei über 80%): "Gegenüber der Kunst dieser Hebammen [..........] nahmen sich die Mediziner am Gebärbett eher wie Dilettanten aus." (A. Rockenschaub in dem weiter oben erwähnten Interview).
Odent sieht Zusammenhänge zwischen dem Geburtssystem und Phänomenen der niederländischen Erwachsenengesellschaft. Amsterdam sei sicherer als Paris und bei Abtreibungen, Freiheitsstrafen und Teenager-Schwangerschaften habe Holland die niedrigsten Quoten der westlichen Welt. Zudem sei die Zahl der Drogenabhängigen relativ niedrig, "obwohl doch Marihuana und Haschisch legalisiert sind." (Odent, 2002)
Vor kurzem landete ich via Zapping bei einer Sendung des Hessischen Fernsehens. Den Reportern war aufgefallen, dass es in einer deutschen Stadt etwa 10 gynäkologische Privatpraxen gab, in einer vergleichbaren holländischen Stadt dagegen war die einzige Gynäkologen-Praxis in der städtischen Klinik zu finden. Zudem ergaben Recherchen, dass dreimal so viele deutsche Frauen wie Holländerinnen in den Wechseljahren zum Facharzt laufen, um sich Hormone verschreiben zu lassen. Können die Bürgerinnen und Bürger Hollands gelassener altern, weil sie "besser" geboren wurden? Sind sie deswegen allgemein gelassener und zufriedener als die Deutschen?
Eine mehrjährige bundesweite Studie des Nordrhein-Westfälischen Ministeriums für Frauen, Arbeit und Soziales erbrachte das Resultat, dass Hausgeburten genauso sicher sind wie Klinikgeburten.
Eine schweizerische Studie erbrachte das gleiche Ergebnis.
Quelle: http://www.geburtsstaette.ch , ( "Thema Sicherheit"). |
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Der Vorteil der Hausgeburt liegt darin, dass die Frau im Mittelpunkt steht und in einer Atmosphäre der Privacy (Ungestörtheit, Zurückgezogenheit) "alle Zeit der Welt" hat, instinktiv, ohne aufgezwungene Disziplin und ohne künstliche Eingriffe zu gebären, während sie in vielen Kliniken vermutlich lediglich eine Randfigur ist, die "am beschleunigten Fließband" abgefertigt wird und sich nur innerhalb von Verhaltensschablonen bewegen kann, die ihr andere vorschreiben.
Vermutlich gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der psychophysischen Verfassung, den Lebensumständen der Schwangeren und ihrer "Ortswahl." Eine Frau, die bereits eine komplikationslose Geburt hinter sich hat, optimistisch und selbstsicher ist, wird viel eher den Wunsch nach einer Hausgeburt äußern als zum Beispiel eine Erstgebärende, die ängstlich-unsicher ist
Quelle: Odent, Im Einklang mit der Natur - Neue Ansätze der sanften Geburt, Patmos/Walter, Düsseldorf, 2004 |
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DIE PRIMÄRTHERAPEUTISCHE BEWEGUNG
Unabhängig von der Geburts-Gegenbewegung gibt es die Primärbewegung, als deren Zentrum Dr. Janovs Primal Center in Venice, Kalifornien, anzusehen ist. . Menschen aus aller Welt finden dort einen sicheren Ort, um in ihre persönliche Geschichte zurückzukehren und einen Großteil des frühen Schmerzes, der ihnen widerfahren war, aus ihrem System herauszulösen.
"The Primal Center is a lot more than a clinic. It is a style of life where the availability of the clinic for feeling is always present as are the therapists for their patients. " "Das Primal Center ist viel mehr als eine Klinik. Es ist eine Lebensweise, bei der die Verfügbarkeit der Klinik für das Fühlen ständig präsent ist, so wie es die Therapeuten für ihre Patienten sind." [Aus Janovs Website]
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"Our job is to teach patients how to gain access to feelings so that they can acquire the tools to do their own therapy. They leave formal therapy with the therapeutic tools that are theirs for the rest of their lives." [Janov, Why you get sick - How you get well, Dove Books, West Hollywood, 1996, s. 248] "Unser Job ist es, den Patienten beizubringen, wie sie Zugang zu Feelings gewinnen, sodass sie die Werkzeuge erlangen, um ihre eigene Therapie zu machen. Sie verlassen die formale Therapie mit den therapeutischen Werkzeugen, die für den Rest ihres Lebens ihre sind." [Janov, Why you get sick - How you get
well, Dove Books,West Hollywood, 1996, s. 248]
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Matisse: Danse
Diese Reise in die eigene Vergangenheit führt sie oft bis zur Geburt und noch weiter zurück. Aus dieser Primärbewegung gehen auch Beziehungen hervor, und es werden Kinder geboren. Eine Patientin drückt auf, wie ich meine, eindrucksvolle Weise aus, was hier eigentlich geschieht:
"Ich hatte gerade mein Geburts-Urerlebnis durchgemacht, und später fiel mir auf, dass der Schmerz, den mir die Stahlzange bereitete, und das Entsetzen der sich verkrampfenden Gewebe und Muskeln, die mich stundenlang ausgetrieben und geschüttelt und gestoßen und geknetet hatten in dem verzweifelten Versuch, mich auszustoßen, mich ins Leben zu werfen........das alles entspricht so erstaunlich dem, was mit dem Embryo der menschlichen Spezies geschieht. Wir sind noch immer in der 'Wehenschmerz'-Phase des überreifen Embryos, der um sein Lebensrecht kämpft. Und in diesem unglaublichen, kahlen, überheizten Therapieraum findet die GEBURT statt; nicht nur die dieses oder jenes Patienten, sondern einer neuen Spezies, die allmählich körperlich sichtbar wird. Es geht ganz langsam, Millimeter um Millimeter; der Säugling schreit und schreit, und er beginnt zu leben. Was immer da geboren wird, ist der ursprüngliche Elternteil des wahren und vollständigen menschlichen Produkts. Jeder einzelne von ihnen ist Adam und Eva....... der Anfang der Menschheit." [Eine Patientin, zitiert in Janov, Der neue Urschrei, Fischer, 1993, s. 152]
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Es leuchtet ein, dass solche Individuen, die die Schmerzen, die Traumen, die (Ein-)Prägungen ihrer frühen Geschichte wiedererlebt haben, wenn sie selber Kinder bekommen, von Anfang an große Sorgfalt walten lassen. Sie wissen um die Bedeutung der vorgeburtlichen Phase, der Geburt und der ersten postnatalen Lebensjahre. Sie haben die Langzeitfolgen früher Traumen am eigenen Leib erfahren und werden alles Nötige tun, um ihren Kindern die vermeidbaren Belastungen und Beeinträchtigungen zu ersparen, die ihnen selbst widerfahren sind.
"Eines
der wiederkehrenden Ergebnisse, die ich in unserer Therapie sehe,
ist, dass Patienten, nachdem sie aus einem Feeling herauskommen,
plötzlich den Schaden erkennen, den sie an ihren Kindern
angerichtet haben. Wenn sie ihre eigene Menschlichkeit
wiederentdeckt haben, fügen sie anderen weniger Schaden zu. Das
bedeutet nicht, dass der 'graduierte' Patient perfekt ist. Wir
erzeugen Individuen, die nicht länger von unsichtbaren Kräften
getrieben werden. Ist das von Dauer? Ja, denn wenn der Schmerz
einmal weg ist, ist er weg; keine Willenskraft kann ihn mehr
zurückbringen, angenommen, jemand würde das wollen."
[Übersetzt aus: Janov, Why you get sick - How you get well, Dove Books, West Hollywood,CA, s. 248/249] |
Primärtherapeutisch behandelte Frauen, die einen Großteil ihres Urschmerzes aus dem Organismus herausgelöst haben, sind laut Janov sexuell voll erlebnisfähige und voll gebärfähige Individuen. Sie verschließen sich weder beim Sex noch bei der Geburt, da in ihren Systemen nach der Auflösung eingeprägter Traumen die automatischen physiologischen Abwehrmechanismen nicht mehr in Funktion treten, die bei so vielen Neurotikern alle Prozesse behindern oder unterbinden, die mit Erregung, Ekstase, Freisetzung, Öffnung zu tun haben. Eine primärtherapeutisch behandelte Frau hat optimale Voraussetzungen, um in Privacy - ungestört, ohne künstliche Eingriffe - zu gebären und genügend Liebeshormone (Oxytozin) freizusetzen. Und letztlich geht es um die Fähigkeit zu fühlen und zu lieben.
Painting by France Janov "Love has to do with fulfilling all the basic needs of the baby. Before birth it means practicing good nutrition and abstaining from alcohol, cigarettes, or other drugs. During birth it means adequate oxygen and no heavy anesthetics After birth it means proper breastfeeding and holding and touching with warmth. All of this will take place if the mother and father can feel and can love. They will look at their baby lovingly in the eye, nuzzle, cuddle, and protect it, keep the baby warm, talk to it in a slow, measured, gentle way - all commonsense practices that automatically emanate from a feeling of love. How love is manifested is going to differ with different people but the general principles are the same: you must hug and cuddle the baby and infant, protect her from danger, make her feel secure, match her moods so she feels understood, talk to her, not constantly demand that she perform for others ("How do you say......?" "Let's hear you count," etc.). Parents shouldn't push development beyond what the baby wants to do; walk when it's time, not on a timetable of the Parents, but at the same time expose her to optimum stimulation so that her abilities flower. Finally spend time with the baby, look at her play and let her know that you are there. Be there when she is hurt and sympathize with her feelings when she skins her knee. Let her know you understand. If we can feel, then it all comes naturally." [ Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, p. 263/264] "Liebe hat damit zu tun, alle basalen Bedürfnisse des Babys zu erfüllen. Vor der Geburt bedeutet sie, sich gut zu ernähren und Alkohol, Zigaretten und andere Drogen zu meiden. Bei der Geburt bedeutet sie ausreichend Sauerstoff und keine schweren Anästhetika. Nach der Geburt bedeutet sie richtiges Stillen und warmherziges Halten und Berühren. All das wird geschehen, wenn die Mutter und der Vater fühlen und lieben können. Sie werden dem Baby liebevoll in die Augen schauen, es liebkosen, hätscheln und beschützen, sie werden das Baby warm halten und mit ihm auf langsame, maßvolle, sanfte Weise reden - alles Praktiken des gesunden Menschenverstandes, die automatisch aus dem Gefühl der Liebe erwachsen. Wie sich Liebe manifestiert, ist von Mensch zu Mensch verschieden, aber die allgemeinen Prinzipien sind die gleichen: Sie müssen das Baby und Kleinkind herzen und hätscheln, es vor Gefahr beschützen, ihm das Gefühl von Sicherheit geben, auf seine Stimmungen eingehen, so dass es sich verstanden fühlt, mit ihm reden und nicht ständig verlangen, dass es anderen etwas vorführt ("Wie sagst du.....?", "Zeig uns mal, wie du zählen kannst", etc.). Eltern sollen die Entwicklung nicht über das hinaustreiben, was das Baby tun will; es soll gehen, wenn die Zeit gekommen ist, nicht nach dem Zeitplan der Eltern. Gleichzeitig aber soll es optimaler Stimulierung ausgesetzt sein, sodass seine Fähigkeiten aufblühen. Und als Letztes, widmen Sie dem Baby Zeit, schauen Sie seinem Spiel zu und lassen Sie es wissen, dass Sie da sind. Seien Sie da, wenn es sich weh tut und fühlen Sie mit ihm, wenn es sich das Knie aufschlägt. Lassen Sie Ihr Kind wissen, dass Sie es verstehen. Wenn wir fühlen können, kommt das alles ganz von selbst. " [ Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York, 2000, s. 263/264]
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Was ist jetzt eigentlich der Sinn und Zweck dieser Seite? Eigentlich wollte ich das Thema "Geburt" nur kurz 'anschneiden' und relativ zügig zu meinem Lieblingsthema, der Janovschen Primärtheorie und Primärtherapie, überwechseln. Aber jetzt habe ich mich in der Geburtsmaterie doch verheddert. Frühe Lebensereignisse können wie ein riesiges unsichtbares Spinnennetz sein, dessen prägendes Fadenlabyrinth die Menschen auch nach Jahrzehnten noch gefangen hält. Manche hasten ein Leben lang voller Hoffnung, Energie und Optimismus hin und her, um nach dem Ausgang zu suchen, während andere schicksalsergeben, deprimiert und wie paralysiert an Ort und Stelle verharren und darauf warten, endlich gefressen zu werden. Ins Zentrum "zurückzukehren" und die frühen prägenden Ereignisse "wiedererlebend" aus dem System herauszulösen ist der wesentliche Schritt, um schließlich tatsächlich aus dem Netz zu entkommen und neue Gefühls-, Körper-, Gesundheits- und Verhaltenswelten zu entdecken.
Meine primärtherapeutischen Erfahrungen haben in der Tat sehr viel mit "Steckenbleiben" und "Zerquetschtwerden" zu tun und artikulierten sich in der Kindheit durch ein ständig wiederkehrendes Traumszenario, das nur aus zwei Elementen bestand: die enge Gasse, die schließlich in eine finstere enge Kanalröhre mündet. Es war immer dasselbe Drama. Ich ging die Gasse entlang und war plötzlich in diesem blöden, hochgradig bescheuerten stockfinsteren Kanalrohr gefangen, das mich zu zerquetschen drohte. Und immer war es das Aufwachen, das mich von der eskalierenden Panik und vor der fürchterlichen Empfindung des Zerquetschtwerdens erlöste. Solche Alpträume zeigen sehr schön, wie sich eine eingeprägte Erfahrung auf unterschiedlichen Gehirnebenen manifestiert. Aus der ursprünglich rein sensorischen Erfahrung (der - in diesem Fall übermäßige - Druck, der durch die Uterus-Kontraktionen [einer verkrampfenden Primiparae] auf den Fetus ausgeübt wird) wird im Zuge der fortschreitenden Gehirnentwicklung eine nette Bildergeschichte mit einem "ordentlichen Schuss Panik". Die Hartnäckigkeit des Alptraums deutet darauf hin, dass sich die Energie des ursprünglichen Traumas in den Netzwerken des Hirnstamms (first-line oder erste Linie/Ebene in Janovs Theorie und Terminologie) in reverbierenden [widerhallen- den, zurückschwingenden] Kreisprozessen "verfangen" hat und somit eine Erinnerung bildet, die sich permanent reproduziert. Nachts, wenn die Wachsamkeit des frontalen Kortex und des gesamten Gehirns nachlässt, kann die Energie des Geburtstraumas aufsteigen und zwingt den Neokortex (third-line-consciousness oder Bewusstsein der dritten Ebene in Janovs Theorie), die eindringende Kraft in Zusammenarbeit mit dem limbischen System (second-line oder zweite Ebene). zu einer Bildergeschichte zu verarbeiten. Das Gefühl der panischen Angst (der Affekt), das sich hinzugesellt, deutet auf die Beteiligung limbischer (second-line) und hirnstammlicher Kerne hin.
Unter Neurologen und anderen Wissenschaftlern hält sich immer noch das hartnäckige Dogma, Erinnerung, Gedächtnis, Informationsspeicherung sei unabdingbar an die Reifung bestimmter Gehirnstrukturen wie dem Hippocampus gebunden, und aus diesem Grund sei die Speicherung von vorgeburtlichen und geburtlichen Erfahrungen unmöglich. Dieses Dogma, das für viele Intellektuelle natürlich ein erstklassiger Schutz gegen die Realität des eigenen Urschmerzes ist, war der Grund, dass Janov in den Anfangsjahren der Primärtherapie allen Patienten mit "Rausschmiss" drohte, die behaupteten, sie erlebten gerade ihre Geburt wieder. Neurologen hatten ihm gesagt, dies sei völlig unmöglich, und Janov hielt sich zuerst brav an dieses Dogma. Aber diese Geburts-Urerlebnisse waren so zahlreich und selbst für den Beobachter so eindrucksvoll, dass er sehr bald von der Realität dieser Erinnerungen und deren Langzeitfolgen für das Erwachsenenleben überzeugt war. Ähnliches war vor Janov dem Psychiater und Therapeuten Frank Lake passiert: Seine Erfahrungen mit prä- und perinatalen Erinnerungen in der therapeutischen Praxis kollidierten mit dem strikten "Nein, unmöglich" von Theoretikern.
Heute gerät dieses Dogma zunehmend ins Bröckeln. Als der in Fachkreisen international bekannte Gehirnforscher Eric Kandel in einem SPIEGEL-Interview11 gefragt wurde, ob er daran glaube, dass es in seinem Gehirn "Erinnerungen an Ihr erstes Lebensjahr, womöglich sogar an die Zeit vor Ihrer Geburt gibt - nur, dass Sie nicht an sie herankommen?", antwortete er: " Ja, ich vermute schon - wobei man sich da nicht unsere Form des episodischen Gedächtnisses vorstellen darf,[.......]. Als Janov den in Fachkreisen nicht weniger bekannten Gehirnforscher Paul MacLean, auf dessen Theorie vom "dreieinigen Gehirn" ("The Triune Brain in Evolution") das primärtheoretische Konzept der drei Bewusstseinsebenen gründet, fragte, wo im Gehirn frühe Erfahrungen gespeichert werden, meinte dieser, man müsse diesbezüglich auch das Kleinhirn in Betracht ziehen. Lise Eliot schreibt zu dem Thema folgendes:
"Hippokampus, medialer Thalamus, Basalkern, präfrontaler Kortex: Alle diese Strukturen sind für die Speicherung langfristiger, bewusster Erinnerungen wesentlich[...]. Sie sind jedoch nicht die einzigen Bestandteile des Gehirns, die an Erinnerung und Merkfähigkeit beteiligt sind. Die komplizierte Wahrheit lautet, dass das gesamte Nervensystem (eingeschlossen das Rückenmark und sämtliche peripheren Nerven) daran teilhaben, denn die Informationsspeicherung ist eine grundlegende Eigenschaft von Neuronen. Alle Nervenzellen sind in der Lage, sich je nach ihrer "Erfahrung" beziehungsweise den Mustern ihrer elektrischen Aktivität zu verändern, das heißt ihre Synapsen und Dendriten umzugestalten. Alle Erinnerungen, ob bewusst oder nicht, prägen sich irgendwo im Gehirn als Muster synaptischer Veränderungen ein." [Eliot, Was geht da drinnen vor, Berlin-Verlag 2001, s. 480)
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Der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth 12 schreibt in seinem Buch "Aus Sicht des Gehirns" (Suhrkamp, 2003):
"Das
limbische System scheint nämlich starke psychische Verletzungen,
besonders solche in früher Jugend, nicht zu vergessen, sondern
eher einzukapseln oder abzuschwächen. In besonders belastenden
Situationen können diese Einkapselungen oder Abschwächungen
wieder schwinden, so als sei zwischendurch nichts geschehen. Eine
erfolgreiche Psychotherapie bestünde dann darin, diejenigen
Netzwerke, welche die psychischen Verletzungen repräsentieren, so
sehr zu entschärfen, dass sie nicht mehr bedrohlich wirken."
[Roth, Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp, 2003, s.153] |
Es ist genau diese "Entschärfung von Netzwerken, welche die psychischen [und körperlichen] Verletzungen repräsentieren", was korrekt angewandte Primärtherapie im Lauf des Primärprozesses durch Auflösung des eingeprägten frühen Schmerzes leistet, sodass in gegenwärtigen Stress-Situationen nicht länger zwangsläufig die eingeschliffenen Verhaltensmuster (wie z. B. impulsives, gewalttätiges Reagieren) oder körperlichen Symptome (z. B. Migräne) in Erscheinung treten müssen.
Ein wesentlicher Aspekt der Janovschen Primärtheorie ist, dass Erfahrungsspeicherung eine umfassende organismische Angelegenheit ist. Das heißt, auch Zellen außerhalb des Nervensystems sind in der Lage, auf irgendeine Weise Informationen und Erfahrungen zu speichern. So traten zum Beispiel bei einer 56-jährigen Frau, die wiedererlebte, wie sie als Kind regelmäßig mit einer Reitgerte geschlagen wurde, die Blutergüsse im Oberschenkel wieder auf. 13 Irgendwie mussten sich die Zellen im Oberschenkel an das Ereignis "erinnern", ansonsten wäre das Phänomen nicht erklärbar. Ich glaube, dass die Wissenschaft noch relativ wenig darüber weiß, welche Möglichkeiten und Mechanismen den Zellen eines menschlichen Organismus zur Verfügung stehen, Erfahrungen zu speichern und diese einander mitzuteilen. Es macht zur Zeit wenig Sinn, hier endgültige Lehrsätze aufzustellen.
Das Wiedererleben und somit die Auflösung einer traumatischen Geburt im Rahmen des Primärprozesses (und nur in diesem Rahmen ist es möglich) ist eine sensorische Erfahrung von solcher Kraft und Intensität, dass sie jeden Versuch einer Beschreibung ad absurdum führt. Individuen, die ein so frühes Trauma in ihrer Primärtherapie wiedererleben, wissen um die ungeheure Macht dieses frühen Schmerzes, sie spüren seine Kraft, die letztlich nicht davor Halt machen wird, uns körperlich und psychisch zu zerstören und uns weit vor unserer Zeit von diesem Planeten zu verbannen. Ohne die Rückkehr in meine frühe Geschichte wäre ich mit größter Wahrscheinlichkeit bereits einer katastrophalen systemischen Erkrankung - Krebs - zum Opfer gefallen. Zu groß war das Ausmaß, die Valenz meines frühen Schmerzes, als dass ich eine Chance gehabt hätte, meinen fünfzigsten Geburtstag zu erleben. Jetzt aber bin ich sehr zuversichtlich, noch lange zu leben (und ich kann dem Leben durchaus was abgewinnen), und von Krebs und Herz-Kreislauf-Versagen, Arthritis, Depressionen, Panikattacken, Fresssucht, Migräne, Allergien, Schlaganfällen und vielen weiteren Erscheinungen im weiten Spektrum des Grauens verschont zu bleiben. Was uns letztlich umbringt, ist unsere frühe Geschichte, die auf tieferen Gehirnebenen ein kraftvolles Eigenleben führt und unseren gesamten Organismus permanent beeinflusst.
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Langfristig wird es im Interesse des Überlebens der Spezies Mensch darum gehen, dass ein genügend großer Kern psychisch und körperlich stabiler, empathischer, in größerem Einklang mit der Natur stehender Individuen entsteht. Ein Mensch, dessen elementaren Bedürfnisse am Lebensanfang und in der Kindheit erfüllt worden sind, wird als Erwachsener nicht als "Superräuber", als "Homo Super-Predator", wie Odent ihn nennt, in Erscheinung treten. Viele Neurotiker scheinen von einer unersättlichen Gier beseelt, die ihnen einen "Tunnelblick" verleiht. Sie haben nur die Befriedigung dessen vor Augen, was sie als ihre "realen Bedürfnisse" erachten - Besitz, Einfluss, sexuelle Eroberungen, Macht, Prestige, Umsätze und Geld -, und sehen nichts von dem Trümmerfeld, das sie auf ihren endlosen Beutezügen hinterlassen. Es ist ein untrügliches Kennzeichen des Homo Super-Predator, dass er keine Rücksicht auf die Bedürfnisse seiner eigenen Nachkommenschaft, geschweige denn auf die anderer Kreaturen nehmen kann. Denn er ist dazu verdammt, seine Jagd ad infinitum fortzusetzen. Solange er in Bewegung und Aktion ist, muss er die Leere, den Schmerz, die Verwüstung und Hoffnungslosigkeit in seinem Inneren nicht fühlen. Um wirklich vorwärts zu kommen, müsste er paradoxerweise die Reise zurück in seine frühe Geschichte antreten. Und das wird er niemals tun.
Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass die Gattung "Homo" neue Überlebensstrategien entwickeln muss. Im Verlauf der Evolution stand die Spezies permanent vor solchen Herausforderungen, um sich an veränderte Umwelten anzupassen und um nicht von der rasanten Veränderung ihres eigenen Selbst überrumpelt zu werden. Janov sagt, Schmerz sei der zentrale Katalysator der menschlichen Evolution. Die kontinuierliche Integration oder "Verarbeitung" dieses Schmerzes im System der Gattung "Homo" und dessen Vorgänger hat nicht nur einen raffinierten Techniker, rücksichtslosen Krieger und vorausplanenden Strategen hervorgebracht, sondern auch ein sehr sensibles, gefühlvolles, verwundbares Geschöpf, dessen empathische Fähigkeiten diejenigen anderer Kreaturen übersteigen. Die Lösung liegt in der Vereinigung beider Seiten. Wenn sich das linke Gehirn mit dem rechten vereint, und wenn das neue Gehirn - der Neokortex- mit den älteren Gehirnteilen gut kooperiert, sodass situationsbedingt mal der eine, mal der andere Teil dominiert, dann ist der "neurotische Spalt", den Janov in seinem Buch Der Urschrei beschreibt, überwunden. Eine gute Zeit in einem "wohlgesonnene", schmerzarmen Schoß, eine aktive, instinktgesteuerte Geburt mit dem vollen Hormonschub und ohne künstliche Eingriffe, und ein nahtloser und sanfter Übergang in eine sichere und liebevolle Mutter-Kind-Bindung könnten diese "neuen Menschen" hervorbringen, die eigentlich "ganz alte" sind. Es gibt sie schon so lange, doch hatten sie nie die Chance, "sie selbst" zu sein. Jetzt aber ist ihre Zeit gekommen. Und in einer Welt, die den Mangel an Liebe in zunehmendem Maß in ihren Geburtssystemen verankert, sind sie unentbehrlicher denn je.
© 2005 Ferdinand Wagner
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Quellennachweise:
1 Peter Nathanielsz, Schwangerschaft: Wiege der Gesundheit, Mosaik/Goldmann, 2003)
Peter Nathanielsz, Leben im Mutterleib, List, München, 1995
2 Michel Odent, The Caesarean, Free Association Books, London, 2004
Odent, Im Einklang mit der Natur - Neue Ansätze der sanften Geburt, Patmos/Walter, Düsseldorf, 2004
Odent, Die Wurzeln der Liebe, Patmos/Walter, 2001.
Odent, Geburt und Stillen, Beck, München, 1994
3 Siehe hierzu Arthur Janov, Der Urschrei, Fischer Verlag, 1975
Janov, Life Before Birth, NTI Upstream, 2011
Janov, Sex &The Subconscious, Kimberley Cameron & Associates, 2011
Janov, The Janov Solution, SterlingHouse Books, 2007
Janov, Primal Healing, NewPageBooks, NJ, 2007
Janov, The Biology of Love, Prometheus, New York,
Janov, Why You Get Sick - How You Get Well, Dove Books, West Hollywood, CA, 1996
Janov, Frühe Prägungen, Fischer, Frankfurt, 1984
Janov, Revolution der Psyche, Fischer, Frankfurt, 1976,
Janov, Anatomie der Neurose, Fischer Taschenbuch, 1976
Janov, Das befreite Kind, Fischer Taschenbuch, 1977
Empfehlenswert zum Thema "Primärtherapie/Primärtheorie" ebenfalls:
Bohnke/Gross, Der heilende Schmerz, Herder-Taschenbuch, 1988
4 Deutscher Buchtitel der amerikanischen Originalausgabe Synaptic Self. How Our Brains Become Who We Are, von Joseph LeDoux, Walter, 2003.
5 Siehe dazu Allan Schore, Affect Regulation and the Origin of the Self, Lawrence Erlbaum, HIllsdale, New Jersey, 1994
6 Lise Eliot, Was geht da drinnen vor?, Berlin-Verlag, 2001
7 Frederick Leboyer, Geburt ohne Gewalt, Taschenbuchausgabe Mosaik/Goldmann, 1999
8 Gebären ohne Aberglauben,
Fibel und Plädoyer für die Hebammenkunst
Alfred Rockenschaub
Facultas Wien 2001
9 Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, Beck, München, 1980
10 Infos zum Thema "Geburtshäuser" z. B. unter www.geburtskanal.de oder www.geburtshaus.de . Am besten einfach das Stichwort in die Suchmaschine eingeben. Das bringt die besten Ergebnisse. Einen guten Artikel zum Thema "Odent-Oyxtozin-Geburt" habe ich unter www.trostreich.de/Themen/Liebe/liebe.html gefunden.
11 SPIEGEL special, Die Entschlüsselung des Gehirns, 4/2003
12 Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Suhrkamp, 2003
13 Siehe hierzu Janov, Das neue Bewusstsein, Fischer, Frankfurt, 1977, s. 497
14 Otto Rank, Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Psychosozial-Verlag, 1998.
15 Psychologie Heute, Januar 2005, s. 20 - 30
16 Psychologie Heute, Januar 2005, s. 32 - 36
17 Stern ,11, 10.03.05, s. 50-54
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